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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Russlands Resilienz hat Grenzen“

    „Russlands Resilienz hat Grenzen“

    Russland hat die Sanktionen wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine bislang besser weggesteckt als erwartet. Das Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr geringer aus als geplant, der Entwurf für das kommende Jahr sieht noch einmal deutliche Steigerungen bei den Verteidigungsausgaben vor. Das liegt vor allem am hohen Ölpreis und an der schwachen Währung. Der Ökonom und Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, wo dabei die Risiken liegen und was was diese Entwicklung für die russischen Bevölkerung bedeutet.

    dekoder: Russland kurbelt seine Rüstungsproduktion massiv an. Im Haushaltsentwurf für 2024 wurden die Ausgaben für Verteidigung fast verdoppelt. Mehr als jeder dritte Rubel wird für Militär und Sicherheit ausgegeben. Ist das schon Kriegswirtschaft? 

    Janis Kluge: Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an diesem Punkt. Um von Kriegswirtschaft zu sprechen, müssten etwa zivile Industrien per Dekret verpflichtet werden, für das Militär zu produzieren. So etwas hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben. Wenn Fabriken, die vorher Autos herstellten, auf staatliche Anordnung hin gepanzerte Fahrzeuge vom Fließband ließen, wäre das Kriegswirtschaft. Letztlich ist das Planwirtschaft. In Russland sind aber marktwirtschaftliche Mechanismen bislang noch weitgehend in Kraft. Die Rüstungsproduktion läuft größtenteils über staatliche Unternehmen und gewöhnliche Marktprozesse. Im kommenden Jahr wird Russland insgesamt wahrscheinlich knapp zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung aufwenden. Da kann man schon davon sprechen, dass die Wirtschaft auf das Kriegführen ausgerichtet wird. Aber obwohl die Kosten enorm sind, ist der wirtschaftliche Alltag davon noch relativ unbeeinträchtigt. Das wäre bei einer Kriegswirtschaft nicht mehr der Fall. 

    Wie finanziert Moskau diese Ausgaben?

    Trotz steigender Militärausgaben sollen die Ausgaben in anderen Bereichen nur leicht sinken. Dafür plant das Finanzministerium mit Mehreinnahmen in unterschiedlichen Feldern: Es gab im vergangenen Jahr eine Stundung von Sozialbeiträgen, die 2024 fällig werden. Im Öl- und Gassektor gibt es kleinere Steuererhöhungen. Dazu kommt eine neue Exportsteuer für viele Industrien, die steigt, wenn der Rubel fällt, und damit die Wechselkursgewinne der Exporteure abschöpft. Große Defizite sind nicht geplant, im Gegenteil: Das russische Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr sogar geringer aus als erwartet. Das Finanzministerium hatte für 2023 ein Defizit von zwei Prozent eingeplant, aktuell rechnet man nur noch mit einem Prozent. Die Kriegsausgaben lenken den Staat jedoch davon ab, nachhaltigen Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen.

    Welche Rolle spielt dabei der schwache Rubel?

    Der Staat profitiert von der schwachen Währung, weil er für jeden Dollar aus dem Export von Öl und Gas mehr Rubel in die Kasse bekommt. Umgekehrt werden Importprodukte teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Auch Unternehmen spüren die Währungsschwäche, wenn sie zum Beispiel Maschinen aus China kaufen. Hohe Preise auf dem Weltmarkt und eine schwache Währung machen es für russische Unternehmen attraktiver, ihre Produkte zu exportieren. Der Staat hat deshalb zeitweilig den Export von Getreide und Benzin beschränkt. Denn wenn die Unternehmen mehr Geld mit dem Export verdienen können, sagen sie sich: Okay, dann erhöhe ich auch meine Preise im Inland. Für die Verbraucher wirkt die Rubelschwäche wie eine versteckte Besteuerung, im Ergebnis führt sie zu einer Umverteilung von den Bürgern in den Staatshaushalt.

    Wie lange macht die Bevölkerung das mit?

    Auf lange Sicht kann sich die Inflation zu einem Problem entwickeln. Der Staat wird deshalb auch die Renten und die Löhne staatlicher Bediensteter anpassen müssen. Auch deshalb will das Finanzministerium trotz der kurzfristigen Mehreinnahmen nicht, dass der Rubel weiter an Wert verliert. Im nächsten Jahr stehen außerdem Präsidentschaftswahlen an, und da ist es schlecht, wenn die Bevölkerung die gestiegenen Preise allzu sehr im Supermarkt spürt. 

    Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus? 

    Russlands Arbeitslosigkeit befindet sich derzeit auf einem Rekordtief, an vielen Orten herrscht Arbeitskräftemangel. Der ergibt sich aus mehreren Faktoren: Hochqualifizierte Fachkräfte verlassen das Land, weitere Arbeiter verschluckt die Mobilisierung. Außerdem treten aufgrund des demografischen Wandels aktuell ohnehin wenig junge Leute in den Arbeitsmarkt ein. Die niedrige Arbeitslosigkeit bedeutet auch: Viele Arbeitnehmer profitieren von der auf Krieg ausgerichteten Wirtschaft, denn durch die Knappheit steigen ihre Reallöhne stärker als die Inflation. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die in kriegsrelevanten Branchen arbeiten. Wenn einem der politische Hintergrund egal ist, ist die aktuelle Situation sogar ein guter Moment, um Karriere zu machen. Denen, die gut vernetzt sind und dem Krieg positiv gegenüberstehen, bieten sich durch die Abwanderung ausländischer Investoren viele Gelegenheiten. Deswegen fühlt es sich für viele Russinnen und Russen nicht wie eine Krise an.

    Welchen Einfluss haben da die Sanktionen?

    Von den Sanktionen sind besonders die Sektoren betroffen, die eng mit dem Westen verflochten waren, zum Beispiel die Automobilindustrie. Aber auch in vielen anderen, wirtschaftlich weniger wichtigen Branchen gibt es Auswirkungen: Kinos können sich zum Beispiel jetzt nicht mehr auf legalem Weg westliche Filme beschaffen. Hinzu kommt, dass die Sanktionen Fachleute dazu zwingen können, das Land zu verlassen, wenn sie weiterhin bestimmte westliche Software-Dienstleistungen nutzen oder Teil der vernetzten Welt sein wollen. Das macht sich vor allem in der IT-Branche bemerkbar. 

    Je nach Schätzung sind im letzten Jahr bis zu einer Million Russinnen und Russen emigriert.

    Ja, aber es haben auch einige Unternehmen ihre Zelte im Land abgebrochen. Es sind also nicht unbedingt so viele Stellen tatsächlich frei geworden, denn einige sind zurückgekehrt, nachdem sie den Schock der Teilmobilisierung überwunden hatten. Oder sie arbeiten aus der Ferne weiter für ihre russische Firma. Es ist also nicht so ganz klar, wie viele nun wirklich weg sind vom Arbeitsmarkt, deswegen ist der Effekt auf die Wirtschaftsleistung nicht eindeutig. Bei den weniger qualifizierten Berufen funktioniert weiterhin die Arbeitsmigration. Auch dieses Jahr sind wieder sehr viele Arbeitsmigranten vorrangig aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland gekommen, die sind ein wichtiger Ersatz für russische Männer, die in die Armee eingezogen wurden. 

    Wo weniger gearbeitet wird, kann weniger produziert werden. Der Staat muss seine Verluste also irgendwie kompensieren. Da ist zum Einen die wachsende Rüstungsindustrie. Was noch?

    Der Staat versucht zu verhindern, dass die Produktion ausländischer Unternehmen wegfällt. Deshalb versucht die russische Führung, internationale Konzerne dazu zu zwingen, im Land zu bleiben oder ihre Unternehmen zu Spottpreisen an russische Eigentümer zu verkaufen, die das Geschäft fortführen sollen. Damit wird auch der Rubelkurs geschützt. Normalerweise müsste ein russischer Käufer, der ein deutsches Unternehmen übernimmt, erst einmal Euros besorgen, um es auszubezahlen. Der Abfluss ausländischen Kapitals schwächt aber weiter den Rubel, und das möchte man vermeiden. De facto werden Firmen wie Danone oder Carlsberg, die jetzt ihre Geschäfte aufgegeben haben, dadurch enteignet, selbst wenn sie nach den offiziellen Regeln spielen wollten.

    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)
    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)

    Und das funktioniert?

    Die Fortsetzung des Geschäfts nach so einem Eigentümerwechsel funktioniert unterschiedlich gut. Um das zu beurteilen, schaut man sich am besten die Lieferketten an. Je mehr das Unternehmen in westliche Lieferketten integriert ist, desto schwieriger ist es, die Produktion komplett vom vorherigen Eigentümer unabhängig zu betreiben. In der Automobilindustrie ist es bisher kaum gelungen, sie unter russischer Führung wieder in Gang zu bringen. Anders ist das zum Beispiel bei McDonald’s, weil es da von vornherein lokale Lieferketten gab. Aber das ist nicht alles, denn langfristig hat diese Unternehmen sicher noch mehr ausgezeichnet, als nur ein westliches Label auf irgendwelche russischen Dinge draufzuschreiben. Weil die Kommunikation mit dem Mutterkonzern jetzt abgeschnitten ist, werden wichtige Prozesse in den russischen Zombie-Unternehmen nicht weiter verbessert und dadurch fehlen Innovationen. 

    Wie lange kann der Westen den wirtschaftlichen Druck aufrechterhalten? 

    Für den Westen steht wirtschaftlich erst einmal nicht so viel auf dem Spiel wie für Russland, weil die Kosten der Sanktionen sich auf eine viel größere Volkswirtschaft verteilen, während der Schaden in Russland konzentriert auftritt. Für den Westen ist auch die Unterstützung der Ukraine nicht sehr teuer.

    Ist die Belastung des Westens durch den Krieg, die viel diskutierte „Ukraine fatigue“, nur Einbildung?

    Wenn die Unterstützer der Ukraine dauerhaft nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Ukrainehilfen aufbringen würden, wäre das immer noch mehr, als Russland aktuell für den Krieg ausgeben kann. Das spürt der einzelne Bürger nicht in seinem Portmonee. Aber die Frage „Unterstützen oder nicht?“ ertrinkt immer mehr in Symbolik und wird zu einem Streitthema in Wahlkämpfen. Tatsächlich kommt Deutschland trotz des Sondervermögens nur mit Ach und Krach auf die von der NATO empfohlenen 2 Prozent an Verteidigungsausgaben. Der Westen schöpft seine wirtschaftlichen Möglichkeiten, sich dem Krieg entgegenzustellen, nicht aus.

    Wann könnte Russland doch noch in Schwierigkeiten geraten?

    Der Ölpreis ist entscheidend. Russland hat aktuell kaum Reserven, um niedrige Preise abzufedern. Früher hat der Staat bei hohen Ölpreisen Reserven in ausländischen Währungen gebildet. Wenn die Preise wieder sanken, wurden die Reserven in Rubel umgetauscht, um den Rubel zu stärken. Diesen Ausgleichsmechanismus kann Russland jetzt nicht mehr auf die selbe Weise nutzen, denn durch die Sanktionen kann die Zentralbank die noch vorhandenen Reserven nicht mehr verkaufen und zumindest selbst auch keine neuen Reserven in liquiden Währungen wie Dollar und Euro anhäufen. Wenn der Preis für Öl plötzlich einbräche, wie etwa 2014, würde das Russland jetzt viel stärker treffen. Danach sieht es zwar aktuell nicht aus, aber dennoch: Russlands wirtschaftliche Resilienz hat Grenzen.

    Experte: Janis Kluge
    Interview: Alexandra Heidsiek
    Veröffentlicht am 2.11.2023

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  • „In jedem Haus ein Toter“

    „In jedem Haus ein Toter“

    Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.

     
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.

    Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin

    Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.

    Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.

    Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?

    Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.

    Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.

    Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?

    Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.

    Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden

    „Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.

    „Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“

    „Haben Sie die Explosion gehört?“

    „Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.

    Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“

    „Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“

    „Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“

    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.

    „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.

    „Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“

    „Und Ihre Frau?“

    „Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“

    „Was war sie von Beruf?“

    „Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“

    Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.

    Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen

    „Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.

    „Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“

    Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.

    ***

    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.

    „Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“

    ***

    Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.

    Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks

    „Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.

    „Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“

    „Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“

    „Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“

    Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.

    „Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“

    „Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“

    Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.

    Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“

    Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.

    Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen

    „Wie hießen die beiden?“

    „Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.

    Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“

    „Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“

    „Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“

    „Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“

    „Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“

    „Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“

    Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.

    ***

    Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.

    „Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“

    „Wie heißen Sie?“

    „Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“

    Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden. 

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“

    Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.

    „Geht nicht, sind im Dienst.“

    „Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“

    Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.

    ***

    Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:

    „Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“

    „Das wissen wir nicht …“

    Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.

    „Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig. 

    Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.

    Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist. 

    „Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.

    Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist

    Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“

    Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.

    ***

    Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.

    Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“

    Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher

    Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren: 

    „Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“

    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.

    „Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“

    Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.

    „So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.

    Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“

    Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf

    „Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.

    „27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.

    „Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“

    Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.

    ***

    Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.  

    „Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“

    „Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“

    „Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“

    „Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“

    „Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“

    „Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“

    Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht

    „Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“

    „Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“

    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.

    „Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“

    Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.

    Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.

    ***

    Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.

    „Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.

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  • Wladimir Potanin

    Wladimir Potanin

    Der Spieler mit der Nummer 61 gleitet über das Eis, sucht Räume für sein zielgenaues Passspiel. Von seinen Vorlagen profitiert vor allem sein Teamkollege mit der Nummer 11, der auch in diesem Spiel wieder eine beachtliche Torquote vorweisen kann. Die beiden funktionieren nicht nur auf dem Eis harmonisch zusammen: Vorlagengeber Wladimir Potanin und Torjäger Wladimir Putin sind enge Vertraute. Ihre Mannschaft nennt sich „Legenden des Eishockey“, sie besteht aus Alt-Stars der russischen Profiliga und Angehörigen des engeren Machtzirkels. Potanin ist nicht nur Spieler, sondern zugleich Vorsitzender des Kuratoriums der sogenannten Nachthockeyliga in der sich die Legenden des Eishockey mit anderen Mannschaften messen. Sein Konzern Norilsk Nickel finanziert die Liga; beim jährlichen Gala-Match auf dem Roten Platz prangt auf beiden Trikotärmeln das Firmenlogo als einziger Sponsor.

    Norilsk Nickel ist für den europäischen Handel so wichtig, dass die EU – anders als Großbritannien und die USA – noch davor zurückschreckt, Sanktionen gegen den Import von Nickel und andere durch das Unternehmen verarbeitete Metalle wie Palladium auszusprechen. Sie sind essentiell für die Autoindustrie. Auch Wladimir Potanin ist bisher ungestraft davon gekommen – obwohl er einer der größten Profiteure des Angriffskriegs gegen die Ukraine ist.

    Die 1990er Jahre haben sich als Krisenjahrzehnt in das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft eingeprägt. In Moskau bemühte sich die Zentralregierung, den Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft zu schaffen. 

    Um den Staatsbankrott zu vermeiden, wandte sich die Regierung 1995 für ein Darlehen an den Miteigentümer der ONEXIM-Bank, Wladimir Potanin. Dieser gewährte den Kredit und verlangte als Gegenzug ein Treffen mit Anatoli Tschubais, dem stellvertretenden Premierminister und Kopf der russischen Privatisierungskampagne. Potanin, der schon seit Längerem ein Auge auf das staatliche Rohstoffunternehmen Norilsk Nickel geworfen hatte, unterbreitete Tschubais einen Plan: Private Banken geben der Regierung Kredite und erhalten als Sicherheit Anteile an Staatsunternehmen. Wenn der Staat das Geld nicht zurückzahlen kann, können die Banken ihre Anteile versteigern.1 Das sogenannte „Aktien für Kredite“-Programm gilt als Geburtsstunde der russischen Oligarchie. Es erlaubte dem Staat, kurzfristig und risikoarm Einnahmen zu generieren – ohne Rücksicht darauf, was der Ausverkauf der wichtigsten Unternehmen in kritischen Sektoren wie Telekommunikation, Energie und Bergbau für die Zukunft des Landes bedeutete.2 Von dem schnellen Geld profitierten auch Präsident Boris Jelzin und sein Premierminister, Viktor Tschernomyrdin, die aufgrund der misslichen wirtschaftlichen Lage um ihr politisches Überleben kämpften. Jelzin ging dank massiver Unterstützung durch die Oligarchen und ihre Medien 1996 als Sieger aus der Präsidentschaftswahl hervor. Dafür nahm er eine große Abhängigkeit von den neuen, großen Business-Akteuren in Kauf. 

    Geld und Macht

    Auch Potanin gewann: Die ONEXIM-Bank erhielt im Herbst 1995 Mehrheitsanteile an Norilsk Nickel, das auch Gold, Platin und andere Edel- und Buntmetalle fördert. Zudem erhielt seine Unternehmensgruppe weitere Anteile an Konzernen in der Ölförderung und im Schiffbau. Im August 1996 machte Jelzin den damals 35-jährigen Unternehmer zum stellvertretenden Premierminister. Potanin blieb allerdings nicht einmal ein Jahr auf diesem Posten.
     

    Seine persönliche Bindung zu Putin pflegt Wladimir Potanin über den Sport / Foto © Sergei Fadeichev/ITAR-TASS/imago-images

    Seinen steilen Aufstieg ins Zentrum der Macht verdankte er zunächst den Kontakten seines Vaters. Potanins einflussreiche Moskauer Familie – die Mutter Ärztin, der Vater Diplomat und im Außenhandel tätig – ermöglichte ihm schon früh Zugang zu wichtigen politischen Akteuren. Nach dem Wirtschaftsstudium am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), das als Kaderschmiede für das sowjetische Außenministerium galt, arbeitete der 1961 geborene Potanin bei Sojuzpromexport, der Außenhandelsorganisation des sowjetischen Handelsministeriums. Er entwickelte früh ein Gespür für wirtschaftliche Trends: Bereits 1990 legte er den Grundstein für seine Unternehmensgruppe Interros, die in den folgenden Jahren schnell in den neu entstehenden Finanzmarkt expandierte. 

    Eine Gruppe einflussreicher Bankiers, zu denen auch Potanin gehöre, erhielt 1996 den Spitznamen Semibankirschtschina (dt. „Sieben Bankiers“). Seine Beziehungen halfen Potanin, sich 1997 gegen die Oligarchen Wladimir Gussinski und Boris Beresowski im Wettstreit um den Kommunikationskonzern Svyazinvest durchzusetzen. Mehrfach ging er ohne Verurteilung aus Gerichtsverfahren wegen Betrugs und Veruntreuung von Staatsgeldern hervor. 1997 leitete die Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Potanin ein, weil in seiner Zeit als Vizepremier Mittel in Höhe von 237 Millionen Dollar aus der Staatskasse verschwunden waren. Das Geld war für den Bau von Kampfjets vorgesehen, die anschließend an Indien verkauft werden sollten. Es versickerte aber auf dem Weg zum Hersteller in undurchsichtigen Transaktionen, an denen Potanins ONEXIM-Bank beteiligt war. Die Ermittlungen blieben ohne Ergebnis. 

    2007 trennte sich Potanin von seinem langjährigen Geschäftspartner Michail Prochorow, nachdem dieser ins Visier der französischen Justiz geraten war. Auf Druck des Kreml sollte Prochorow seine Anteile an Norilsk Nickel verkaufen. Weil Prochorow und Potanin sich auf keinen Übernahme-Deal einigen konnten, stieg der Aluminiumriese RUSAL des Oligarchen Oleg Deripaska in den Konzern ein.3 

    Urlaub mit Wladimir Putin

    Wladimir Putins Einzug in den Kreml beendete die Ära der Semibankirschtschina. Der neue Präsident versprach, das Kräfteverhältnis zwischen Privatwirtschaft und Staat zugunsten des Staates zu korrigieren sowie die Oligarchen unter Kontrolle zu bringen. Er sicherte zu, die Ergebnisse der Privatisierung nicht infrage zu stellen, solange die Unternehmer ihrerseits anerkennen, dass das Machtzentrum wieder im Kreml liegen werde. Mehrere politisch motivierte Gerichtsverfahren Anfang der 2000er Jahre verliehen Putins Worten Gewicht. Boris Beresowski etwa musste seine Anteile an Aeroflot und Sibneft an die Konkurrenz verkaufen, nachdem seine Fernsehsender und Zeitungen kritisch über den Tschetschenienkrieg und das Vorgehen der Regierung beim Untergang des U-Bootes Kursk berichtet hatten. Wladimir Gussinski musste seine Most-Medienholding an Gazprom verkaufen und floh ins Exil nach Israel, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Boris Beresowski beantragte Asyl in Großbritannien, 2013 fanden ihn Angestellte tot im Bad seines Hauses in Ascot. Michail Chodorkowskis Erdölkonzern YUKOS wurde zerschlagen, er selbst verbrachte zehn Jahre im Straflager, bis Putin ihn 2013 ausreisen ließ. 

    Wladimir Potanin aber blieb. Nachdem er die turbulenten Umverteilungsprozesse der 1990er mitgestaltet hatte, musste er sich mit dem neuen Präsidenten gut stellen. Er engagierte sich, ohne das Regime herauszufordern, beispielsweise als Mitglied im Rat für Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmertum, der die russische Regierung bis zu seiner Auflösung im Jahr 2019 beriet. Seine persönliche Bindung zu Putin pflegt Potanin über den Sport, beim Eishockey oder beim Skifahren. Bei einem gemeinsamen Urlaub in Österreich sei ihnen die Idee für ein Luxus-Skiresort in Sotschi gekommen, behauptete Potanin in einem Interview mit der BBC.4 Als die Kurstadt im Westkaukasus die Zusage erhielt, 2014 die Olympischen Winterspiele auszutragen, finanzierte Potanins Unternehmensgruppe Interros das Skigebiet Rosa Chutor. Für Putin waren die Olympischen Spiele ein Prestigeprojekt, bei dem er keine Kosten scheute. Er verpflichtete Kreml-nahe Oligarchen, in Objekte zu investieren, die sich wirtschaftlich nicht rechneten. Dafür wurde toleriert, dass die Investoren sich großzügig am bereitgestellten föderalen Budget bedienten. Die Kosten vervierfachten sich und die Winterspiele in Sotschi wurden zu den bis dato teuersten Spielen in der Geschichte.

    Erneuter Krisen-Profiteur

    Angewiesen wäre Potanin auf solche zusätzliche Einnahmen eigentlich nicht: Forbes schätzte sein Vermögen im Jahr 2022 auf 17,3 Milliarden US-Dollar. Schon 2018 nannte der CAATSA-Report des US-Finanzministeriums zur Vorbereitung möglicher Sanktionen Potanin als eine von 210 Personen, die eine tragende Rolle im System Putin spielen.5 Bis heute ist er nur von den USA, Kanada und Großbritannien sanktioniert. Obwohl Potanin zu den größten Profiteuren des Angriffskriegs in der Ukraine gehört, sind Geschäfte mit dem „Nickel-König“ für die EU offenbar alternativlos.

    Er und andere Oligarchen verzeichneten 2022 aufgrund der Sanktionen zwar zunächst deutliche Verluste. Doch 2023 bezifferte Forbes sein Vermögen bereits auf 23,7 Milliarden US-Dollar. Kaum ein Milliardär äußerte sich bisher kritisch zum Krieg, auch wenn einige Russland stillschweigend verließen. Eine Ausnahme bildet der Gründer der Tinkoff Bank, Oleg Tinkow, der sich wegen einer Krebserkrankung allerdings seit Längerem im Ausland aufhält. Er kritisierte öffentlich das „Massaker in der Ukraine“ und die Entscheidungen der russischen Regierung.6 Im Oktober 2022 gab er die russische Staatsbürgerschaft auf. Angesichts der Drohung, die Tinkoff Bank zu verstaatlichen, verkaufte er seine Anteile nach eigenen Aussagen „für einen Centbetrag“. Der Käufer: Wladimir Potanin. Medienberichten zufolge soll er für das Aktienpaket mit einem Börsenwert von 3,1 Milliarden US-Dollar lediglich 230 Millionen US-Dollar bezahlt haben.7

    Echte Schnäppchen machte Potanin auch mit dem Erwerb von Anteilen westlicher Unternehmen, die nach Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine ihr Russland-Geschäft aufgaben – aus Überzeugung, aus Angst vor schlechter PR oder aufgrund des schwierigen Geschäftsumfelds in einem Land, das zunehmend totalitäre Züge annimmt. Auch wenn nicht alle Firmen ihre Ankündigungen tatsächlich umsetzen,8 ist zum Beispiel das Fehlen beliebter Konsummarken wie Ikea, McDonald’s oder Coca Cola deutlich im Alltagsleben der russischen Bevölkerung spürbar. 

    Die russische Regierung bemüht sich, die negativen Konsequenzen dieser Abwanderung abzufedern. Schon am 6. März 2022 führte sie strikte Regeln ein, um „die finanzielle Stabilität des Landes unter den Bedingungen ausländischen Sanktionsdrucks sicherzustellen“.9 Will ein Unternehmen aus den sogenannten „unfreundlichen“, sprich: westlichen, Staaten Unternehmensanteile verkaufen, so muss eine zu diesem Zweck eingerichtete Regierungskommission den Deal vorher prüfen. Die erforderliche Genehmigung erfolgt nur, wenn der Verkauf mit einem Preisnachlass von mindestens 50 Prozent für die russischen Käufer einhergeht. 2023 verschärfte die Regierung den vorgeschriebenen Preisnachlass auf bis zu 90 Prozent. Unternehmen, die dennoch entschlossen sind, ihren russischen Betrieb aufzugeben, erhalten somit nur noch einen symbolischen Preis.

    Für Potanin ist das ein gutes Geschäft: Vor Tinkoff kaufte seine Unternehmensgruppe Interros schon im Frühjahr 2022 die Rosbank von der französischen Société Générale. Potanin gehört damit zu den größten Käufern im neuerlichen Umwälzungsprozess10, den der Kreml mit seinem Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat. 


    1. novayagazeta.ru: «Davaĭte my čem-nibud‘ poupravljaem» ↩︎
    2. Yakovlev, Andrei (2006): The evolution of business – state interaction in Russia: From state capture to business capture? In: Europe-Asia Studies 58-7, S. 1033-1056 ↩︎
    3. economist.com: The Meaning of Norilsk ↩︎
    4. bbc.com: Putin’s Olympic steamroller in Sochi ↩︎
    5. U.S. Department of The Treasury: Treasury Releases CAATSA Reports, Including on Senior Foreign Political Figures and Oligarchs in the Russian Federation ↩︎
    6. vDud’ (YouTube): Tin’kov – bolezn‘ i vojna ↩︎
    7. rbc.ru: Tin’kov zajavil, čto ego zastavili prodat‘ bank ↩︎
    8. b4ukraine.org: The lucrative business of Staying: Corporate Foreign Enablers of the Kremlin’s War ↩︎
    9. government.ru: Pravitel’stvo utverdilo pravila sdelok s inostrannymi kompanijami iz nedružestvennych Rossii ↩︎
    10. novayagazeta.eu: «Matuška, neuželi my ėto poglotim?» ↩︎

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  • Ist Russland totalitär?

    Ist Russland totalitär?

    Als der Begriff „Putler“ in den 2000er Jahren im russischsprachigen Internet aufkam, klang es vielen wie ein Kalauer. Mit der Zeit häuften sich die Hitlervergleiche, auch mit Stalin wurde Putin immer wieder verglichen. Heute ist es gewissermaßen normal, das System Putin als faschistisch und/oder stalinistisch zu bezeichnen. Was sind die Gemeinsamkeiten dieser drei Diktaturen? dekoder hat mit dem Historiker Matthäus Wehowski gesprochen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. 

    Das System Putin wird heute häufig als faschistisch oder stalinistisch bezeichnet / Foto © Mikhail Metzel/ZUMA Wire/imago-images

    dekoder: Was ist Totalitarismus und worin unterscheidet er sich vom Autoritarismus?

    Matthäus Wehowski: Es gibt verschiedene Definitionen von Totalitarismus. Ganz grob gesagt, sind das Staatswesen, die auf Massenmobilisierung setzen und dazu alles anhand einer bestimmten Ideologie ausrichten. Die Ideologie durchdringt hier alles, jedes einzelne Leben. Manche Forscher beschreiben Ideologien als politische Religionen: Sie haben einen Ausschließlichkeitsanspruch, die Deutung ist quasi monopolisiert. Eine Ideologie ist weitgehend widerspruchsfrei, ihre einzelnen Komponenten können aufeinander bezogen werden. In der Theorie hat sie also ein Mindestmaß an Konsistenz und Kohärenz. 

    Als „Klassiker“ des totalitären Staates gelten das sogenannte Dritte Reich und die Sowjetunion unter Stalin. Im „Dritten Reich“ war die Ideologie des Nationalsozialismus auf ausnahmslos alle Sphären von Politik und Gesellschaft ausgerichtet. Ob etwa eine Person „Wert“ hatte oder nicht – im Dritten Reich hat man das anhand der Abstammung, von „Blut und Volk“ und dieser ganzen sozialdarwinistischen Ideen definiert. Im Stalinismus gab es eine besondere Färbung des Marxismus-Leninismus und der sogenannten Diktatur des Proletariats. Der „Wert“ einer Person wurde daran gemessen, inwieweit er im Sinne der Staatspartei in diese Ideologie hineinpasst oder nicht. Ob das eine kohärente Ideologie gewesen ist, ist in der Wissenschaft in vielen Punkten umstritten. Wichtig ist aber unter anderem, dass sie allgegenwärtig war: Die Gesellschaft war mobilisiert, es gab ständig Paraden und Indoktrination, die Ideologie war überall, alles wurde durch das Prisma der Ideologie gesehen, ohne Ausnahmen und Nischen. Dies ist wohl auch der Unterschied zum Autoritarismus: Beides sind diktatorische Herrschaftsformen, im Autoritarismus gibt es aber noch ein Mindestmaß an Pluralismus – dieser ist zwar eingeschränkt, aber es gibt ihn eben. Totalitäre Systeme kennzeichnen sich dagegen durch ein Deutungsmonopol. 

    Sie haben das Stichwort politische Religion genannt. Hat eine Ideologie auch ein Heilsversprechen oder eine Zukunftsvision? Will sie unbedingt einen neuen Menschen? 

    Wenn wir uns diese klassischen historischen Beispiele anschauen, dann gehört das wohl dazu. Der Stalinismus hatte einen Anspruch auf die Bildung einer neuen Gesellschaft, auf die Schaffung des sogenannten Sowjetmenschen. Der neue Mensch ist natürlich ein utopisches Element, und wenn man will, auch eine Art Heilsversprechen. Im Nationalsozialismus ist es etwas anders: Hier gab es die Idee einer glorreichen idealen Vergangenheit, die wiederhergestellt werden sollte. Das sogenannte Urvolk sei demnach eine „reine Rasse“ gewesen, ohne Einflüsse von außen – und da, so die NS-Vision, müsse man wieder hin. Gleichzeitig gab es natürlich das Versprechen von moderner Technik. Wir haben diese Ideen von utopischen Umgestaltungen – zum Beispiel Berlin, das zur „Reichshauptstadt Germania“ umgebaut werden sollte. Es war also ein Mix aus romantisierter Vergangenheit und einer utopischen Zukunft. Im Stalinismus haben wir dagegen diesen extremen Blick nach vorn: Dem Anspruch nach wollte der Stalinismus komplett mit der Vergangenheit brechen und aus dieser Tabula Rasa eine neue Gesellschaft, einen vollständig neuen Menschen schaffen. 

    Wenn man diese Prinzipien zugrunde legt, dann ist Russland also nicht totalitär. Richtig? 

    Ja. Aus vielen Gründen. Es gab früher diesen sogenannten „Gesellschaftsvertrag“: Ihr könnt alles machen und reden, was ihr wollt, dafür mischt ihr euch aber nicht in die Politik ein – und wir sorgen für euren Wohlstand. 2014 kam noch der sogenannte „Krim-Konsens“ dazu: Wer für die „Angliederung“ ist, ist auch für Putin – fertig, aus. Das Regime hat also jahrzehntelang dezidiert darauf gesetzt, die Gesellschaft eben nicht zu mobilisieren, sondern sie zu depolitisieren und apolitisch zu halten. Es gibt daher auch keine klare Ideologie, mit der man mobilisieren könnte. 

    Seit 2014 sinkt das Realeinkommen in Russland, der Kreml kann sein Wohlstandsversprechen also nicht halten. Auch der „Krim-Konsens“ scheint zu bröckeln. Das Regime ideologisiert sich zwar scheinbar – man nehme etwa die Diskussion um die Einheitlichkeit der Geschichtsbücher an den Schulen – insgesamt ist der Prozess aber sehr versatzstückartig, Schaffung einer Ideologie aus einem Guss scheint mir da eher unwahrscheinlich. Und eigentlich braucht der Kreml auch keine Ideologie, um sich zu legitimieren: Es ist zynisch, aber der Machterhalt kann auch durch Repressionen gesichert werden. 

    Aber es gibt doch die sogenannte Russische Welt – ist das denn keine Ideologie? 

    Wie man’s nimmt, kohärent ist diese Anschauung jedenfalls nicht: Hier etwas Mystizismus, da ein bisschen Orthodoxie, eine Prise Stalinismus, noch etwas Sowjetnostalgie etc. Für eine kohärente Ideologie reicht das nicht, eigentlich gibt es im aktuellen Russland überhaupt keine Ideologie im klassischen Sinne. Das ist eine ganz wichtige Sache, die wir uns immer wieder vor Augen halten müssen. Mark Galeotti, der britische Russland-Historiker, spricht von Adhocracy. Ich finde, dieser Begriff passt sehr gut: Zuerst konstruiert man eine gefällige russische Geschichte, und dann bedient man sich daraus nach Belieben – man nimmt aus dieser Mottenkiste einfach das, was einem gerade ad hoc in den Kram passt, mal Peter den Großen, mal Katharina, mal Gumiljow, mal Dsershinski. Das ist keine kohärente Ideologie mit einem festen Fundament. Wenn es so etwas heute überhaupt noch gibt, dann wohl nur in Nordkorea.

    Der Journalist Andrej Archangelski hat kürzlich von einem Totalitarismus 2.0 gesprochen: Die Ideologie des Putinismus speise sich aus der Ablehnung von progressiven Werten. 

    Das machen doch auch andere Regierungen, in Ungarn oder Polen zum Beispiel. Feindschemata können zwar auch Solidaritätseffekte stiften und damit eine Eigengruppe formen, das macht das Ganze aber noch lange nicht zu einer Ideologie. Eine Ideologie ist vom Anspruch her konstruktiv, sie ist für etwas – und nicht nur gegen. Der Kreml legitimiert sich aber zunehmend nur noch durch ein schlichtes Feindschema: Russland, so heißt es, sei eine belagerte Festung, der Westen wolle es unterwerfen und plündern. Auch die Aggression gegen die Ukraine verkauft die Propaganda doch als einen Verteidigungskrieg. So ein Feindschema kann zwar einen Rally ‚round the flag-Effekt stiften und auch die Repressionen im Inneren legitimieren, eine Zukunftsvision bietet es aber nicht. Außerdem legitimiert sich das System im Grunde ex negativo: Es braucht einen konstituierenden Anderen.

    Damit macht es sich doch letztendlich auch abhängig von diesem Anderen. Ist es nicht eine recht unzuverlässige Methode des Machterhalts? 

    Es gibt diesen wunderbaren Spruch von Alexei Yurchak: „Everything was forever until it was no more“. Der Zusammenbruch einer Diktatur kann ganz plötzlich passieren oder auch gar nicht. Das klingt jetzt trivial, aber im Sommer 1989 hätte eine Mehrheit aller Beobachter wohl gesagt, dass die Mauer natürlich die nächsten 100 Jahre noch stehen bleiben wird, so wie Honecker das erklärt hat. Hätte man vor dem Arabischen Frühling Experten um ihre Einschätzung zur Dauerhaftigkeit der libyschen Diktatur gefragt, hätten sie die wohl auch als stabil eingestuft. Natürlich kann Putin ein Gaddafi-Schicksal ereilen. Denkbar ist aber auch, dass er bis zu seinem natürlichen Tod an der Macht bleibt. Oder gar darüber hinaus, es gibt da wirklich ganz absurde Fälle: Der algerische Präsident Bouteflika war jahrelang aus der Öffentlichkeit verschwunden und hat trotzdem noch geherrscht. Die Bevölkerung wusste nicht mal, ob der Mann überhaupt noch lebt, er blieb trotzdem an der Macht. Und Mugabe war zuletzt völlig senil und hat nur noch Unsinn geredet. Aber regiert hat er bis zu seinem Exitus. Wir hatten das in der Sowjetunion mit Tschernenko, der schon todkrank war, als er überhaupt zum Generalsekretär der KPdSU wurde. 

    Es gibt so viele Faktoren, die völlig unkalkulierbar sind. Putin hat zwar funktionierende Instrumente des Machterhalts: Propaganda, Feindschema, Repressionsapparat, Geheimdienste etc. – dann kommt aber so ein Prigoshin, und das Regime gerät ins Wanken. So etwas kann in autoritären Regimen mit ihrem typischen Mangel an echten politischen Institutionen eben schneller passieren. Kann passieren, muss aber nicht. 

    Experte: Matthäus Wehowski
    Interview: Anton Himmelspach
    Veröffentlicht am 24.10.2023

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    Karrieren aus dem Nichts

    Am 30. September 2022 verkündete Wladimir Putin die Angliederung von vier ukrainischen Gebieten in die Russische Föderation: Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson. Obwohl Moskau zu keinem Zeitpunkt auch nur eines dieser Gebiete vollständig unter seiner Kontrolle hatte, wurden eilig Verwaltungsbehörden nach russischem Vorbild eingerichtet. Journalisten des russischen Portals Verstka haben recherchiert, wer in den Okkupationsorganen wichtige Ämter innehat und dazu die Biographien von 224 Verwaltungsbeamten des mittleren und höheren Dienstes analysiert.

    Das Ergebnis: Etwa jeder zweite Leitungsposten in den regionalen Behörden ist von Beamten besetzt, die aus der Russischen Föderation kommen. Auf kommunaler Ebene überwiegen derweil Mitarbeiter, die vor der Besetzung bereits in den ukrainischen Behörden tätig waren. Ein beträchtlicher Teil der aus Russland zugezogenen Beamten wurde offenbar von der Aussicht angelockt, durch den Einsatz in den Besatzungsbehörden einer Strafverfolgung zu entkommen. Ukrainische Kollaborateure wurden dagegen mit Karriereversprechen geködert. 

    Einwohner der Region Saporishshja stehen Schlange, um in einem Zentrum für die Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft Dokumente für den Erhalt des russischen Passes zu bekommen / Foto © RIA Novosti/SNA/imago-images

    Vom Putin-Verspötter zum Beamten seiner Besatzung

    Anfang Februar 2021 platzierte Igor Telegin aus Cherson auf dem Jobportal work.ua seine Bewerbung, in der er sich bereit erklärte, für 30.000 Hrywnja pro Monat (seinerzeit umgerechnet 1100 US-Dollar) als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten. Als eine seiner besten Arbeiten nannte Telegin einen 2017 auf YouTube veröffentlichten Clip zu einem Lied von Alexander Ponomarjow, einem Schlagersänger mit dem Rang eines „Volkskünstlers der Ukraine“. Die erste Zeile lautet: „Wir werden uns nie von unserer Muttersprache lossagen.“ Die Videosequenz zeigt Antiterrorübungen von Spezialeinheiten der ukrainischen Streitkräfte und Schüler, die eine riesige ukrainische Flagge entrollen. Auch sind Kinder zu sehen, die in ukrainischer Nationaltracht einen ukrainischen Volkstanz aufführen. Telegin bezeichnete sich auch als Autor des Drehbuchs für eine Staffel der populären ukrainischen Serie Weschtschdok (dt. Sachbeweis), die von einem faschistischen Kollaborateur und Spion erzählt, der von Kyjiwer Milizionären gefangen wurde.

    Vor Kriegsbeginn war Telegin ein intensiver Facebook-Nutzer, wobei er dezent die Sowjetunion lobte und ironische Bemerkungen über russische wie auch ukrainische Politiker schrieb. So postete er nach einer der Militärparaden in Kyjiw, auf der sowjetische Kriegstechnik zu sehen war, eine Kollage mit Wladimir Putin und Dimitri Medwedew in T-Shirts in den ukrainischen Nationalfarben – und mit einem Aufdruck „Putin ist ein Schwanz!“. Telegin hat bis zum Abschluss dieser Recherche weder seine Bewerbung noch die Kollage gelöscht.

    Nach Beginn des großangelegten russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 wurde Telegin zu einer der markantesten Figuren der Besatzungsbehörden. Ende Mai letzten Jahres wurde er zum Chef der Abteilung für Innen- und Außenpolitik der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Cherson ernannt. Im September wurde er Abgeordneter der „gesetzgebenden Versammlung“ der Region. An Clips mit heldenhaften Kämpfern der ukrainischen Streitkräfte und eine Zusammenarbeit mit einem Kanal des ukrainischen Oligarchen Viktor Pintschuk erinnert er sich nicht. Stattdessen erzählt er, die lokale Bevölkerung habe „auf ihre Befreiung gewartet“, hätte aber „Angst, darüber zu sprechen“, weil sie Repressionen durch das „ukrainische Regime“ fürchte.

    Vor dem Krieg war Telegin kein Ziel strafrechtlicher Verfolgung durch die ukrainischen Behörden. Die örtlichen Medien nannten ihn respektvoll einen „Prominenten der Stadt“. Auf eine Anfrage von Verstka hat Telegin nicht reagiert.

    Er ist längst nicht der einzige Einheimische, der einen leitenden Posten in der Besatzungsverwaltung der Gebiete Cherson und Saporishshja übernahm. Wolodymyr Saldo war Bürgermeister von Cherson und ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada für die Region. Dann wurde er Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson. Drei von fünf seiner wichtigsten Stellvertreter sind ebenfalls Einheimische. 

    Früher gratulierten sie den ukrainischen Streitkräften, jetzt feiern sie russische Propaganda

    Einige von ihnen haben wohl, genauso wie Telegin, erst kürzlich gemerkt, dass sie das ukrainische Regime nicht mögen, dafür aber das russische. So erklärte der stellvertretende Ministerpräsident des Gebiets Witali Buljuk noch im April 2022 öffentlich: „Cherson gehört zur Ukraine“. Schon wenige Wochen später erhielt er einen Posten in der Besatzungsverwaltung von Saldo. Ukrainische Medien erklären dieses Umsatteln damit, dass Buljuk, der vor dem Krieg stellvertretender Vorsitzender der Gebietsrada war, einer der größten Unternehmer von Skadowsk ist, einer Stadt im Süden des Gebietes Cherson, die von russischen Truppen in den ersten Tagen der Invasion erobert wurde. In dieser Stadt gelangten ebenfalls Leute aus Buljuks Dunstkreis an die Macht. Stellvertretende Bürgermeisterin wurde beispielsweise Ljudmila Zelep-Koslowa, lokalen Medien zufolge eine Verwandte von Buljuk. Im Dezember 2021 hatte sie in den sozialen Medien noch Gratulationen zum Tag der ukrainischen Streitkräfte gepostet. Jetzt sind auf ihren Seiten Lieder des russischen Propaganda-Bаrden Jaroslaw Dronow (Schaman) zu finden.

    Das markanteste Beispiel von Kollaboration zur Sicherung des eigenen Besitzes ist das Oberhaupt des benachbarten Gebietes Saporishshja, Jewhen Balyzkyj, ein ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada der Ukraine für den Oppositionellen Block. Vor dem Krieg hatte seine Familie zu den größten Unternehmern in Melitopol gezählt. Die Stadt wurde bereits Anfang März 2022 eingenommen und zur „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Saporishshja gemacht. Und dort gab es dann auch die erste hochrangige Kollaborateurin: Melitopols „Bürgermeisterin“ Galina Daniltschenko, die in den Unternehmen der Familie Balyzkyj für Finanzen und Buchhaltung zuständig war. Auch andere lokale Unternehmer widersetzten sich dem neuen Regime nicht. So erhielten Sergej Solotarjow aus Melitopol und Viktor Gretschka aus Berdjansk recht bald in ihrer Stadt jeweils einen Posten als Vizebürgermeister. Solotarjow ist inzwischen Vorsitzender des Stadtrates von Melitopol. 

    Unter den Führungskräften gibt es übrigens auch „unfreiwillige Kollaborateure“: Der Landwirtschaftsminister des Gebietes Cherson, Pjotr Sbarowski, hatte vor dem Krieg ein Unternehmen zur Produktion von Windkraftanlagen geleitet. Bevor er seine Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern begann, hatte es Informationen gegeben, dass er angeblich zuerst gekidnappt und dann von russischen Sicherheitskräften wieder freigelassen worden sei. 

    Früher Animateur im Bärenkostüm, heute verantwortlich für Kultur

    Für viele bedeutet eine Zusammenarbeit mit den Russen einen beträchtlichen Karrieresprung. So war Tatjana Kusmitsch, die Vizegouverneurin von Cherson, vor dem Krieg in der alles andere als beneidenswerten Stellung einer Lehrerin, die von den ukrainischen Sicherheitsbehörden des Landesverrats zu Gunsten Russlands beschuldigt wurde. Jelena Terskich, die Bürgermeisterin von Henitschesk, der „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Cherson, war zuvor eine gewöhnliche Angestellte in der Stadtverwaltung. Und der Kulturminister des Gebietes, Alexander Kusmenko, war zuvor Direktor einer Musikschule in Cherson.

    Die Beamten der „neuen Verwaltungen“, die aus der Gegend kommen, sprechen allerdings nicht von Karrieresprung. Und sie können sehr genau von den Vorteilen „durch die Ankunft Russlands“ erzählen: „In der Ukraine schert sich niemand um die jungen Leute. Es wurden zwar Haushaltsmittel für sie bereitgestellt, doch die Gelder kamen nicht bei den Menschen an. Deswegen war es öfter so, dass die Verwaltung oder ein Mäzen einen Laden oder einen Spielplatz baute, und der dann nach ein paar Tagen von lokalen Jugendlichen zerstört wurde. Einfach, weil die nichts zu tun haben“, erinnert sich Bogdan Kasnawezki im Gespräch mit Verstka. Er kommt aus Cherson und arbeitet in der Kulturverwaltung des Gebietes. Vor dem Krieg war er Statist und Animateur, trat bei Unternehmens- und Familienfeiern im Bärenkostüm auf.

    Nach der Eroberung von Henitschesk durch russische Truppen wurde Kasnawezki zunächst erster Stellvertreter des Chefs der Militär- und Zivilverwaltung der Stadt. Dann merkte er aber, „dass ihm die Kultur näher liegt“. Und er begann, im Auftrag der Kulturverwaltung des Gebiets, Veranstaltungen zu organisieren. „Jetzt sind die Kinder aktiv, es gibt viele Organisationen, die sie in ihre Tätigkeit einbinden. Im Gebiet wurden 360 Veranstaltungen durchgeführt, im Jugendbereich! Und das bringt Ergebnisse: Bei den Feiern zum 9. Mai kamen viele junge Leute. Die hat niemand gezwungen, das war freiwillig“, erzählt er. Auf die Frage von Verstka, wie das zu dem Umstand passe, dass Umfragen zufolge 64 Prozent der Bewohner des Gebiets Cherson für Ukrainisch-Unterricht in den Schulen sind, meint Kasnawezki, es gebe „tatsächlich nicht wenige Shduns hier“, doch die „können nichts als einem in die Suppe spucken“.

    Flucht vor Strafverfahren

    Ende Dezember 2021 durchsuchte der FSB das Bürgermeisteramt in Krasnodar sowie die privaten Räume des gerade vor einem Monat ernannten Stadtoberhauptes Andrej Alexejenko. Der wurde wegen des Verdachts auf Bestechung festgenommen. Der mutmaßliche Bestechungslohn: eine handgefertigte extravagante Jagdflinte im Wert von 1,5 Millionen Rubel [damals etwa 18.000 Euro – dek]. Der Pressedienst der regionalen Verwaltung des Strafermittlungskomitees veröffentlichte sogar ein 18-sekündiges Video, in dem der Ermittler Alexejenko den Haftbefehl verliest. Bald wurde bekannt, dass Einiges Russland die Partei-Mitgliedschaft des Bürgermeisters ausgesetzt hat. Alles sah nach einer typischen regionalen Korruptionsgeschichte aus. Im weiteren Verlauf hätte – so das übliche Szenario – eine Untersuchungshaft oder ein Hausarrest und dann eine tätige Reue des Bürgermeisters erfolgen müssen und es wären eine Menge Details darüber in Umlauf gekommen, wie er und seine Untergebenen sich bereichert haben.

    Doch Alexejenko widerfuhr nichts dergleichen. Im Gegenteil: Das Video von seiner Festnahme wurde von den Sicherheitsbehörden in den Netzwerken zwei Tage nach seiner Veröffentlichung wieder gelöscht. Der Bürgermeister verschwand zwar aus der Öffentlichkeit, trat aber nicht umgehend zurück. Quellen von Verstka meinen, der Bürgermeister sei von Gouverneur Weniamin Kondratjew gerettet worden, zu dessen Team Alexejenko in den letzten Jahren gehörte. „Kondratjew hat für Alexejenko buchstäblich so etwas wie eine zweite Chance erbeten und sich für ihn gegenüber den Behörden in Moskau verbürgt“, behauptet ein Gesprächspartner von Verstka in der Verwaltung von Krasnodar, ohne genauer zu sagen, um welche Behörden es ging.

    Und in der Tat eröffnete sich ihm schon bald eine zweite Chance: Am 19. August schied er offiziell aus dem Amt des Bürgermeisters von Krasnodar aus; bereits am nächsten Tag wurde er zum ersten stellvertretenden Leiter der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Charkiw ernannt. Zu jener Zeit traten Führungspersonen der Besatzungsverwaltung wie Wladimir Saldo und Jewgeni Balizki vorwiegend in repräsentativer Funktion in Erscheinung. Für die tatsächliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden und die Verwaltung des besetzten Gebietes waren deren erste Stellvertreter zuständig. 

    In Cherson war das zum Beispiel Sergej Jelissejew, ein ehemaliger FSBler und Vizegouverneur der Oblast Kaliningrad. Für Alexejenko hätte der Posten bedeutet, dass er alle Hebel in der Region Charkiw in die Hand bekommt. Die Streitkräfte der Ukraine eroberten jedoch schon einen Monat später das Gebiet nahezu vollständig zurück. Und Alexejenko blieb nichts, was er noch verwalten könnte. 

    Alexejenko ist nicht der einzige, der in den „neuen Territorien“ einer Strafverfolgung in Russland entkommt. Der Chef des Bauministeriums der „Volksrepublik Donezk“, Nikolaj Ziganow, ein Verwaltungsbeamter aus der Oblast Leningrad, war einer derjenigen, der von Sankt Petersburg aus den Wiederaufbau von Mariupol leitete. Im „großen Russland“ liefen bereits vor Wirtschaftsgerichten verschiedener Instanzen Bankrottverfahren gegen seine Unternehmen für Immobilienentwicklung namens Premjer-Holding, das nicht beglichene Schulden hat und betrogene Investoren hinterlässt.

    Im Gebiet Saporishshja wird die Behörde für Inneres vom ehemaligen stellvertretenden Leiter der Fahndungsabteilung der Moskauer Polizei, Oleg Koltunow, geleitet. Ukrainische Medien berichten, dass seine Versetzung in die besetzten Gebiete darauf zurückzuführen ist, dass Koltunow in Moskau bei ausgiebiger Bestechung erwischt wurde.

    Ehemalige und aktive Verwaltungsbeamte, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, beneiden diese Leuten: „Als ich aus der Untersuchungshaft freikam, setzten sich sofort einige gute Bekannte mit mir in Verbindung die ‚hinter dem Streifen‘ [= „in der Ukraine“ – dek] arbeiten: ‘Komm her, mit deinem Profil kannst du hier arbeiten. Was den Lohn angeht – so einer ist mir in Russland noch nicht untergekommen. Und was die Stelle angeht – nach einer solchen kannst du hier [in Russland] ewig suchen. Ich hatte schon zugesagt, aber meine Familie hat mir abgeraten, schließlich fliegen dort Granaten und Autos gehen in die Luft“, klagt einer von ihnen gegenüber Verstka.

    Eine Person aus dem Stab des Bevollmächtigten des Präsidenten im Zentralen Föderalbezirk bestätigte Verstka: „Ein Trip ‚hinter den Streifen‘ setzt deine gesamte Vergangenheit auf null. Sünden, Strafverfahren oder Fehlschläge in der Verwaltung sind dann mit einem Mal vergessen, aber deine Erfahrung behältst du. Das ist eine Chance, aus dem Nichts eine Karriere zu starten. Für einige kann es die einzige Möglichkeit sein, in der Spur zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.“

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  • Für den russischen Pass in den Krieg

    Für den russischen Pass in den Krieg

    Seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar, aber besonders seit der sogenannten „Teilmobilmachung“ im Herbst 2022 ist auffällig, wie sich der Kreml davor drückt, Männer aus den russischen Metropolen wie Moskau und Sankt Petersburg in den Krieg zu schicken. Denn schon im September war zu beobachten, wie schnell Hunderttausende fliehen und so einen harten Brain Drain verursachen. 

    Also mobilisiert man vorrangig in der Provinz, im Norden, in Sibirien, im Fernen Osten und in der Kaukasusregion. Offenbar reicht das jedoch nicht: Seit Frühjahr 2022 gibt es immer wieder Meldungen von Migrantenjagden und Zwangsrekrutierungen von ausländischen Arbeitskräften. Auch in Europa ankommende Geflüchtete berichten vereinzelt von Mobilisierungsversuchen russischer Behörden – womöglich eine weitere Taktik der „verdeckten Mobilmachung“.

    Die Faktenlage dazu ist dünn. Einige Duma-Abgeordnete fordern populistisch, dass doch die sogenannten Gastarbaitery an die Front gehen sollen. Doch nur selten erreichen Videoaufnahmen oder andere Belege die Öffentlichkeit. Novaya Gazeta Europe hat Fakten und Zusammenhänge über die Mobilisierung von Staatsbürgerschaftsanwärtern und die Bedeutung des Passes der Russischen Föderation zusammengetragen. 

    Für manche eine Aufstiegschance, gleichzeitig ein sehr wahrscheinlicher Weg an die Front und in den Tod im Krieg – der russische Pass / Foto © Andrei Rubtsov/ITAR-TASS/imago-images

    Im August gab es in mehreren Regionen Russlands Razzien gegen Migranten. Unterstützt von der Polizei suchten Beamte der Militärkommissariate auf Märkten und in Gemüselagern nach neuen russischen Staatsbürgern, die noch nicht für den Wehrdienst erfasst waren. Diese bekamen einen Einberufungsbefehl oder wurden gleich auf die nächste Dienststelle mitgenommen.

    Mitte August wurden zum Beispiel rund einhundert neue Bürger vom Sofiskaja-Gemüselager in Sankt Petersburg abgeholt. In einem Obst- und Gemüselager von Nishni Nowgorod wurden über 20 Männer mitgenommen. Auch aus den Oblasten Belgorod, Swerdlowsk, Tscheljabinsk und aus Tschuwaschien wurden solche Razzien gemeldet. 

    Laut Auskunft eines Juristen, der nicht namentlich genannt werden möchte, gibt es Polizeiaktionen dieser Art seit Februar 2023. Unter dem Vorwand, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, organisierten die Behörden Razzien, um Migranten in die Armee zu locken. Allen Aufgegriffenen werde dann nahegelegt, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterschreiben. 

    Vom Amt an die Front

    In der Oblast Kaluga geht man noch weiter und nimmt gar keine Einbürgerungsanträge mehr an, wenn der Antragssteller nicht auch eine Verpflichtung zum Kriegsdienst unterschreibt. Im August 2023 berichtete die Menschenrechtlerin Tatjana Kotljar dem Medium 7×7 von fünf solchen Fällen, wobei es, wie sie sagt, viel mehr Ablehnungen gibt. 

    In einem Fall wollte ein Einwanderer in der Einbürgerungsbehörde von Kaluga seinen Antrag auf Staatsbürgerschaft einreichen und sollte stattdessen erst einen Vertrag mit der Armee abschließen. Aufgrund gesundheitlicher Probleme wurde zwar seine Untauglichkeit für den Militärdienst festgestellt. Doch er bekam keine Bescheinigung und sein Einbürgerungsantrag wurde nicht angenommen. 
    „Nachdem er Beschwerde eingelegt hatte, bekam er Probleme. Er wurde wegen eines Gesetzesverstoßes angezeigt, den er nie begangen hatte. Er sagte: ‚Wir werden hier nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Vieh. Die Staatsbürgerschaft eines solchen Landes will ich gar nicht bekommen. Ich habe schon mein Ticket und fahre nach Hause‘“, so Kotljar. 

    Der Gouverneur der Oblast Kaluga, Wladislaw Schapscha, kommentierte, der Betroffene habe das alles bestimmt wegen mangelnder Russischkenntnisse falsch verstanden. Die Praxis, „angehende Staatsbürger auf die Möglichkeit, als Vertragssoldat für Russland zu kämpfen sowie auf die daraus folgenden Sozialleistungen hinzuweisen“, wertete Schapscha positiv.

    Migranten ohne russischen Pass im Krieg gegen die Ukraine

    Im September 2022 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, wonach Ausländer, die freiwillig in den Krieg gegen die Ukraine ziehen, nach Ablauf eines Jahres in einem vereinfachten Verfahren die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation erhalten können. Gleichzeitig kündigte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin an, im Einwanderungszentrum Sacharowo Schalter einzurichten, an denen sich Ausländer zum Militärdienst melden können. 

    Das allerdings sind dann Söldner, weil diese Leute ja noch nicht über die russische Staatsbürgerschaft verfügten, merkt der Jurist Schuchrat Kudratow an. Mehrere Länder Zentralasiens hätten ihre Staatsbürger bereits zu Beginn der Mobilmachung im Jahr 2022 vor strafrechtlichen Konsequenzen bei einer Teilnahme am Krieg in der Ukraine gewarnt.   

    Wer will heute Russe werden?

    Seit 2022 ist der russische Pass ein toxisches Gut: für manche möglicherweise eine Aufstiegschance, gleichzeitig ein sehr wahrscheinlicher Weg an die Front und in den Tod im Krieg. Das Innenministerium stellte 2022 sechs Prozent weniger neue Pässe aus als im Jahr zuvor, nämlich 691.045. Fast in allen Ländern, wo früher viele Menschen aktiv die russische Staatsbürgerschaft angestrebt hatten, ist die Nachfrage gesunken. 


    Nicht einmal durch die aktive Aushändigung russischer Pässe in den besetzten Gebieten der Ukraine vor deren „Angliederung“ an Russland konnten die Zahlen von 2021 übertroffen werden. Auch weil die Bewohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk schon seit 2019 im vereinfachten Verfahren russische Pässe erhalten. Von diesem Moment an wurde jede dritte neue russische Staatsbürgerschaft in der Oblast Rostow zuerkannt, die an die besetzten Gebiete der Ukraine grenzt. Über eine Million Ukrainer erhielten so die russische Staatsbürgerschaft − das ist mehr als die Hälfte aller neuen Staatsbürgerschaften seit 2019.

    Im Juli 2022 erließ Präsident Putin dann ein Dekret, wonach alle Ukrainer die russische Staatsbürgerschaft erhalten können, ohne dass sie einen Wohnsitz in den besetzten Gebieten nachweisen müssen. Die Autoren einer Studie der NGO Grashdanskoje sodeistwije (dt. Zivile Zusammenarbeit) sehen in diesem Dekret auch den Grund für die hohen Zahlen neuer russischer Staatsbürger in der Oblast Cherson im zweiten und dritten Quartal 2022.  

    Nach der Annexion der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporishshja im September 2022 wurden deren Bewohner automatisch zu russischen Staatsbürgern. Sie müssen nun kein Einbürgerungsverfahren mehr durchlaufen, sondern bekommen ihren ersten Pass wie alle Menschen in Russland mit 14 Jahren. Berechnungen von Mediazona zufolge wurden im Oktober 2022 rund 40.000 Ukrainer nach dem neuen Schema zu russischen Staatsbürgern. Anfang 2023 stellte das Innenministerium jedoch die detaillierte Statistik über die Zahl der ausgestellten Pässe unter Verschluss. 

    Wegen des veränderten Status der besetzten Gebiete sind die Oblast Rostow und die Krim aus der Einbürgerungsstatistik so gut wie verschwunden. Im ersten Halbjahr 2023 bekamen 20 Prozent der Neubürger ihre Pässe in der Stadt (16.147) und in der Oblast Moskau (24.884). Im Vorjahr deckten diese Regionen nur elf Prozent der im ersten Halbjahr beantragten Staatsbürgerschaften ab. Sechs Prozent der Einbürgerungen gab es in Sankt Petersburg und der Oblast Leningrad (11.574), fünf Prozent in der Oblast Tscheljabinsk (9460). 

    Eine sehr besondere Beziehung

    Das einzige Land, dessen Bewohner sich im Jahr 2023 weiterhin vielfach um die russische Staatsbürgerschaft bemühen, ist Tadschikistan. Im ersten Halbjahr 2023 wurden bereits 86.964 Tadschiken zu russischen Staatsbürgern, das sind um 17 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

    In der Studie von Grashdanskoje sodeistwije wird als Erklärung für das hohe Interesse am russischen Pass die wirtschaftliche Lage in Tadschikistan angeführt. Tadschikistan ist eines der ärmsten Länder des postsowjetischen Raumes, rund 30 Prozent der Bevölkerung leiden an Unterernährung, 47 Prozent leben von weniger als 1,33 Dollar am Tag. 

    Valentina Tschupik, die ehrenamtlich Rechtsberatung für Migranten anbietet, sieht jedoch auch einen Grund in der in Tadschikistan verbreiteten russischen Propaganda: „Erstens wird rund um die Uhr gratis russisches Fernsehen gesendet. Die eigenen Sender bringen nur Folklorekonzerte und fetzige Reportagen über die schrankenlose Fürsorge von [Präsident] Emomalij Rahmon für das arischste und daher so glückliche Volk, was ja noch schlimmer ist als die russische Propaganda. Zweitens gibt es kaum Zugang zum Internet.“
     
    Tadschikistan ist außerdem das einzige Land, das mit Russland ein Abkommen über eine doppelte Staatsbürgerschaft und eine Vereinbarung hat, dass Personen, die in Tadschikistan Wehrdienst geleistet haben, von der Wehrpflicht in Russland ausgenommen sind und umgekehrt. 
     
    Das betrifft jedoch nur die Wehrpflicht und keine Wehrübungen oder Mobilmachungen. Wenn ein wehrpflichtiger tadschikischer Staatsbürger mit doppelter Staatsbürgerschaft seinen ständigen Wohnsitz in Russland hat, dann kann er durchaus zur russischen Armee einberufen werden. Im Januar 2023 sagte der Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, Alexander Bastrykin, dass Ausländer mit russischer Staatsbürgerschaft auch zum Krieg in der Ukraine eingezogen werden sollten. Und als im Mai 2023 das Gesetz über die elektronische Zustellung der Einberufungsbescheide in Kraft trat, tauchten erste Meldungen auf, wonach tadschikischen Staatsbürgern mit russischem Pass die Ausreise verwehrt wurde. Von diesem Ausreiseverbot erfuhren die betroffenen Tadschiken mit doppelter Staatsbürgerschaft, als sie im staatlichen Serviceportal Gosuslugi ihren Einberufungsbescheid erhielten. 

    Je weniger wahrscheinlich eine neue Mobilisierungswelle ist, desto stärker wird der Druck auf Migranten, glaubt Politikwissenschaftler Michail Winogradow. So wurde in der Staatsduma ein Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, dass im Fall einer Wehrdienstverweigerung eine bereits erworbene Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden kann. Eine andere Gesetzesinitiative will einen verpflichtenden Armeedienst für Ausländer einführen, bevor sie die Staatsbürgerschaft erhalten. Allerdings birgt dieser Vorschlag den Quellen von Verstka zufolge noch immer „zu hohe Risiken“, weswegen die Staatsmacht es bislang nicht eilig hat, ihn als Gesetz zu verankern.    

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    Die Unsichtbaren

    Demonstrationen sind nicht mehr möglich. Kritische Äußerungen werden mit jahrelanger Lagerhaft bestraft. Unabhängige Nachrichten sind immer schwerer zu bekommen. Selbst auf der Arbeit und im Freundeskreis müssen die Menschen Denunziationen fürchten. Von März 2022 bis Mai 2023 hat die Soziologin Anna Kuleschowa untersucht, wie sich das Leben von oppositionell eingestellten Russinnen und Russen im Laufe eines Kriegsjahres verändert hat. Dazu hat sie über hundert Personen verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen Einkommensgruppen befragt. Allen gemeinsam ist die Angst: vor einem Sieg Russlands, vor immer härteren Repressionen, vor einer immer schlechteren Gesundheitsversorgung und davor, dass sie Verwandte und Freunde, die ins Ausland gegangen sind, lange Zeit nicht mehr wiedersehen. Das Portal Cherta hat mit Anna Kuleschowa über ihre Forschung gesprochen und veröffentlicht ein erstes Fazit – wobei die Soziologin Wert darauf legt, dass die Ergebnisse noch vorläufig sind und nicht einfach auf das ganze Land übertragen werden können.

    „Die Menschen leben auf dem gleichen Territorium und haben ungefähr die gleichen Ansichten. Haben jedoch alle vor etwas anderem Angst: Die einen fürchten einen Sieg Russlands; sie meinen, wenn der Krieg auf diese Weise endet, dann wird das derzeitige Regime im Land nur stärker werden. Für sie bedeutet es, dass Perspektiven fehlen, dass ihnen und ihren Kindern das Leben geraubt würde. Sie fühlen sich in diesem System nicht zuhause“. So beschreibt die Soziologin Anna Kuleschowa die Stimmung bei oppositionell eingestellten Russen.

    Es gibt bei denen, die den Krieg nicht unterstützen, aber auch die entgegengesetzte Angst, dass nämlich Russland den Krieg verliert. Diese Menschen sind überzeugt, dass das Regime trotzdem überleben, dann aber nach Schuldigen suchen wird. „Sie haben Angst, dass man sie zu Volksfeinden erklärt. Dass das Regime die Verantwortung für die Niederlage von denen, die die Entscheidungen getroffen haben, auf alle anderen abwälzt, und dass es dann Säuberungen geben wird und eine Neuauflage der Stalin-Zeit“ sagt die Soziologin.

    Optimistische Prognosen für die kommenden fünf bis zehn Jahre waren von den Befragten nicht zu hören.

    Für viele war wichtig, dass man ihnen zuhört. „Bei den Menschen, die sich zu einem Interview bereit erklärten, brachen die Emotionen hervor. Sie erzählten von all ihrem Schmerz; schließlich ist es gewöhnlich so, als existierten sie nicht: Sie sind für ihre Umgebung unsichtbar, weil sie ihre Ansichten verstecken müssen. In der ganzen Welt, so scheint es, gelten alle, die geblieben sind, als Unterstützer des Regimes“, sagt Kuleschowa. Eines der wichtigsten Themen, über die die Respondenten sprachen, war die Angst.

    Einige Respondenten haben Angst vor einem Atomkrieg. Menschen, bei denen Angehörige in den grenznahen Gebieten leben, fürchten, dass der Krieg ihre Verwandten direkt treffen wird. Kuleschowa unterstreicht, dass 2023 eine neue Angst dazugekommen sei: Viele der Befragten haben Angst vor zurückgekehrten Militärangehörigen.

    „Es gibt die Angst, dass kampferprobte Männer mit einem Schaden in die Stadt kommen und hier ihre eigene Ordnung errichten.“

    Die Respondenten berichteten von Ängsten vor den sich verändernden patriarchalen und maskulinen Normen. Solche Befürchtungen seien keine unmittelbare Folge des Krieges, sondern ein Nebeneffekt, meint Kuleschowa. Der Soziologin zufolge haben die Leute Angst, dass die Propaganda von „echtem“ maskulinen Verhalten und Brutalität, mit der neue Kämpfer mobilisiert werden sollen, früher oder später zu einem Anstieg von Gewalt im Alltag und einer schlechteren Lage der Frauen führt. 

    Die Befragten sprachen oft von Repressionen, davon, dass es keine faire Rechtsprechung gibt, von Gewalt durch Sicherheitskräfte, die sie erleben.
    Viele Gesprächspartner Kuleschowas sagen, dass sie durch die massenhafte Unterstützung für den Krieg alarmiert sind. Hinzu kommt angesichts der vorgeblich allgemeinen Unterstützung für radikale Entscheidungen eine generelle Angst um das Überleben des Landes.

    „In den ersten Tagen [des Krieges] war ich überzeugt, dass ich in meiner Umgebung niemanden treffen würde, der den Krieg unterstützt. Als sich herausstellte, dass es sie dennoch gab, empfand ich neben dem schrecklichen Schock zusätzlich Abscheu, eine Art Ekel.

    Ich denke nicht, dass Unterstützer [des Krieges] schlechter sind als ich. Es ist nicht so, dass ich sie nicht mehr für Menschen halte, oder dass sie nicht mehr meine Freunde sind. Aber mir wird übel. Nicht ihretwegen, sondern durch die Situation und durch ihre Haltung dazu.“

    Andere hätten Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitswesens, vor einem Mangel an Einweginstrumenten im Krankenhaus und Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten, sagt Kuleschowa. Das betreffe vor allem Menschen, die lebenslang Medikamente einnehmen müssen, meint sie. „Für Medikamente, die früher nicht besonders teuer waren, muss man jetzt viel mehr bezahlen. Die Menschen müssen überlegen: ‚[…] wie kann ich behandelt werden, und wie Medikamente bekommen, Falls, Gott bewahre …‘“, berichtet die Soziologin.

    Eine andere wichtige Angst betrifft die fehlenden Möglichkeiten, sich mit engen Angehörigen zu treffen, die Russland verlassen haben. Vor einem Jahr schien es, dass wir „uns in einem Jahr sicher wiedersehen“. Jetzt ist klar, dass das „vielleicht auch nicht“ eintreten könnte, meinen Respondenten.

    Es gibt eine weitere Angst, die sich nicht direkt auf den Krieg bezieht, sondern auf dessen Folgen, nämlich eine mangelnde Sicherheit des öffentlichen Nahverkehrs. „Sie haben Angst vor Verkehrskatastrophen in der Folge der Sanktionen, dass etwa die U-Bahnwagen nicht mehr intakt sind. Sie wissen nicht, ob es jetzt noch sicher ist, mit dem Flugzeug zu fliegen, und ob die billigen chinesischen Autos sicher sind, die jetzt auf den Straßen fahren“, sagt Kuleschowa.

    Oft wird eine große Sorge um die Zukunft der Kinder geäußert: Ob es sinnvoll ist, dass sie in Russland ihre Bildung erhalten, wie ihre Zukunft aussehen wird, welche Perspektiven sie haben, und ob sie ohne ernste psychische Folgen und Konflikte die Schule abschließen können.
    Auch der „Anstieg der Intoleranz gegenüber Leuten, die in die Ecke gedrängt wurden, was sich zu einem echten Bürgerkrieg entwickeln kann“, macht Angst.

    Sich wegducken, um schwierige Zeiten überstehen

    Die Befragten schätzen den Anteil der Kriegsbefürworter in ihrem Umfeld auf 20 bis 30 Prozent. Viele sagen aber, dass sie nicht einmal annäherungsweise eine Zahl nennen können, da sie versuchen, mit Bekannten keine Gespräche dieser Art anzufangen. Schließlich weiß man ja nicht, was dabei herauskommt oder wer einen dann denunziert. Die Soziologin meint, dass die Menschen jetzt Angst vor Provokationen haben: „Es wurde erzählt, dass im Umkleideraum eines Fitness-Studios blaue Spinde standen. Und am 23. Februar lagen in ihnen dann gelbe Schuhanzieher. Die Leute waren verwirrt: „Wie sollte man darauf reagieren? Ist das eine Art Test?“

    Eine Befragte erzählte, wie sie in einem Geschäft war und von einer Verkäuferin über ihre Haltung zum Krieg ausgefragt wurde. „Wenn du schweigst, werdet ihr [Kriegsgegner] noch weniger“, sagte die Frau. „Aber du weißt nicht, wo das hinführt, du kannst kein Vertrauen haben“. „Der Raum für Vertrauen war für Russen nie groß. Fremden zu vertrauen ist eher atypisch für die Menschen in Russland. Jetzt aber ist dieser Kreis des Vertrauens vollkommen kollabiert“, sagt Kuleschowa.

    Viele Respondenten haben Angst, denunziert zu werden, wobei in Russland heute völlig unklar ist, von welcher Seite die Gefahr droht, meint die Soziologin. „Es sind nicht die Zeiten Stalins, als die Denunziationen nicht selten von Bekannten geschrieben wurden, die ein Motiv hatten; etwa weil jemand einen Posten oder mehr Wohnraum in der Kommunalka ergattern wollte. Jetzt ist es eher so, dass irgendwelche Leute andere denunzieren, die sie persönlich gar nicht kennen.“

    Das Problem der ausgewanderten Angehörigen wird ebenfalls als potenzielle Bedrohung gesehen. Unter denen, die ihre Männer oder Söhne ins Ausland geschickt haben, um sie vor der Mobilmachung zu bewahren, sind viele, die das in Gesprächen mit Fremden verheimlichen. Wenn die Frage nach der Haltung zum Krieg aufkommt, hüten sich die Leute davor, als erste zu antworten. Es ist sicherer, zuerst die Position des anderen zu hören. „Die Menschen beginnen ein Gespräch behutsam und versuchen zu verstehen: ‚Sind wir noch auf der gleichen Seite?‘ Wenn nicht, sollte man innehalten und über dieses Thema nicht mehr sprechen“, erklärt Kuleschowa.

    Die Russen, die von der Soziologin befragt wurden, reden nicht mehr über Politik, wenn sie ihre Gesprächspartner nicht gut genug kennen. „Smalltalk am Arbeitsplatz über die neuesten Nachrichten gibt es praktisch nicht mehr. Beim Plausch mit Nachbarn wird das Thema lieber beschwiegen. Man ist auf der Hut, nicht in Hörweite des Hausmeisters darüber zu reden. An U-Bahn-Eingängen, wo Polizisten auftauchen können, unterbricht man lieber das Gespräch und geht weiter, damit man sich keine Probleme einhandelt“, ergänzt sie. 

    „Dieses Schweigen ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt“, sagt Kuleschowa. „Die Strategie sich wegzuducken, um schwierige Zeiten zu überstehen, war für viele annehmbar, solange es nur um ein Jahr ging. Solange die Leute den 281. Tag zählten, den 282. Tag … Wenn die Zählung aber nicht mehr in Tagen erfolgt, sondern in Jahren, wie lange kannst du dann schweigend dasitzen? Wie wirst du damit leben?“

    In den Städten mit Systemen zur Gesichtserkennung versuchen Andersdenkende – den Umfragen von Kuleschowa zufolge – sich neue „Sicherheitstechniken“ anzueignen, also Methoden, um die Beobachtungskameras zu überlisten, etwa mit Hilfe von Brillenrahmen, Masken, und Augen, die auf Mützen oder Hüte gemalt werden. Populär sind neue Vorsichtsmaßnahmen beim Umgang mit Technik: Menschen, die wissen, dass ihre Gespräche abgehört werden können, legen ihr Telefon und ihre Box mit der Sprachsteuerung ins Nachbarzimmer. Andere nehmen während des Gesprächs den Akku heraus oder legen das Handy ins Gefrierfach, um angstfrei sprechen zu können. „Eine Befragte, mit der wir sprachen, hatte meinen Telegram-Kanal abonniert. Sie fragte: ‚Haben Sie denn nicht bemerkt, dass Sie oft einen neuen Abonnenten bekommen, der dann wieder verschwindet? Das bin ich; jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in der Universität durch die Kontrolle gehe und Angst habe, dass sie mich filzen. Für alle Fälle lösche ich alle Kanäle, und melde mich dann wieder an.‘“, berichtet Kuleschowa.

    Seine Leute finden

    Für kriegskritische Ansichten, die man in persönlichen Gesprächen, öffentlich oder in sozialen Netzwerken äußert, kann man ins Gefängnis wandern. Daher suchen die Menschen nach anderen Wegen, um Gleichgesinnte zu finden. Zu Beginn des Krieges dienten als „Hinweis“, dass jemand gegen den Krieg ist, oft die Farben der ukrainischen Flagge an der Kleidung, als Bändchen am Handgelenk oder in den Haaren. Jetzt sei das viel zu gefährlich, sind die Befragten überzeugt.

    Auf der Straße ist niemand mehr mit einer Einkaufstasche zu sehen, auf der „Nein zum Krieg!“ oder andere offene Antikriegs-Parolen stehen. Es werden aber andere, bislang noch nicht verbotene Symbole verwendet: „Einige tragen Buttons mit Antikriegs-Parolen, die aber sehr unauffällig sind, damit sie nicht so leicht zu erkennen sind. Einige gehen zu einer doppeldeutigen Sprache über, damit Aussagen nicht direkt ‚gelesen‘ werden können. Andere verwenden Bilder von Friedenstauben oder Zitate von Orwell oder Remarque. Andere wiederum versuchen, anhand des Kleidungsstils oder am Gesicht auszumachen, welche Ansichten ihr Gegenüber hat. Das ist jedoch riskant, man kann da vollkommen falschliegen.“

    „Ich war einige Male bei Führungen von Memorial zum Projekt Die letzte Adresse. Es war keine Überraschung, dass da niemand für den Krieg war. Dort konnte man frei reden.“

    Ein weiterer, relativ sicherer Weg, seine Haltung zum Geschehen zu äußern, sind Veranstaltungen, auf denen man Gleichgesinnte treffen könnte. Manchmal kommen Leute zu Kulturveranstaltungen, weil ihnen die Haltung der Organisatoren oder der Künstler wichtig ist, sagt Kuleschowa: „Zu einem Konzert von Polina Osetinskaya kommen Menschen nicht nur, weil sie eine bemerkenswerte Pianistin ist, sondern auch, weil sie, so die Befragten, gegen den Krieg auftritt. Also könnte man da am ehesten ‚seine Leute‘ treffen. Nach dem gleichen Prinzip besuchen die verbliebenen Kriegskritiker Underground-Ausstellungen von moderner und Antikriegskunst.“

    Wie wird der Krieg mit Angehörigen diskutiert?

    Unter Kuleschowas Gesprächspartnern gab es auch welche, die die politischen Ansichten selbst ihrer nächsten Verwandten nicht kennen (besser gesagt: Sie haben   Angst, sie zu erfahren). „Die Menschen fürchten, ihre Angehörigen könnten ‚mutieren‘, auf ‚die Seite des Bösen‘ überlaufen, wie sie es nennen. Einige hören auf, sich mit ihrem Umfeld wirklich zu unterhalten, und zwar aus Selbstzensur, weil es in ihrer Wahrnehmung immer weniger Gleichgesinnte gibt“, erklärt die Soziologin.

    „Ich weiß das nicht bei allen Freunden und Bekannten. Manchmal erfahre ich es indirekt, über gemeinsame Bekannte. Da ruft beispielsweise eine Freundin meiner Mutter an, eine Ukrainerin, und erzählt mir empört über eine andere Freundin meiner Mutter, eine Moldauerin: ‚Stell dir vor, sie meint, Russland hat nicht recht‘, ‚Stell‘ dir vor‘, antworte ich, ‚das meine ich auch.‘ So erhalte ich politische Informationen.“

    Vor einem Jahr seien unterschiedliche Einstellungen zum Krieg eher ein Grund für eine Spaltung gewesen, meint Kuleschowa. Jetzt versuche man eher, sich damit einzurichten: „Die Menschen haben schon nicht mehr die Illusion, dass man alles abreißen, abbrechen könne, und dabei einen richtigen Schritt macht. ‚Und dann bricht das zweite Kapitel der Beziehung an, wenn der andere auf Knien angekrochen kommt, weil er erkannt hat, dass er nicht recht hatte‘. Die Leute verstehen jetzt, dass man mit denen, mit denen man in einem Boot sitzt, irgendwie bis zum Ende rudern muss und Konflikte und Streitereien sinnlos sind. Vor einem halben Jahr gab es noch Hoffnungen, dass man jemanden umstimmen könnte, jetzt ist klar: Das funktioniert nicht.“

    Der Soziologin zufolge gibt es nur sehr wenige, die früher den Krieg unterstützten und das jetzt nicht mehr tun. Eher passiere das Gegenteil: Jemand in der Familie beginnt der Propaganda zu glauben. „Heute rettet eine Frau ihren Mann vor der Mobilmachung und bleibt selbst mit den Kindern in Russland. Dann kommt er trotz der Gefahr für seine Sicherheit zurück, weil er die Kinder sehen will, aber seine Frau hat den Kindern schon weisgemacht, dass ihr Vater ein Feind ist, alle verlassen hat und abgehauen ist. Die Kinder sind umprogrammiert und denken genauso.“ Jugendliche wiederum, deren Eltern Z-Patrioten sind, können ihre Haltung gegen den Krieg nicht äußern, weil sie schlichtweg finanziell abhängig sind. Sie können nirgendwo hin, nicht woanders leben.

    „Mir scheint, dass man von hier fliehen muss, doch der Rest der Familie sieht keinen Grund für diese Panik.“

    „Es gab unter den Befragten eine Frau, deren Mann ausgewandert ist. Aber ihr Liebhaber, von dem ihr jüngstes Kind stammt, wollte bleiben“, erzählt Kuleschowa. Der Ehemann hat gesagt: ‚Zum Teufel, ich nehm‘ dich zusammen mit dem Liebhaber auf. Kommt zusammen her [ins Ausland], wenn es für dich anders nicht geht.‘ Sie entschied aber mit ihrem Liebhaber, dass sie ‚die eigenen Leute nicht im Stich lassen‘ dürfe, und blieb in Russland. Letztendlich musste das Paar die Kinder aufteilen. In jeder Familie kann sich alles Mögliche ergeben, und selbst nach zwanzig Ehejahren gibt es Überraschungen. Während der Interviews habe ich gemerkt, was für ein großes Glück es für eine Familie sein kann, wenn alle zugleich verrückt werden.“

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  • Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Mit einer handstreichartigen Operation hat das aserbaidschanische Militär am 19. September 2023 die Regierung der selbsternannten Republik Arzach in Bergkarabach zur Kapitulation gezwungen. Der Quasi-Staat hört zum Jahresende auf zu existieren. Fast alle Armenier sind aus der Enklave geflohen. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft blieben gleichwohl verhalten. Welche Rolle spielen Russland, die Türkei und der Iran bei dem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr für Armenien? 
    Sieben Fragen an die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke, die sich am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung mit eingefrorenen Konflikten in der Region beschäftigt. 

    1. Am 19. September, als Aserbaidschan die Enklave eroberte, waren Sie zu einem Forschungsaufenthalt in Jerewan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

    Die Stimmung war bereits angespannt, als ich Anfang September nach Armenien eingereist bin. Ich führe für meine Forschung unter anderem Interviews mit lokalen Expert*innen und auch mit Vertreter*innen von internationalen Organisationen in der Region. Meine Gesprächspartner*innen hatten für den September mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes um Bergkarabach gerechnet. Schon der letzte Krieg um die zumeist von Armenier*innen bewohnte Region im Jahr 2020 hatte im September begonnen und wurde im November durch das von Russland vermittelte Trilaterale Statement zunächst beendet. Aserbaidschan sah sich selbst als Sieger des sogenannten 44-Tage Kriegs. Ein weiterer Ausbruch des Konfliktes war jedoch absehbar, da Aserbaidschan noch immer keine effektive politische und militärische Herrschaft über die Region Bergkarabach hatte. Im September 2022 gab es aserbaidschanische Angriffe auf das armenische Kern-Territorium an der Kontaktlinie und seit Dezember 2022 wurde der Latschin-Korridor, der Zugang von Armenien nach Bergkarabach, trotz der Anwesenheit sogenannter Friedenstruppen aus Russland durch Aserbaidschan blockiert. Die Lage war also seit 2020 nie vollkommen befriedet, sondern hatte stets Eskalationspotential.

    Dass der Konflikt immer im September eskaliert, hat unter anderem mit dem Klima zu tun: In den Bergen sind die Sommer sehr heiß und die Winter sehr kalt. Der Übergang zwischen den Jahreszeiten ist kurz. Die Situation, die man von September bis November militärisch schafft, wird sehr wahrscheinlich den ganzen Winter und darüber hinaus politisch eingefroren. Dazu kommt, dass der Winter den Armenier*innen in Bergkarabach und auch in Armenien jedes Mal ihre Verletzlichkeit vor Augen führt. Die Bevölkerung von Bergkarabach litt im vergangenen Winter unter Strom- und Gasmangel aufgrund der Blockade und auch Armenien selbst ist arm an Ressourcen und abhängig; die Energie-Infrastruktur ist weitgehend in russischer Hand.

    Eine weitere Rolle unter den Eskalationsfaktoren wird gespielt haben, dass sich in der Woche um den 19. September die internationale Staatengemeinschaft zur jährlichen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York getroffen hat. Schon im Vorfeld gab es eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Bergkarabach, auf der die Frage behandelt wurde, ob es sich bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan um einen Genozid durch Aushungern handelt, wie es der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, in einem öffentlichen Statement schrieb. Letztlich ging es Aserbaidschan meiner Ansicht nach darum, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen und vor neuen international vermittelten Verhandlungen, sei es in Moskau, Washington oder Brüssel, faktisch das ganze Gebiet von Bergkarabach unter seine politische und militärische Kontrolle zu bringen.

    2. Tatsächlich gab es aus New York kaum Reaktionen. Der Sicherheitsrat hat nicht einmal ein Statement veröffentlicht. Liegt der Karabach-Konflikt zu sehr im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?

    Die gleiche Frage habe ich meinen Gesprächspartner*innen in Jerewan auch gestellt. Einige waren der Ansicht, der 44-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 sei der eigentliche Auftakt für die Zeitenwende gewesen. Damals habe Russland gesehen, dass die internationale Staatengemeinschaft weder mit Sanktionen und schon gar nicht militärisch einschreitet, wenn ein Land entscheidet, in einem ungelösten Territorialkonflikt, oder sogenannten eingefrorenen Konflikt, mit militärischen Mitteln abseits von Verhandlungen Fakten zu schaffen. Daraus schloss man, dass sich die Welt – insbesondere der sogenannte Westen – auch im Hinblick auf die Ukraine weitgehend auf Appelle beschränken und nicht militärisch intervenieren würde. Aktuell steht meiner Ansicht nach dieser Konflikt und sein Eskalationspotential über die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach hinaus im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die überregionalen Verflechtungen werden übersehen.

    3. In Aserbaidschan werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die behaupten, es gäbe gar kein Armenien und keine Armenier. Sie bezeichnen Armenien als „West-Aserbaidschan“. Das erinnert an die russische Propaganda, die das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Muss man fürchten, dass Aserbaidschan seine Angriffe auf armenisches Territorium ausweitet?

    Ich denke, dass man hier tatsächlich in gewisser Hinsicht dem Moskauer Vorbild folgt: Rhetorisch und diskursiv werden Bilder und Narrative geschaffen, denen dann militärische Operationen folgen – interessanterweise wurde das Vorgehen gegen Bergkarabach als militärische Anti-Terror-Operation bezeichnet. 2020 konnte Präsident Ilham Alijew argumentieren, dass Aserbaidschan lediglich seine territoriale Integrität in den international anerkannten Grenzen herstellen wolle und Bergkarabach von Armenien okkupiert sei. Das war nun in 2023 schon anders, und selbst wenn Bergkarabach de jure aserbaidschanisches Territorium ist und die Verfassung des Landes Aserbaidschan zum Beispiel keinen Autonomiestatus für ethnische Minderheiten vorsieht, heißt das nicht, dass Aserbaidschan mit den auf diesem Gebiet lebenden Menschen – also den Armenier*innen – tun und lassen kann, was es will. Trotzdem ist auch dieser weitere „Test“ aus aserbaidschanischer Sicht erfolgreich verlaufen; innerhalb von 24 Stunden hat Bergkarabach kapituliert und die de facto Regierung hat die Auflösung der selbsternannten, nicht anerkannten Republik Arzach für 2024 verkündet.

    International gab es im Vergleich zum Krieg gegen die Ukraine nur leisen oder mahnenden Protest im Hinblick auf die humanitäre Lage der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die nach heutigem Stand weitgehend nach Armenien geflohen ist. Die dringende Frage ist jetzt aber, ob Aserbaidschan noch weiter geht, und mit militärischer Gewalt etwa einen Korridor in die Exklave Nachitschewan herstellt, die von Armenien und Iran umschlossen ist und nur eine sehr schmale Grenze mit der Türkei hat. Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen – dann gibt es gute Gründe hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein.

    Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck / Foto © Cindy Wittke

    4. Wer könnte Alijew stoppen?

    Die Akteure, die das tun könnten, sind zuvorderst unmittelbar in der Region zu suchen: die Türkei, Russland und der Iran. Ich fand es bemerkenswert, dass der russische Verteidigungsminister, einen Tag nachdem Aserbaidschan seine militärische Operation gegen Bergkarabach begonnen hatte, in Teheran war. Ich denke, dass man hier eventuell versichert hat, dass iranische Interessen hinsichtlich des Transits von Gütern durch Armenien oder Aserbaidschan gewahrt werden, und dass es keinerlei Ambitionen gibt, Aserbaidschans Territorium auch auf iranisches Territorium auszudehnen. Man darf nicht vergessen, dass im Iran eine Minderheit von circa fünf Millionen Aserbaidschaner*innen lebt. Wenn Alijew seine Visionen eines größeren Aserbaidschans skizziert, wird man in Teheran natürlich hellhörig. Die Balance der Kräfte ließe durchaus zu, dass unterschiedliche Akteure sich dafür einsetzen, dass Aserbaidschan nicht noch den nächsten Schritt tut.

    5. Das hört sich nicht so an, als könnte das die Armenier wirklich beruhigen.

    Armenien ist in einer der misslichsten politischen Lagen, die man sich denken kann. Die armenische Innen- und Außenpolitik hat das Schicksal des Landes immer eng mit dem der Karabach-Armenier*innen verbunden. Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck.

    In dieser Situation muss das Land nun noch Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Armenien hat Erfahrungen mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Es hat eine große Zahl von Christen aufgenommen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Vor einem Jahr sind dann viele Russen vor der Mobilmachung und im Zuge der Sanktionen gegen Russland aus ihrer Heimat nach Jerewan gekommen. Armenien hat von den Sanktionen gegen Russland indirekt profitiert. Die IT-Branche boomt, die Wirtschaft wächst, und die Währung ist stark. Aber das ist kein nachhaltiges Wachstum, von dem die Gesamtbevölkerung und das Land nachhaltig profitieren. Die Mehrzahl der Menschen, die jetzt aus Stepanakert und anderen Orten aus Bergkarabach ankommen, haben oftmals alles zurückgelassen und blicken auf Krieg und Blockade zurück. Sie brauchen Unterkunft, sie müssen versorgt werden und irgendwann werden sie auch Wohnungen brauchen. Bei den Protesten, die ich in Jerewan mitbekommen habe, haben die Demonstrant*innen der Regierung vorgeworfen, das Land nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet zu haben.

    Sicherheitskräfte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan, auf deren Schildern die Arzach-Flagge zu sehen ist, werden von aufgebrachten Demonstrierenden mit Bildern aus Karabach konfrontiert und als „Türken“ beschimpft / Foto © Cindy Wittke

    6. Wird die Regierung Paschinjan das überstehen?

    Ich war schon früher in Krisensituationen in Armenien, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich Armenierinnen und Armenier auf der Straße angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen anschreien. Diese emotionale Aufgeladenheit und Aggressivität kannte ich nicht; mir wurde berichtet, dass es 2020 nach dem Abschluss des Trilateralen Statements in Moskau – aus dem verlorenen Krieg – bereits ähnlich war. Menschen, die eine besonders starke Position für Arzach einnahmen, beschimpften gemäßigtere Armenier*innen sowie Polizei und Sicherheitskräfte als „Türken“. Das Land ist wirklich in einer Identitätskrise. Wenn das jetzt in einen politischen Selbstzerstörungsmodus umschlägt, käme das Moskau zupass, das gern wieder eine pro-russische Führung unter seiner Kontrolle installieren würde. Andererseits muss man sagen, dass die Regierung die Situation derzeit noch relativ gut gemanagt hat. Es wurden keine Wasserwerfer oder gepanzerten Fahrzeuge gegen Demonstrant*innen eingesetzt, die den Sitz der Regierung auf dem Platz der Republik stürmen wollten. Die Plätze der Hauptstadt wurden nicht gesperrt, die Regierungsgebäude wurden mit Menschenketten geschützt und die nach 2018 neu aufgestellte Polizei hat auf Dialog gesetzt, auch wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen kam. Die Situation ist existenziell für Armenien. Dennoch möchte ich die Hoffnung auf die Resilienz der Armenier*innen und des Demokratieprozesses nicht aufgeben. 

    7. Was war eigentlich Ihre Forschungsfrage, mit der Sie nach Jerewan gereist sind? 

    Seit mehreren Jahren untersuche ich die oft widersprüchlichen Völkerrechtspolitiken von Staaten im sogenannten postsowjetischen Raum aus einer vergleichenden Perspektive. Meine Fallstudien sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Russland. Das Projekt basiert auf der Beobachtung, dass die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion (wieder) hervorgegangen sind, seit 1991 vor der enormen Herausforderung stehen, im Rahmen ihrer Staatsbildungs- und umfassenden Transformationsprozesse ihre eigene Völkerrechtspolitik zu formulieren und umzusetzen. Konflikte um Territorien wie um Bergkarabach haben diese Prozesse entscheidend geprägt. Für meine Forschung führe ich unter anderem Experten-Interviews mit Völkerrechtler*innen in der Region durch; so auch in Armenien. Die jüngere Generation – häufig im Westen ausgebildet – hat sich sehr dafür eingesetzt, Armeniens Position und die der in Bergkarabach lebenden Armenier*innen mithilfe des Völkerrechts zu stärken und Aserbaidschans politischen und vor allem militärischen Handlungsspielraum einzuschränken. Aber wenn es um mögliche politische Verhandlungslösungen zwischen Armenien und Aserbaidschan geht, herrscht auch unter diesen Expert*innen keine Einigkeit. Das unterstreicht einmal mehr die Zerrissenheit des Landes in dieser konflikthaften Gemengelage. Im Moment schauen wir vor allem auf die Vertreibung der Karabach-Armenier*innen und auf die humanitäre Katastrophe. Aber es geht noch um mehr. Es geht wirklich auch um den demokratischen Weg und letztlich um die bedrohte Staatlichkeit Armeniens.

    Expertin: Cindy Wittke
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 04.10.2023

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  • Von wegen russische Besatzung

    Von wegen russische Besatzung

    Belarus sei „de facto unter Militärbesatzung“ sagte die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im November 2022 in Bezug auf Russlands erdrückenden Einfluss auf ihre Heimat. Auch deutsche Medien und internationale Politiker oder Beobachter sprechen nicht selten davon, dass der Kreml das osteuropäische Land faktisch okkupiert habe und dass Alexander Lukaschenko eigentlich nur noch eine Marionette Putins sei – ohne eigenen politischen Handlungs- und Entscheidungsraum. Zweifelsohne war und ist die politische Abhängigkeit von der russischen Führung groß, und sie ist seit den Protesten von 2020 noch größer geworden. Ohne Frage hat diese Abhängigkeit auch dazu geführt, dass Russland Belarus als Aufmarschgebiet für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nutzen konnte. Aber kontrolliert der Kreml wirklich die Geschicke der belarussischen Machtzentrale, hat er es geschafft, die Kontrolle über Silowiki-Strukturen und Meinungsbildung im Nachbarland zu erlangen? Bleibt Lukaschenko tatsächlich nur noch das untertänige Nicken, wenn der große Bruder ruft? 

    Der belarussische Journalist und Analyst Alexander Klaskowski hält diese Sichtweisen für allzu einfach und deswegen für gefährlich. Für das Online-Medium Pozirk zeigt er anhand aktueller Entwicklungen, dass man Lukaschenko – der es seit 1994 in scheinbar ausweglosen Situationen gewohnt ist, seine Handlungsspielräume zu erweitern – nicht abschreiben sollte.

    Es gab eine Zeit, da vertrat ein Teil der Opposition vehement die These, Belarus sei von Russland besetzt. Jetzt aber scheint kaum mehr eine Handvoll russischer Truppen auf belarussischem Territorium zu stehen. Sollen wir also von einem Ende der Okkupation und Truppenabzug sprechen? 

    Wie immer ist die Wirklichkeit viel komplexer als die Politik, vor allem, wenn eine ordentliche Portion Propaganda im Spiel ist.

    Lukaschenko ist selbst in die imperialistische Falle getappt

    Den Daten des Monitoring-Projekts Belaruski Hajun zufolge (die von Kyjiw bestätigt werden) befinden sich derzeit in Belarus nicht mehr als 2000 russische Soldaten. Davon gehören 1450 zu der Funkstation Wolga bei Baranowitschi und zur Meldezentrale bei Wileika. In diesen zwei Anlagen ist schon jahrzehntelang russisches Personal im Einsatz. Weitere 600 Mann verteilen sich auf die beiden Flughäfen. Es liegt nahe, dass diese Kontingente auf die Betreuung und Bewachung von Objekten ausgerichtet sind und nicht darauf, Alexander Lukaschenkos Residenz in Drosdy zu stürmen. 

    Das hat nichts mehr zu tun mit dem Februar 2022, als der Kreml für angebliche gemeinsame Militärübungen zigtausende Soldaten mitsamt schwerer Kampftechnik in Belarus positionierte, um in Kyjiw einzumarschieren. Es gibt auch keine Trainingslager für mobilisierte Russen mehr, und die Luftwaffe der Russischen Föderation ist praktisch vollständig abgezogen. 

    Dass Moskau mit diesen paar tausend Soldaten nicht in der Lage ist, seinen Verbündeten rein militärisch in Schach zu halten, ist klar. Es gibt auf belarussischem Gebiet auch keine klassische Besatzungsverwaltung. Lukaschenko sitzt bereits das dreißigste Jahr auf seinem Thron und steuert alles über die von ihm selbst erschaffene Machtvertikale. Dass viele seiner Beamten und vor allem die Silowiki prorussisch eingestellt sind, ist ein anderes Thema.

    Allerdings ist die Abhängigkeit des Regimes vom Kreml durch die Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 und die Beteiligung an der Aggression [gegen die Ukraine – dek] zweifellos angewachsen. Doch nicht das Imperium hat Belarus an sich gerissen, sondern der belarussische Regent hat sich dazu entschieden, sein Land enger an das Imperium zu binden, um an der Macht zu bleiben. Er ist selbst in diese Falle getappt. 

    Marionette – hin oder her, aber … 

    Jetzt kann man sagen: Ist doch egal, wenn das Ergebnis ist, dass Lukaschenko eine Marionette von Putin ist – Unabhängigkeit gibt es nicht (Belarus ist de facto bereits eine Provinz der Russischen Föderation, sagt der litauische Präsident Gitanas Nausėda).

    Nun, Marionette hin oder her – jedoch hat Lukaschenko in den ganzen eineinhalb Jahren Krieg keinen einzigen seiner Soldaten dorthin losgeschickt. Obwohl diverse prominente Kommentatoren beherzt davon gesprochen haben, wie Putin seinen „kleinen Bruder“ angeblich auspresst. Als hätten sie das aus einer Ecke im Kreml oder einem Gebüsch in Sotschi heimlich beobachtet. 

    Ja klar, so fest presst er, dass alle wirtschaftlichen Leckerbissen sich über Minsk ergießen wie aus einem Füllhorn. Lukaschenko ist es nämlich gelungen, sein mächtiges Gegenüber davon zu überzeugen, dass das aktuelle Symbiose-Modell ihrer beiden Regime optimal ist und keine gefährlichen Experimente erforderlich sind.  

    Und sogar Kyjiw, das gern über die russische Besatzung von Belarus spricht, scheint hinter den Kulissen sein Spiel mit dessen Führungsmacht fortzusetzen (worüber dieser sich schon ein paar mal verplappert hat). Wieso sollten sie mit einer Marionette verhandeln?

    Es stimmt zwar, dass Lukaschenkos politische Eigenständigkeit geschwächt ist, doch ganz außer Acht zu lassen ist sie nicht. Erinnern wir uns an den Abzug der Söldnertruppe Wagner nach Belarus. Verschwörungen zufolge sei das Putins schlauer Plan gewesen für einen neuen Angriff auf die Ukraine vom Norden her oder überhaupt auf Europa. Mit der stillschweigenden Annahme, dass in einem solchen Fall der „kleine Bruder“ gar nicht mal gefragt würde. Aber diese Verschwörung fällt jetzt in sich zusammen, wie vom Autor dieser Zeilen vorhergesagt. Es wird immer offensichtlicher, dass die Aufnahme der Aufständischen in Belarus ein spontaner Entschluss war. Jetzt zerlegen sie Prigoshins Baby. Das Lager bei Ossipowitschi schrumpft, und überhaupt stand es unter der Fuchtel der Silowiki von Lukaschenko, der an einer Konfrontation mit der NATO wenig interessiert ist.

    Ebenso offensichtlich ist, dass er nicht will, dass die Grenzen in Richtung EU dichtgemacht werden. In den letzten Wochen gab es immer weniger Flüchtlinge aus Drittländern, die dort hinüberwollen, immer weniger; offenbar hat Minsk Regulierungsmaßnahmen ergriffen. Obwohl sehr oft und viel zu hören war, dass der Kreml diese Sache lenkt, und der „kleine Bruder“ nur brav mitspielt. 

    Atomwaffen: Putins Pläne passen zu Lukaschenkos Ambitionen 

    Indes gelangen einige Komponenten taktischer Kernwaffen aus der Russischen Föderation nach Belarus. Bestätigt wurde das jüngst von der Belarussischen Eisenbahnergesellschaft. Und dieser Tage erklärte der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, dass die Stationierung der taktischen Kernwaffen in Belarus „nach Plan laufe“. 

    Allerdings wurden laut dem ukrainischen Nachrichtendienst die ersten Atomsprengköpfe erst Ende August geliefert, davor fanden nur „großangelegte Trainings mit Kernwaffen-Attrappen“ statt. Putin und Lukaschenko hingegen waren der Welle vorausgeschwommen und hatten geprotzt, dass dieser Prozess bereits in vollem Gang sei. 

    Einerseits kann man auch diesen Prozess als eine Art hybride Besatzung interpretieren. Moskau macht Belarus durch die Stationierung von taktischen Kernwaffen zu seiner atomaren Geisel. Andererseits kann auch hier keine Rede von schmerzhaftem Druck sein. Während Lukaschenko 2022 bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine von belarussischem Territorium aus noch so tat, als hätte er nichts gewusst (und hätte es selbst aus dem Fernsehen erfahren), so betont er bezüglich der Kernwaffen gern, dass das seine Initiative war. 

    Es ist nicht ausgeschlossen, dass der schlaue Herrscher die Idee im Hinterkopf hat, Russland dieses Arsenal abzupressen, sollte dort nach einer Niederlage in der Ukraine alles zu bröckeln beginnen. In einer solchen Situation könnte er sogar mit dem Westen aushandeln, dass die Sanktionen aufgehoben werden und er nicht nach Den Haag muss. 

    Analysieren statt hypen

    All das ist natürlich mit Mistgabeln auf Wasser geschrieben. Noch wirkt die Anbindung des Regimes an Moskau beinahe fatal. Und die russische Militärpräsenz in Belarus kann auch bald wieder verstärkt werden. Aber obwohl der Grat viel schmaler geworden ist, fährt Lukaschenko innen- und außenpolitisch seine Manöver. Bisweilen sieht das ungelenk aus, aber in vielen Fällen durchaus geschickt.

    Manche Regimegegner wollen den Usurpator so unbedingt brandmarken, dass sie ihren Refrain über die Okkupation, die Marionettenhaftigkeit und den kompletten Verlust der Unabhängigkeit beinahe genüsslich wiederholen. Eine solche Sichtweise verhindert eine objektive Analyse der Situation im Land und um das Land herum. Immerhin ist der Umstand, dass die Staatlichkeit noch nicht vollends verloren ist, ein wichtiges Plus für einen möglichen Wandel. 

    Jedenfalls sollten jene, die sich Gedanken zur belarussischen Frage machen (und vor allem nach einer Lösung suchen), ihre Reflexionen nicht auf verschwörungstheoretische Seifenblasen reduzieren, die sich nur allzu leicht als Hype entpuppen. 

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    Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

  • „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow prahlt gern mit der Stärke seiner Armee, die formal zwar Teil der russischen Nationalgarde ist, faktisch aber auf seinen Befehl hört. Im Frühjahr 2023 behauptete Kadyrow, seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine mehr als 26.000 Tschetschenen in den Kampf gegen die Ukraine geschickt zu haben. Sogar seine minderjährigen Söhne wollte er angeblich an die Front schicken. Kadyrows Kämpfer erlangten Bekanntheit, weil sie eifrig martialische Videos aus dem Kampfgebiet in den Sozialen Netzwerken verbreiteten. Eine Weile lang wirkte das, als lieferten sich der Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin und das Tschetschenen-Oberhaupt einen Wettbewerb, wer die furchteinflösendste Truppe kommandiert. 

    Weniger bekannt sind die tschetschenischen Freiwilligen, die auf der Seite Kyjiws im Einsatz sind. Sie sehen sich als Truppen der tschetschenischen Republik Itschkerien, die ihrem Verständnis nach von Russland besetzt ist. Viele sind schon vor Jahren aus ihrer Heimat ins Ausland geflohen. Sie hoffen darauf, nach einem Sieg der Ukraine ihre Heimatregion von der Herrschaft Kadyrows zu befreien und die Unabhängigkeit der Republik von Moskau zu erkämpfen. Das russische Portal The Insider hat mit dreien von ihnen über ihre Motive, ihr Verhältnis zu Kadyrow und die Lage an der Front gesprochen.

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    „Ich bin hierhergekommen, um die ermordeten Kinder, Frauen und Alten in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und der Ukraine zu rächen.“

    Fatchi kämpft im Freiwilligenbataillon des Verteidigungsministeriums der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung unter Achmed Sakajew. Teilnehmer am Vorstoß in das russische Gebiet Belgorod.

    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Ich bin aus zwei Gründen in die Ukraine gekommen: um mein Volk zu rächen, und um den Ukrainern zu helfen. Russland hat mein Land besetzt, Tschetschenien, und viele aus meiner Familie ermordet: meinen Vater, meine Brüder, meine Tante, meinen Onkel. Ich betrachte die Russen nicht nur als Feinde der Ukrainer und Tschetschenen, sondern als Feinde der gesamten Menschheit. Sie werden sich alles nehmen, was sie wollen, und niemals aufhören. Wenn wir zulassen, dass sie auf ukrainischem Boden siegen, werden sie weitermachen. Deshalb bin ich hier, um die Kinder, Frauen und Alten zu rächen, die in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und jetzt auch in der Ukraine umgebracht wurden.

    Ich bin 2022 gekommen. Über zwei Monate wurde ich hier ausgebildet. Dann beschloss ich, mich dem OBON anzuschließen, dem Selbständigen Bataillon für Spezielle Aufgaben. Wir haben viele erfahrene Männer, die in Tschetschenien und Syrien gekämpft haben.

    Ich habe seit meiner Kindheit davon geträumt, entweder Soldat oder Polizist zu werden. Ich wollte wie mein Vater werden [Arbi Barajew war Feldkommandeur; er wurde während des Zweiten Tschetschenienkrieges getötet und war einer der bekanntesten Anführer des Widerstandes im Krieg gegen die russischen Streitkräfte in Tschetschenien]. Mir gefällt es hier zu sein. Und wenn der Krieg vorbei ist, werde ich anderswo für Gerechtigkeit kämpfen.

    Während des Tschetschenienkrieges war ich acht oder neun Jahre alt, aber ich erinnere mich an Vieles. Meine Mutter floh mit uns aus Tschetschenien, Kadyrows Leute wollten uns umbringen. Das war Blutrache. Mein Vater war Brigadegeneral und hat Besatzer [gemeint sind Vertreter der russischen Streitkräfte und Spezialeinheiten der Polizei – dek] und Kadyrows Verräter getötet, die nachts Säuberungen veranstalteten und auf der Straße Leute umbrachten.

    Meine Mutter haben sie auch viele Male mitgenommen und verhört. Nach diesen Verhören war sie immer in einem Schockzustand und konnte nicht sprechen. Jetzt wird sie wieder eingeschüchtert, weil ich in der Ukraine kämpfe; sie will aber nicht fortgehen. Aber sie werden ihr nichts antun, weil meine Cousins in der russischen Armee dienen.

    Den Vater eines dieser Cousins haben Kadyrows Leute ebenfalls umgebracht. Sein Sohn dient aber trotzdem bei ihnen. Ich habe deshalb den Kontakt zu ihm abgebrochen.Wie kann es sein, dass jemand die gleiche Uniform trägt wie jene, die seine Familie getötet haben? Er hat mich dann einen Terroristen genannt, weil ich LGBT unterstütze und in Europa lebe. Ich lebte damals in Dänemark, und er in Tschetschenien. Ich kann nur ganz offen sagen: Wenn ich ihn hier in der Ukraine treffe, bringe ich ihn um.

    Ich habe als politischer Flüchtling in Europa gelebt, seit ich 17 war. Meine Mutter hat uns allein zurückgelassen, als ich zehn war, und ist nach Tschetschenien zurückgegangen. Ich mache ihr keinen Vorwurf, und auch meinem Vater nicht. Ich gebe allein Putin die Schuld, und jenen in der Bevölkerung in Russland, die alles unterstützen, was ihr Präsident macht. Ich habe alles zurückgelassen, als ich in die Ukraine kam: Freunde, Bekannte, meine Arbeit, und ich hoffe, dass wir bald siegen und nach Tschetschenien zurückkehren, um den ganzen Kaukasus zu befreien.
    In Tschetschenien bleiben jetzt nur die, die keine Möglichkeit haben, die Republik zu verlassen. Die Menschen haben Angst, offen zu sprechen, ihre Meinung zu sagen, oder einfach nur zu denken. Sie haben Angst, sich gegen das System zu stellen, weil man dafür in Tschetschenien ins Gefängnis wandert, oder man wird gefoltert oder umgebracht. Menschen werden einfach aufgrund von Kommentaren bei Facebook vergewaltigt und ermordet.

    Seit 25 Jahren lebt die Bevölkerung in Angst. Aber sobald sich die Möglichkeit ergibt, werden sich sogar Kadyrows Leute gegen ihn erheben. Es gibt natürlich Tschetschenen, die Kadyrow aufrichtig unterstützen. Die lieben ihn wegen des Geldes und der Macht. Es gibt aber auch welche, die einfach keine andere Wahl haben. Viele junge Leute haben keine Arbeit, und zur Armee zu gehen, ist eine einträgliche Sache. Sie hassen Kadyrow, schließen sich ihm aber wegen des Geldes an.

    Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen. Natürlich kenne ich das Gefühl der Angst, wie alle anderen Menschen auch, aber ich habe meine Angst im Griff. Wenn ein Soldat sagt, dass er vor nichts Angst hat, dann lügt er entweder oder hat einen psychischen Schaden.

    Die Kadyrow-Leute sind keine besonders guten Kämpfer, sie sind eher zur Show da. Es gibt Tschetschenen, die in der russischen Armee kämpfen und nicht Kadyrow unterstellt sind. Aber gerade die Kadyrow-Leute sind wie Polizisten: Die können nicht kämpfen. Die haben nur gegen Partisanen im Kaukasus „gekämpft“. Da haben sie etwa ein Haus umstellt, in dem nur ein Mann mit einer Maschinenpistole hockt. 200 Mann umzingeln einen einzigen Kerl. Die können nicht gegen die Luftwaffe Krieg führen oder gegen Artillerie; sie wissen nicht, wie man eine Stellung stürmt. Das sind Banditen, Putins Sklaven. Die können nur foltern, vergewaltigen und Leute in den Bergen jagen, die Sabotage betrieben haben.


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    „Nach einem Sieg in der Ukraine können wir nach Hause zurückkehren und unser Land befreien.“

    Bertan kämpft in der Einheit Bors des Freiwilligenbataillons OBON

    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    „Nach dem Beginn des großangelegten Krieges hat eine starke antitschetschenische Propaganda eingesetzt. Die ganze Welt hielt uns für Dämonen, die zusammen mit der russischen Armee einmarschiert sind, um Ukrainer umzubringen. Diese Haltung hat sich besonders nach den Ereignissen in Butscha verstärkt, nach den Gräueltaten, die Russen verübt haben. Das hatte starke Auswirkungen auf die Tschetschenen. Es wurde so dargestellt, als sei Tschetschenien ein Land, das aus eigenen Stücken zusammen mit Russland die Ukraine überfallen hat. Und da habe ich beschlossen, dass ich in der Ukraine sein muss, dass ich helfen muss.

    Ich bin im April 2022 in die Ukraine gekommen. Und als bekannt wurde, dass endlich ein Abkommen zwischen den ukrainischen Streitkräften (SKU) und den Streitkräften der Tschetschenischen Republik Itschkerien geschlossen wurde, fingen wir an, das Verteidigungsministerium der Republik Itschkerien zu kontaktieren, um in das OBON-Bataillon zu gelangen.

    Zu dem Zeitpunkt hatte unsere Führung die Aufstellung von Bataillonen beschlossen, die der Ukraine helfen sollten. Wir alle warteten auf offizielle Informationen. Als aber die Meldungen über die Ereignisse in Butscha und Irpin um die Welt gingen, fuhr ich in die Ukraine, um wenigstens irgendwas zu tun. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, an den ersten Tschetschenienkrieg, dann den zweiten, als es den Massenmord an Zivilisten in Nowyje Aldy gab. Ich war 16 oder 17 Jahre alt und konnte nichts tun. Jetzt, nach vielen Jahren, wo ich die Willkür sehe, mit der die Russen in der Ukraine vorgehen, können weder ich noch meine Bekannten da tatenlos zusehen. Wir erinnern uns, wie sie Grosny zerstörten, wir erinnern uns an Samaschki und sehen, wie das alles in die Ukraine weitergetragen wird, allerdings jetzt in größerem Maßstab. Für mich selbst kann ich sagen, dass der Krieg niemals aufgehört hat.

    Da ich den Krieg schon kannte – ich war mehrmals unter Beschuss und habe Bombenangriffe erlebt –, habe ich mich hier recht schnell eingelebt.

    Alle Einsätze unseres Bataillons werden mit den ukrainischen Streitkräften abgestimmt. Unser Bataillon ist Teil der Internationalen Legion, und neben den Ukrainern kooperieren wir mit Kanadiern, Amerikanern und Jungs aus Georgien.

    Den Ukrainern ist klar, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Das wird auf allen Ebenen verstanden, von der Führung bis zu den einfachen Kämpfern des OBON. Jetzt verteidigen wir nicht nur die Ukraine, sondern auch unsere Ehre, die von Kadyrows Leuten befleckt wurde. Das Wichtigste ist, dass man mittlerweile weltweit versteht, dass nicht alle Tschetschenen auf der Seite Russlands stehen. 

    Kadyrow ist einfach ein Idiot. Er versteht den Islam nicht im Geringsten. Er kann nicht behaupten, dass der Krieg in der Ukraine ein Dschihad ist. Wir wissen sehr genau, was Kadyrows „Armee“ eigentlich darstellt. Wir sind, anders als sie, wirklich motiviert, weil wir nur durch einen Sieg in der Ukraine nach Hause zurückkehren können, um unsere Heimat zu befreien, nachdem wir gezeigt haben, dass die Tschetschenen und die Kadyrow-Leute nicht das Gleiche sind.

    In unserem Bataillon gibt es welche, die haben den ersten und den zweiten Tschetschenienkrieg mitgemacht. Die waren bis 2014 in Tschetschenien und haben Widerstand geleistet. Nachdem die Kräfte schwanden, blieb ihnen nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sich die Lage ändert. Und jetzt hat sie sich grundlegend geändert. Wenn wir Tschetschenen vor zehn Jahren noch als Terroristen wahrgenommen wurden, so hat sich die Meinung über unser Volk jetzt gewandelt.


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    „Kadyrow zu beseitigen, würde nichts ändern. Unser Ziel ist es, den Kreml zu zerstören.“

    Mansur, Scheich-Mansur-Bataillon

    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider
    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider

    „Ich habe die Situation in der Ukraine schon 2014 verfolgt, als die Demonstrationen auf dem Maidan begannen. 2015 bin ich dann in die Ukraine gefahren. Damals schon war mir klar, dass Russland unter dem Vorwand der Friedenssicherung Gebiete besetzt, wie es in Georgien und Ossetien der Fall war. Als die Russen die Krim und die Gebiete Donezk und Luhansk besetzten, tauchten in den Medien Meldungen auf, dass es auch Tschetschenen seien, die die Ukraine überfallen haben. Damals lebte ich in der Türkei, und es hat mich sehr verletzt, solche Dinge über mein Volk zu hören. Diese Ansichten sind natürlich wegen Kadyrows Verrätern entstanden, die von den Kreml-Bonzen in die Ukraine geschickt wurden.

    Ich habe nicht lange überlegt und bin losgefahren, um jedem Ukrainer und auch den Medien zu zeigen, dass sich das tschetschenische Volk von diesen Verrätern unterscheidet. Der zweite Grund, warum ich hierhergekommen bin, war der Wunsch, dem gemeinsamen Feind aufs Maul zu hauen. Ich habe schon 1999 zur Waffe gegriffen und gehe seitdem gegen das System vor.

    Durch den Tschetschenienkrieg habe ich viel Kampferfahrung, deshalb trainiere ich jetzt selbst neue Rekruten und bringe ihnen die Kriegskunst bei. Für mich, wie auch für viele meiner Kameraden, ist dieser Krieg nichts Neues. Wir kämpfen gegen die gleichen russischen Truppen und gegen die gleiche russische Artillerie. Die ganzen Lügen und die Propaganda, die jetzt gestreut werden, die kennen wir auch schon.

    Die Kampferfahrung in unseren Reihen liegt bei mindestens zehn Jahren, aber meist sind es 20 oder 30. Junge Leute aus Tschetschenien holen wir nicht in die Ukraine, weil wir uns auf die Befreiung unseres Territoriums vorbereiten. Und wir brauchen sie dort, weil sie in Tschetschenien sehr viel mehr Nutzen bringen.

    Unsere Aufgabe ist Sabotage und Aufklärung mit einer „Bienentaktik“: losfliegen, stechen und abhauen. Die Methoden des Partisanenkrieges haben wir uns seit dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg bewahrt.

    Jeder Vorstoß von uns wird mit den ukrainischen Truppen abgestimmt, damit wir bei unvorhergesehenen Situationen Deckung durch die Artillerie bekommen.

    Unser verstorbener Präsident Dschochar Dudajew hat schon 1990 klar gesagt, was Russland an und für sich ist, und was es an Bösem in sich trägt. Heute werden wir alle Zeugen, dass seine Worte stimmen. Ich denke, wenn man Tschetschenien seinerzeit so geholfen hätte wie jetzt der Ukraine, dann hätten wir dieses russische Imperium längst schon bis auf die Grundmauern zerstört. Dann würde das ukrainische Volk in Frieden leben, und es gäbe schlichtweg keine Bedrohung für die baltischen Staaten und die NATO.

    Wenn wir in Tschetschenien freie Wahlen hätten, dann würden über 90 Prozent des tschetschenischen Volkes das herrschende Regime nicht unterstützen. Die Menschen bei uns werden stark unterdrückt. Seit 30 Jahren sind wir im Kriegszustand. Unsere Eltern erzählen uns von klein auf, was wirklich los ist. Mit Morden kann man uns keine Angst machen. Die Menschen fürchten sich aber vor öffentlicher Beleidigung und Erniedrigung, deswegen zielt Kadyrow auf die wundesten Punkte: Sie nehmen die Mütter, Schwestern, Frauen und Töchter und versuchen die Menschen zu manipulieren. Frauen sind für uns unantastbar, und die Menschen schweigen meistens. Tschetschenien zu verlassen ist für viele einfach nicht möglich, und viele wollen auch nicht in der Fremde leben.

    Wir verstehen, dass die Kräfte heute ungleich verteilt sind. Wenn wir jetzt einen Aufstand beginnen, dann würde Russland unter irgendeinem listigen Vorwand den Krieg in der Ukraine einfrieren und alle Kräfte gegen Tschetschenien schicken. Und wir stünden diesem Monstrum allein gegenüber. Selbst wenn man Kadyrow beseitigte, würde sich in unserer Heimat nichts ändern. Deshalb ist es unser Ziel, den Kreml zu zerstören, den Hort alles Bösen.

    Die jungen Menschen stehen jetzt stark unter dem Einfluss der Propaganda. Wenn sie in den Krieg geschickt werden, nimmt man ihnen die Telefone ab. Wenn sie es dann doch schaffen, mit ihren Verwandten zu reden, bitten sie uns um Hilfe, wie sie sich ergeben können – allerdings so, dass sie dann nicht ausgetauscht und zurück in Kadyrows System geschickt werden. Es gibt Hunderte solcher Fälle. Wir schicken ihre Koordinaten entweder an den zentralen Apparat des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, oder an den militärischen Nachrichtendienst , und die kümmern sich dann um sie.

    Kadyrow lässt alle verfolgen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Er versucht uns zu schaden, schickt Killer los. Wir sind aber auch nicht untätig. Bei all denen, die ihr Gesicht offen gezeigt haben, sind sämtliche Verwandten entweder umgekommen oder aus Tschetschenien ausgewandert. Bei mir auch, ich habe niemanden mehr.“

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