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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wir müssen jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen“

    „Wir müssen jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen“

    Die Aufführung von Krieg und Frieden an der Bayerischen Staatsoper stößt in der deutschen Presse auf kontroverse Diskussionen. Während der Tagesspiegel nach der Premiere am 5. März über „einen einmalig großen Abend“ schreibt, ist der Musikkritiker Jörn Florian Fuchs im Deutschlandfunk ratlos: Auch nach dem Drüberschlafen wisse er nicht so recht, was er davon halten soll. Den Kern des Problems greift Christine Lemke-Matwey auf ZEIT Online auf: Eine Oper eines russischen Komponisten (Sergej Prokofjew) nach dem Roman eines russischen Schriftstellers (Lew Tolstoi), in der Aufführung eines russischen Regisseurs (Dimitri Tschernjakow) und russischen Dirigenten (Wladimir Jurowski) – und das alles in München kurz nach dem 1. Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine … Das Stück, das von zwei russischen (Verteidigungs-)Kriegen inspiriert wurde – dem Vaterländischen Krieg 1812 und dem Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 – feiere seine Premiere mitten im russischen Angriffskrieg, und das Publikum sehe sich mit der Frage konfrontiert, „wer hier eigentlich wer sein soll, wer Opfer ist und wer Täter, wer Aggressor, wer Verteidiger“. 

    Nach der Premiere hat sich Meduza in München mit dem Dirigenten Wladimir Jurowski getroffen. In einem langen Interview erzählt er über das problematische Stück von Prokofjew, über den Versuch, das „schwere kulturhistorische Gepäck“ auf die Münchener Bühne zu bringen, über die Instrumentalisierung von Prokofjew und anderen Komponisten durch die russische Kulturpropaganda und über jenes Russland, das sich lohnt, bewahrt zu werden.  

    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)
    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)

    Wladimir Rajewski: Kaum zu glauben, dass die Idee zu Tschernjakows Inszenierung von Krieg und Frieden schon vor dem Krieg aufgekommen ist – und nicht als Reaktion der Bayerischen Staatsoper auf die aktuellen Ereignisse.

    Wladimir Jurowski: Zuerst wussten wir nicht, in welcher Form wir die Oper dem Publikum präsentieren wollen, und wir hatten auch keine Ahnung von dem Konzept des Regisseurs, er selbst aber auch nicht. Wir ahnten nicht einmal, dass wir die Oper schlussendlich in dieser stark gekürzten, zerschnittenen Version spielen würden. Die ursprüngliche Idee war, Krieg und Frieden von der ersten bis zur letzten Note aufzuführen, sozusagen den Urtext.      

    Es gibt eine ganze Reihe von Opern, die in unterschiedlichen Versionen vorliegen. Auf der ganzen Welt werden meistens sogenannte Mischversionen gespielt, also, man nimmt, was den Interpreten am besten gefällt, und wirft manchmal alles durcheinander in einen Topf. 

    Kaum jemand weiß, dass die Sache mit Prokofjews Krieg und Frieden noch viel verworrener ist als mit anderen Opern. An Krieg und Frieden arbeitete Prokofjew von Frühling 1941 bis zu seinem Tod im Frühling 1953 – also zwölf Jahre. In dieser Zeit komponierte er mindestens drei Versionen. 

    Auf uns hagelte es sowohl von russischer als auch von westlicher Seite allerlei Beschuldigungen: Wir hätten Prokofjew verdreht und dem eigenen Geschmack angepasst, indem wir vor allem den Teil über den Krieg zu einem, wie sie es nannten, Dog’s Dinner gemacht hätten. Und dann hätten wir noch dem Chor das berühmte letzte Stück entrissen und seine Musik der Banda überlassen. Was die Banda spielt, ist das Thema „Groß ist unser Land“, und im Vordergrund skandiert der Chor [in einer späten Bearbeitung von Prokofjew] einen propagandistischen, geradezu stalinistischen Text. Solang es Tschernjakows Konzept noch nicht gab, haben wir einfach einen Weg gesucht, wie wir das so hinkriegen, dass wir Sergej Sergejewitsch [Prokofjew] nicht vollends blamieren und uns selbst auch nicht. Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen und alles Unnötige zu streichen. Zur Gänze kann man das natürlich nicht entfernen, das ist unmöglich, aber sehr vieles haben wir herausgenommen.    

    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Prokofjew hat uns kein fertiges Werk hinterlassen, sondern eine riesige Skizze, einen Torso, ein Gerüst, das nicht vollendet wurde. Es zerfällt in lauter fragmentarische Szenen, die sich fast unmöglich zu einem großen Ganzen zusammenfügen lassen. Tschernjakow ist das gelungen, aber nur dank der außergewöhnlichen Situationen und den Bedingungen, unter denen die Inszenierung entstanden ist, und weil er bewusst auf die Gegenüberstellung „Krieg und Frieden“ verzichtet hat. Und nur dank dem sehr konzeptualistischen und sehr starken Zugang, der in das Grundprinzip Tolstois und Prokofjews eingreift, gelang uns eine Inszenierung, die sich als zusammenhängende Geschichte erzählen lässt. Aber an sich ist es eine Collage. 

    Wir haben eine Art erfundene, dystopische Situation: Russen sind im Haus der Gewerkschaften im Zentrum Moskaus in der Säulenhalle eingeschlossen, in einer Art Kriegsatmosphäre. Wir erwähnen kein einziges Mal, was eigentlich passiert ist. Das ist der Ausgangspunkt des Spiels: Es fehlt die wichtigste Komponente jedes Kriegs – der äußere Feind. Wir sehen Menschen, die verängstigt sind, die sich Sorgen machen, die etwas quält, aber einen Feind als solchen gibt es nicht. Also beginnen sie, den Feind in den eigenen Reihen zu suchen und auch zu finden. Obwohl wir den Text nicht verändert haben – sie sprechen weiterhin von Franzosen, von deutschen Generälen, russischen Spionen und Partisanen.   

    Brächten wir ein Drama nach dem Roman von Tolstoi auf die Bühne, dann würden solche Freiheiten natürlich extrem stören. Aber wir inszenieren ja die Oper von Prokofjew, und wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne und in den Saal: das Jahr 1812, in dem Napoleons Russlandfeldzug stattfand, das Jahr 1856, in dem Tolstoi seinen Roman zu schreiben begann, das Jahr 1941, in dem Prokofjew anfing, seine Oper zu komponieren, das Jahr 1946, in dem die Oper aufgeführt und kritisiert wurde, das Jahr 1953, in dem Prokofjew am selben Tag wie Stalin starb, schließlich auch unsere unselige Zeit. Und eben weil wir eine Oper machen und keinen Roman, und weil wir damit einen riesigen kulturhistorischen Raum abdecken, viel größer, als wenn wir einfach Tolstois Text verfilmen oder als Theaterstück auf die Bühne bringen würden – deswegen dürfen wir uns solche Freiheiten erlauben. 

    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Was haben Sie mit der Musik gemacht, als Sie von dem Konzept erfuhren, dass Prokofjews patriotischer Chor so etwas sein wird wie … ein heutiger patriotischer Chor?

    Ich musste nichts Spezielles machen, weil etwas Erstaunliches und äußerst Bemerkenswertes passiert ist: Das, was mich persönlich an Prokofjew immer irritiert und sehr genervt, geärgert hat, hat sich bestätigt: dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus. Den man übrigens keineswegs nur in Krieg und Frieden findet, sondern auch in vielen anderen sowjetischen Kompositionen. 

    So wie im Oratorium Auf Friedenswache und dergleichen? 

    Ja. Da gibt es überall wundervolle Musik, aber auch immer wieder Momente, für die man sich einfach schämt. Ich habe zum Beispiel längst, lange vor dem Krieg gegen die Ukraine, bewusst aufgehört, Prokofjews Kantate Alexander Newski aufzuführen. Früher hat sie mir sehr gefallen, und als Musik zu Sergej Eisensteins großartigem Film finde ich sie immer noch absolut angemessen – es ist wirklich eine tolle Filmmusik. Aber wenn ich sie auf einer Konzertbühne als eigenständige musikalische Komposition spiele, dann treiben mir manche Seiten daraus die Schamesröte ins Gesicht. 

    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Diese betont patriotische Glut im vierten Teil der Kantate Steht auf, russische Leute oder das beinah sadistische Vergnügen, mit dem Prokofjew die Kreuzritter auf dem zugefrorenen Peipussee „schlägt“, lassen einen spüren, wie sehr dieses Werk trotz des unbestrittenen Talents seines Urhebers vergiftet ist mit einem üblen, beinah faschistischen Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer. Hier werden ganz offensichtlich und bewusst historische Ereignisse verwendet, um nationalistische, ideologisierte Weltbilder zu untermauern. Wenn wir das auf die Konzertbühne bringen, dann übernehmen wir einen Teil der Verantwortung für das, was die Menschen auf der Bühne von sich geben. Im Theater oder im Kino ist diese Verantwortung nicht so umfassend. Im Theater und im Kino werden reale Situationen gespielt, unter anderem aus ferner Vergangenheit. Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung. 

    Faschistischer Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer

    Im heutigen Kontext kann man keine dieser Kompositionen spielen, ohne an die Parallelen und Überschneidungen zu unserer traurigen Realität zu denken. Vor allem, weil die heutigen russischen Machthaber in einer absolut stalinistischen Tonalität handeln und Kunst, auch klassische Kunst, bewusst als schwere Propagandawaffe einsetzen. Für sie wird Puschkin genauso zum Propagandawerkzeug wie Tschaikowski und Rachmaninow, den sie ebenfalls vereinnahmt haben, obwohl er emigriert war – war er doch ein echter Patriot! Sie verwenden dieselbe Lexik wie Stalins Ideologen, als diese den verderblichen Einfluss des Westens bekämpften und gegen die eigenen Komponisten, Dichter, Schriftsteller, Künstler, Formalisten, wurzellosen Kosmopoliten et cetera wetterten.        

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist

    Leider werden Prokofjew und sogar Schostakowitsch mit der Zeit selbst zu Instrumenten der russischen Kulturpropaganda. Schostakowitsch etwas weniger, einfach weil er sich viele Jahre lang bewusst gegen das Regime gestellt hat. Prokofjew hat mehrere Werke geschaffen, die gerade auch im heutigen Kontext ganz schreckliche Assoziationen wecken können.

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist, wie er oft dargestellt wird. Er ist ein sehr komplexer Charakter.

    Zwischen 2005, als Sie Krieg und Frieden in der Pariser Oper dirigierten, und 2023 scheinen Lichtjahre zu liegen. Haben die Ereignisse seit dem letzten Jahr irgendeinen Einfluss auf Ihre Interpretation gehabt?

    Auch wenn es seltsam ist, muss ich da etwas zu den ersten Akkorden der ersten Szene sagen, mit denen das Opus beginnt. Das ist eine ziemlich einfache Quint, also ein Intervall aus zwei Noten, zerlegt auf zwei Oktaven, das von nur vier Instrumenten gespielt wird. Diese Quint klang für mich früher irgendwie … als ob jemand nachts im Wald einen Vogel aufgescheucht hätte. Aber jetzt beginnt vor allem dank Tschernjakows Idee alles mit Stille, und Fürst Andrej erwacht auf einer Matratze, umringt von diesen Menschen – vielleicht Flüchtlingen, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht – und zieht sich nach und nach die Kleider aus, bis er im Unterhemd dasteht. Dann stößt er einen unhörbaren schmerzlichen inneren Schrei aus. Und aus diesem Schrei entspringt Musik – Verzweiflung. Die Verzweiflung und Ohnmacht eines vom Leben gebrochenen Menschen. 

    Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins

    Mit den Jahren hat sich das Gefühl bei mir eingestellt, dass bei Prokofjew in der Musik oft zu finden ist, was ihm den Erinnerungen seiner Zeitgenossen zufolge als Mensch fehlte, nämlich Empathie. Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins. In der Musik aber beweint er die tote Julia oder den toten Romeo, als wären es seine eigenen Kinder. Und genau deswegen, weil das mit einer gewissen Distanz kreiert wurde, hängt das Ergebnis von uns selbst ab, von den Künstlern, den Interpreten. Wir können diese Musik in Richtung einer großen menschlichen Wärme interpretieren oder in Richtung absoluter Kälte und eisiger Emotionslosigkeit.  

    Prokofjew hat sich auch nach seiner Rückkehr in die UdSSR sehr zynisch zu einer Kooperation mit dem Regime geäußert.

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys. Er verhielt sich ja wie ein absoluter Schnösel, war ein großer Schachspieler, er glaubte an Sport, an die Macht des Fortschritts. Prokofjew war ein verwöhntes Kind seiner Zeit, und als es vorbei war mit der Kindheit und er sich die Nase anschlug [an der Zensur], war es zu spät. Gott sei Dank wurde er nicht als kreatives Wesen gebrochen, denn die letzten Sachen, die er geschrieben hat – die letzten Symphonien, das Symphoniekonzert für Violoncello sowie die Neunte, die letzte vollendete Klaviersonate – all das zählt immerhin zu den großen Schätzen der Musikgeschichte. In der Musik bewahrte er sich immerhin seine Freiheit, blieb er selbst.  

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys

    Krieg und Frieden ist leider eines der Beispiele, das veranschaulicht, wozu die innere Bestechlichkeit eines Künstlers führt. Obwohl ich Prokofjew immer noch für einen herausragenden Komponisten halte, der nicht nur erstaunliche Klangkombinationen schuf, sondern auch bemerkenswerte Aussagen tätigte, die die unbeugsame Kraft des menschlichen Geistes bezeugen. Aber gewissermaßen schrieb Prokofjew diese Musik nicht dank, sondern eher trotz seiner Eigenschaften.     

    In Österreich und Deutschland hat Prokofjew keinen so guten Ruf. Woran liegt das?

    Das hat grundsätzlich mit der Natur von Prokofjews Musik zu tun, die nicht wirklich in den österreichisch-deutschen musikalisch-psychologischen Raum hineinpasst. In Deutschland muss man Prokofjew erst einen Weg ebnen. Wenn ich in Deutschland mit seinen Partituren arbeite, dann muss ich auch in sehr guten Orchestern mit mehr Mühe den Widerstand dagegen abbauen, Prokofjew so zu spielen, wie er selbst gespielt werden wollte. 

    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Haben Sie auf diese Weise auch Krieg und Frieden den Weg geebnet?

    Den Weg ebnen musste ich nicht – das hat unser Theater entschieden. Aber während der Arbeit mit dem Orchester tauchten manchmal Hemmungen und irgendwelche Problemchen auf. Das hat damit zu tun, dass Prokofjew einen sehr eigenen, einzigartigen Zugang zu solchen Aspekten des Musizierens hat wie Phrasierung und Artikulation. Das kann man sich vorstellen wie einen Menschen, der Gedichte oder Prosa schreibt, aber nicht in der allgemein üblichen Syntax und abseits der gültigen Rechtschreib- und Satzzeichenregeln. Orthografie, Satzbau und Interpunktion sind bei Prokofjew ungewöhnlich, einmalig.

    Verstehe ich das richtig, dass Sie nicht nach Russland fahren?

    Ich kann da nicht einreisen.

    Weil Sie sogar jetzt eine Anstecknadel mit einer ukrainischen Flagge auf dem Revers tragen? 

    Nein, die kam erst später dazu. Nach allem, was ich gesagt habe, wird mir einfach keiner mehr ein Visum geben.   

    Ah, Sie sind ja kein russischer Staatsbürger.

    Genau. Es war daher sehr kurios zu erfahren, dass ich in der schwarzen Liste von Roskomnadsor als „Meinungsbildner des öffentlichen Lebens“ erscheine. 

    Oh, ich stehe auch auf dieser Liste. 

    Man kann das als Auszeichnung betrachten. Aber „ausländischer Agent“ kann ich nicht werden, weil ich kein russischer Staatsbürger bin. Ich hatte ein Visum, mit dem ich letztes Jahr noch einreisen konnte. Aber ich habe natürlich alle Konzerte [in Russland] abgesagt. Jetzt wäre ich, selbst wenn ich unbedingt wollte, auf die Gnade des Kulturministeriums angewiesen.   

    Das Sie jetzt nicht so gern hat?

    Das mich natürlich nie im Leben einladen würde. Wie in dem einen [russischen] Spruch: Zieh dir entweder eine Hose an oder nimm das Kreuz ab. Also, wenn du so redest, wozu fährst du dann hin? Höchstens privat, um meine Lieben zu sehen, meine Freunde. Wobei es da auch ein paar gibt, mit denen ich nur schwer reden könnte. 

    Haben Sie Leute im Umfeld, die den Krieg unterstützen?

    Das nicht unbedingt, aber sie finden zum Beispiel meine Entscheidungen auch nicht gut. 

    Ich war in Russland immer ein Fan Ihrer Aufführungen von Musik vergessener Komponisten aus der Sowjetzeit. Was wird daraus jetzt?

    Jetzt berichtet man, dass das Konzert Drugoje prostranstwo. Continuo stattgefunden hat, und dann in Klammern: „ohne Wladimir Jurowski“. Ich werde hier und da in der Presse erwähnt. Zum Beispiel, nachdem ich im Februar 2022 zum ersten Mal die ukrainische Hymne gespielt habe. Das war in Berlin. Wir haben Tschaikowskis Slawischen Marsch, der auf dem Programm stand, durch Werbizkis Hymneersetzt und sogar noch eine symphonische Ouvertüre von ihm gespielt. Wobei wir aber zum Beispiel Tschaikowskis Fünfte Symphonie oder Rubinsteins Cellokonzert nicht gestrichen haben.

    Schon damals tauchten im russischsprachigen Internet Schlagzeilen auf wie: „Jurowski ersetzt Tschaikowski durch Bandera-Hymne“. Ich beließ es nicht dabei und spielte die „Bandera-Hymne“ auch andernorts. Und ich habe sehr vieles gesagt, mit dem ich mir ganz bewusst alle Wege zurück verbaut habe. 

    Glauben Sie nicht, dass das Interesse an allem Russischen im kulturellen Sinn dann, wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, erst recht wieder aufkommen wird? Irgendwo müssen ja die Antworten auf die Fragen stecken, die früher niemand gestellt hat.  

    Dieses Interesse geht nicht verloren – es ist auch jetzt nicht verschwunden. Nach unserer Premiere von Krieg und Frieden bekamen wir sehr viele schöne Rückmeldungen, nette und auch richtig schmeichelhafte. Ein Münchner Kritiker schrieb, so viel Selbstreflexion vonseiten russischer Künstler, wie wir in dieser Inszenierung sehen und hören konnten, nährt die innere Hoffnung, dass dieses Land noch nicht endgültig verloren ist. Da bin ich mit ihm einverstanden. 

    Ich beließ es nicht dabei und spielte die ‚Bandera-Hymne‘ auch andernorts

    Ich gehe sogar noch weiter: Ich bekam gerade bei dieser Premiere das Gefühl, dass im Saal, in dem übrigens sehr viele Vertreter der neuen russischen Emigration saßen, eine Art Schulterschluss der russischen, russischsprachigen Menschen außerhalb Russlands auf Basis gänzlich anderer Ideale stattfand.

    Ich hoffe einfach sehr, dass die heutigen russischen Emigranten mehr Glück haben, dass sie sich nicht in Gezänk, Streitereien und persönlichen Geplänkeln suhlen werden wie die russischen Emigranten nach dem Bürgerkrieg. Weil damals ja doch das sowjetische Russland als moralischer Sieger aus der Schlacht hervorging. In diesem Punkt bin ich solidarisch mit Dimitri Bykow, der den Gedanken formuliert hat, dass der größte Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Emigration folgender ist: Damals rannten sie vor der Revolution davon, die zwar etwas Schreckliches, Böses war, aber gleichzeitig auch etwas Neues und Frisches. Die heutige Emigration flieht vor einer Reaktion, vor etwas, das im Inneren zerbrochen ist, das verfault, verwest und eigentlich nicht mehr lange bestehen wird. Insofern erinnert mich das eher an die Flucht der Deutschen 1848 oder die Flucht aus Frankreich und Österreich nach dem Wiener Kongress. Oder wie die Russen vor dem bereits morsch gewordenen Zarenregime der Romanows flüchteten.     

    Ein scharfsinniger Gedanke, typisch für Bykow, aber auch von einer ihm typischen Sympathie für das sowjetische Projekt begleitet. 

    Ich finde, wir müssen dieses sowjetische Atlantis jetzt, wo dieser furchtbare Krieg begonnen wurde, endgültig in uns begraben. In uns, ich klammere mich da selbst nicht aus, diese höchstgefährliche Nostalgie nach der Vergangenheit abtöten. Die wir im Grunde ja gar nicht wirklich erlebt haben. 

    Alle meine Erinnerungen an die Sowjetunion stammen aus meiner Kindheit im häuslichen Umfeld und meiner Jugend am Konservatorium. Ins echte Leben hatte ich da noch gar nicht hineingeschnuppert. Wir müssen uns mit großer Sorgfalt Rechenschaft darüber ablegen, was genau wir da so nostalgisch vermissen. Sonst kann es passieren, dass wir unwillkürlich Geister der Vergangenheit wecken, die wir dann nicht mehr so einfach mit einem Espenpflock in ihre Särge zurücktreiben können. Wobei eigentlich genau das gerade vor unseren Augen geschieht.   

    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Sie haben ja nicht in Russland gelebt und den neuen Alexander-Newski-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.

    Ja, das ist ehrlich gesagt an mir vorübergegangen. Der Kult um diese großen Helden der Vergangenheit: Kutusow, Peter der Große. Aber die allmähliche Rehabilitierung von Iwan dem Schrecklichen und Stalin ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Ich versuche einfach schon lange, mich von alldem fernzuhalten. Lange bevor ich 2021 aufhörte, mit dem Staatsorchester in Russland zu arbeiten, hatte ich ein sehr merkwürdiges, ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich die russische Grenze passierte. Ich liebte meine Stadt immer noch, meine Freunde, und es war mir immer eine große Freude, für das Moskauer Publikum zu spielen, aber was gleichzeitig auf den Straßen Moskaus vor sich ging, versetzte mich immer mehr in Angst und Schrecken. Daher verkroch ich mich immer, wenn ich nach Russland fuhr, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ich versuchte, möglichst wenig draußen zu sein, möglichst wenig Kontakt zu fremden Menschen zu haben.

    Wenn das, was am 24. Februar begonnen hat, nicht passiert wäre, dann wäre ich natürlich trotz aller Verschlechterungen dieses internen Klimas weiterhin nach Moskau gefahren. Das steht außer Frage. Ich wurde gefragt: Wie kannst du da immer noch hinfahren, bei dem Wahnsinn, der da vor sich geht? Morde an Journalisten, Morde an Oppositionspolitikern, Nawalny im Gefängnis und immer wieder in Einzelhaft, und so weiter und so fort. Ich habe immer mit den Worten des Dirigenten Iván Fischer geantwortet, der noch immer, trotz der ebenfalls schwierigen Situation in Ungarn, das Festival Orchester Budapest leitet. 

    Er sagte auf solche Fragen: „Ja, mein Land ist krank. Aber stellen Sie sich vor, Sie haben einen kranken Verwandten, jemand in Ihrer Familie ist krank. Würden Sie ihn etwa (das war allerdings noch vor der Pandemie) isolieren? Würden Sie ihm verweigern, seine Angehörigen zu sehen? Nein, Sie bringen ihm Medikamente und Tee mit Zitrone, erzählen ihm etwas, um ihn aufzuheitern, damit er schneller gesund wird. Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied. Ich versuche, ihm mit meiner Musik etwas Wärme zu spenden und zu seiner raschen Genesung beizutragen.“ So ein herzensguter, idealistischer Gedanke.  

    Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied

    Mit diesem Gedanken habe ich noch lange auch in Russland gearbeitet. Und ich werde jetzt nicht lügen und behaupten, es hätte mir widerstrebt. Ich habe es sehr genossen. Ich fand es schön, mit meinen Musikern zu kommunizieren, und mir gefiel es, wie es uns gelang, eine Art Staat im Staat zu errichten. Denn in unserem Orchester waren die Beziehungen untereinander ganz anders als in anderen Orchestern mit anderen Dirigenten. Wir reisten auch zusammen durch Russland, hatten nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg Auftritte. Jetzt weiß ich das nicht. Aber ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.  

    Und bis dahin?

    Bis dahin müssen wir jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen. Und nach Möglichkeit dafür kämpfen oder anderen dabei helfen, dafür zu kämpfen, dass dieses Russland nicht endgültig abstürzt.  

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    25 Jahre Strafkolonie – so lautet das Urteil gegen den russischen Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa: für angebliche „Falschinformationen“ über die russische Armee, für die Mitwirkung bei einer „unerwünschten Organisation“ und für angeblichen „Hochverrat“. 

    Kara-Mursa war ein langjähriger Weggefährte des ermordeten Politikers Boris Nemzow. Auf Kara-Mursa wurden 2015 und 2017 Giftanschläge verübt, bei denen es wie im Fall der Vergiftung von Alexej Nawalny 2020 eine mutmaßliche Verbindung zum russischen Inlandsgeheimdienst FSB gibt. Kara-Mursa selbst sprach von einem Racheakt für die Magnitski-Liste, an der er maßgeblich mitgewirkt hatte. Auf Grundlage dieser Liste sanktionierten die USA 2012 eine Reihe von russischen Beamten wegen des 2009 in Haft gestorbenen Juristen Sergej Magnitski.

    Vor diesem Hintergrund sehen viele Kritiker das heutige Urteil ähnlich wie etwa die kürzliche Verurteilung von Ilja Jaschin: als weiteren Versuch, einen Oppositionspolitiker mundtot zu machen. In seinem Schlusswort vor Gericht bestreitet der Kriegsgegner Kara-Mursa die Vorwürfe und ist überzeugt, dass in Russland einst „diejenigen zu Verbrechern erklärt werden, die den Krieg entzündet und angefacht haben – und nicht die, die versucht haben, ihn zu stoppen“.

    [bilingbox]Ich weiß: Der Tag wird kommen, da wird sich die Finsternis über unserem Land verziehen. Wenn das Schwarze wieder schwarz heißen wird, und das Weiße weiß, wenn man auf offizieller Ebene wieder zugibt, dass zwei mal zwei nun einmal vier ist, wenn Krieg wieder Krieg genannt werden wird und ein Usurpator Usurpator und wenn diejenigen zu Verbrechern erklärt werden, die den Krieg entzündet und angefacht haben – und nicht die, die versucht haben, ihn zu stoppen. Dieser Tag kommt so gewiss, wie der Frühling nach einem harten, frostigen Winter.

    In diesem Bewusstsein, mit dieser Erkenntnis wird ein langer, schwerer, aber ein so wichtiger Weg der Gesundung und des Wiederaufbaus Russlands beginnen, der Weg seiner Rückkehr in die Gemeinschaft zivilisierter Staaten.

    Sogar heute, sogar in der uns umgebenden Finsternis, sogar hier im Käfig sitzend – ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen. Ich glaube, dass wir diesen Weg gehen können.~~~Но я знаю и то, что настанет день, когда мрак над нашей страной рассеется. Когда черное назовут черным, а белое — белым; когда на официальном уровне будет признано, что дважды два — это все-таки четыре; когда войну назовут войной, а узурпатора — узурпатором, и когда преступниками признают тех, кто разжигал и развязывал эту войну — а не тех, кто пытался ее остановить. Этот день настанет так же неизбежно, как весна приходит на смену даже самой морозной зиме. 

    С этого осознания, с этого осмысления начнется долгий, трудный, но такой важный для всех нас путь выздоровления и восстановления России, ее возвращения в сообщество цивилизованных стран.

    Даже сегодня, даже в окружающей нас темноте, даже сидя в этой клетке, я люблю свою страну и верю в наших людей. Я верю, что мы сможем пройти этот путь.[/bilingbox]

    Original: Novaya Gazeta Europe
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 17.04.2023

     

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    „Wenn ihr könnt, geht jetzt.“ Mit diesen Worten wandte sich der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky kürzlich an die Menschen in seiner Heimat. Anlass ist eine Gesetzesänderung, mit der noch leichter zum Krieg gegen die Ukraine eingezogen werden kann als bisher: Einberufungsbescheide können künftig elektronisch über das staatliche Serviceportal Gosuslugi zugestellt werden. Ferner dürfen Empfänger eines solchen Bescheides das Land nicht mehr verlassen. Das Gesetz wurde bereits in beiden Kammern des Parlaments angenommen. In Sozialen Medien wird befürchtet, dass dies als Vorbereitung einer neuen Mobilmachung diene. „Es ist ein Gesetz über das Recht des Staates, einen jeden per Mail zum Tode zu verurteilen – ohne Recht auf Einspruch oder Möglichkeit zur Flucht“, schreibt Glukhovsky weiter.

    Der Schriftsteller ist nicht nur für seine Metro-Romane bekannt, sondern auch für seine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen in Russland. Wegen seiner Äußerungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde Glukhovsky am 21. März in Moskau angeklagt. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Am heutigen Donnerstag (13. April) wird die Verhandlung fortgesetzt. Gegen die Vorwürfe wehrte sich Glukhovsky in einem Brief an das Gericht, den er auch auf Facebook veröffentlichte.

    Update: Am 7. August 2023 wurde Glukhovsky in Abwesenheit zu acht Jahren Strafkolonie verurteilt

    „Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine“ / Foto © picture alliance / TT NYHETSBYRÅN | Henrik Montgomery/TT
    „Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine“ / Foto © picture alliance / TT NYHETSBYRÅN | Henrik Montgomery/TT

    Ich bin nicht in Russland, aber ich stehe in Russland vor Gericht. Gestern fand die erste Sitzung statt. 

    Angeklagt bin ich nach dem neuen Artikel 207 Absatz 3. De facto ist das ein Gesetz zur Kriegszensur, abgefeimt wie immer im Putin-Russland: Das „Gesetz über die Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“.
    Hier der Brief, den ich an das Basmanny-Gericht [in Moskau – dek] geschickt habe:

    „Wozu dienen Gesetze?

    Gesetze dienen dazu, die Schwachen vor den Übergriffen der Starken zu schützen und die Starken vor der Versuchung, sich an den Schwachen zu vergreifen. Gesetze dienen dazu, Verbrecher zu bestrafen und neue Verbrechen zu verhindern. Dazu, das Schlechte im Menschen auszumerzen und das Gute blühen zu lassen.

    Es gibt nichts, das wichtiger und kostbarer wäre als euer Leben. Dieses Leben gehört nur euch und sonst niemandem. Niemand hat das Recht, es euch wegzunehmen. Niemand hat das Recht, die Menschen, die ihr liebt, zu töten. Und niemand hat das Recht, euch zu befehlen, völlig unschuldige Menschen umzubringen.

    Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, unschuldige Menschen zu töten, dann ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das verbietet, die Wahrheit darüber zu sagen, dass andere unschuldige Menschen töten – ein solches Gesetz sollte niemand befolgen.

    Wenn ein Gesetz von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen

    Es spielt keine Rolle, ob die Mörder Soldaten unseres Landes sind. Es spielt keine Rolle, ob sie den Befehl ihrer Kommandanten oder ihres Oberbefehlshabers ausführen. Ein Soldat, der einen unschuldigen Menschen tötet, ist ein Verbrecher. Sogar schlimmer als ein gewöhnlicher Verbrecher, denn dahinter steht ein riesiger Gewaltapparat, dem das Opfer nichts entgegensetzen kann.

    Wozu braucht es einen Strafrechtsparagrafen über die ,Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation‘? Er soll verbieten, die Wahrheit über die Morde und Gräuel zu sagen, die unsere Soldaten auf ukrainischen Boden begehen. Über Folter, Vergewaltigungen, illegale Hinrichtungen. Diese Folter und Vergewaltigungen sind dokumentiert. Die Leichen, deren Hände auf dem Rücken mit dem weißen Band gefesselt waren, die die russischen Soldaten ukrainischen Bürgern zu tragen befohlen, sind exhumiert. Es sind Fakten. Es ist bereits geschehen. Die Wahrheit lässt sich nicht verbieten. Man kann nur versuchen, sie zu vertuschen, um weiter ungestraft zu morden, foltern und vergewaltigen.

    Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen

    Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Mein Land hat ein anderes Land überfallen, das einst ein Bruderland war, ohne jeden Grund und Anlass. Es hat Panzer geschickt, um die ukrainische Hauptstadt einzunehmen. Es hat Flugzeuge geschickt, um ukrainische Städte zu bombardieren. Es hat unzählige Menschenleben vernichtet. Dutzende von Städten dem Erdboden gleichgemacht. Es hat entgegen jedem internationalen Recht ukrainische Gebiete annektiert und zu seinem Eigentum erklärt.

    Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Sein Grauen und seine Sinnlosigkeit sind zu offensichtlich. Aber die, die ihn entfesselt haben – Wladimir Putin und sein engstes Umfeld – können nicht zurück. Denn nach allen Gesetzen der Menschlichkeit sind sie echte Verbrecher und fürchten deswegen die Strafe für diese Verbrechen.

    Doch in Russland herrscht heute das Gesetz des Stärkeren. Mit Gewalt werden Menschen gebrochen, mit Gewalt wird das Gesetz gebeugt, um vor Gericht das Recht zu erpressen, die Schwachen weiterhin zu brechen und das Gesetz weiterhin nach Belieben zu beugen. Das ist der Grund, warum in Russland menschenfeindliche Gesetze erlassen werden.

    Die Wahrheit ist verboten

    Man verbietet, den Krieg Krieg zu nennen, und ordnet an, ihn stattdessen als ,militärische Spezialoperation‘ zu bezeichnen, um sich weder von den eigenen Bürgern noch vor allen anderen für die unzähligen ukrainischen Opfer und die sinnlos geopferten russischen Soldaten rechtfertigen zu müssen. Man stopft jedem den Mund, der es wagt, ein Wort darüber zu verlieren. Die es doch tun, sperrt man für zehn oder fünfzehn Jahre ins Gefängnis.

    Man verbietet, die Wahrheit als Wahrheit zu bezeichnen und die Lüge als Lüge. Man verankert diese Verkehrung im Gesetzestext, indem man erwiesene Fakten als ,wissentliche Falschinformation‘ bezeichnet. Man erlaubt Morde an Unschuldigen. Man befiehlt, sie zu vertuschen. Man schafft die Strafe für die Verbrecher ab. Und spornt sie an, neue Verbrechen zu begehen.

    Die Staatsmacht zwingt uns in kürzester Zeit den Glauben auf, dass das unvorstellbar Böse normal und wünschenswert ist. Sie zwingt uns, die Grundprinzipien der Moral zu vergessen, die uns unsere Eltern von Klein an beibringen. Sie gewöhnt uns an die Lüge und ans Morden.

    Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten

    Das Verbot, die Wahrheit auszusprechen, und die Aufforderung, öffentlich Lügen zu verbreiten, hat einen Zweck. Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten. Ihren menschlichen Kern zu brechen, sie zu zwingen, aus Angst vor einer ungerechten Strafe auf sich selbst zu spucken, eigenständig ihre moralischen Grundfesten mit Füßen zu treten – ihr natürliches Verständnis davon, was menschliches Gesetz ist.

    Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Weil es der russischen Macht nicht gelungen ist, die Ukrainer zu entmenschlichen, entmenschlicht sie die eigenen Staatsbürger. 

    Selbsterhaltungstrieb der Staatsmacht

    Auch wenn die Verwüstungen in der Ukraine mit bloßem Auge, ja sogar aus dem Weltraum, zu sehen sind, – so ist folgendes zu konstatieren: Die Zerstörung, die der russische Apparat aus reinem Selbsterhaltungstrieb in der Seele der Nation, in der DNA unserer Gesellschaft losgetreten hat, gefährdet, auch wenn noch unsichtbar, die Existenz Russlands.

    Um sich heute selbst zu erhalten, zerstört die russische Staatsmacht die wunderschöne, aufblühende Ukraine und sie zerstört Russland, meine Heimat. Ich kann es nicht verhindern, aber ich kann auch nicht schweigen.

    Ich bin überzeugt, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine klar benenne. Ich bin überzeugt, dass das Verteidigungsministerium und die oberste Führung der Russischen Föderation gelogen haben und lügen, um diesen grausamen, sinnlosen Krieg zu rechtfertigen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass sie es sind, die an Russland und seiner Zukunft Verbrechen begehen, und nicht ich.

    Es gibt Gesetze, die niemand befolgen muss. Und ich werde sie nicht befolgen.”


    Dmitry Glukhovsky lebt seit 2022 im Exil. Im Mai 2023 erscheint sein neuester Roman Outpost – Der Aufbruch in deutscher Übersetzung von den dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.

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  • „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

    „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

    Bei einem Propaganda-Konzert im Moskauer Lushniki-Stadion am 22. Februar 2023 erscheint ein 15-jähriges Mädchen auf der Bühne. Sie heißt Anja Naumenko und kommt aus dem ukrainischen Mariupol. Sie ringt sichtlich um Fassung und sagt schließlich in Richtung eines russischen Soldaten: „Danke an Onkel Juri, dass er mich und meine Schwester und hunderttausende Kinder aus Mariupol gerettet hat.“ Auf der Bühne steht auch ihre jüngere Schwester Karolina, die sich wegen des Stadionlärms die Ohren zuhält. 

    Durch die Sozialen Medien stürmte sogleich eine Welle der Entrüstung und Fassungslosigkeit, das alles sei eine absolut zynische Instrumentalisierung leidgeprägter, traumatisierter Kinder – schließlich hatte die russische Armee Mariupol im vergangenen Jahr durch wochenlangen Beschuss weitgehend zerstört und dabei tausende Zivilisten getötet. Darunter auch die Mutter von Anja und Karolina, wie iStories später in einer Recherche feststellte.

    „[Sie haben gesagt:] ,Wer braucht euch denn in der Ukraine? Wir bringen euch ins Heim, dort werdet ihr schon alles verstehen‘“, berichtet ein Junge, den Russland nach Angaben der ukrainischen NGO Save Ukraine aus dem teilbesetzten Gebiet Cherson entführt hatte und der nun mit 16 weiteren deportierten ukrainischen Kindern in die Heimat zurückkehren konnte. Ukrainische Behörden sprechen von aktuell über 19.000 Kindern, die Russland verschleppt haben soll.

    Das Thema erhielt aktuell neue Aufmerksamkeit durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der sich nicht nur gegen Wladimir Putin richtet, sondern auch gegen Maria Lwowa-Belowa, die offizielle Beauftragte des Präsidenten für Kinderrechte in Russland. Der Strafgerichtshof sieht sie als mutmaßliche Kriegsverbrecherin, die für die Deportation ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Zu den Kriterien für einen Genozid an einer Volksgruppe zählt die UN-Völkermordkonvention von 1948 unter anderem die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

    Anna Ryshkowa und Regina Gimalowa haben sich intensiv mit dem Werdegang von Lwowa-Belowa befasst. Auf Verstka (Wjorstka) zeichnen sie das ausführliche Porträt einer Frau, die unter Putin eine erstaunliche Karriere hingelegt hat und das Image einer liebevollen Fürsprecherin des Kindeswohls pflegt.

    Am 27. Oktober 2021 traf sich Maria Lwowa-Belowa per Videocall mit Wladimir Putin. Am Vortag hatte sie ihr Amt als Beauftragte für die Rechte des Kindes angetreten, das zuvor ihre langjährige Freundin Anna Kusnezowa innehatte. Bei dem Treffen trug Lwowa-Belowa einen zartrosa Blazer mit einer Blumenbrosche – und begann ihre Rede mit der Bemerkung, dass sie sich bereits seit über 15 Jahren für die Rechte von Kindern einsetze. Da fragte Putin sie nach ihrem Privatleben:

    „Wie viele Kinder haben Sie denn?“
    „Neun, fünf leibliche und vier Pflegekinder, dazu noch die Vormundschaft für 13 Jugendliche mit Behinderung.“
    „Wie schaffen Sie das nur alles? Ich meine, auch noch Ihr soziales Engagement.“
    „So sind kinderreiche Mütter eben – Multitasking-Talente.“

    Am 9. März fand ihr nächstes Gespräch statt. Da wütete bereits seit über zwei Wochen Krieg. Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich die neue Ombudsfrau um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“. Anfang März waren bereits über tausend Waisenkinder nach Russland verbracht worden. „Der Präsident hatte betont, dass jedes außer Landes gebrachte Kind die Chance haben muss, eine Familie zu finden“, schrieb Lwowa-Belowa damals auf Telegram.

    Neun Monate nach Kriegsbeginn gibt sie zu, dass sie, kaum hatte sie ihr Amt angetreten, sofort „mittendrin“ war: „Die Spezialoperation begann, der Donbass, das alles … Ich schäme mich nicht für dieses Jahr, denn mein Team und ich haben nicht nur 100 Prozent, wir haben 150 Prozent gegeben.“

    Zu diesem Zeitpunkt steht die Staatsbeamtin bereits auf sieben internationalen Sanktionslisten – wegen der Organisation illegaler Transporte von Minderjährigen aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland. 

    1. Die Ernennung anstelle der Freundin

    „Besserer Background, mehr Kinder“

    Als Maria Lwowa-Belowa das Amt der Kinder-Ombudsfrau antrat, hatte sie es schon ins Präsidium des Generalrats von Einiges Russland geschafft, hatte bei den Wahlen für die Stadtduma von Pensa kandidiert und auf einem Senatorenposten gesessen. Ihre Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter.

    Lwowa-Belowas Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter

    „Als Anna Kusnezowa [im September 2021 in die Staatsduma] gewählt wurde, sollte sie eine Nachfolgerin vorschlagen“, sagt eine Quelle gegenüber Verstka. „Offenbar sollte es eine ganz ähnliche Person sein. Also nahmen sie Lwowa-Belowa.“

    Ein weiterer Zeuge von Lwowa-Belowas Ernennung erzählt Verstka, dass ihre Kandidatur aktiv von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefördert wurde – im Vergleich zu Anna Kusnezowa habe sie „einen besseren Background und mehr Kinder“.

    Lwowa-Belowa mit Patriarch Kirill im Inklusionszentrum Neue Ufer, Juni 2022 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Lwowa-Belowa mit Patriarch Kirill im Inklusionszentrum Neue Ufer, Juni 2022 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    2. Der Weg zur Macht: Musik, Kirche und Wohltätigkeit

    „Es ist nicht richtig, sein Leben nur den eigenen Kindern zu widmen“

    Geboren und aufgewachsen ist die zukünftige Beamtin in Pensa. Als ausgebildete Orchesterdirigentin für Unterhaltungsmusik unterrichtete sie an Musikschulen und an der Hochschule für Kultur und Kunst Gitarre. 

    Mit 19 Jahren heiratete Maria Pawel Kogelman, von Beruf Programmierer und außerdem Gemeindemitglied einer Kirche in Pensa. Er verliebte sich in seine zukünftige Ehefrau, als er sie im Chor singen sah. Pawel wünschte sich viele Kinder. Damit hatte er Lwowa-Belowas Herz sofort erobert. Denn wenn sie jemanden kennenlernte, der weniger als drei Kinder wollte, so ihre Worte, traf sie ihn kein zweites Mal.

    Das erste Kind bekam das Paar 2005. Zwei Jahre später kam das zweite. 

    Ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen

    2008 erfuhr Maria von der Station für ungewollte Kinder im städtischen Kinderkrankenhaus. Damit begann ihre Karriere im NGO-Bereich. „Wir besuchten die Kleinen, badeten sie und lasen ihnen Märchen vor, stellten die eigenen Kinder hintan. Das klingt vielleicht hart, aber ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen. Eine Frau braucht auch andere Aufgaben“, sagte die Staatsbeamtin in einem Interview.

    Aus dieser Wohltätigkeitsinitiative heraus entstand Lwowa-Belowas erste gemeinnützige Organisation: Blagowest (dt. Glockenton). Maria Lwowa-Belowa und Anna Kusnezowa kümmerten sich fortan gemeinsam mit ihren Gatten um die Resozialisierung von Waisenkindern. Doch die beiden zukünftigen Staatsbeamtinnen zerstritten sich, Kusnezowa verließ das Projekt, und der Verein wurde bald nach seiner Gründung wieder aufgelöst. Laut Lwowa-Belowa war das Zerwürfnis allerdings rein beruflich – bei einem von Kusnezowas Kindern wurde sie sogar Taufpatin. 

    „Die beiden waren ganz normale Mädchen, nur ein wenig orthodox“, erinnert sich im Gespräch mit Verstka Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus (dt. Bürgervereinigung) in Pensa. „Nach diesem Streit scheint zwischen ihnen irgendeine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft.“

    Es scheint irgeneine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft

    2014 trat Kusnezowa der Allrussischen Volksfront bei und wurde bald Leiterin der Bewegung Materi Rossii (dt. die Mütter Russlands). Zur selben Zeit gründete Lwowa-Belowa in Pensa ihr erstes großes Projekt Kwartal Lui – ein Rehabilitationszentrum, in dem Menschen mit Behinderung, die im Kinderheim aufgewachsen sind, auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden und nicht in neuropsychiatrischen Internaten landen. Für dieses Projekt bekam Lwowa-Belowa 400.000 Rubel vom regionalen Arbeitsministerium.  

    2016 wurde Anna Kusnezowa zur Beauftragten für die Rechte von Kindern ernannt. Von da an ging Lwowa-Belowas Karriere genau wie die staatliche Finanzierung ihrer Projekte steil nach oben. Lwowa-Belowa eröffnete weitere Reha-Zentren – größere und teurere.
          
    Ihr neues Projekt Dom Veroniki (dt. Veronikas Haus, ein Pensionat für junge Menschen mit schwerer Behinderung) wurde mit rund 27 Millionen Rubel gefördert – von der Regierung der Oblast Pensa, dem Fonds des bevollmächtigten Vertreters im Föderationskreis Wolga und der Stiftung des Präsidenten. In der Folge ließ Lwowa-Belowa ein ganzes Viertel für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bauen – Art-Pomestje Nowyje berega (dt. Kreativ-Dorf Neue Ufer).  

    Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte

    Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte. 2016 wurde sie von der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Orden dritten Ranges des Heiligen Apostelgleichen Großfürsten Wladimir ausgezeichnet. 2017 wurde sie Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Und bei den Präsidentschaftswahlen 2018 war sie Vertrauensperson von Wladimir Putin. 

    Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich Maria Lwowa-Belowa um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“ / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich Maria Lwowa-Belowa um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“ / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    Im November 2019 fand Lwowa-Belowa ihren Platz im Präsidium des Generalrats von Einiges Russland. Gleichzeitig beendete ihr Mann Pawel Kogelman seine Karriere als Programmierer und wurde Priester. Lwowa-Belowa befürchtete, sich nun einschränken zu müssen. Aber sie musste, wie sie sagt, nur „ein paar Miniröcke wegwerfen“. In weiterer Folge wurde Pawel Vorsteher der Kirche, die im Art-Pomestje Nowyje berega gebaut wurde.

    Bald übernahm Lwowa-Belowa das Amt der Senatorin im Föderationsrat der Oblast Pensa und gleichzeitig die Vormundschaft für weitere acht Jugendliche mit intellektuell-kognitiver Beeinträchtigung.  

    3. Politik: Kompromisse

    „Schweigen oder Zustimmen“

    Lwowa-Belowa hatte wiederholt betont, dass sie die Waisenkinder vor einer Unterbringung in neuropsychiatrischen Internaten bewahren möchte. Die aktive Kampagne eines gemeinnützigen Vereins gegen den Bau geschlossener Anstalten unterstützte sie jedoch öffentlich nicht. Sie ignorierte auch einen Brief an Putin, den 115 Vertreter von NGOs unterzeichnet hatten, die Menschen mit Behinderung unterstützen.

    Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor

    „Je näher Mascha und Anja der Partei standen, desto mehr unterstützten sie die Agenda der Regierung oder hielten den Mund“, bemerkt Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus. „Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor.“

    Im Juni 2021 machte die Wohltäterin ihren Abschluss für den Nachwuchskader des Präsidenten. Das Diplom überreichte ihr der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko. Im Oktober ernannte Putin sie zur Beauftragten für die Rechte des Kindes. Im selben Jahr übernahm die Staatsbeamtin die Vormundschaft für fünf weitere Heimkinder, die nach Ablauf der Jahre im Kinderheim nicht arbeitsfähig waren.

    Lwowa-Belowa erzählt, sie habe als Kind keinen besonderen Berufswunsch gehabt, aber immer gewusst, dass sie Mutter werden will. Als sie eine Familie hatte, habe sie begriffen, dass es für Kinder besonders wichtig sei, die Wärme der Eltern zu spüren, und sie lieber „mit Umarmungen“ als „mit intensiven Gesprächen“ erzogen.

    Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen

    Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder” umarmt / Foto © kremlin.ru  unter CC BY-SA 4.0
    Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder” umarmt / Foto © kremlin.ru  unter CC BY-SA 4.0

    Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen. Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder“ umarmt.

    4. Mit dem Krieg kommt der Karriereaufschwung

    „Wir wollen die bürokratischen Hindernisse beseitigen, damit die Kinder eine normale Kindheit haben“   

    Schon in den ersten Kriegstagen wurden aus den okkupierten Regionen der Ukraine Hunderte von Kindern nach Russland „evakuiert“. Die meisten von ihnen wurden in Auffanglagern in Feriendörfern und Kinderheimen untergebracht.
    Am 11. März letzten Jahres gab Lwowa-Belowa erstmals zu verstehen, dass ukrainische Waisenkinder in russischen Familien untergebracht werden sollen. Sie erklärte, Putin unterstütze dieses Vorhaben bedingungslos und habe sie angewiesen, „im Interesse der Kinder zu handeln“. 

    Verstka hat festgestellt, dass die Russen im Jahr 2022 im Suchfeld von Yandex 30.824 mal „Kind aus Donbass aufnehmen“ eingegeben haben. Rund die Hälfte dieser Suchanfragen – über 13.000 – stammen aus dem März und April. Zum Vergleich: Im Februar interessierten sich die User nur 218 mal für dieses Thema, und im gesamten Jahr 2021 belief sich die Anzahl solcher Suchanfragen auf null.

    Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?

    Lwowa-Belowa zufolge gab es tatsächlich sehr viele Anfragen. Für alle, die ein Kind aus den besetzten Regionen aufnehmen wollten, erstellte Lwowa-Belowa eine spezielle Anleitung.
    „Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?“, lautete Lwowa-Belowas Reaktion auf das Interesse der Familien.   
     
    Die Ombudsfrau unterstützte öffentlich die Propaganda-These von der „Rettung der Kinder aus dem Donbass“. Während andere Beamte vor allem von der Bedrohung durch Nazis sprachen, erging sich Lwowa-Belowa vorwiegend im Lob der russischen Familien. Nach ihrer Interpretation befinden sich die unter den Beschüssen leidenden Kinder „an der Grenze zwischen Finsternis und Licht“, und die Russen können ihnen „Schutz“ bieten und sie „mit Fürsorge und Liebe wärmen“. Mehrfach hat Lwowa-Belowa festgestellt, dass sich die vom Krieg traumatisierten Kinder in den russischen Familien „zum Besseren“ verändern würden: „Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Kinder werden sogar äußerlich ihren [Pflege-]Eltern ähnlich.“

    Von den „evakuierten“ Kindern berichtet die Ombudsfrau in ihrem Telegram-Kanal. Zum Beispiel vom kleinen Wanja aus der Volksrepublik Donezk, der im Bildungszentrum Leader in der Oblast Woronesh untergebracht ist. Jetzt sei Wanja „genau wie die Einheimischen“ und antworte nach einem Monat in Russland auf die Frage, woher er sei: „Aus Bobrow.“ Ein anderes Beispiel ist Bogdan aus Donezk, der ebenfalls in die Oblast Woronesh „evakuiert“ wurde. Die Ombudsfrau unterstreicht: Jetzt ist Bogdan in Sicherheit, schleift auf der Werkbank seine Basteleien und verspricht, beim Aufbau seiner Heimatstadt zu helfen.     

    Offiziell können russische Familien erst seit Ende Mai 2022 ukrainische Pflegekinder aufnehmen, seit Putin einen Erlass über ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft für Kinder „aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk und aus der Ukraine“ unterzeichnet hat. Doch Lwowa-Belowa war auch davor schon mit den „Volksrepubliken“ im Gespräch, um ukrainische Waisenkinder möglichst schnell in russische Familien zu bringen. Die ersten 27 Kinder kamen schon im April unter „vorübergehende Obsorge“ in die Oblast Moskau.

    Lwowa-Belowa begleitete die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks

    Bei der „Evakuierung“ aus den okkupierten Gebieten in die Russische Föderation begleitete Lwowa-Belowa die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks. 

    Bis Oktober 2022 waren allein offiziellen Angaben zufolge mehr als 380 Kinder aus Donezk und Luhansk in russische Familien vermittelt worden. Wie viele Kinder aus der Ukraine insgesamt in Kinderheimen auf neue Pflegeeltern warten, ist unbekannt, aber Journalisten stoßen immer wieder auf solche Fälle.

    Auf ihrer Dienstreise in die russisch besetzten Donbass-Gebiete im Juli 2022 trifft Lwowa-Belowa den Chef der „Donezker Volksrepublik“ Denis Puschilin / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Auf ihrer Dienstreise in die russisch besetzten Donbass-Gebiete im Juli 2022 trifft Lwowa-Belowa den Chef der „Donezker Volksrepublik“ Denis Puschilin / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    So erfuhr Verstka im Januar 2023 von mindestens 14 Kleinkindern aus Cherson, die sich im annektierten Simferopol im Kinderheim Jolotschka aufhielten. Diese Einrichtung machte 2020 wegen des grausamen Umgangs mit den Schützlingen als „Kinderkonzentrationslager“ Schlagzeilen. Im Februar gelangte der Fernsehsender Doshd in den Besitz einer Korrespondenz mit regionalen Vormundschaftsbehörden, aus der hervorging, dass im August des Vorjahres 400 Waisenkinder auf 24 Waisenhäuser verteilt worden waren. Nach Angaben der Journalisten wurden nur 36 von ihnen später in Familien untergebracht.

    Lwowa-Belowa behauptet, ihre Mitarbeiter würden nicht nur daran arbeiten, ukrainische Kinder an Pflegefamilien zu vermitteln, sondern sie auch mit Angehörigen der eigenen Familie zusammenführen. Als Beispiel führt die Ombudsfrau allerdings immer nur denselben Fall an: Ein Vater, der bei der ukrainischen Armee gedient haben soll, habe nach der „Filtration“ seine Kinder aus Russland zurück nach Hause geholt.

    „Wir sind sicher nicht daran interessiert, [die Kinder] ihren Eltern wegzunehmen und in irgendwelche russischen Familien zu stecken“, beteuerte die Politikerin.

    Verschleppungen von Waisenkindern können als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht

    Menschenrechtsaktivisten haben Lwowa-Belowas Mitwirkung an der Ausfuhr von Kindern in das Gebiet des Aggressorstaates wiederholt als Verstoß gegen das Völkerrecht bezeichnet. Einem Bericht des in den USA ansässigen Newlines Institute for Strategy and Policy und des kanadischen Raoul Wallenberg Centre for Human Rights zufolge können Verschleppungen von Waisenkindern als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht.

    Lwowa-Belowa reagiert auf die Kritik der internationalen Gemeinschaft mit Ironie. Im Juni, als die Ombudsfrau erstmals auf einer britischen Sanktionsliste auftauchte, veröffentlichte sie auf ihrem Telegram-Kanal einen scherzhaften Post: „Wir Russen halten als Familien und in Organisationen zusammen – und jetzt eben auch auf Sanktionslisten.“

    5. Familie: Adoptivsohn aus Mariupol

    „Sie ist der wundervollste Mensch“

    Im August erklärte Lwowa-Belowa, sie habe selbst ein ukrainisches Kind adoptiert – den 15-jährigen Filipp aus Mariupol. Der Teenager hatte sich seit Mai in Russland aufgehalten: Er war zusammen mit 30 weiteren Kindern aus Mariupol in das Sanatorium Poljana in Odinzowo [in der Nähe von Moskau] gebracht worden.

    Im Herbst brachte der TV-Sender Zargrad eine Reportage über Filipp mit dem Titel Das ist mein Kind. Darin erzählt der Junge, er habe vor dem Krieg bei Pflegeeltern in Mariupol gelebt, aber die hätten ihn nach Ausbruch des Krieges zurückgelassen. Man habe ihn daraufhin nach Russland ins Sanatorium Poljana gebracht, wo er zunächst sehr traurig gewesen sei. Aber das habe sich schlagartig geändert, als Lwowa-Belowa das Sanatorium besuchte:

    Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie

    „Auf einmal kam Mascha [Koseform von Maria – dek] herein, das werde ich nie vergessen“, erinnert sich Filipp im Gespräch mit dem Reporter von Zargrad. „Sie ist der wundervollste Mensch, den ich je in meinem Leben getroffen habe. Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie.“

    In einem der Videos von diesem Besuch in Poljana sieht man Lwowa-Belowa, wie sie zu einem jungen Mädchen ins Zimmer kommt, sich zu ihr aufs Bett setzt und sagt: „Ich bin für alle Kinder unseres Landes verantwortlich. Und solange ihr hier seid, bin ich auch für euch verantwortlich.“ Das Mädchen umklammert ihr angezogenes Bein mit den Armen, während Maria Lwowa-Belowa ihr die Hand auf das Knie legt.

    Bei ihren Treffen geht die Ombudsfrau immer maximal nah an die Kinder heran / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Bei ihren Treffen geht die Ombudsfrau immer maximal nah an die Kinder heran / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    Die Ombudsfrau geht bei ihren Treffen immer maximal nah an die Kinder heran. Sie setzt sich im Kleid mit untergeschlagenen Beinen auf Spielteppiche, nimmt Vorschulkinder auf den Arm, nimmt sie auf den Schoß, verteilt tröstende Umarmungen und Küsse. Bei Fernsehinterviews bittet sie die Journalisten, einfach Mascha zu sagen, während ihre Mitarbeiter sie „MA“ nennen – eine Abkürzung für Maria Alexejewna.Kurz vor dem Jahrestag der russischen Invasion, am 16. Februar 2023, traf sich Lwowa-Belowa mit Putin, um die Ergebnisse ihrer Arbeit zu besprechen. Sie sagte, sie wisse jetzt selbst, wie es sei, „Adoptivmutter eines Kindes aus dem Donbass zu sein“, weil sie den 15-jährigen Filipp aus Mariupol bei sich aufgenommen habe.

    „Dank Ihnen“, fügte die Kinderbeauftragte hinzu.

    6. Kinder der Ukraine: „Integration“

    „Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“

    Im Juli 2022 besuchte Maria Lwowa-Belowa Kinder, die im zerstörten Mariupol geblieben waren und erzählte ihnen, dass auch bei ihr zu Hause jetzt ein „kleiner Teil“ dieser Stadt leben würde. Bei dem gemeinsamen Foto riefen die Kinder anstatt „Cheese“ laut „Mariupol – Stadt der Zukunft“ in die Kamera.


    „Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“, sagte Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten

    Nach ihrem Besuch beschloss die Staatsbeamtin, den Kindern aus dem Donbass „das Gefühl von einem friedlichen Leben“ zurückzugeben, und veranstaltete zu diesem Zweck zwischen Juni 2022 und März 2023 sechs Feriencamps im Süden Russlands und im Umland von Moskau. Lwowa-Belowa empfing die Kinder persönlich mit Karawai und einer Bühnenshow in russischen Trachten.

    „Wir begrüßen euch so, weil ihr jetzt zu uns gehört“, sagte die Ombudsfrau zu den Jugendlichen.

    In der Praxis kehren von diesen Lagern nicht alle Kinder nach Hause zurück

    In diesen Feriencamps sollten die ukrainischen Jugendlichen im Rahmen eines Integrationsprogramms eine „psychologische Rehabilitation“ durchlaufen. Danach sollten sie nach Hause zurückkehren – in die, wie Lwowa-Belowa es nennt, „besonders stark beschossenen Gebiete“. Ihrer Ansicht nach würden die zwei Wochen im Lager nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern helfen: Die Kinder würden bei ihrer Rückkehr in die Heimatstadt ihren Familien eine „Ladung Zuversicht“ mitbringen, dass Russland sie „nicht im Stich lässt“. Allerdings kehren von diesen Lagern in der Praxis nicht alle Kinder nach Hause zurück.

    Anfang März 2023 hielten sich im Süden Russlands und auf der Krim nach Lwowa-Belowas eigener Aussage noch 89 Kinder in den „verlängerten Ferien“ auf. Niemand würde gegen seinen Willen dort festgehalten, beteuerte die Politikerin. Das Problem sei die kritische Lage an der Front und der Umstand, dass die Eltern die Kinder nicht selbst abholen könnten, erklärte Lwowa-Belowa. Um welche Lager es sich konkret handelt, sagte die Ombudsfrau nicht.

    Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden

    Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA-4.0
    Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA-4.0

    „Es sind Kinder aus den Oblasten Cherson und Saporishshja“, sagt ein Informant, der mit der Situation vertraut ist. „Sie können nur zurück, wenn die Eltern sie abholen. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Männer durch die Filtrationsmaßnahmen gar nicht reingelassen werden oder nicht rauskommen. Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten, der Fürsorge übergeben und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden.“In die Feriencamps werden außerdem recht merkwürdige Gäste eingeladen, wie zum Beispiel die Fernsehmoderatorin Xenja Borodina, die den Kindern erzählt, „wie man zu einem Leader der öffentlichen Meinung zu aktuellen Themen wird“, oder die Bloggerin TatarkaFM, die sich auf ihrem YouTube-Kanal darüber auslässt, ob Selensky „high“ und die Ukraine souverän sei.

    7. Kinder Russlands: Propaganda

    „Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“

    Maria Lwowa-Belowa kümmert sich nicht nur um das Schicksal von ukrainischen Kindern, sondern auch um die Erziehung der russischen Schüler – vor allem um die „patriotische“. Im Mai lud die Politikerin Jugendliche aus 82 russischen Regionen nach Moskau ein, damit sie ihre Projekte zum Thema Mobbing, zur Beziehung der Schüler untereinander und über glückliche Kindheit vorstellen konnten.

    Zu dem Forum waren, wie Verstka von den Teilnehmerinnen weiß, auch einige Jugendliche aus der sogenannten DNR (Donezker Volksrepublik) eingeladen – darunter die Zehntklässlerin Polina Tschitschkan aus Horliwka.

    Lwowa-Belowa veröffentlichte ein Foto der jungen Frau auf ihrem Telegram-Kanal mit dem Kommentar, die russischen Schüler würden P. „von den schrecklichen Ereignissen ablenken“.

    Maria Shidkowa und Alina Molodzowa, zwei Schülerinnen aus Tula, interpretierten den Aufruf auf ihre Weise und machten Polina zum Gesicht des Projekts Die Wahrheit der Kinder des Donbass. Sie veröffentlichten ein Video, in dem das Mädchen aus der „DNR“ vor der russischen und der Flagge der „DNR“ steht und gemeinsam mit anderen Schülern aus dem Donbass einen Text über das Leben unter Beschuss vorträgt.

    Verstka fragte Maria Shidkowa nach ihrem Eindruck von Treffen mit Lwowa-Belowa. Sie antwortete, die offene Art der Staatsbeamtin und ihre Liebe zu den Kindern habe sie sehr beeindruckt, und sie bezeichnete sie als Vorbild für die Jugend.

    „Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“, sagte die Schülerin. „Maria Alexejewna hat mir gezeigt, dass man Menschen helfen kann und es nicht schwer ist, das zu tun.“ Auf die Frage nach dem Sinn der Kampfhandlungen und dem Schicksal der Kinder, die Opfer in diesem Krieg geworden sind, wusste die junge Frau keine Antwort und fügte hinzu, dass sie „politisch ungebildet“ sei.

    Zum nächsten Schülertreffen – ein landesweites Forum der Kinder- und Jugendorganisation Bewegung der Ersten unter der Schirmherrschaft von [dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung] Sergej Kirijenko – nahm Lwowa-Belowa ihren Adoptivsohn aus Mariupol mit. Der Teenager betrat die Bühne in einem mit Messern, Rosen, Adlern, Stacheldraht und Matrjoschka-Puppen bedruckten Kapuzenpulli.

    Auch Polina Tschitschkan, die Schülerin aus Horliwka, nahm an diesem Forum teil. Gegenüber dem Fernsehsender Rossija-1 äußerte die junge Frau, sie würde ein „Zusammenwachsen der Nation und der neuen Gebiete“ beobachten. Wieder zurück in Horliwka nahm die Schülerin ein Video auf, in dem sie Gleichaltrigen von der Mission der „Bewegung“ erzählte: „Zu Russland halten“, „Mensch sein“, „Zusammen sein“, „in Bewegung sein“ und „Erster sein“.

    Im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern

    „Solche Organisationen erinnern sehr an die entsprechende Jugendbewegung im nationalsozialistischen Deutschland: Auch dort verbrachten die Kinder die meiste Zeit mit Sport, Musik und anderen unpolitischen Aktivitäten, aber in entscheidenden Momenten, unterstützten sie den Staat und die Armee“, erklärt Daniil Ken, Schulpsychologe und Leiter der Allianz der Lehrer, gegenüber Verstka. „Natürlich denkt Putin nicht so weit, die Erstklässler in ihren Feldmützen später mal zu seinen Soldaten zu machen. Aber im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern, bei dem ihre Eltern entscheiden müssen: Entweder sie wehren sich und setzen sich einer Gefahr aus, oder sie vereinbaren es irgendwie mit ihrem Gewissen und nehmen es in Kauf.“
     

    Lwowa-Belowa trifft Putin im Kreml, März 2022. / Foto © Mikhail Klimentyev/ITAR-TASS/imago-images

    Im März 2023 unterstützte Lwowa-Belowa das Adoptionsverbot von russischen Kindern durch Eltern aus „nicht freundschaftlich gesinnten“ Ländern.

    „Die Politik von ‚Cancel Russia‘ macht es sehr wahrscheinlich, dass russische Kinder im Ausland schikaniert und aufgrund ihrer Nationalität gedemütigt werden“, sagte die Ombudsfrau.

    Zur Stärkung der „internationalen Zusammenarbeit“ schlug die Staatsbeamtin vor, dieses Jahr Kindern in Afrika zu helfen. Und wie eine wahre Gläubige erbat sie dafür einen „Segen“ – allerdings nicht von einem Priester in der Kirche, sondern von Putin im Kreml.

    Verstka hat seine Fragen an das Büro von Lwowa-Belowa gerichtet. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Materials lag der Redaktion keine Antwort vor. 

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  • „Putin versucht mit aller Kraft, ein neues Russland zu verhindern“

    „Putin versucht mit aller Kraft, ein neues Russland zu verhindern“

    Die einen würden am liebsten eine gigantische Mauer um Russland bauen, während andere insgeheim darauf hoffen, dass alles möglichst bald wieder so weiter gehen möge wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr. Wie kann ein Miteinander in Europa aussehen, wenn nach Putin womöglich der nächste Putin kommt? Wie kann die russische Gesellschaft Angst und Hilflosigkeit überwinden und welche Rolle spielt dabei die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur? Darum geht es im zweiten Teil des großen Meduza-Interviews mit dem Moskauer Soziologen Grigori Judin, der darin auch leise Hoffnungen auf ein „unausweichliches neues Russland“ äußert.

    Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

    Margarita Ljutowa: Wie hat sich im vergangenen Jahr das Bild von Putin und Russland im Westen verändert? Meinen Sie, man hat jetzt das Ausmaß der Bedrohung begriffen, das bis 2022 wohl unterschätzt wurde?

    Grigori Judin: Bisher wurde zugegeben, dass die vormals herrschenden Vorstellungen [über Russland] grundfalsch waren. Was daraus folgt, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen bedenken, dass niemand auf diese Entwicklung vorbereitet war und daher noch immer ein reaktives Verhalten überwiegt. 

    Es gibt eine unübersehbare „Partei des 23. Februar“: Das sind Leute, die die Aggression verurteilen, sich aber wünschen, dass das alles irgendwie vorbeigeht und man dann wieder weitermachen kann wie früher. Das ist in erster Linie das globale Kapital, das nicht versteht, wieso es wegen irgendeiner Ukraine Geld verlieren soll. Ein beachtlicher Teil der westeuropäischen Geschäftswelt macht keinen Hehl daraus, dass das ein optimales Szenario wäre, und erwartet, dass die Ukraine endlich einen Teil ihres Territoriums abgibt. 

    Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen

    Die einen versuchen, die Ukraine offen unter Druck zu setzen (solche Initiativen gibt es, wenn auch nicht vorherrschend, in Deutschland), die anderen warten einfach darauf, dass die Widerstandskraft versiegt. Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen, und er nicht vorhat, mit jemandem zu reden. Wenn für ihn jedoch die Zeit kommt, seine Eroberungen abzusichern, dann wird die Situation eine andere Wendung nehmen – und er weiß von diesen Stimmungen [im Westen – dek], er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann. 

    Putin weiß von diesen Stimmungen, er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann

    Viele Politiker sehen das anders und wissen um die Gefahren eines solchen Szenarios. Um ihm jedoch eine Alternative anzubieten, bräuchte man eine Art Zukunftsvision, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und den gesamten Kontinent. Und da kommt es zu Schwierigkeiten. Der am stärksten in den Krieg involvierte Teil Europas besteht darauf, dass Russland keine andere Zukunft haben kann – es ist für sie ein „genetisch geschädigtes“ Land, das dazu verdammt ist, eine Gefahr darzustellen. Nach Putin kommt wieder Putin – in dem Punkt stimmen die Vertreter dieser Position mit [dem Sprecher der Staatsduma] Wjatscheslaw Wolodin überein. Die Bilder von der bestialischen Brutalität der russischen Soldaten verstärken solche Sichtweisen. 

    Aber was folgt daraus? Natürlich könnte man rund um Russland eine Mauer bauen und sie mit Maschinengewehren bewachen. Dann wäre es aber in der gesamten Region vorbei mit der Sicherheit, denn das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg, und man kann nicht abschätzen, was davon für alle schlimmer ist. 

    Natürlich könnte man um Russland eine Mauer bauen. Das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg

    Rational denkende Menschen wie [der französische Präsident] Emmanuel Macron verstehen, dass man Sicherheit nicht erzielen kann, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Weil aber Macron auch davon überzeugt ist, dass Russland immer einen Putin haben wird, kommt er zu dem logischen, aber absolut aussichtslosen Schluss, dass man mit Putin verhandeln muss. Und tatsächlich, solange niemand Russland von der Landkarte tilgen will und zwischen Russland und Putin ein Gleichheitszeichen steht, wird man Putin entgegenkommen müssen. Jene Menschen, die mit Schaum vorm Mund allen einzureden versuchen, dass Russland zum ewigen Putin verdammt ist, bekommen am Ende konsequenterweise Spitzenpolitiker, die Verhandlungen mit Putin anstreben – obwohl sie allem Anschein nach das genaue Gegenteil erreichen wollen. 

    Diesen Knoten wird man nicht lösen können, solange die Frage nach der Vertretung von Russlands Interessen im Raum steht. Russland hat wie jedes andere Land auch ein Recht auf Sicherheitsgarantien – alles andere führt zu Instabilität. Es ist natürlich sinnlos, dieses Thema mit Putin zu besprechen. Um also zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann, wie es Wolodymyr Selensky nüchtern formuliert.   

    Um zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann

    Das wird übrigens endlich die Voraussetzung dafür schaffen, dass die feigen russischen Eliten aktiv werden. Gerade die müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Zukunft nicht von einem Menschen allein abhängt, dass Russland irgendwann auch ohne Putin weiterbestehen wird. Solange Russland mit seiner jetzigen Regierung gleichgesetzt wird (oder genauer gesagt, nicht einmal mit der Regierung, sondern mit dem einen Menschen, der seinen Sicherheitsrat mit dem Angriff auf die Ukraine in einen totalen Schock versetzt hat), ist kein Ausweg in Sicht. Im Interesse aller muss man das eine vom anderen trennen. Der einzige Mensch, der ein Interesse an dieser Gleichsetzung hat, ist Wladimir Putin. 

    Was kann man machen, um diese Gleichsetzung aufzuheben? Man denkt da sofort an Belarus, das nach den Massenprotesten wohl von niemandem mehr mit Lukaschenko gleichgesetzt wird. Braucht es also Massenproteste? Oder irgendeine Exilregierung, die der Welt den Entwurf eines neuen Russland präsentiert?

    Diese beiden Dinge schließen einander nicht aus. Sicherlich würde eine ernstzunehmende Bewegung wie in Belarus, die endlich den tyrannischen Charakter dieser Regierung aufdeckt, zweifellos helfen. Eine solche Bewegung kann aber auch angeregt werden, indem man ein alternatives Russland skizziert. Zumal die Voraussetzungen dafür, wie mir scheint, gar nicht so schlecht sind: Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland. Russland ist ein ziemlich großes Land, es verfügt über genügend Ressourcen, junge, aktive Schichten, die die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Putin versucht mit aller Kraft, das unausweichliche neue Russland zu verhindern, in dem für ihn kein Platz sein wird. 

    Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland

    Nach zwei Jahrzehnten unter Putin verlieren die Russen natürlich die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Aber das Leben wird dafür sorgen, dass wir unsere Phantasie ein bisschen mehr anstrengen. Unser Land ist in eine Sackgasse geraten, mit der Zeit werden wir nicht umhinkommen, das zu begreifen. Wir haben einfach noch ein paar Meter vor uns, also bewegen wir uns weiter. Aber es ist eine Sackgasse, sie führt nirgendwohin. 

    Als wir vor diesem Interview unsere Gesprächsthemen festlegten, sagten Sie zur Frage des aktuellen Zustands der russischen Gesellschaft, zu ihrer Atomisierung, zur kollektiven Handlungsunfähigkeit, dass das Reden über das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit nur noch verstärken würde, was Sie aber vermeiden wollen. Gibt es Methoden, zu der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Ohnmachtsgefühl zu nähren?

    Während die primäre Emotion in Russland Kränkung ist, ist der stärkste Affekt, um den sich heute alles dreht, die Angst. Existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn eines konkreten Menschen oder Angst vor dem Krieg, und eine abstraktere Angst vor dem Chaos. Angst, multipliziert mit der Gewissheit, dass der Tyrann allmächtig ist und auf jeden Fall bekommt, was er will: Bisher hat er es immer bekommen, also wird es auch weiterhin so sein. Diese mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst, die braucht eine Antwort. 

    Die mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst braucht eine Antwort

    Angst treibt man mit Hoffnung aus. Das ist der gegenteilige Affekt. Man muss den Menschen Hoffnung geben. Insofern sind die nachvollziehbaren, begründeten Vorwürfe [gegen die Menschen in Russland] politisch perspektivlos. Noch mal: Sie sind verständlich, begründet und legitim, aber politisch aussichtslos. Wir haben es mit Menschen zu tun, die von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt und verängstigt sind, und Sie wollen ihnen noch zwei Kilogramm Schuld aufladen. Was soll dabei herauskommen?

    Die Frage ist, wie man in dieser Situation Hoffnung gibt. Die Hoffnung besteht gerade darin, zu zeigen, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte. Und die Wahrheit ist: Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen.

    Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte

    In Russland ist jeder normative Diskurs längst im Keim erstickt: Es ist schon lange so gut wie unmöglich, danach zu fragen, wie man eine Gesellschaft aufbauen sollte, wie das auf gerechte, ehrliche und gute Weise gelingt. Schon vor Jahren haben mir Menschen [bei Umfragen] auf solche Fragen geantwortet: „In Russland? Gar nicht.“ Das zeigt, dass der normative Diskurs unterdrückt ist, aber die Nachfrage danach wird unweigerlich steigen, je mehr den Menschen diese Sackgasse bewusst wird. Dann ist es wichtig, dass sie Hoffnung haben.

    Gibt es in diesem Leben in Angst multipliziert mit Hoffnungslosigkeit einen Point of no Return, einen Moment, nach dem die Hoffnung die Menschen nicht mehr erreicht? Wenn einer, der einen Plan für eine „wundervollen Zukunft“ vorlegt, nicht mehr gehört wird?

    Das weiß ich nicht. Wenn wir von Affekten sprechen – die sind nie für die Ewigkeit. Aber können wir uns vorstellen, dass ein Affekt, wenn er auf die absolute Spitze getrieben wird, das soziale Umfeld dermaßen zerstört, dass man daraus nichts mehr bauen kann?

    Ich glaube daran, dass die russische Kultur Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden

    Ich glaube an Russland. Ich glaube an die russische Kultur im konkreten Sinn – ich glaube daran, dass sie Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden. Darin liegt ihre Stärke. Nicht darin, dass Puschkin ein großer Dichter war. Sondern darin, dass sie eine Fundgrube für Weisheiten und Ratschläge ist, für Antworten auf die Fragen, die uns heute beschäftigen. Ich glaube, dass die russischen Denker, Schriftsteller, die intellektuellen Ressourcen, die wir haben, unsere Traditionen und Gewohnheiten, Antworten auf diese Herausforderung enthalten.

    Sie haben sicher den Diskurs vor Augen, der im Moment in Verbindung mit der russischen Kultur meistens geführt wird: dass sie imperial ist, eine Sklavenmentalität herangezüchtet und genährt hat usw. …

    Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch des Imperiums ist ein guter Moment dafür. Erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein, das tut sie nicht. Dasselbe gilt auch für [das Werk eines] konkreten Autors. Kann man bei einem konkreten Autor imperiale Ideen finden? Man kann und man sollte. Aber muss man ihn deswegen im Ganzen verschmähen oder gutheißen? Man muss diese Person ja nicht mit all ihren Fehlern heiraten.

    Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen

    Kultur entwickelt sich weiter, indem sie sich selbst verarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber Kritik darf keine Selbstverleugnung sein. Dann weißt du ja schlichtweg nicht mehr, wer du bist und was du kritisierst: Wenn man sich selbst verleugnet, von welchem Standpunkt aus übt man dann Kritik? Eine Kultur kann nicht ausschließlich imperial sein, sonst gäbe es auch keine Imperialismuskritik – es muss ja etwas vorhanden sein, was diese Kritik hervorbringt.

    Die Kultur schafft selbst die Standpunkte für Selbstkritik. Daran ist nichts demütigend, es ist kein Problem, sie [die imperialen Ideen] in der russischen Kultur aufzuspüren, sie herauszustellen und zu analysieren, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen. Nein, sie erschöpft sich nicht darin. Genauso wie sich die deutsche Kultur nicht im deutschen Imperialismus erschöpft oder die britische Kultur im britischen.

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  • „Dieser Krieg wird nie aufhören“

    „Dieser Krieg wird nie aufhören“

    Grigori Judin gehört derzeit zu den gefragtesten Stimmen in unabhängigen russischen Medien und das nicht ohne Grund: Nur wenige Experten im dortigen Diskurs haben den russischen Überfall auf die Ukraine so präzise vorhergesagt wie Judin, der zwei Tage vor Beginn des Großangriffs am 24. Februar 2022 in einem Gastbeitrag für openDemocracy schrieb, Putin sei kurz davor, „den sinnlosesten Krieg unserer Geschichte“ zu beginnen. 

    Ein Jahr später spricht der Moskauer Soziologe mit Margarita Ljutowa von Meduza über seine aktuelle Einschätzung der Lage. Im ersten Teil geht es um das Gefühl der Kränkung in der russischen Gesellschaft als Nährboden für einen „ewigen Krieg“, bei dem es um weit mehr als die Ukraine geht, und warum Putin trotz der Rückschläge glaubt, alles richtig gemacht zu haben.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.

    „Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen“ – Soziologe Grigori Judin im Interview mit Meduza / Foto Screenshot aus Skashi Gordejewoi/Youtube

    Margarita Ljutowa: Die heutige Politik Russlands wird von vielen so verstanden, dass für Putin der Krieg ein endloses Unternehmen ist. In seiner jüngsten Botschaft an die Föderationsversammlung hat er das wohl wieder bekräftigt: Er verlor kein Wort darüber, wie Russlands Sieg aussehen soll und was danach kommt. Was meinen Sie, ist Putins Plan tatsächlich ein ewiger Krieg?

    Grigori Judin: Ja, natürlich, dieser Krieg wird nie aufhören. Er hat keine Ziele, nach deren Erreichen er beendet werden könnte. Er wird einfach immer weitergehen, weil „sie“ [in Putins Vorstellung] Feinde sind und uns töten wollen – und wir sie. Für Putin ist das eine existenzielle Konfrontation mit einem Gegner, der vorhat, ihn zu vernichten. 

    Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen

    Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen. Er wird sich immer weiter ausdehnen.

    Die russische Armee wird in aller Eile vergrößert, die Wirtschaft auf Kanonen umgestellt, und Bildung wird zum Werkzeug von Propaganda und Wehrerziehung. Das Land wird auf einen großen, schweren Krieg vorbereitet.      

    Und dann ist ein Sieg für Putin von vornherein unmöglich?

    Absolut unmöglich. Den setzt sich auch niemand zum Ziel, es gibt keine Definition, was überhaupt ein Sieg wäre.

    Ist das Kriegsziel also einfach Wladimir Putins Machterhalt?

    Das ist ungefähr dasselbe: Putin stellt sich seine Regentschaft als Dauerkrieg vor. Putin und sein Umfeld erzählen uns seit Jahren, dass gegen uns Krieg geführt wird. Manche haben das lieber ignoriert, aber [Putin und sein Umfeld] glauben wirklich, dass sie schon lange in einen Krieg verwickelt sind. Nur ist dieser Krieg inzwischen in eine so aggressive Phase eingetreten, dass es offenbar keinen Ausweg mehr gibt. In dieser Weltsicht ist Krieg grundsätzlich die Norm. Hören Sie einfach auf, Frieden für den Normalzustand zu halten – dann sehen Sie die Situation mit deren Augen. Wie [Natalja Komarowa,] die Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen sagte: „Der Krieg ist ein Freund.“ 

    Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch in der Ukraine, erschien auf der Website von openDemocracy ein Artikel von Ihnen, in dem Sie sowohl den drohenden großen Krieg als auch Putins Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen beschrieben, mit denen die westlichen Länder auf diesen Krieg reagieren würden. Im zweiten Teil erörterten Sie, dass der Krieg gegen die Ukraine „einer der sinnlosesten Kriege der Geschichte“ werden würde. Was meinen Sie, hat die russische Gesellschaft im vergangenen Jahr begonnen, das zu begreifen?

    Nein, ich glaube nicht. Sehr viele haben das sofort deutlich gesehen, diese Gruppe hat jedoch seitdem keinen Zuwachs bekommen. Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet, und genau hier befindet sich Wladimir Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft. Zwar teilt keineswegs die ganze Gesellschaft seine wahnhaften Theorien, aber hier trifft er auf Resonanz und produziert darüber hinaus auch noch selbst diese Emotion. Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann. An eine produktive Gestaltung internationaler Beziehungen lässt sich unter diesen Umständen nicht einmal denken.

    Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet: eine ungeheure, grenzenlose Kränkung

    Wissen Sie, das ist wie bei einem Kleinkind, das beleidigt ist und den anderen Schaden zufügt. Dieser Schaden wird immer größer und größer, und irgendwann fängt das Kind an, anderen Leuten und gleichzeitig sich selbst das Leben zu zerstören. Aber dem Kind ist das nicht bewusst, es kommt nicht auf die Idee, dass es an den Beziehungen arbeiten muss.

    In Russland gibt es ein schönes Sprichwort: „Beleidigte sind gut fürs Wasserschleppen.“ Eines Tages werden wir verstehen, dass sich diese Kränkung gegen uns selbst richtet, dass wir uns selbst damit schaden. Aber noch halten zu viele von uns an ihrer Gekränktheit fest.           

    Von wem fühlen sich denn Putin und die russische Gesellschaft so gekränkt? Von der ganzen Welt? Vom Westen? Den USA?

    Von der Weltordnung insgesamt, die ungerecht erscheint, und folglich von dem, der als Senior-Partner die Verantwortung für diese Welt übernimmt, also von den USA. Das sind Vorwürfe gegen die ganze Welt – in dem Sinn, dass das menschliche Leben einfach schlecht konstruiert ist. 

    Ich muss immer an eine Aussage von Putin Mitte 2021 denken. Er sagte damals völlig ohne Anlass, es gebe im Leben überhaupt kein Glück. Das ist eine starke Aussage für einen politischen Leader, der ja eigentlich von der Idee her das Leben der Menschen verbessern, ihnen irgendwelche Ideale, Anhaltspunkte vermitteln sollte. Und da sagt dieser Mensch [sinngemäß]: „Im Leben gibt es kein Glück. Die Welt ist generell ein schlechter, ungerechter, schwer erträglicher Ort, an dem die einzige Daseinsform darin besteht, permanent zu kämpfen, sich zu prügeln und im Extremfall zu töten.“   

    Dieses Beleidigtsein auf die ganze Welt ist in Russland stark verwurzelt, und es wird auf den projiziert, der vermeintlich für diese Welt verantwortlich ist: die USA. Die Vereinigten Staaten haben tatsächlich ab einem gewissen Punkt die weltweite Verantwortung übernommen – was nicht immer von Erfolg gekrönt war. Und wir sehen, dass das Ressentiment, von dem ich jetzt spreche, wahrlich nicht nur in Russland existiert (wo es katastrophale, schauderhafte Formen annimmt).

    Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, neigen dazu, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen

    In einem großen Teil der Welt gibt es eine durchaus begründete Kritik an der herrschenden Weltordnung, an die Adresse der USA, die die Verantwortung übernommen haben, zum Hegemon wurden und in vielen Aspekten Nutznießer dieser Ordnung sind. Wir sehen, dass jene Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, dazu neigen, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen. Das ist der globale Süden, der seit Jahrzehnten unter einer immer stärkeren Ungleichheit leidet und teilweise auch, zumindest symbolisch, unter den wahnwitzigen außenpolitischen Abenteuern, in die sich die USA gestürzt haben. Dasselbe gilt für Teile der Bevölkerung des globalen Nordens, die sich ebenfalls gekränkt und als Opfer fühlen. Fast überall, wo man diesem Ressentiment begegnet, trifft man auch auf ein größeres Verständnis für Putins Vorgehen.     

    Ich würde nicht sagen, dass dieses Verständnis in Unterstützung umschlägt – Putin hat nämlich nichts anzubieten. Er reproduziert einfach ständig dieselben Fehler, nur in immer schrecklicheren Dimensionen. Einer meiner Kollegen formulierte mal sehr treffend das Grundprinzip der russischen Außenpolitik: „Was die anderen nicht dürfen, können wir auch.“ Es ist ja kaum zu übersehen, dass Putin genau das anstrebt, wofür er die USA kritisiert. Insofern ist es schwierig, ihn [im Ausland] zu unterstützen, aber viele wollen sich ihm in dieser Gekränktheit anschließen.  

    Gab es dieses Ressentiment in der russischen Gesellschaft schon vor Putin, also in den 1990ern? Oder wurde es erst unter Putin gezüchtet?

    In jeder Gesellschaft gibt es immer die unterschiedlichsten Emotionen. Ein Politiker muss immer herausfinden, auf welche er setzt. Einige Gründe für diese Gekränktheit gab es [in der russischen Gesellschaft] natürlich durchaus. Sie haben mit der belehrenden Rolle zu tun, die die Vereinigten Staaten und teilweise auch Westeuropa einnahmen. Ideologisch verpackt wurde das in der Modernisierungstheorie, der zufolge es entwickelte Länder und Entwicklungsländer gibt. Und die entwickelten belehren – durchaus wohlwollend und unterstützend – die Entwicklungsländer: „Leute, macht das mal lieber so und so.“ Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land, das selbst eine imperiale Vergangenheit hat. 

    Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land mit imperialer Vergangenheit

    In Wirklichkeit war die Situation, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, viel komplexer. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland [nach dem Zerfall der UdSSR] zu einer ganzen Reihe führender internationaler Foren eingeladen wurde und Einfluss auf große globale Entscheidungen hatte. Erinnern wir uns an die Kehrtwende des damaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow über dem Atlantik, an die von Jelzin angeordnete Entsendung von Truppen nach Jugoslawien – mit einem Wort, auf Russland musste man hören. Es gab jedenfalls diplomatische Ressourcen, die man hätte ausbauen können und müssen. 

    Aber diesen belehrenden Ton [Russland gegenüber], den gab es durchaus. Er war das Ergebnis eines schweren ideologischen Fehlers. Angesichts des gescheiterten sozialistischen Projekts glaubten viele, es gäbe nur den einen geraden Weg: die berühmte Theorie vom „Ende der Geschichte“. Insofern ja, die Voraussetzungen für Ressentiments waren vorhanden, aber es gab auch welche für andere Emotionen.    

    Es gab etliche konkurrierende Narrative über den Zerfall. Eines davon war die Volksrevolution

    Außerdem war die Beschreibung und das Erleben des Zusammenbruchs der UdSSR als katastrophale Niederlage ganz bestimmt nicht vorprogrammiert, es gab etliche konkurrierende Narrative [die die Bedeutung des Zerfalls für die Bevölkerung beschrieben]. Eines davon bestand darin, dass es sich um eine Volksrevolution gehandelt habe, ein ruhmreicher Moment in der Geschichte des russischen und anderer Völker, weil es ihnen gelungen ist, ihr verhasstes, tyrannisches Regime zu stürzen. Dieses Konzept hätte natürlich nicht in die Kränkung geführt.     

    Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden. Er hat dieses Gefühl immer weiter geschürt

    Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden, was wohl teilweise mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Wobei es auch kein Zufall ist, dass ausgerechnet ein Mensch an die Spitze kommt, der eine angeborene Gekränktheit mitbringt. In der Folge hat Putin dieses Gefühl immer weiter geschürt. Und Kränkung ist ansteckend. Es ist eine bequeme Emotion: Erstens fühlst du dich die ganze Zeit im Recht, zweitens unverdient niedergemacht. 

    Sie haben mehrfach geäußert, dass Putin Ihrer Meinung nach in der Ukraine nicht Halt machen wird. Was meinen Sie damit genau? Moldawien, die baltischen Länder oder einen selbstzerstörerischen Krieg gegen die USA?

    Diese Art von Weltbild kennt im Grunde keine Grenzen. „Russland hört nirgendwo auf“ ist praktisch die offizielle Formel. Das ist die Standard-Definition eines Imperiums, denn ein Imperium erkennt keine Grenzen an.

    Die ersten Grenzen in Europa entstanden 1648, mit dem Westfälischen Frieden, der das Ende der Imperien einleitete. Da kam erstmals der Gedanke auf, zwischen den Ländern Grenzen zu ziehen: „Hier sind wir, da seid ihr.“ Ein Imperium erkennt diesen Gedanken nicht an: „Wir sind da, bis wohin wir gekommen sind. Und ihr seid dort, wo wir noch nicht sind. Sobald wir da sind, seid ihr weg.“

    In dieser Logik gibt es prinzipiell keine Grenzen, und es ist kein Zufall, dass wir nie hören, dass Russland irgendwelche Grenzen offiziell anerkennt. Wir bekommen höchstens das unbestimmte Gefühl mit, dass es irgendwo einen Westen gibt, und der ist uns irgendwie fremd. Nicht, dass er so gar nicht zu uns gehören würde, aber doch beginnt dort ein Bereich, den man nur noch sehr schwer einnehmen kann. Der Westen natürlich in dem [ideologischen] Sinn, den er in der Sowjetzeit innehatte.

    Putin sagte ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei

    Ich möchte an das Ultimatum [von Putin gegenüber den USA und der NATO] vom Dezember 2021 erinnern: Damals sagte Wladimir Putin ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei. Wie das formell aussehen wird, mit oder ohne Verlust der formellen Souveränität – was spielt das für eine Rolle? Diese Einflusssphäre umfasst zweifellos auch die ehemalige DDR, einfach weil Wladimir Putin damit persönliche Erinnerungen verbindet. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er dieses Territorium nicht als seines betrachtet. Putin hat definitiv vor, die Zone des Warschauer Paktes wiederherzustellen – und dann mal schauen, wie es läuft.

    Ich höre oft: „Das ist doch Unfug, wie soll das funktionieren? Das ist irrational, das ist Wahnsinn, dazu hat er gar nicht die Möglichkeiten!“ Ich erinnere daran, dass das Gleiche vor Kurzem noch über die Ukraine gesagt wurde. Oder über Moldau, und jetzt hören wir, dass die moldauische, die ukrainische und die Regierung der USA Moldau als ernsthaft bedroht einschätzen. Wir haben bereits gesehen, dass Moldau in den Plänen der aktuellen Militäroperation immer wieder vorkam, es hat sich nur noch nicht ergeben.

    Wir sollten zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass eine Handlung, die Person X unternimmt, zum Erfolg führt. Etwas anderes ist es, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass Person X diese Handlung unternimmt. Man mag zu Recht der Meinung sein, dass dieses Handeln zum Scheitern verurteilt ist, aber daraus folgt nicht, dass die Person es nicht tut. Nicht, weil die Person irrational wäre, sondern weil sie zum Beispiel der Meinung ist, keine andere Wahl zu haben.

    Die allgemeine [russische] Strategie sieht in etwa so aus: Wir greifen uns ein Stück, das wird für legitim erklärt, und im nächsten Schritt greifen wir uns auf Grundlage dieser Legitimität etwas anderes.

    Mithilfe eines Waffenstillstands können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden

    [In der Logik dieser Strategie] greifen wir uns, grob gesprochen, zuerst die Ostukraine, mithilfe eines wie auch immer gearteten Waffenstillstands. Auf diese Weise können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden. Die globale Wirtschaft hat somit einen guten Grund, nach Russland zurückzukehren (das sie größtenteils gar nicht verlassen hat), während im Gegensatz dazu unter solchen Bedingungen niemand in die Ukraine investieren wird. Das schafft die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß [Russlands] in der Ukraine.

    Putin ist überzeugt, dass die NATO auseinanderbrechen wird, sobald die Zeit gekommen ist, Artikel 5 auf die Probe zu stellen

    Daraufhin werden in Europa bald Stimmen zu hören sein, die sagen: „Am Ende war es doch ihr Territorium, jetzt haben sie sich geeinigt und gut ist.“ Aber Moment mal, wenn das „ihr“ Territorium ist, russisches Territorium, weil man dort russisch spricht, was ist dann zum Beispiel mit dem Osten Estlands? Man kann antworten: Aber Estland ist in der NATO! Doch wird die NATO um Estland kämpfen? Putin ist überzeugt: Sollte Artikel 5 der NATO zum richtigen Zeitpunkt auf die Probe gestellt werden, dann würde die NATO auseinanderbrechen. Und das aus einem einfachen Grund: Sie wissen im Grunde, dass sie sich etwas genommen haben, das ihnen nicht gehört, und deswegen werden sie kneifen und nicht darum kämpfen, wenn es ernsthaft bedroht wird.

    Wenn niemand in Westeuropa bereit ist, für die Gebiete im Osten zu kämpfen (zur Erinnerung: All das geschieht [in diesem Szenario], nachdem Russlands Annexion ukrainischer Gebiete durch unterschriebene Dokumente legitimiert wurde), dann gibt es da natürlich noch die USA. Aber die USA könnten zu diesem Zeitpunkt bereits einen anderen Präsidenten haben, dem Osteuropa nicht so wichtig ist.

    Putin wird so viel bekommen, wie man ihm lässt

    Lassen Sie mich klarstellen: Ich halte das Gesagte nicht für das wahrscheinlichste Szenario. Es beschreibt Putins Strategie, aber Putin beherrscht nicht die Welt – er wird so viel bekommen, wie man ihm lässt. Aber völlig ausgeschlossen ist das alles nicht. Ich spreche von durchaus realistischen Dingen.

    Man kann sich gut vorstellen, dass Putin und sein engster Kreis am 24. Februar 2022 so gedacht haben. Aber es ist ein Jahr vergangen – und der Westen ist nicht zersplittert, mehr noch, er leistet der Ukraine spürbare Unterstützung. Ist es denkbar, dass dieses Jahr und die Ergebnisse der russischen Militärkampagne sich auf die Weltsicht, die Sie gerade beschrieben haben, ausgewirkt haben?

    Ja, bestimmt. Ich nehme an, Wladimir Putin ist jetzt überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Selbst wenn er Zweifel hatte, dann [weiß er jetzt, dass sie] unberechtigt [waren]. Dieses letzte Jahr hat ihm gezeigt: Wenn der Westen so sehr an der Ukraine hängt, dann ist sie offenbar doch eine Schlüsselregion, von der aus man ihn angreifen wollte. Außerdem ist es [aus Putins Sicht] gut, dass die aktuellen Probleme sich vor dem echten Krieg offenbart haben, den die russische Führung für unausweichlich hält. Viel schlimmer wäre es [in ihrer Logik], mit dieser Armee in diesen [zukünftigen] großen Krieg zu gehen. Das heißt, alles, was geschieht, bestärkt Putin nur in seinen Ansichten.

    Der geplante Blitzkrieg um Kyjiw ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?

    Es gibt so eine Phrase: „Putin hat sich verkalkuliert“. Aber wir sollten endlich aufhören, Wladimir Putin so geringzuschätzen. Sicher, wir haben gesehen, dass ein Blitzkrieg um Kyjiw geplant war, und der ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?

    Dieser Krieg wurde jahrelang vorbereitet. Es wäre merkwürdig, wenn es nur einen Plan gäbe. Bei einem Machthaber, der seit Langem an nichts anderes denkt als an die Vorbereitung auf diesen Krieg, funktioniert das so nicht. [In Putins Logik klingt das so:] „Ja, es ist nicht perfekt gelaufen, aber das macht nichts, wir bleiben dran. Wir sind bereit, so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht. [Die Ukraine] gehört uns, und irgendwann werden sie das einsehen und aufhören, ihre wertvollen Ressourcen zu opfern.“

    In Putins Logik klingt das so: Wir sind bereit so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht

    Ich sage nicht, dass diese Taktik funktionieren wird. Mehr noch, ich denke, dass Putins eigene Logik ihn zur Niederlage verdammt – unbewusst will er verlieren. Die Frage ist, wie viele Menschen sterben werden, bevor es dazu kommt. Aber wenn wir die Situation vorhersehen wollen, müssen wir die Logik verstehen, nach der die Menschen handeln [, die in Russland an der Macht sind].

    Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das Putin zwingen würde, sein Weltbild in Zweifel zu ziehen?

    Nein. Nichts.

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  • Sergej Lawrow

    Sergej Lawrow

    Sergej Lawrow ist ein Profi, wie es keinen zweiten gibt auf der internationalen Bühne: Im März 2024 sind es 20 Jahre, die er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt vertritt. In dieser Zeit hat er sieben US-Außenministerinnen und Außenminister kommen und gehen sehen. Trotzdem sind die Momente rar, in denen sichtbar wurde, wofür Lawrow selbst eigentlich steht. Seine Rolle ist die eines äußerst erfahrenen, eloquenten und blitzgescheiten Beamten, der seine Talente ganz in den Dienst seines Präsidenten stellt und dessen Willen mit aller Härte durchsetzt – aber auch mit Tricks und Lügen.

    Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru
    Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

    Das einzige Mal, als Sergej Lawrow Wladimir Putin öffentlich widersprochen hat, liegt inzwischen zwölf Jahre zurück: 2012 setzt der US-Kongress die Namen russischer Politiker und Beamter, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, auf eine Sanktionsliste. Als Antwort auf dieses sogenannte Magnitski-Gesetz will der Kreml die Adoption russischer Waisenkinder durch US-Bürger verbieten. Das trifft vor allem schwer kranke und behinderte Kinder, für die in Russland keine Adoptiveltern gefunden werden und für die es in russischen Kliniken keine angemessene medizinische Versorgung gibt.

    Lawrows Ministerium hat mit den Amerikanern in jahrelangen Verhandlungen Regeln für Adoptionen solcher Kinder ausgearbeitet. Als er auf einer Pressekonferenz im Dezember nach dem geplanten Adoptionsverbot gefragt wird, sagt er knapp: „Das ist falsch.“ Zehn Tage später unterschreibt Putin das Gesetz. Russische Medien berichten, der Präsident habe ein „hartes Gespräch“ mit seinem Außenminister geführt. Lawrow widerruft öffentlich und behauptet, er sei nie gegen das Adoptionsverbot gewesen.

    Die Magnitski-Liste und das darauf folgende Dima-Jakowlew-Gesetz markieren den endgültigen Schlusspunkt hinter dem Neustart-Versuch, den die Obama-Regierung vier Jahre zuvor mit Moskau unternommen hatte. Am 6. März 2009 hatten Lawrow und die US-Außenministerin Hillary Clinton in Genf einen symbolischen „Reset“-Knopf gedrückt, auf den die Amerikaner irrtümlich das Wort „перегрузка“ (peregruska, dt. Überlastung) geschrieben hatten anstelle von „перезагрузка“ (peresagruska) für Neustart. Nach dem Georgien-Krieg sollte noch einmal ein Versuch unternommen werden, das Verhältnis mit Russland zu retten. Der neue Präsident Dimitri Medwedew, so hoffte man in Washington, könnte dafür eine Gelegenheit bieten. Dieses Kapitel war mit der Rückkehr Putins in den Kreml abgeschlossen. Und genauso loyal wie Lawrow unter dem Interims-Präsidenten Medwedew mit den Amerikanern neue Abkommen verhandelt hatte, wickelte er nun die Annäherung wieder ab und schaltete um auf Konfrontation. 

    Der öffentliche Widerspruch an die Adresse seines Chefs blieb ein einmaliges Ereignis. Seitdem folgt Sergej Lawrow der außenpolitischen Linie, die in der Präsidialverwaltung vorgegeben wird, bis zur Selbstverleugnung. Als er 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor der versammelten außenpolitischen Elite der Welt die „Angliederung“ der Krim mit der deutschen Wiedervereinigung verglich und behauptete, sie sei konform mit der UN-Charta verlaufen, muss ihm klar gewesen sein, wie absurd diese Behauptung war. Tatsächlich vergaßen die anwesenden Diplomaten für einen Moment ihre Höflichkeit und brachen in spontanes Gelächter aus. Das muss schmerzhaft gewesen sein für einen, der über mehr Erfahrung im außenpolitischen Geschäft verfügt als irgendjemand sonst im Saal, und der Gesprächspartner auch gern seine Überlegenheit spüren lässt.

    Selfmade Tschinownik

    Möglicherweise kommt Sergej Lawrows großes Selbstbewusstsein auch daher, dass er weiß, dass er seine Karriere niemand anderem als sich selbst zu verdanken hat. Die Familie, in der er 1950 geboren wurde, gehörte nicht zur Sowjet-Nomenklatura. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Als Abiturient schuftete er auf der Baustelle für den Moskauer Fernsehturm in Ostankino – wer keine Beziehungen hatte, konnte mit solchen Arbeitseinsätzen seine Chancen auf einen Studienplatz verbessern.

    Eigentlich habe er vorgehabt, Physik zu studieren, erzählte Lawrow vor einigen Jahren. Aber weil die Aufnahmeprüfungen für das Institut für Internationale Beziehungen schon früher stattfanden, habe er sich auf den Rat seiner Mutter hin dort beworben. Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) war die Kaderschmiede der sowjetischen Diplomatie und ist heute die Kaderschmiede der russischen Diplomatie. Sie hat ein eigenes kleines Museum, das inzwischen auch ein bisschen ein Lawrow-Museum ist: Hier hängt die Fahne seiner studentischen Wandergruppe und die Hymne der MGIMO, die Lawrow geschrieben hat und die heute von den Studierenden gesungen wird. Im eigenen Haus ist Lawrow mehr als ein Chef, er ist auch ein Vorbild. 

    Am MGIMO lernt er neben Englisch und Französisch auch Singhalesisch. Nach seinem Abschluss wird der junge Nachwuchsdiplomat 1972 auf seine erste Station an die sowjetische Botschaft in Sri Lanka geschickt. Vier Jahre später kehrt er zurück nach Moskau ins Außenministerium. 1981 wird er Erster Sekretär der sowjetischen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Als er in New York ankommt, haben sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen gerade wieder verschlechtert: Nachdem Breshnew zunächst zaghafte Entspannungspolitik betrieben hatte, hat sich der Kalte Krieg mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 wieder verschärft. Auf ihrer sechsten Dringlichkeitssitzung forderte die  Generalversammlung mit 104 zu 18 Stimmen den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Lawrow vertritt stoisch die Linie der sowjetischen Propaganda: Die Soldaten leisteten „friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe“. 1982 stirbt Breshnew, zwei Nachfolger kommen und gehen, erst ab 1985 erfahren die Menschen in der Sowjetunion im Zuge von Glasnost vom tatsächlichen Krieg und den zahlreichen Toten. 

    Perestroika

    Lawrow bleibt bis 1988 bei der UNO. Derweil läuft zuhause die Perestroika auf Hochtouren. Zurück in Moskau wird er im Außenministerium stellvertretender Verantwortlicher für Wirtschaftsbeziehungen, später Referatsleiter für internationale Organisationen, stellvertretender Außenminister, und ab 1994 zehn Jahre lang UN-Botschafter. Bemerkenswert ist: In den Jahren des großen Umbruchs sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow beide im Auslandseinsatz. Doch während der KGB-Offizier Putin im „Tal der Ahnungslosen“ des sozialistischen Bruderlandes DDR lebt und versucht, Gaststudenten für den KGB anzuwerben, lernt der Diplomat Lawrow in New York den American Way of Life kennen und Whiskey und Zigarren schätzen. Heute spricht noch immer der Gopnik aus Putin. Derweil ist sein Außenminister als Mann von Welt ein Unikat in der russischen Elite.

    Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg stehen die Zeichen zu Beginn der 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wird, dann vor allem von den USA. Wenn bei einer Meinungsumfrage nach einem Land gefragt wird, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte, auch dann nennen die Befragten in Russland zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sehen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 

    Wie die meisten Politiker durchlebt auch Lawrow eine eigene Perestroika und wird zu einem Freund Amerikas. Sozialisiert unter dem Außenminister des Kalten Krieges Andrej Gromyko – dem berüchtigten „Mister Njet“ – muss Lawrow von nun an die Vorgaben des neuen Außenministers Kosyrew erfüllen. Dieser gilt als „Mister Ja“, Kritiker werfen ihm den Ausverkauf russischer Interessen vor, Michail Gorbatschow klagte gar, das russische Außenministerium sei unter Kosyrew eine Filiale des US-amerikanischen gewesen.2 

    Neustart 

    Der erste Stimmungswandel kommt in den Jahren 1998 und 1999. Damals fallen viele Ereignisse zusammen: die NATO-Intervention im Kosovokrieg, der Zweite Tschetschenienkrieg und die erste NATO-Osterweiterung vom 12. März 1999. Die Wogen hatten sich gerade geglättet, da beginnen die USA 2003 den Krieg im Irak: Lawrow stimmt im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen und weiß dabei China, Frankreich und Deutschland an seiner Seite. Nach der großen internationalen Solidarität in der Folge des Terrors vom 11. September 2001 nimmt in vielen Ländern die kritische Einstellung zu den USA wieder zu. 

    Am 9. März 2004 ernennt Wladimir Putin Sergej Lawrow zum Außenminister. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen inszeniert sich der hochgewachsene Lawrow als ein weltgewandter Gentleman. Längst hat er einen Ruf als blitzgescheiter Verhandler, bei dem sich Sachkenntnis und ein kluger Humor paaren. Diplomaten aus aller Welt haben ihn bereits als UN-Botschafter respektiert.3 Putin pflegt eine Männerfreundschaft mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, Lawrow – mit seinem Counterpart Frank-Walter Steinmeier. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama im Juli 2009, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirken zunächst eine neuerliche Annäherung. Doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo.

    Antiwestliche Wende

    Die Frage, wann der Kreml die antiwestliche Wende vollzogen hat, ist strittig: Viele sehen in Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 den Startschuss. Die anderen argumentieren, dass der ab 2009 vollzogene Reset die Wogen tatsächlich zunächst geglättet habe, und die antiwestliche Kontinuität erst mit der Reaktion des Kreml auf die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 ihren Lauf nahm. Der Kreml brandmarkte die Protestwelle damals schnell als ein Ergebnis des amerikanischen Einflusses. Dann folgten die Magnitski-Liste und das Dima-Jakowlew-Gesetz. 

    Seit er in der Frage der Adoption russischer Waisenkinder vor Putin eingeknickt ist, verwandelt sich Lawrows Rolle mehr und mehr von der eines geschickten Verhandlers und respektieren Diplomaten zu einem Werkzeug seines Präsidenten, der die Außenpolitik dazu nutzt, von innenpolitischen Problemen abzulenken und neue Feindbilder zu schaffen, um darüber seine Herrschaft zu legitimieren. Als hybrider Krieger dreht Lawrow gemeinsam mit Putin die Eskalationsspirale. Seit der Krim-Annexion und den ersten Sanktionen, die als Antwort darauf verhängt wurden, dreht sie sich noch schneller. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew verglich in diesem Zusammenhang die russische Außenpolitik mit dem Verhalten eines Gopnik und schrieb: „Die hauptsächliche Exportware Russlands ist nicht Öl oder Gas, sondern Angst.“ 

    Drohung und Beleidigung als neue Mittel der Diplomatie 

    Wenn Diplomaten für die Kunst der Verhandlung und des Dialogs stehen, dann sind Gopniki ihr Gegenteil: Sie sind Meister der Drohung, der gewaltsamen Sprache und des Monologs. Tatsächlich wurde der Ton der russischen Außenpolitik im Zuge der Bolotnaja-Proteste derber, und spätestens seit der Krim-Annexion gehören Gossenjargon und Beleidigungen zum festen Repertoire russischer Diplomaten. Die Propaganda-Organe preisen ihre verbalen Ausfälligkeiten als „Bestrafungen“, Kritiker werten den ostentativen Hang zu stilistisch derberen Registern als Dialogverweigerung und kalkulierten Bruch mit der Welt. In Russland kommt dieses Auftreten derweil gut an: „Die haben (wieder) Angst vor uns“ wird zu einer gängigen Propagandaformel, „Lawrow hat … ausgelacht“ zu einem beliebten Motiv der Propagandamedien.4 

    Gentleman und Gopnik – Lawrow beherrscht beide Rollen

    Lawrow hat in seiner Karriere zahlreiche Kehrtwenden mitgemacht Er begann unter Gromyko als ein scharfer Gegner des US-Imperialismus, vollzog während der Perestroika eine Kehrtwende und wurde 2014 zu einem Wiedergänger Gromykos, wobei er mit den häufigen Vergleichen durchaus kokettiert.5 Lawrow beherrscht den Spagat zwischen Gentleman und Gopnik, Sachargument und Whataboutism. Er kann beides sein: Intellektueller und Apparatschik, Stimme der Vernunft und Scharfmacher. Letzteren gibt er etwa im Fall Lisa, als er 2016 deutschen Behörden vorwirft, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen. Sein einstiger Duz-Freund Frank-Walter Steinmeier wirft ihm daraufhin Propaganda vor.

    Außenminister Lawrow (links) und der russische Präsident Wladimir Putin während des Afrika-Gipfels in Sankt Petersburg im Juni 2023 / Foto © Yevgeny Biyatov/POOL/IMAGO/ITAR-TASS

    Lügen gehören inzwischen ebenso zu Lawrows Handwerkszeug wie die Litanei internationaler Spielregeln, Verträge und Präzedenzfälle, die er bei Bedarf im Schlaf aufsagen könnte. Seit der Krim-Annexion hat der Außenminister eine lange Liste von Lügengeschichten erzählt: Von der Behauptung, russische Soldaten kämpften nicht in der Ostukraine über die Fakes, die russische Auslandsvertretungen verbreiten6 bis hin zu den Vorwürfen, Washington betreibe Labore für Biowaffen in der Ukraine und arbeite an der „Endlösung der Russenfrage“7. Doppeldenk, Täter-Opfer-Umkehr, krude Verschwörungsmythen und primitiver Antiamerikanismus – das alles ist einem Ziel untergeordnet: Bewirtschaftung des Feindbildes zur Herstellung eines Ausnahmezustands und Rally ‘round the Flag Effekts. Die Argumentation ist schlicht und lässt sich auf fünf Punkte8 herunterbrechen:

    1. Die USA haben die NATO bis vor Russlands Grenzen ausgedehnt. Sie betreiben Revolutionsexport und führen Europa an der Leine. Im Ergebnis sind wir von Feinden (Nazis) umzingelt und müssen uns verteidigen (wie im Großen Vaterländischen Krieg).
    2. Sie („Pindossy“, „Gayropa“) sind moralisch verfault, wir stehen für die wirklichen Werte (Duchownost, Skrepy).
    3. Sie sind Heuchler und haben Doppelstandards (Kosovo, NATO-Osterweiterung, Irak), wir stehen für Gerechtigkeit („in der Wahrheit liegt die Kraft“, „Gott ist mit uns“, „Krim nasch“).
    4. Sie sind an allem Schuld, weil sie schon immer andere unterworfen und ausgebeutet haben (Kolonialismus, Imperialismus, Irak) – wir kämpfen immer für die Entrechteten und sind deshalb ihr nächstes Ziel.
    5. Wir haben die Atombombe. 

    Wofür Lawrow selbst steht, das lässt sich hinter dieser Rhetorik immer schwerer erahnen. Gewiss ist nur, dass Lawrows persönliches Interesse in einem Punkt deckungsgleich ist mit dem Interesse seines Landes: Lawrow erwartet Respekt. Früher wurde er ihm für seine Gescheitheit und seine Erfahrung entgegengebracht. Die Lacher auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 haben gezeigt, dass der Respekt verloren geht, je weiter Russland die Wahrheit verdreht. Im März 2023 wiederholte sich die Situation, als Lawrow auf einer Konferenz in Indien behauptete, Russland sei in der Ukraine der Angegriffene. Immer öfter greift Lawrow daher zur Drohung, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende dieser Entwicklung bleibt die Angst, die Russland mit seinen Atomkriegs-Szenarien auszulösen in der Lage ist, als letzter außenpolitischer Erfolg, den die Regierung noch erzielen kann.

    Überarbeitet am 8. März 2024


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  • Andrej Beloussow

    Andrej Beloussow

    Russlands neuer Verteidigungsminister Andrej Beloussow ist ein prominentes Beispiel dafür, wie die technokratische Elite Russlands über Systembrüche hinweg ihr Sozialkapital an die nächsten Generationen weitergibt. Beloussows Vater Rem Alexandrowitsch (1926–2008) schloss 1950 die Diplomaten-Kaderschmiede MGIMO ab, arbeitete danach an dem planwirtschaftlichen Lenkungssystem mit und an Reformen zu Effizienzsteigerungen sowjetischer Unternehmen. Später wurde er Wissenschaftler der auf Staatsverwaltung spezialisierten Akademie für Gesellschaftswissenschaften. 

    Damit war die spätere Karriere seines Sohnes Andrej, geboren am 17. März 1959, gewissermaßen vorgezeichnet: Zunächst besuchte er die elitäre Zweite Mathematik- und Physikschule in Moskau.1 Danach studierte und promovierte er an der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Staatlichen Universität. Schon sein früher Bildungsweg weist auf ein prägendes biografisches Merkmal von Beloussow hin: Einerseits profitierte er vom sozialen Milieu seiner Moskauer Nomenklatura-Akademikerfamilie. Andererseits helfen persönliche Beziehungen wenig beim Lösen mathematischer Probleme – ohne Talent und Disziplin hätte er diese Abschlüsse wohl nicht geschafft. Insofern ist die Dichotomie zwischen Kompetenz und Loyalität,2  auf die Wissenschaftler häufig in Bezug auf Putins Personalpolitik verweisen, holzschnittartig: Beloussow hat Regimetreue und Etatismus geradezu mit der Muttermilch eingesogen und sicher auch von Patronage profitiert. Allerdings war es gerade seine Fachexpertise und oft treffgenaue Wirtschaftsprognosen, die seinen Aufstieg beförderten.3 

    Nomenklatura-Putinismus

    Zwischen 1990 und 2006 war Beloussow wissenschaftlicher Mitarbeiter und später Leiter des Labors des Instituts für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften. Schon Ende der 1990er Jahre war er Wirtschaftsberater der Regierungen Primakow und Stepaschin, mit der Gründung seines eigenen Think Tanks ZMAKP nahm er vermehrt auch an der Ausarbeitung richtungsweisender Planungsdokumente teil, wie der unter der Leitung von German Gref entworfenen Strategie-2010, dessen Vize er 2006 im Wirtschaftsministerium wurde. Zwischen 2008 und 2012 war Beloussow Abteilungsleiter für Wirtschaft und Finanzen im Apparat des Premierministers Wladimir Putin, zu dessen wichtigstem Wirtschaftsberater er zwischen 2013 und 2020 in der Präsidialverwaltung aufstieg.

    Kein eigenes Team, aber ein weitreichendes Elitennetzwerk

    Beloussow wird nachgesagt, dass er kein eigenes Team habe. Und in der Tat: Alle Posten, die er bisher im Staat bekleidete, waren entweder beratender oder koordinierender Natur. Dadurch hatte er keinen großen Stab oder gar eine eigene Behörde unter sich. Ebenso gehört er keinem der Clans an, denen Personen aus dem innersten Zirkel Putins vorstehen. Beloussows Mandat hängt allein von Putins Gunst und Vertrauen ab. Gleichzeitig hat sich Beloussow über die Jahrzehnte ein weit verzweigtes Beziehungsnetzwerk aufgebaut, das viele Schlüsselakteure in der Elite und in Staatsunternehmen umfasst.

    Beloussow gilt auch wegen seiner fehlenden Clan-Affiliation als wenig korrupt. Es fehlen Hinweise auf die üblichen Attribute von hochrangigen Staatsdienern wie Luxus-Penthäuser, weitläufige, mit Villen bestückte Grundstücke in teuren Gegenden oder die informelle Kontrolle über Anteile an Unternehmen. Sehr ausgeprägt in Beloussows Umgebung ist allerdings der Nepotismus: Sein Sohn Pawel gründete nach dem Abschluss der Moskauer Technischen Bauman-Universität zusammen mit seiner Frau 2015 das Beratungsunternehmen Claire & Clarté, das unter anderem das Ministerium für Industrie und Handel, Rostec, Roskosmos und Rosatom als Kunden hat. Anfangs waren die Auftragssummen noch gering. Im Jahr 2023 jedoch stieg der Umsatz auf knapp 600 Millionen Rubel, was vor allem auf das Rüstungsunternehmen Rostec zurückzuführen ist.4

    Diese Auftragnehmer gehören zum direkten Einflussbereich Beloussows. Aufgebaut hat er sich diesen Wirkungskreis als Wirtschaftsberater von Putin und Vizepremier. Rostec-Chef Sergej Tschemesow soll etwa sowohl gute Beziehungen zu Putin pflegen wie auch zu Beloussow, für Rosatom und Roskosmos saß Beloussow sogar im Aufsichtsrat. Daneben war er Vorstandsmitglied von Rosneft und der Russischen Eisenbahn RShD.

    Diese Posten boten tiefe Einblicke in staatlich kontrollierte Unternehmen, mit Rosatom und Roskosmos waren dies auch Schlüsselunternehmen der Rüstungsindustrie. Zwischen 2014 und 2020 war Beloussow Mitglied der Kommission für Rüstungsindustrie beim Präsidenten und ab 2022 koordinierte er als Vizepremier das militärische Drohnenprogramm. Gleichzeitig war er als Präsidentenberater einer der informellen Kuratoren der Söldnertruppe Wagner und pflegte enge persönliche Kontakte zu Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin.5 Beloussow kannte somit die Rüstungsindustrie schon lange vor seinem Wechsel ins Verteidigungsministerium sehr gut.

    Rüstungsindustrie und atomare Orthodoxie

    Neben seinen weitreichenden Kontakten in die höchsten Staatsebenen und Schlüsselindustrien gibt es einen weiteren Bereich, der eine besondere Rolle in Beloussows Lebenswelt spielt: die Orthodoxie. Beloussow ließ sich 2007 im Alter von 47 Jahren taufen, seither gibt er sich als tiefgläubig orthodox.6 Der russisch-orthodoxe Glaube geht bei ihm über das Private hinaus und markiert die Zugehörigkeit zu Netzwerken, die weit in die Staatsverwaltung, Sicherheitsbehörden und Wirtschaft hineinreichen. Derzeit sind die sogenannte „Athos-Bruderschaft“ und die „Diwejewo-Bruderschaft“7 die bedeutendsten dieser informellen Netzwerke. Zu den Athos-Brüdern, die nach dem im nordöstlichen Griechenland gelegenen Berg Athos und der gleichnamigen Mönchsrepublik benannt ist, werden unter anderem die Rotenberg-Brüder, Wladimir Jakunin, Sergej Tschemesow und Igor Setschin zugerechnet. Nachdem Pilgerfahrten in das NATO-Mitgliedsland Griechenland immer schwieriger wurden, wuchs die Bedeutung des Klosters in Diwejewo, zu deren „Bruderschaft“ Beloussow gehört.8

    Der heutige Pilgerkomplex Arsamas-Diwejewo-Sarow ist nicht nur für die Russisch-Orthodoxe Kirche aufgrund des Heiligen Serafim von Sarow von größter spiritueller Bedeutung. Im Sarow-Kloster war zu Sowjetzeiten das Designbüro KB-11 ansässig, das eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der sowjetischen Atombombe spielte. Und auch heute noch ist das Allrussische Forschungsinstitut für Experimentalphysik in Sarow (früher Arzamas-16) Kernbestandteil des russischen Atomprogramms. 

    Der Aufstieg von Diwejewo begann, als Sergej Kirijenko 2005 zum Rosatom-Chef wurde und das Unternehmen zum Hauptsponsor für die Restaurierung der örtlichen Kirchen machte. Neben Kirijenko und Beloussow zählen auch die Kowaltschuk-Brüder, Premier Mischustin, Vizepremier Tschernyschenko, oder etwa auch der Regisseur Nikita Michalkow zu den Gönnern von Diwejewo. Die Bedeutung der „Diwejewo-Bruderschaft“ liegt also gerade in der Verquickung der Russisch-Orthodoxen Kirche mit der atomaren Rüstungsindustrie. Dieses Phänomen bezeichnete der Militärexperte Dmitry Adamsky als „Russlands nukleare Orthodoxie“9.

    Wirtschaftspolitik und Kriegswirtschaft 

    Die Ernennung Beloussows zum Verteidigungsminister hatte niemand vorhergesehen. Eine der plausibelsten Theorien ist, dass er die vorhandenen Ressourcen angesichts des massiv gestiegenen Militärhaushalts effizienter nutzen soll. Gleichzeitig wird seine Aufgabe sein, die zivile und militärische Integration der Rüstungsproduktion voranzutreiben. Und zwar nicht nur als Mittel, um den Krieg zu gewinnen und Russland langfristig den Status einer militärischen Großmacht zu sichern. Sondern auch, um mithilfe der staatlichen Rüstungsausgaben das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.10 Die Berliner Soziologieprofessorin Katharina Bluhm ordnete Beloussow in der Zeit vor der Vollinvasion als jemanden ein, der ausgiebige staatliche Kontrolle über die Wirtschaft befürwortet.11 Das Bild von Beloussow als derschawnik vertreten auch ehemalige Mitstreiter, die ihn in den 1990er Jahren im Zuge eines intellektuellen Diskussionsklubs über Außenpolitik kennenlernten: Er sei schon damals ein Etatist gewesen, der für einen starken Staat in der Wirtschaftspolitik und außenpolitisch für Russlands Positionierung als Großmacht eintrat.

    Im Gegensatz zu vielen anderen Anhängern des Dirigismus in Russland teile Beloussow laut Bluhm jedoch nicht „die Agenda der illiberalen Konservativen“. Anders als der von Schoigu abgelöste langjährige Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, setzte er sich beispielsweise nicht dafür ein, zur Mobilisierungswirtschaft überzugehen.  Beloussow steht vielmehr dem sogenannten „militärischen Keynesianismus“ nah. Diese Art der makroökonomischen Politik will die Gesamtnachfrage in der Wirtschaft durch höhere Militärausgaben erhöhen, um mit der so gesteigerten zivilen und militärischen Binnennachfrage das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.12

    Andrej Beloussow und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml im November 2023 / Foto © Gavriil Grigorov/Russian Presidential Press and Information Office/TASS/imago-images

    Einige Weggefährten beschreiben Beloussow als „progressiven sowjetischen Ökonomen“,13 der die Sowjetunion viel lieber reformiert als kollabiert gesehen hätte. Beloussow selbst äußerte sich jedoch noch im Dezember 2021 ablehnend gegenüber Spekulationen, Russland würde zur ökonomischen Planungsbehörde Gosplan zurückkehren: „In der Sowjetunion war der Gosplan nur die Spitze des Eisbergs. Es war eine sehr verzweigte, schwere, riesige Maschine, die extrem ineffizient arbeitete. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde Gosplan heute wieder einführen wollen“14, sagte der Sohn eines ehemaligen Gosplan-Mitarbeiters 2021 im Interview mit Forbes.

    Ähnlich negativ äußerte er sich nach Beginn der Vollinvasion im Juni 2022 über die Perspektive, Russland in eine Mobilisierungswirtschaft zu transformieren.15 Für die Entwicklung Russlands bevorzugt Beloussow stattdessen eine Methode, die er „situatives Reagieren“ nennt, also kurzfristige Anpassungen und Veränderungen aufgrund von akuten Problemen. Dieses „situative Reagieren“ sei Beloussow zufolge wenig risikobehaftet und würde größere gesellschaftliche Unterstützung genießen, weil es wenig soziale Verwerfungen nach sich ziehe. Vor diesem Hintergrund erklärt sich sein Rezept, das Wirtschaftswachstum durch Binnennachfrage und höhere Staatsausgaben fürs Militär anzukurbeln und dabei günstige Kreditzinsen zu gewährleisten, da es gesellschaftlich wenig disruptiv ist. Mit diesem Zugang will Beloussow größtmögliche technologische Souveränität und die sogenannten nationalen Entwicklungsziele erreichen. 

    Diese hatte Putin in seinem Mai-Ukas 2012 den föderalen und regionalen Exekutiven vorgeschrieben. Seither beschäftigte Beloussow sich damit, diese Ziele zu messen und zu kontrollieren, was ihm das Image eines Buchhalters eingebracht hat. Allerdings bleibt die Umsetzung der nationalen Ziele trotz zunehmender Zentralisierung höchst mangelhaft. Zum einen liegt das an schwachen staatlichen Institutionen, zum anderen verleiten derartige quantitative Indikatoren Behörden dazu, diese zu fälschen, um dem Kreml Loyalität zu signalisieren.16

    Technologische Souveränität als Grundlage der „Staat-Zivilisation“ Russland

    Als Verteidigungsminister ist Beloussow neben dem Präsidenten und dem Generalstabschef eine der drei Personen, die im Besitz eines Atomkoffers sind. Im Gegensatz zu seinen früheren Posten im Staat wurde er plötzlich zu einem der zentralen Entscheidungsträger der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Dennoch ist Beloussow keineswegs ein unbedarfter Neuling auf diesem Gebiet, er bringt ein ausgeprägtes Weltbild mit ins neue Amt. So soll er etwa als einziger hochrangiger Wirtschaftsexperte aus dem Umfeld Putins die Annexion der Krim befürwortet haben und versicherte Putin, dass die russische Wirtschaft den Sanktionsschock gut abfedern könne.17 Seine Grundüberzeugung ist deswegen auch, dass Russlands Lage sich „kardinal“ und „langfristig“ aufgrund von tektonischen Verschiebungen in der Weltpolitik verändert, was entsprechende Anpassungen vonnöten macht. Russland versteht er dabei nicht als Nationalstaat, sondern als eine „Staat-Zivilisation“ (gosudarstwo-ziwilisazija)18, also eine eigene Zivilisation mit einer eigenen Subjektivität und einem eigenen kulturellen Code. Dabei sieht er Russland keineswegs in absoluter Gegnerschaft zu Europa, sondern als Hüterin der gemeinsamen traditionellen, konservativen Werte, von denen sich der Westen immer weiter verabschiede. Die Grundvoraussetzung einer Zivilisation mit eigener Sinnhaftigkeit sieht Beloussow in der Souveränität, die nur wenige Staaten wie die USA, China, Indien und auch Russland besitzen. Nur Souveränität könne ein Überleben in der multipolaren Welt garantieren. Beloussow war eine der treibenden Kräfte hinter der nationalen Strategie zur Erreichung der technologischen Souveränität bis 2030, die die Regierung am 25. Mai 2023 verabschiedete. Nur durch Souveränität können Beloussow zufolge Russlands nationale Entwicklungsziele erreicht werden. 

    Wie wirkmächtig dieses Konzept und somit auch Beloussows Denkweise ist, lässt sich auch daran erkennen, dass Souveränität in Bezug auf Wirtschaft, Finanzen, Kader und Technologie ein zentraler Begriff in Putins Ansprachen an die Nation der Jahre 2023 und 2024 war. In Beloussows Weltsicht ist die Wende Russlands nach Osten und Süden nur konsequent und auch keineswegs eine neue Idee. Sein Vater Rem war schon in den 1970er und 1980er Jahren als Wirtschaftsberater in Südostasien unterwegs. Juri Jarjomenko, einer seiner wichtigsten Mentoren in der Sowjetzeit, zitierte häufig die konfuzianische Weisheit: „Ein wahrer Mann hat nur zwei Aufgaben: die Natur zu beobachten und dem Staat zu dienen.“19 Im Amt des Verteidigungsministers wird Beloussow wenig Zeit für die Natur haben. Aber er wird dem Staat dienen, obwohl dieser einen Angriffskrieg führt – oder vielleicht gerade deswegen. Bei seiner ersten öffentlichen Rede als Verteidigungsminister sagte Beloussow, er verpflichte sich, all seine Kräfte anzustrengen und gar seine Gesundheit und, falls notwendig, sein Leben zu opfern, um seine neue Aufgabe zu erfüllen. 


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