dekoder: Wie kommt eine junge Frau dazu, unter lauter Bergmännern in einer Kohlegrube zu arbeiten?
Philippe des Poulpiquet: Eigentlich verbietet das Gesetz in der Ukraine den Frauen die Arbeit in gesundheitsschädlichen Umgebungen, insbesondere unter Tage. Aber im März 2022 hat Präsident Wolodymyr Selensky dieses Verbot für die Zeit des Kriegsrechts per Dekret aufgehoben. Wenn die Männer in der Armee sind, muss jemand ihre Arbeit machen. Lilia hatte in einem Nagelstudio gearbeitet, bis sie auf Facebook eine Anzeige sah: „Frauen in die Bergwerke!“ Der Betreiber hat für Interessentinnen einen Besuch im Stollen organisiert, danach hat Lilia sich beworben.
Was hat sie dazu motiviert? War es Patriotismus?
Sie sagt, diese Arbeit sei ihr Beitrag im Kampf für ihre Heimat. Nicht nur, weil sie für einen Mann eingesprungen ist, der an der Front kämpft. Mit der Kohle, die dieses Bergwerk fördert, wird Wärme und Strom für die Menschen in der Ukraine erzeugt. Das sind wichtige Ressourcen in einer Zeit, in der Russland die Energieinfrastruktur des Landes zerstören will.
Wie gehen ihre männlichen Kollegen mit ihr um?
Sie war nicht die erste Frau in diesem Stollen. Außer ihr arbeitet noch etwa ein Dutzend Frauen dort. Sie baut auch selbst keine Kohle ab, sondern bedient eine Maschine. Trotzdem hätten viele Kumpel zunächst nicht verstanden, warum sie dort arbeitet, sagte sie mir.
Die ukrainische Gesellschaft ist immer noch sehr patriarchalisch geprägt. Nach der Vorstellung vieler ist der Platz einer Frau im Haushalt oder eben in einem Nagelstudio. Inzwischen hat Lilia sich mit einigen Bergleuten angefreundet. Manchmal ziehen sie sie auf, aber auf freundliche Weise.
Bringt der Krieg also mehr Gleichberechtigung?
In gewisser Weise schon. Anfangs hatte sich Lilia gemeldet, um etwas für ihr Land zu tun. Inzwischen schätzt sie die Vorzüge einer gut bezahlten Arbeitsstelle mit sozialer Absicherung. Die hatte sie vorher nicht. Lilia hat angefangen, an der Universität in Dnipro Bergbau zu studieren. Sie arbeitet jetzt Teilzeit im Bergwerk und studiert berufsbegleitend.
Was bedeutet ihr dieser Job?
Lilia legt immer noch Wert auf schön gemachte Nägel. Warum auch nicht? Aber die Arbeit ist wirklich hart und gefährlich. Gerade rücken die Russen auf Pokrowsk vor und nähern sich damit von Osten der Oblast Dnipropetrowsk. Sollte die Stadt fallen, müsste das Bergwerk aufgegeben werden. Es wäre zu gefährlich, 300 Meter unter der Erde zu arbeiten, wenn oben Bomben fallen und die Arbeiter:innen verschüttet werden könnten.
Letztlich bedrohen zwei Szenarien ihren Arbeitsplatz: dass sie vor den Russen fliehen muss. Oder dass nach einem Ende des Krieges das Dekret aufgehoben wird und Frauen nicht mehr länger im Bergbau arbeiten dürfen.
Die Stadt Kars liegt im heutigen Ostanatolien. Bekannt wurde sie durch den Roman Schnee von Orhan Pamuk. Der türkische Nobelpreisträger macht darin politische und religiöse Spannungen zum Thema, die aus der wechselhaften Geschichte des Ortes und seiner Bewohner herrühren. Im Lauf der Jahrhunderte war die Region nacheinander Teil mehrerer Reiche: des armenischen Königreichs, von Byzanz, des georgischen Königreichs und des Osmanischen Reichs. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 wurde Kars schließlich von Russland annektiert.
Um die Region zu „befrieden“, siedelte Russland religiöse Minderheiten wie Duchoborzen oder Molokanen aus anderen Teilen des Imperiums in Kars an. Die neuen Herrscher verpassten der Stadt ein neues Antlitz mit am Reißbrett geplanten Straßen als Symbol von Ordnung und Fortschritt. Die „Modernisierung“ bedeutete aber auch Vertreibung zehntausender muslimischer Bewohner.
Bis zum Ersten Weltkrieg war Kars von großer ethnischer Vielfalt geprägt. In der Stadt lebten Armenier, Türken, Kurden, Griechen, Russen, Juden, Esten, Deutsche und zahlreiche andere. Nach der Oktoberrevolution zogen die Bolschewiki die Truppen zurück und Kars kam wieder unter türkische Herrschaft.
Inspiriert von Pamuks Roman Schnee hat sich der Fotograf Max Sher 2009 in Kars auf Spurensuche gemacht. Ihm ging es darum, „das Orientalische ohne Klischees einzufangen“ sagt Sher. Er suchte nicht das Fremde, sondern das Vertraute.
Gemeinsam mit der Anthropologin Kübra Zeynep Sarıaslan entstand das Buch Snow, das 2025 erschien. Darin beschreiben Sher und Sarıaslan aus historischer, anthropologischer und künstlerischer Sicht, wie Kars zum Schauplatz imperialer Machtspiele zwischen Russland und der Türkei wurde. Die Geschichte der Stadt spiegelt geopolitische Interessen, koloniale Strategien und Migration wider – bis hin zur heutigen Isolation durch die geschlossene Grenze zu Armenien.
Wir zeigen eine Auswahl von Shers Bildern.
Das Buch ist über den Verlag The Velvet Cell erhältlich: Max Sher: Snow
Der Fluss Arpaçay (armenisch: Akhuryan) markiert die Grenze zwischen der Türkei (linkes Ufer) und Armenien (rechtes Ufer), wie sie im Vertrag von Kars von 1921 festgelegt wurde. Das Abkommen wurde von der provisorischen Großen Nationalversammlung der Türkei und den neu geschaffenen sowjetischen Marionettenregierungen von Armenien, Georgien und Aserbaidschan unterzeichnet. Es beendete eine Serie blutiger Kriege und militärischer Konflikte, die nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches sowie der Aufteilung und Besetzung des Osmanischen Reiches durch die alliierten Mächte des Ersten Weltkriegs (Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland) ausgebrochen waren.
Durch den Vertrag wurden die Provinz Kars sowie weitere Gebiete, die ursprünglich zur unabhängigen Republik Armenien gehören sollten, der Türkei zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Armee bereits weite Teile des Südkaukasus erobert, und die kurzlebige Erste Republik Armenien war sowohl von der Roten Armee als auch von der türkischen Nationalbewegung überrannt worden.
Die Türkei erhielt damit fast alle Gebiete zurück, die sie 1878 an Russland verloren hatte – und darüber hinaus das benachbarte Iğdır (Surmalu), das vor der russischen Annexion 1828 zu Persien gehörte. Der Vertrag von Kars gilt auch als wichtiger Schritt zur Beendigung der jahrhundertelangen russischen Expansionspolitik in Ostanatolien (Westarmenien) und trug zur Annäherung zwischen zwei jungen Staaten bei: der Republik Türkei und der Sowjetunion.
Wenn russische Diplomaten vom „nahen Ausland“ sprechen, schwingen viele Bedeutungen mit. Gemeint sind die Staaten, die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen sind: Sie sind zwar formal unabhängig, doch erhebt Moskau weiter den Anspruch auf Mitsprache. In seiner aktuellen Ausstellung New Fatigue legt der Fotograf Eiko Grimberg offen, wo dieser imperiale Anspruch auch an der Oberfläche sichtbar wird: an Gebäuden und in Städten des ehemaligen Ostblocks, aber auch in öffentlichen Ritualen und Demonstrationen.
Zu Diptychen kombiniert, entfalten Grimbergs Bilder eine zusätzliche Bedeutungs-Dimension. Die Ausstellung mit Fotografien aus drei Jahrzehnten ist noch bis zum 10. Mai in der Galerie K‘ in Bremen zu sehen:
Galerie K’
Alexanderstraße 9 b / Weberstraße 51 a 28203 Bremen
dekoder: Ihre aktuelle Ausstellung trägt den Titel New Fatigue. Was steckt dahinter?
Eiko Grimberg:New Fatigue spielt auf eine Erschöpfung an, die gerade viele empfinden, und die aus der Flut schlechter Nachrichten resultiert: erst Corona, dann der russische Krieg gegen die Ukraine, der 7. Oktober und der Krieg in Gaza und ganz aktuell US-Zölle und Kurseinbrüche. Die Dichte an Nachrichten ist so hoch, dass man ihr manchmal kaum noch folgen, geschweige denn sie verstehen und verarbeiten kann. Das führt bei vielen Menschen zu einer Ermüdung, man spricht dann von „news fatigue“. In der Ausstellung gibt es ein Video mit dem Titel Journal, das diese Überforderung spürbar macht: eine schnelle Abfolge von Bildern und Videos, die kaum zu verarbeiten ist. Gleichzeitig entsteht daraus aber auch ein Sog, der den Betrachter hineinzieht.
Sie waren bereits in den 1990er Jahren mit Ihrer Kamera in der Ukraine und auch in Russland unterwegs. Jetzt kontrastieren Sie die Bilder von damals mit aktuellen Fotos. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Mir ging es dabei um die Perspektive von heute auf das Damals. Ich habe mir meine alten Bilder angesehen und mich gefragt, ob man darin vielleicht Hinweise auf die Entwicklungen finden kann, von denen heute einige sagen, man konnte das nicht kommen sehen. Manchmal sieht die Kamera ja Dinge, die wir selbst nicht bemerken und die uns erst später auffallen. Gleichzeitig habe ich dadurch aber auch etwas über mich selbst gelernt und darüber, mit welchem Blick ich nach dem Untergang der Sowjetunion in diese Region gefahren bin.
Und was war das für ein Blick?
Ich würde ihn heute als tendenziell nostalgisch beschreiben. Als junge Männer Anfang 20 aus Westdeutschland haben meine Reisegefährten und ich nach den sichtbaren Manifestationen alles Sowjetischen gesucht. Ich habe die Treppe in Odessa fotografiert, die durch den Sergej-Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin weltberühmt wurde, rote Sterne und Stalinbauten. Mit der Perspektive von heute erkenne ich in diesen Monumentalbauten aber noch etwas anderes, nämlich eine imperiale Markierung, die Moskau an Orten hinterlassen hat, die das Regime heute als „nahes Ausland“ bezeichnet und es damit weiterhin als eigene Einflusszone beansprucht.
Moskau hat mit diesen Bauten seinen Einflussbereich also gewissermaßen visuell markiert?
Genau. Ich war im vergangenen Jahr zwei Mal in Warschau. Dort steht ja mitten in der Stadt der Kulturpalast, ein Geschenk der Sowjetunion im Stil des Sozialistischen Klassizismus, auch Zuckerbäckerstil genannt. Und mir ist klar geworden, warum die Polen nach dem Krieg den Wiederaufbau der von der Wehrmacht zerstörten Altstadt so vorangetrieben haben. Die wollten offensichtlich den Sowjets nicht so viel Raum geben. Die hatten sich schon den zentralen Platz direkt am Hauptbahnhof genommen, also guckt man, wie man das begrenzt. Das ist schon eine interessante Entgegnung.
Etwas Ähnliches sehen wir ja in der Ukraine: Dieses Wiederentdecken von nationalen Traditionen, die Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität, um nicht eine fremde übergestülpt zu bekommen …
Es gibt noch einen anderen interessanten Trend: In Putins Erzählung ist Stalin stark und Lenin schwach. Lenin wird heute fast ausgeblendet, während Stalin als großer Verteidiger des Vaterlandes wieder gefeiert wird. Damit geht einher, dass die Architektur der Moderne der 1920er und frühen 1930er Jahre nicht besonders pfleglich behandelt wird. Vieles wird abgerissen, wenig steht unter Denkmalschutz. Das ist insofern bemerkenswert, als nicht wenige dieser Modernisten ukrainische Wurzeln hatten. Wladimir Tatlin etwa oder auch Kasimir Malewitsch. Das spielte damals vielleicht keine Rolle. Aber es ist spannend zu sehen, wie diese Künstler je nach politischer Konjunktur eingemeindet oder wieder ausgeblendet werden. Die Internationalität der Sowjetunion dieser Periode wird heute als Schwäche betrachtet.
Mit einem Ort in Moskau haben Sie sich sehr ausführlich beschäftigt: 1931 ließ Stalin die Christ-Erlöser-Kathedrale am Ufer der Moskwa sprengen. Am selben Ort sollte der Palast der Sowjets errichtet werden. Auf dessen Fundament entstand unter Chruschtschow dann ein riesiges Freibad mitten in der Stadt. Und 1995 begann dort der Wiederaufbau der Kathedrale. Was erzählt das über das Land?
Mich faszinierte an diesem Pool, dass er gewissermaßen in einer Falte der Geschichte lag. Er war groß, er war zentral, aber anders als die Sieben Schwestern erstreckte er sich nicht vertikal, sondern horizontal im Raum. Das kreisrunde Bassin Moskwa war ein Sieg über die Natur, weil man dort auch bei Minusgraden im beheizten Wasser das ganze Jahr über schwimmen konnte, umgeben von einer eindrucksvollen Dampfwolke. Fast wie durch Zufall hatte sich die Gesellschaft da etwas Tolles gebaut. Aber dann wurde das sofort wieder verdrängt und zurückgebaut.
Gar nicht weit von dieser Stelle, vor den Mauern des Kreml, steht seit 2016 die Statue des Großfürsten Wladimir. Welche Rollte spielt sie?
Auf die Statue bin ich gestoßen, während ich an dem Projekt über den Pool gearbeitet habe. Ich war zufällig gerade dort, als mit einem Kran das große Kreuz eingehängt wurde. Ich habe das fotografiert, aber mir wurde erst später klar, welcher Wladimir hier eigentlich gewürdigt wird und was das politisch bedeutet. Er schaut ja auf die Kathedrale, er schaut vor allen Dingen aber in die Ukraine, glaube ich. Das war für mich so ein Moment, da dachte ich: Das ist jetzt eine Zäsur. Die Kirche, das war noch Wiederaufbau. Aber hier kommt etwas Neues dazu, was absolut Gegenwart ist und gleichzeitig Anspruch auf eine bestimmte Lesart der Vergangenheit behauptet.
Der russische Deutungsanspruch und das Ringen darum begegnen uns auch hierzulande. Das wird besonders in dem Bilderpaar deutlich, das die Gedenkfeier zum 9.Mai 2022 am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park und eine Demonstration von Ukrainerinnen im gleichen Jahr zeigt.
Dieses Diptychon ist bewusst konfrontativ gesetzt, ein bisschen polemisch. Da ist einmal diese Riege von Männern in Anzügen, vorne der russische Botschafter Sergej Netschajew mit St. Georgs-Band, dahinter Soldaten und Popen. In der Nähe wurde protestiert von Leuten, die sagten, Russland kann nicht bei uns den Sieg im Weltkrieg feiern, wenn es gleichzeitig Krieg gegen die Ukraine führt. Die zweite Fotografie zeigt geflüchtete Frauen in ukrainischer Tracht, die für mehr Unterstützung für ihr Land demonstrieren. Über den Männern in ihren Anzügen und Uniformen sieht man im Hintergrund diesen metallenen Lorbeerkranz. Die Frauen tragen ein Tarnnetz wie einen Baldachin.
Wenn Sie nochmal an Ihre frühen Bilder von den Reisen von vor 30 Jahren zurückdenken. Könnte man solche Bilder heute noch machen?
Ich würde behaupten, wenn ich heute in Odessa oder in Moskau wäre, dass ich ähnliche Bilder wiederholen könnte. Es gibt große Veränderungen und gleichzeitig eine unheimliche Kontinuität im Stadtbild. Diese stalinistische Architektur war ja auf Dauer angelegt. Aber sie wird von Neuem überlagert. Das ehemalige Hotel Ukraina in Moskau – ebenfalls eine der Sieben Schwestern – steht heute durch die Skyline der modernen Moscow City im Hintergrund in einem neuen Kontext. Diese Schichtungen der Epochen zu zeigen, hat mich immer gereizt.
Fotografie: Eiko Grimberg Bildredaktion: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 15.04.2025
Der Täter lauerte seinem Opfer vor dessen Haus in Litauens Hauptstadt Vilnius auf: Mit einem Hammer durchschlug er die Scheibe seines Wagens und sprühte ihm Tränengas ins Gesicht. Dann drosch er mit dem Hammer auf Leonid Wolkow ein. Wolkow war lange einer der engsten Mitstreiter von Alexej Nawalny und Vorsitzender von dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK). Deshalb schien nach dem Attentat im März 2024 klar: Die Hintermänner sitzen im Kreml. Doch im September 2024 veröffentlichte der FBK eine Recherche, wonach der ehemalige Yukos-Manager Leonid Newslinden Überfall in Auftrag gegeben habe. Newslin bestreitet das und behauptet, der russische Geheimdienst versuche, Zwietracht in der russischen Opposition zu stiften, indem er falsche Spuren lege.
Der nächste Akt begann im Februar 2025, als der Blogger und Nawalny-Rivale Maxim Katz in einem zweistündigen Video dem FBK unterstellte, er habe sich von kriminellen Bankern sponsern lassen und ihnen im Gegenzug geholfen, sich als Opfer des Regimes darzustellen und ihre Reputation im Westen aufzupolieren. Der FBK reagierte seinerseits mit einem anderthalbstündigen Video, in dem er die Vorwürfe abstreitet und Katz der Lüge bezichtigt.
Alle Akteure in diesem Oppositions-Drama verbindet, dass sie eigentlich einen gemeinsamen Gegner haben: Wladimir Putin. Aber statt ihre Kräfte zu bündeln, bekriegen sie sich gegenseitig. Enttäuscht wenden sich viele ehemalige Anhänger von diesem Spektakel ab. Gleichzeitig bleiben die Aktionen der Opposition im Exil schwach und sie tut sich zunehmend schwer damit, ihre Landsleute in der Heimat zu erreichen.
Am 6. Dezember 2023 kam Maxim in Sankt Petersburg von der Arbeit nach Hause, aß zu Abend und wartete dann auf Mitternacht. Er hatte gar nicht vor, ins Bett zu gehen: Er wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie auf zwei Plakatwänden, die kürzlich von einer neuen, auf dem Markt unbekannten Firma angemietet worden waren, Banner installiert werden.
Maxim musste ein paar Stunden in der Nähe der Plakatwand auf dem 2. Murinski Prospekt warten. Um nicht direkt im Auto einzuschlafen, trank er Kaffee und schaute eine Sendung mit Ekaterina Schulman.
Als die Straßenwerbungsarbeiter schließlich kamen, um ein blaues Banner mit einem unauffälligen QR-Code und der Aufschrift „Frohes Neues Jahr, Russland!“ aufzuziehen, grinste Maxim.
So wurden am Morgen des 7. Dezember – genau 100 Tage vor den russischen Präsidentschaftswahlen (Nawalny war noch am Leben) – in den Nachrichten Banner einer neuen Kampagne des Fonds für Korruptionsbekämpfung gezeigt: Die QR-Codes, die noch in der Nacht zu einer Silvesterlotterie geführt hatten, leiteten die Nutzer nun zu einer Website mit dem Aufruf, wen auch immer zu wählen, nur nicht Putin. Sogar Maxim, der damalige Koordinator der Sankt Petersburger Zentrale für Untergrundaktionen des FBK, empfand damals kaum Genugtuung.
„Die Banner werden nicht dazu beitragen, Putin zu besiegen und den Krieg zu beenden“, erklärt der Aktivist gegenüber Meduza. Maxim ist immer noch in Russland und hilft dem FBK, aber nicht mehr in der Petersburger Zentrale. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir wenig Einfluss haben. Ok, wenn das System noch wackeln würde, aber der sonnenstrahlende Wladimir Wladimirowitsch hat da was Ultra-Stabiles gebaut. Und es gibt keinerlei Anzeichen, „dass irgendetwas zusammenzubrechen droht.“
Einige Stunden später am 7. Dezember, rissen Arbeiter unter Aufsicht der Polizei die Banner herunter. Über das Jahr, das seit dieser Aktion vergangen ist, sind Maxims Zweifel am Widerstand gegen Putin gewachsen, auch aufgrund einiger Skandale innerhalb der russischen Opposition im Ausland:
„Ich weiß nicht, warum Maxim Katz den FBK angegriffen hat. Warum Leonid Newslin den Auftrag gab, Leonid Wolkow mit einem Hammer zusammenzuschlagen – das ist quasi die Pest aus den 1990er Jahren, nur innerhalb der Opposition von heute.“
„Besser wäre, es gäbe sie gar nicht. Die wissen nicht mal mehr, gegen wen man wirklich kämpfen muss. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, wer mit wem zusammengearbeitet hat, wer zu wessen Verteidigung Briefe unterschrieben hat. Doch es ist, als hätten Chodorkowski, Katz und der FBK schon vorher beschlossen, wer von ihnen das Recht hat, sich Opposition zu nennen.“
„Nawalny hat uns allein gelassen wie Katzenbabys. Jetzt schreibt nicht mal mehr jemand aus dem Gefängnis Briefe wie: ‚Leute, keine Sorge, ich bin bei euch!‘ Er hat nur ein Vermächtnis hinterlassen: Wenn ich mal nicht mehr da bin, dann ist es eure Aufgabe, selbst starke Katzen zu werden. Man könnte denken, genau das hat die Opposition nicht geschafft.“
„Entführen. Verprügeln. Anzünden“: In diesem Video verdächtigt der FBK Leonid Newslin, den Überfall auf Leonid Wolkow in Auftrag gegeben zu haben / Quelle: youtube.com/@NavalnyRu
„Die Menschen wollen damit nicht in Verbindung gebracht werden“
Interne Konflikte haben die russische Opposition in einen Sumpf aus Trübsal, Verzagen und Ekel gestürzt, so berichten unabhängige Politiker und Aktivisten auf Anfrage von Meduza ihre Sicht auf die Ereignisse von 2024.
Der Leiter einer Organisation, die russischen Kriegsgegnern bei der Ausreise unterstützt, „schaffte es eine Woche lang nicht aus dem Bett“, da sich vor dem Hintergrund all der Skandale seine depressiven Symptome heftig verschlimmerten.
Viele politische Gefangene seien schlicht sauer über die Darstellung der Ereignisse auf Twitter, erzählen Freiwillige des Projekts Peredatschi Siso, das politische Häftlinge unterstützt. „Viele russische Aktivisten wollen sich lieber ganz raushalten, um nicht ihre letzten Kräfte zu verschwenden“, meint etwa Darja Serenko, eine Koordinatorin der Feministischen Antikriegsbewegung FAS. Sie lebt heute in Spanien.
Shanna Nemzowa, die Leiterin der Boris-Nemzow-Stiftung, ist sich sicher, dass in letzter Zeit ausnahmslos alle russischen Oppositionellen „toxischer geworden sind“ und „die Menschen damit nicht in Verbindung gebracht werden wollen“.
Im Jahr 2023 war Shanna Nemzowa selbst in den Fokus einer aufsehenerregenden Geschichte geraten, als bekannt wurde, dass ein Agent des Militärgeheimdienstes GRU in ihren engsten Kreis vorgedrungen war. Es handelte sich dabei um den spanisch-russischen Staatsbürger Pablo Gonzalez (alias Pawel Rubzow), der mehrere Jahre unter falscher Identität in Kreisen der Opposition verbracht und als Journalist und Kriegsreporter gearbeitet hatte (Gonzalez war 2022 von polnischen Behörden wegen Spionage-Verdachts festgenommen worden und wurde im August 2024 bei einem internationalen Gefangenenaustausch nach Russland überführt – dek).
Im Herbst 2024 äußerte sich der Unternehmer und Philanthrop Boris Simin, der viele Jahre den Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK unterstützt hatte, tief enttäuscht über die Anführer der Opposition. Simin kritisierte öffentlich die Leitung des Fonds und verurteilte die Strategie, die die Organisation in den letzten Jahren verfolgt hatte – auch die letzten Projekte des FBK, unter anderem die Newslin-Recherche und die YouTube-Serie Predateli [dt. Verräter], die die Geschichte der 1990er Jahre neu interpretiert.
„Ich finde es bedauerlich, dass dermaßen große Anstrengungen darauf verwendet werden, um Bedeutung auf einer Plattform zu erlangen, die im Grunde sehr wenig Einfluss hat“, sagte Simin Meduza über den Konflikt des FBK mit Michail Chodorkowski und anderen „Oligarchen der 1990er Jahre“. „Zu gern würde ich die Opposition lieben, doch ihre Bedeutung heute – im Krieg, für die Stabilität des Putin-Regimes und was die Frage der Widerstandskraft der Ukraine angeht – ist sehr, sehr gering.“
Jewgeni Tschitschwarkin, ebenfalls eine bekannte Persönlichkeit, Unternehmer und Mitglied des Antikriegskomitees Russlands, hat Ende 2024 erklärt, dass er sich ganz aus der Opposition zurückziehen wolle, bis sich deren Anführer wieder „auf den äußeren Feind konzentrieren“. Gegenüber Meduza wollte er sich dazu nicht genauer äußern.
„Wie man Milliarden stiehlt und sich dann als Oppositioneller ausgibt“: Maxim Katz greift Nawalnys FBK in einem Video an / Quelle: youtube.com/@Max_Katz
Nur wenige, die von diesen Skandalen direkt betroffen waren, tun so, als würde sie das nicht weiter bekümmern. Michail Chodorkowski, ein enger Freund und Geschäftspartner Newslins – sagte Meduza, die Konflikte würden ihn „kein bisschen deprimieren“. Der Politiker Maxim Katz ist sich sicher, dass seine aufsehenerregende Recherche über die Bänker und den FBK „das Publikum, ganz im Gegenteil, begeistern würde: Menschen möchten lieber, dass Politiker nicht reich, dafür aber ehrlich sind.“ (Vertreter des FBK lehnten es ab, für diese Recherche mit Meduza zu sprechen.)
Der Hauptgrund für die anhaltenden Konflikte scheint für die meisten Gesprächspartner von Meduza auf der Hand zu liegen, und sie formulieren ihn alle ähnlich: Die russische Opposition befindet sich in einer Krise und fast niemand glaubt, dass ihre Anführer in nächster Zeit in Russland an die Macht kommen können.
„Niemand hat eine Idee, wie man Putin aus dem Kreml vertreiben oder den Krieg beenden kann“, sagt Sergej Davidis, Mitarbeiter von Memorial und Leiter des Programms Podderzhka Politsakljutschennych (dt. Unterstützung politischer Häftlinge). „Deswegen beginnen die Leute, Schuldige zu suchen.“
Die Journalistin Alexandra Garmashapowa formuliert das so: „Es ist leichter, sich untereinander zu bekämpfen, als Putin. Die Menschen agieren einfach ihre Hilflosigkeit aus.“
Du schaust dir jemanden auf YouTube an und denkst: „Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität.“
Für Politiker im Exil und ihre Anhänger, die in Russland geblieben sind, wird es immer schwieriger, einander zu verstehen. Sie leben in zwei unterschiedlichen Realitäten, jede hat ihre eigenen Probleme. Deswegen wirken Konflikte zwischen oppositionellen Gruppen im Ausland besonders unangebracht, berichten die von Meduza befragten Politiker und Aktivisten.
Die Kluft zwischen russischen Bürgern und politischen Emigranten „ist riesig – und wird immer weiter wachsen“, ist Shanna Nemzowa überzeugt. Zwei Gesprächspartner aus der russischen Zivilgesellschaft erinnern sich in einem Gespräch mit Meduza an einen der wichtigsten Protestslogans Ende 2011: „Ihr vertretet uns gar nicht.“ Das war damals nach den Wahlen gegen die Duma-Abgeordneten gerichtet, nachdem Wahlbeobachter und Journalisten schockierende Wahlfälschungen festgestellt hatten. „Das Schlimme ist, dass dieser Slogan jetzt nicht mehr nur auf die Herrschenden zutrifft, sondern auch auf die Opposition“, sagt Grigori Swerdlin vom Kriegsdienstverweigerer-Projekt Idite Lessom[dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!].
„Diejenigen, die in Russland geblieben sind, haben darauf gehofft, dass diejenigen, die ausreisen konnten, sich treu bleiben“, sagt die Journalistin und ehemalige Duma-Abgeordnete Jekaterina Dunzowa, die bei den Präsidentschaftswahlen 2024 versucht hatte, als Anti-Kriegs-Kandidatin anzutreten und immer noch in Russland lebt. „Stattdessen gab es endlose Querelen. Klar, dass die Menschen schwer enttäuscht sind“, folgert Dunzowa.
Maxim aus Sankt Peterburg, der den FBK bei der Banner-Aktion unterstützt hat, sieht die Verantwortung für diese Kluft auch bei den Redaktionen unabhängiger Medien, die außerhalb Russlands arbeiten: „Sowohl die Opposition, als auch sie, die Medien, verlieren die Verbindung zu den Geschehnissen in Russland – das Ausmaß, die Narrative … Ich würde mir wünschen, dass die Meinungsführer, die ausgereist sind, mehr Feedback bekämen. Denn manchmal schaust du was auf YouTube und denkst nur: Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität – vielleicht sitzt du da selbst in ‘nem Bunker?“
In einem anderthalbstündigen Video verteidigt sich der FBK gegen die Vorwürfe des Bloggers Maxim Katz / Quelle: youtube.com/@NavalnyLiveChannel
Lew Schlossberg, einer der wenigen Oppositionspolitiker, die weiterhin in Russland leben und öffentlich tätig sind (trotz des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens) erklärt, dass er nicht ein Beispiel kenne, „wo ein Politiker, der gezwungen war, Russland zu verlassen, seine lebendigen und unbefangenen Verbindungen zur Gesellschaft aufrechterhalten hätte: Keine elektronische Kommunikation kann das ersetzen, was ich ‚Gespür für das Land‘ nennen möchte. Die Temperatur eines Krankenhauses kann man nur messen, wenn man in diesem Krankenhaus ist. Alles andere sind Ersatz-Impressionen.“
Schlossberg hat wiederholt erklärt, dass seiner Meinung nach die Aktivitäten politischer Emigranten „absolut keine Verbindung zu der Zukunft unseres Landes haben“. Im August 2024 löste ein Post von Schlossberg, in dem er Überlegungen über eine „Partei aus fremdem Blut“ anstellte, die hoffe „hinter dem Schutzschild fremder Panzer“ nach Russland zurückzukehren, eine der heftigsten Diskussionen der letzten Zeit aus.
Es war zu erwarten, dass Schlossberg von denen angegriffen werden würde, die aus dem Land fliehen mussten. Der Wirtschaftswissenschafter Konstantin Sonin (der in Abwesenheit zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen Falschinformationen über die Armee verurteilt wurde) nannte die Äußerungen des Politikers „Ausbrüche von zweifelhaftem Patriotismus“. Der Journalist und Koordinator zivilgesellschaftlicher Projekte, Sergej Parchomenko (in der Russischen Föderation zum „ausländischen Agenten“ erklärt), sagte, „Schlossbergs Jammertirade“ strotze nur so vor „Heuchelei, Demagogie und Geschmacklosigkeit“.
Auch unter den politischen Emigranten sind viele der Meinung, dass sie von niemandem vertreten werden. Und das, obwohl Anführer der Opposition sich bei europäischen und amerikanischen Politikern für ihre Belange einsetzen (etwa indem sie Vorschläge für Sanktionslisten machen, im EU-Parlament über eine Vision für das Russland der Zukunft sprechen oder für die Rechte russischer Geflüchteter in den USA eintreten). Unter den Putin-Gegnern konnte sich bislang keine Struktur etablieren, die von allen anerkannt wird, als Vertretung der russischen Diaspora fungiert und deren Rechte verteidigt.
„Es wäre wünschenswert, wenn es eine feste Gruppe geben würde, die sich regelmäßig mit konkreten Anliegen an die europäischen Politiker wendet“, sagt ein Vertreter der Initiative InTransit, die von Berlin aus politisch Verfolgte in Russland unterstützt und ihnen hilft, das Land zu verlassen. „Das sagen wir unseren Politikern immer wieder, denn das hören wir selbst immer wieder von EU-Diplomaten und Mitarbeitern des Europäischen Parlaments. Einzelinitiativen schaden nur. Die Außenministerien beschweren sich bei uns: Mal kommt der Eine, mal ein Anderer; was sollen wir dann machen? Das, was die Einen sagen oder das, was die Anderen vorschlagen?“
Dasselbe beobachtet auch Ilja Schumanow, Antikorruptionsexperte und ehemaliger Leiter von Transparency international Russland im Exil: „Ich höre von westlichen Diplomaten, dass es großartig wäre, eine russische Tichanowskaja zu haben, also einen Anführer oder eine Koalition, die die Russen vertritt, so wie Tichanowskaja die Belarussen.
„Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden.“
In den drei Jahren seit dem 24. Februar 2022 rufen praktisch alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Ukraine stehen, in der russischen Opposition schmerzhafte Diskussionen hervor. Doch ein Thema wird besonders kontrovers diskutiert – die Unterstützung der Ukrainischen Armee. Viele ukrainische Aktivisten fordern, dass russische Kriegsgegner Geld an die Ukrainische Armee spenden. Und viele Kriegsgegner aus Russland erwidern, dass sie nicht bereit seien, die Tötung ihrer Landsleute zu finanzieren.
Rund um diese Frage entspann sich – was absehbar war – eine enorme Anzahl verschiedener Skandale. Im Frühling 2023 postete Anna Weduta – die ehemalige Pressesprecherin Nawalnys und heute Direktorin für strategische Partnerschaften der Free Russia Foundation – im Zuge dieser Auseinandersetzung auf X ein Foto, auf dem Granaten zu sehen waren. Auf einer stand geschrieben: „Euer Feind sitzt im Kreml, nicht in der Ukraine!“ Weduta kommentierte: „Bitte sehr, hier ein Screenshot von einer Granate, gekauft mit meinem Geld, mit einem schönen Gruß von mir an unsere Jungs‘.“
Russische Propagandisten nutzten den Post für Angriffe auf den FBK. Bis heute wird er in Diskussionen in den Sozialen Medien benutzt, um zu veranschaulichen, wie Oppositionelle angeblich den Beschuss des eigenen Landes finanzieren.
Die Russen wollten aber „eine gesunde patriotische Haltung“, und keine „Loyalität gegenüber dem Westen oder der Ukraine“, sagt Maxim, der ehemalige Aktivist beim FBK: „Man liebäugelt wohl in diese Richtung, auch wenn die Anhänger und potenziellen Wähler hier in Russland leben. Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden. Und wir hier in Russland werden irgendwie ausgeschlossen. Veränderungen werden nicht vom Ausland aus losgetreten – sie beginnen hier, innerhalb des Landes.“
Einer der von Meduza befragten Politikwissenschaftler, der sich im Exil befindet, formuliert es so: Ein Teil der russischen Opposition hat begonnen, die Lage mit „ukrainisch-westlichen Augen“ zu sehen. Mit der Darstellung, dass alle Russen für den Krieg verantwortlich sind, „lässt es sich im Westen gut und bequem leben – aber sie bietet keinerlei Chancen auf größere Sympathie in Russland“, meint der Experte.
Anhand folgender Geschichte lässt sich gut nachvollziehen, wie sich die politische Rhetorik verändert, sobald ein Politiker Russland verlässt. Ilja Jaschin, der 2022 für seine Antikriegsaktivität eingesperrt wurde, kam 2024 infolge eines großen Gefangenenaustauschs zwischen dem Westen und Russland frei. Er landete in Europa (obwohl er es kategorisch abgelehnt hatte, seine Heimat zu verlassen). Gleich darauf bezeichnete er die Beendigung des Krieges als Priorität seiner politischen Arbeit. Der Krieg, so erklärte er, sei in eine „blutige Sackgasse“ geraten, beide Seiten sollten sich an den Verhandlungstisch setzen. Diese Worte lösten auf ukrainischer Seite und bei den Befürwortern einer Fortsetzung des Krieges bis zu einem Sieg der Ukrainischen Armee und der Wiederherstellung der Grenzen von 1991 heftigen Unmut aus.
Bereits am dritten Tag nach dem Austausch pflichtete der Politiker seinen Kritikern bei. In einem Video-Stream erklärte er, dass seine Schlussfolgerung letztlich „aus dem Zusammenhang gerissen“ worden sei und dass nicht ein einziges Stück der Ukraine „Putin überlassen“ werden dürfe (weil der sonst nur „aggressiver“ werde). Jaschin gab auch zu, dass ihm klar geworden worden sei, dass er „seine Worte besser hätte wählen“ sollen, wenn man berücksichtigt, wie viele Ukrainer ihre Liebsten aufgrund der Handlungen Russlands verloren hätten. Die neuen Aussagen riefen wiederum Kritik in einem anderen Teil der Öffentlichkeit hervor – bei denen, die meinen, dass Politiker im Exil in erster Linie die Interessen der Russen vertreten sollen, die sich gegen den Krieg positionieren. (Jaschin lehnte es ab, für diesen Text mit Meduza zu sprechen.)
Die Berliner Kundgebung am 17. November, zu der Julia Nawalnaja, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa aufgerufen hatten, war im Jahr 2024 eine der wenigen Einheit stiftenden Ereignisse für die russische Opposition – ungeachtet dessen, dass sie für veraltete Losungen kritisiert wurde. Doch auch im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung gab es Ärger: Im Anschluss an die Demonstration kam es zu einem riesigen Skandal wegen einer russischen Flagge, die ein Teilnehmer zu dem Berliner Protestmarsch mitgebracht hatte.
„Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen Followern verwandelt“
Da sie keine Möglichkeit haben, real um politische Macht zu kämpfen oder zumindest innerhalb des Landes Aktionen durchzuführen (Proteste sind in Russland verboten und werden brutal unterdrückt), haben sich Oppositionelle auf mediale Instrumente fokussiert. In Bezug auf Nachrichten-Produktion konkurrieren sie mit den unabhängigen Medien und versuchen, staatliche Propaganda zu bekämpfen.
„Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen von Followern verwandelt“, meint Alexandra Garmashapowa. „Man hat das Gefühl, dass sie in ihrer eigenen Welt leben. Ich erinnere mich, wie sie auf einer Versammlung des Antikriegskomitees im Frühling des Jahres 2023 anfingen, die Zahl ihrer Abonnenten auf YouTube zu vergleichen. Das wirkte wirklich jämmerlich. Wir alle sitzen in einem sinkenden Schiff, das sich in einem sehr schlechten Zustand befindet. Und jetzt sollen wir ernsthaft klären, wer wie viele Abonnenten hat?“
„Ja, Politiker verwandeln sich in Medien“, räumt Maxim Katz ein, der immer noch häufiger als „Blogger“ denn als „Politiker“ bezeichnet wird. „Ich versuche, nicht abzuheben. Wir müssen den Russen zu verstehen geben, dass man auf Russisch immer noch Dinge sagen kann, die sich von Propaganda unterscheiden. Damit man im richtigen Moment, wenn sich eine Möglichkeit ergibt, legal in die russische Politik eingreifen kann, sollte man schnell eine politische Partei gründen.“
Wobei politische Blogger und Medien praktisch keine eigene Agenda setzen würden, so beklagen einige Gesprächspartner von Meduza aus der Szene: „Sie sind völlig reaktiv: In Russland passiert etwas und hier wird reagiert“, sagt der Politologe Iwan Preobrashenski. Eine Ausnahme ist der FBK, der sowohl Serien wie Verräter als auch investigative Filme veröffentlich, wie sie der FBK früher produzierte. Zum Beispiel über das Gehalt von Rosneft-Chef Igor Setschin.
„Einige Leute sind bereit, ihre Reputation zu Markte zu tragen“
Einige Aktivisten, mit denen Meduza gesprochen hat, räumen ein, dass sie sich erst nach den Konflikten innerhalb der Opposition im Jahr 2024 zu fragen begannen, wie sich die politischen Organisationen, Menschenrechts-Projekte und Medien in der Emigration eigentlich finanzieren.
So erfuhr die Öffentlichkeit zum Beispiel erst durch die Recherchen des FBK zum Überfall auf Leonid Wolkow davon, dass Leonid Newslin eine ganze Reihe von Medien-Projekten finanziert hatte (etwa den oppositionellen Kanal Sota, der seine Nachrichten vor allem auf Telegram und in anderen Sozialen Netzwerken veröffentlicht oder sogar den YouTube-Kanal Nawalny Live). Der Film von Maxim Katz über die Bankiers führte zu einer Diskussion darüber, ob es für politische Organisationen wie den FBK überhaupt zulässig ist, Geld von Unternehmern mit zweifelhaftem Ruf anzunehmen.
Politische Bewegungen und Projekte zum Schutz der Menschenrechtsorganisationen existieren nicht alleine dank privater Spender. Sie bekommen auch Unterstützung aus der EU und den USA. Finanzierung aus dem Ausland ist für die meisten Empfänger in doppelter Hinsicht heikel: zum einen was ihre Sicherheit, aber auch was ihre Reputation betrifft. Deshalb dringt wenig darüber an die Öffentlichkeit, welche Organisationen über welche Strukturen finanziert werden.
Nach Einschätzung von Personen, mit denen Meduza sprechen konnte, spielte in den vergangenen Jahren die Free Russia Foundation (FRF) eine zentrale Rolle dabei, die amerikanischen Gelder zu verteilen. Diese Nichtregierungsorganisation wurde 2014 von russischen Emigranten in den USA gegründet. Sie unterstützt politische Häftlinge und Menschen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben. Und sie „kämpft gegen Propaganda“. 2019 wurde die FRF vom russischen Staat zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. 2024 stufte das Justizministerium die Stiftung als „extremistisch“ ein). „Sie haben große Summen von Stiftungen bekommen, vor allem aus Amerika. In der Folge wurden sie zu einer einflussreichen Institution, einfach nur, weil sie Geld hatten“, erklärt einer, der sich mit dem System der Verteilung dieser Gelder auskennt im Gespräch mit Meduza.
Gleichzeitig wird die Free Russia Foundation ständig von Medien und Bloggern in die Mangel genommen, die mit Leonid Newslin in Verbindung stehen. Das Portal Agenstwo zählte in Medien, die Newslin nahestehen, mehrere Dutzende Artikel, die die FRF kritisieren.
Im Dezember gab Natalia Arno, die Chefin der FRF, bekannt, sie sei in London Opfer eines Überfalls geworden: Ein Unbekannter sei mit einem Scooter auf sie zugefahren, habe ihr das Handy aus der Hand gerissen und gerufen: „Viele Grüße von Newslin!“ Der Zwischenfall ereignete sich wenige Minuten nach einem Treffen zwischen Arno und Michail Chodorkowski. Newslin lehnte einen Kommentar zu diesen Vorwürfen ab.
Der Stopp der Unterstützung durch die Agentur USAID Anfang 2025 war ein schwerer Schlag für alle Organisationen, die auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sind – offenbar auch für die Free Russia Foundation. Wie groß die Mittel genau waren, die USAID für Projekte im Zusammenhang mit Russland ausgegeben hat, ist nicht bekannt. Ebenso ungewiss ist, ob es gelingt, die nun entstandenen Lücken mit europäischer Hilfe zu schließen.
Allerdings begannen die finanziellen Probleme der russischen Opposition im Ausland bereits vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus. Und einer der Gründe für den sogenannten „Zweiten Krieg um die Fördertöpfe“, wie der Kampf um die Ressourcen bisweilen sarkastisch genannt wird, waren wiederum interne Konflikte.
„Wir dachten, ihr seid Kämpfer für die Menschenrechte und grundsätzlich anders als Putin. Aber wenn ihr mit Hämmern aufeinander einschlagt, dann stellt das alle in ein schlechtes Licht“, gibt Davidis von Memorial die Reaktion eines westlichen Politikers auf die Vorwürfe gegen Newslin wieder.
Einige Stiftungen hätten daraus den Schluss gezogen, dass sie die russischen Empfänger künftig noch sorgfältiger überprüfen sollten. So berichtete es der ehemalige Vorsitzende von Transparency International – Russland im Exil, Ilja Schumanow.
Am stärksten würden darunter kleine Initiativen leiden, glaubt der Politikwissenschaftler Preobrashenski: „Die Bürokraten im Westen werden weiter mit denen zusammenarbeiten, die sie bereits kennen. Aber alle Graswurzel-Bewegungen stehen jetzt unter Verdacht, sie hätten solch ‚dubiose Sponsoren wie der FBK‘, und alle bisherigen Unterstützer werden ganz genau unter die Lupe genommen.“
Private Gelder, die in die Zivilgesellschaft fließen, werden häufig nach dem Prinzip „Vitamin B“ verteilt, sagt Shanna Nemzowa. „Das führt dazu, dass die Spender häufig versuchen, sich Loyalität zu erkaufen.“ Grigori Swerdlin pflichtet ihr bei: „Es gibt Leute, die bereit sind, ihre Reputation geradezu zu Geld zu machen.“ Die russische Diaspora und viele ihrer intellektuellen Projekte seien „schlichtweg ein Netzwerk von Dienstleistern, die alle Interessen von irgendjemandem bedienen“, sagt Preobrashenski über die privaten Spender russischer Abstammung. „Es gibt sehr wenige unabhängige Leute.“
„Ich kann keine Kraft mehr aufbringen. Und ich weiß auch nicht, wozu“
Seit dem 24. Februar leben Aktivisten innerhalb und außerhalb von Russland in verschiedenen Welten. Diese Diskrepanz vertieft die große Spaltung in der russischen Zivilgesellschaft.
Ein Mittel, um diesen Graben zu überwinden, wäre „damit auzuhören, den Menschen ständig mit Prügelstrafe zu drohen“, glaubt Sergej Dawidis von Memorial. Seiner Meinung nach könnte das auch dazu beitragen, die soziale Basis des Widerstands gegen Putin zu verbreitern und auch Russen anzuziehen, die noch unentschieden sind. Alexandra Garmashapowa stimmt dieser Ansicht zu: „Die Opposition macht einen Fehler, wenn sie diese Unentschiedenen und sogar die Kriegsbefürworter von vornherein für dumm erklärt“, sagt die Journalistin. „Wenn du die Leute, die dir nicht gefallen, einfach ignorierst, verschwinden sie deshalb nicht.“
Die Politikwissenschaftlerin Margarita Sawadskaja weist im Gespräch mit Meduza darauf hin, dass sich die Oppositionellen, die ins Ausland geflohen sind, schwer damit tun, Themen aufzugreifen, die für die Menschen in Russland relevant sind, und gleichzeitig eine gute Zusammenarbeit mit dem Westen aufzubauen. Dies sei ein „schwieriges Unterfangen“, findet Sawadskaja: „Die Hauptaufgabe besteht gar nicht so sehr darin, die Beziehungen zueinander am Leben zu halten, sondern das Ansehen im Westen zu wahren. Man muss sehr darauf achten, eine Linie zu finden, die von den Partnern im Westen mitgetragen werden kann.“
Derweil sind die Erwartungen der westlichen Staaten, die nach wie vor die russische Opposition unterstützen, allem Anschein nach bescheiden: Trotz aller Konflikte setzen sie nach wie vor darauf, dass die unterschiedlichen politischen Gruppierungen lernen, miteinander zu kooperieren und gemeinsame Aktionen durchzuführen, erzählt ein Gesprächspartner von Meduza.
Iwan Preobrashenski glaubt, der Westen sähe es nicht gerne, wenn die Opposition ihre Agenda radikalisieren würde: „Zum Beispiel will niemand Geld für echte Anti-Kriegs-Aktionen geben, auch nicht für subversive. 2023 war ich auf einer Veranstaltung, an der auch europäische Politiker teilgenommen haben. Die haben von den russischen Veranstaltern verlangt, dass noch nicht einmal das Wort ‚Kampf‘ benutzt werden darf: ‚Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass wir direkte Aktionen in Russland unterstützen.‘“
Nachdem Chodorkowski [im Juni 2023] seine Unterstützung für den Prigoshin-Aufstand bekundet hatte, hätten die US-Stiftungen ihren Geldempfängern, die mit Chodorkowski zusammenarbeiteten, klargemacht, dass sie „keine Anträge mehr zu stellen bräuchten“, so erzählt es Preobrashenski. Chodorkowski selbst bestätigte diese Aussage im Gespräch mit Meduza, ging aber nicht darauf ein, um welche Stiftungen es sich genau handelte:
„Zum Umsturzversuch von Prigoshin hatte ich einen sehr konfrontativen Auftritt vor Russland-Experten im US-Außenministerium“, erinnert sich Chodorkowski. „Die verstehen alle sehr gut, dass erst eine Spaltung in der Elite zu einem Regimewechsel in Russland führen kann. Aber ein ausgewachsenes totalitäres Regime spaltet sich nicht in die Guten und die Bösen. Es spaltet sich in Böse und Böse. Das ist allen klar! Aber der Begriff ‚Regime Change‘ ist in Washington tabu.“
Aktivisten und junge Politiker, die ihre Aktivitäten in den Untergrund verlegt haben, blicken skeptisch auf ihre eigenen Erfolgschancen. „Viele von uns werden die Ergebnisse ihrer Arbeit zu Lebzeiten nicht mehr erleben“, ist [die feministische Künstlerin] Darja Serenko überzeugt. „Sich damit abzufinden, ist sehr schwer. Du hast das Gefühl, du arbeitest ins Leere, im Nebel, ins Nichts.“
Etwa jeder Dritte der Aktivisten und Politiker, mit denen Meduza für diese Recherche gesprochen hat, war der Ansicht, dass der Opposition nichts anderes übrigbleibe als abzuwarten, bis Putins autokratisches Regime von selbst zusammenbricht. Letztlich sei kein Aktivismus in der Lage, diesen Prozess zu beschleunigen. Derweil sei es fraglich, ob überhaupt irgendjemand aus den Reihen der heutigen Oppositionsführer dann einen wichtigen Posten im neuen System einnehmen könne, glaubt Shanna Nemzowa.
Sowohl politische Beobachter als auch einige Aktivisten gehen davon aus, dass eine neue Generation politischer Anführer in Russland heranwachsen wird. „Das werden ganz neue Leute sein. Junge, die noch keine Enttäuschungen erlebt haben, die wissen, was sie wollen und in was für einem Land sie leben wollen“, ist Alexandra Garmashapowa überzeugt.
„Alles, was die russische Opposition je getan hat, wurde am 24. Februar zunichte gemacht – das Gute wie das Schlechte“, glaubt der Politologe Iwan Preobrashenski. „Aber sie selbst beginnen erst jetzt langsam, das zu begreifen. Der heftige Aktivismus, den wir derzeit beobachten, ist nichts anderes als der Versuch, sich dem unaufhaltsamen Lauf der Geschichte entgegenzustemmen. Wenn sie nicht ihnen nicht klar wird, dass ihre Rolle jetzt ist, neue Organisationen und neue Anführer zu unterstützen und zu finanzieren, die ein besseres Gespür dafür haben, was gerade passiert, dann schreiben sie sich selbst ab.“
Sergej Dawidis von Memorial hingegen ist angesichts der jüngsten hitzigen Auseinandersetzungen unterschiedlicher oppositioneller Gruppen „nur von einzelnen Personen enttäuscht“, aber nicht von der oppositionellen Bewegung im Ganzen. „Das ist kein Weltuntergang, es kommen neue Leute. Die Jungen, die keinen formellen Führungsstrukturen angehören, fühlen sich nicht vertreten. Aber nur vorläufig.“
Die 21-jährige Olessja Kriwzowa ist zum Beispiel eine von denen, die sich buchstäblich „nicht vertreten“ fühlen. Sie wurde in der Oblast Belgorod geboren, noch als Teenager begann sie, die Videos von Alexej Nawalny zu schauen. Am 23. Januar 2021 nahm Kriwzowa zum ersten Mal an einer Demonstration teil, um den Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung zu unterstützen [Nawalny war wenige Tage zuvor nach seiner Behandlung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt und noch im Flughafen festgenommen worden war – dek]. Im März 2022 nahm sie zum ersten Mal an einer Demonstration gegen den Krieg teil. Sie verteilte auch Flugblätter des Feministischen Widerstands (FAS). Am Morgen des 26. Dezember 2022 brach die Polizei die Tür zu ihrer Wohnung auf.
Gegen Kriwzowa wurden zwei Strafverfahren wegen Anti-Kriegs-Postings eingeleitet, die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring trug sie ins Register der Terroristen und Extremisten ein. Im März 2023 gelang Kriwzowa mit Hilfe des Projekts Wywoshuk die Flucht aus dem Hausarrest. Sie verließ ihre Wohnung und schnitt die elektronische Fußfessel ab.
Heute lebt Kriwzowa in Kirkenes im Norden Norwegens. Neben ihrem Fernstudium an der Universität Vilnius schreibt sie für die Zeitung The Barents Observer Artikel über Russland und den Krieg. Ihren eigenen Worten nach hat sie sich von den Kreisen der russischen Opposition „stark abgegrenzt“: „Ich habe keine Kraft dafür – und ich wüsste auch nicht, welchen Zweck das haben könnte.“
Kaum war sie mit der Vorgänger-Generation Oppositioneller in Kontakt gekommen, war ihr auch schon die Lust vergangen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren für Olessja gar nicht die Konflikte, sondern dass „eine einflussreiche Person aus der russischen Opposition“ begann, sie zu bedrängen: „Bei einem Treffen begann er plötzlich sehr viel über Sex zu reden, wobei ich darum keineswegs gebeten hatte. Ich bin einfach weggerannt. Später habe ich gehört, dass ich nicht die einzige war, der so etwas passiert ist.“
„Ich kann gut für mich selbst sprechen“, sagt Olessja Kriwzowa. „Solange wir nicht anständig und sauber werden, kann nichts Gutes dabei herauskommen.“
Wer in der Sowjetunion aufgewachsen ist, dem ist seine Garage heilig – besonders den Männern. Hier wird nicht nur das Auto untergestellt: Die Garage dient bis heute als Lager für Kartoffeln und Eingemachtes, den Samowar, die alte Waschmaschine, das Rad des „Desna“-Fahrrads, das Töpfchen des ersten Sohns und die Halbliterflasche Stolitschnaja-Wodka, die man vor 40 Jahren vor seiner Frau versteckt hat – also ausschließlich für dringend benötigte Dinge.
In der Garage feierte man Geburtstage und die Geburt eines Kindes, die erfolgreiche Autoreparatur, den Verkauf des Autos und den Kauf eines neuen. In Garagen wurden Kfz-Werkstätten eröffnet, Freundschaften geschlossen, nützliche Beziehungen geknüpft, und die Garagennachbarn waren im Freundeskreis eine Gruppe für sich. Die Jüngeren können das nicht mehr nachvollziehen, aber auch sie halten an ihren Garagen fest – das genetische Gedächtnis ist stark.
Einen Eindruck davon, was eine Garage in Russland alles sein kann, vermittelt das Fotoprojekt Zweckentfremdet der Fotografin Oksana Ozgur. Die Berliner Dokumentarfilmerin Natalija Yefimkina hat den Garagenbewohnern 2020 ihren wunderbaren Film Garagenvolk gewidmet. Aufnahmen aus Yefimkinas Film illustrieren auch diesen Text.
Trailer zu Garagenvolk von Natalija Yefimkina / YouTube
Doch die große Zeit der Garagenkultur geht zu Ende. In vielen Städten werden Grundstücke, auf denen einst Garagenkooperativen ihre Bauten errichteten, zu Bauland für moderne Wohn- und Geschäftsgebäude umgewidmet. Viele Besitzer wehren sich erbittert gegen die Räumung ihrer Garagen. Sie sind für sie Rückzugsort und Heiligtum, an dem sie fern von Staat und Ehefrau ihre ganz persönlichen Träume verwirklichen konnten.
Unweit von meinem Haus liegt ein Teich. Noch vor etwa zehn Jahren hat darin die halbe Nachbarschaft gebadet. An der Straße, die zu ihm führte, standen ein paar Behelfsgaragen, auch Rakuschki [rus. Muscheln)] genannt. Kaum wurden die Tage wärmer, versammelten sich die Garagenbesitzer, reparierten oder ersetzten den Steg, erneuerten die Seilschaukel, legten am Zugang zum Wasser Reifen aus, mähten den Rasen und verscheuchten die ganze Saison über die Ruhestörer, die laute Zechgelage veranstalteten und ihre Flaschen zerschmetterten. Dann ließ die Gemeinde die Garagen abräumen, weil sie angeblich schwarz errichtet worden seien – obwohl ein ortsansässiger Betrieb das Gelände 60 Jahre zuvor seinen Mitarbeitern dafür zugeteilt hatte. Wenige Jahre darauf war es auch mit dem Teich vorbei: Die Brücke stürzte ein, die Reifen wurden fortgeschwemmt, und das Ufer verwandelte sich in eine Müllkippe. So verschwand mit der „Garagen“-Gemeinschaft auch ein wichtiger Ort für die ganze Siedlung.
Laut der russischen Wikipedia ist „eine Garage (frz. garage, vom nautischen Begriff gare ‚Schiffsanleger, Liegestelle‘) […] ein Raum zum Abstellen und manchmal zum Reparieren von Autos, Motorrädern und anderen Fahrzeugen. Das Wort ‚Garage‘, das 1902 im Englischen auftauchte, leitet sich vom französischen Wort garer ab, das ‚Schutzraum‘ bedeutet“.
Dem kann man nur zustimmen: In der Sowjetunion und dann auch in der Russischen Föderation war die Garage ein echtes Refugium. Sie bot Zuflucht vor Ehestreit, Problemen auf der Arbeit, der Enge der Wohnung. Eine Garage hat Raum genug für praktisch alles, was man braucht oder auch nicht: Man kann dort ein Kinderfahrrad reparieren, Bretter zuschneiden und ein Regal bauen, sogar ein Unternehmen starten. Einer meiner Bekannten hat zwei benachbarte Garagen gekauft und betreibt dort eine Autowerkstatt, ein anderer nutzt sie als Warenlager – er hat eine Verkaufsstelle für Haushaltsbedarf. Eine Freundin ist eine hervorragende Tierärztin mit eigener Klinik. Was das mit Garagen zu tun hat? Sie durfte als Kind kein Haustier haben. Deshalb ging sie zu den Garagen in der Nähe des Hauses, wo immer Straßenhunde nach Futter lungerten. Sie desinfizierte ihre Wunden mit Brillantgrün und bat die erwachsenen Männer, ihr zu helfen, die Meute von Grind, Flöhen und anderen Plagen zu heilen. Wenn man ihr heute Komplimente für ihr profundes Fachwissen macht, erwidert sie lachend: „Ich habe eben schon als Drittklässlerin angefangen, in Garagen zu praktizieren!“.
Für meinen 74-jährigen Vater ist der Gang zur Garage ein Ritual. Er zieht seine spezielle „Garagen-Kleidung“ an, die bedenkenlos schmutzig werden kann, packt Gurkengläser, Zucchinikaviar und ein paar Kilo Kartoffeln in die „Garagen-Tasche“ mit dem großen roten Karomuster und holt das Fresspaket für die Garagenhunde aus dem Kühlschrank: Knochen, Sardellenhaut, Brei- und Bulettenreste. Die bunt zusammengewürfelte Hundemeute wirft ihn zur Begrüßung fast um. Mein Vater ist Rentner; der Gang zur Garage ist das, was ihn noch im Lebensalltag verankert. Schrauben und Nägel müssen in die passenden Dosen sortiert, Wände getüncht, der Keller aufgeräumt werden. Meine Mutter hatte gegen Vaters „Garagentage“ nie etwas einzuwenden: Ihm die Garage zu nehmen, hieße, ihm das Leben zu nehmen.
Das Gelände der Garagengenossenschaft befindet sich in einer guten Lage, fast im Stadtzentrum, auch wenn es an eine Bahnstrecke grenzt, auf deren anderer Seite sich eine Erosionsrinne auftut. Als über einen bevorstehenden Abriss von Garagenbauten berichtet wurde, trieb mich der Teufel, meinen Vater zu fragen, ob in seiner Genossenschaft Gerüchte über eine Abwicklung kursierten.
„Was? Land und Gebäude gehören doch uns. Ich habe die Garage doch mit eigenen Händen gebaut, ich habe alles auf meinen Buckel genommen und dann mit gebrochenem Rücken im Krankenhaus gelegen“, erregte er sich. „Ich habe im Auto übernachtet und die Ziegelsteine bewacht. Später haben wir Männer uns dabei abgelöst. Und was wird aus den Kartoffeln, der Marmelade, dem eingelegten Gemüse? Wohin damit? Sollen wir dann vielleicht gleich auch noch die Datscha aufgeben? Hier sind Ersatzteile für drei Autos gelagert, die ich ein Leben lang gesammelt habe. Ich habe gelernt, ein Auto zu zerlegen und blind wieder zusammenzubauen. Erinnerst du dich noch an meinen Freund, Onkel Ljowa? Er hatte die Nachbargarage, ich war 50 Jahre lang mit ihm… zusammen. Vor drei Jahren ist er gestorben. Jetzt begleite ich seine Frau auf den Friedhof. Was soll das denn – die Garagen abreißen? Also praktisch mein ganzes Leben entsorgen? Ich werde für die Garage… Mit meinen eigenen Händen… Und scheiß drauf, wenn ich mein Leben im Knast beende!“
In vielen Regionen werden Garagen jedoch tatsächlich abgerissen oder sind zum Abriss vorgesehen – sowohl die blechernen „Rakuschki“ als auch die festen Bauten.
Die Sicht der Stadtverwaltung
Schon vor 20 Jahren begann man Garagen abzutragen – weil man eine neue Straße oder Wohnungen bauen wollte, und mancherorts auch einfach nur, damit ihr unansehnliches Äußeres das Auge nicht beleidige. Einige Garagenkomplexe werden zum Abriss freigegeben, weil es sich angeblich um Schwarzbauten handle. Das läuft ganz einfach: Das Land wurde den Besitzern zu Sowjetzeiten für den Garagenbau zugewiesen, doch die neue Stadtverwaltung weigert sich, es als Eigentum auf sie zu überschreiben und erklärt dann die Bauten für widerrechtlich. Das geschah zum Beispiel in Astrachan, wo 1.200 „schwarz errichtete“ Garagen auf einen Schlag abgerissen wurden. Hier drängt sich die Frage auf, seit wann es sich eigentlich um Schwarzbauten handeln soll: Von Anfang an? Wie konnten dann die Behörden jahrelang die Augen davor verschließen? Eine andere Methode besteht darin, dass der Vorsitzende der Garagengenossenschaft – aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch von Dritten – den Pachtbetrag für das Gelände nicht zahlt. Aber dies sind Einzelfälle, so schmerzhaft sie für die Betroffenen auch sein mögen. Mit dem Aufkommen einer neuen Bebauungsstrategie hat sich das jetzt geändert: Durch den Ansatz der „komplexen Gebietsentwicklung“ (KGE) sind Tausende von Garagen vom Abriss bedroht.
In Rjasan wurden 2016 etwa 700 Garagen der „Tscheresowski“-Genossenschaft abgerissen. Ein großer Bauträger sollte dort kurzfristig eine Uferstraße errichten, die es bis heute nicht gibt. Er bot den Besitzern 12.000 Rubel [damals etwa 185 Euro – dek] je Blechgarage.
In Ufa fielen schon vor sechs Jahren 500 Blechgaragen der Räumung zum Opfer, und vor einem Jahr wurden im Rahmen der KGE der Abriss von 300 festen Garagenbauten sowie die Rodung des benachbarten Waldes angekündigt.
Die Stadtverwaltung von Nowosibirsk hat in drei Jahren 8.700 Blechgaragen beseitigt, und bald sollen 9.400 weitere verschwinden. Das private Eigentum musste neuen Wohnhäusern weichen, von denen einige bereits stehen und andere noch in Planung sind.
In Tjumen wurden infolge der KGE 200 Garagen in der Jelisarowa-Straße und weitere 42 in der Daudelnaja-Straße beschlagnahmt.
In Samara wurden vor zwei Jahren im Zuge des Baus der Autobahn „Zentralnaja“ Rakuschka-Behelfsgaragen abgerissen, obwohl man versprochen hatte, sie bis 2025 nicht anzurühren. Die Aufkäufer der Blechabfälle zahlten 15.000 Rubel [etwa 210 Euro – dek] pro Garage.
In Moskau werden im Rahmen der KGE nicht nur Garagen, sondern auch mehrstöckige Parkhäuser abgerissen.
Die Beseitigung tausender Garagen in Nowosibirsk galt im Vorjahr als das landesweit umfassendste derartige Projekt. In diesem Jahr stellt Twer den Negativrekord auf. Bezeichnenderweise fanden dort bereits öffentliche Anhörungen zur Frage der Übertragung von Grundstücken für die Wohnbebauung statt, bevor von einem Abriss des Garagenbestands überhaupt konkret die Rede war. Auf dem größten Teil des betreffenden Grundstücks befinden sich über 2000 Backsteingaragen.
Die Autokooperative Nr. 9 ist eine der größten Garagengenossenschaften in Twer. Sie umfasst 2.050 Backsteingaragen, die sich zum großen Teil im Privatbesitz ihrer Nutzer befinden. Ringsum liegen die Kläranlagen des „Twerwodokanals“, die Strafkolonie Nr. 1, die Chemiemülldeponie „Chimwolokna“ und zwei Friedhöfe. Dieses Gelände möchte die Stadtverwaltung im Rahmen der KGE zur Bebauung bereitstellen.
Eine beliebte satirische Tragikomödie des sowjetischen Filmregisseurs Eldar Rjasanow heißt Die Garage. Das „Garagenleben“ wird wissenschaftlich erforscht und es werden sogar Bücher darüber geschrieben.
Eldar Rjasanows satirische Komödie „Die Garage“ erschien im Jahr 1979. Die Mitglieder einer Garagenbaugenossenschaft stellen fest, dass eine Garage weniger gebaut wird, als Mitglieder in der Genossenschaft sind. Wer muss verzichten? Ein Kammerspiel über demokratische Entscheidungsfindung im realexistierenden Sozialismus / YouTube
Der erste, der sich aus wissenschaftlicher Sicht mit diesem Thema befasst hat, ist der Soziologe Simon Kordonski, Inhaber des Lehrstuhls für lokale Selbstverwaltung an der Higher School of Economics in Moskau. Die Garagen – so sein Befund – bilden einen eigenen, vorwiegend handwerklich geprägten Wirtschaftssektor, der es armen Familien erleichtert, ihre Existenz zu sichern. Kordonski vergleicht die Tätigkeit in den Garagenwerkstätten mit der Datschenwirtschaft und der industriellen Saisonarbeit der Landbevölkerung. Die „Garagentätigkeit“ ist keine industrielle Serienfertigung; sie produziert Unikate. Ein Beispiel ist der Meistertüftler Nail Poroschin, der in seiner Garage Vergaser so gekonnt umrüstet und verbessert, dass ihn Kunden aus ganz Russland aufsuchen. Sein YouTube-Kanal erlangte schon vor zehn Jahren große Beliebtheit und hat über 600.000 Abonnenten.
Gekleidet in sommerliche Garagen-Kluft gibt der Vergaser-Spezialist Nail Poroschin eine Lektion über Zündkerzen. Mehr als 1,8 Millionen Aufrufe hat das Video / YouTube
„Die Gewerbetreibenden in den Provinzen setzen auf Selbstversorgung. Der Staat ist ihnen gleichgültig, sie sind nicht von ihm abhängig“, sagt Kordonski. „Er versucht zwar, sie aus dem Schatten zu holen, durch Gesetze einzuengen und Steuern einzutreiben. Aber letztlich ist es schlicht nicht möglich, sie in normative Vorschriften zu zwängen. Sie werden immer Schlupflöcher finden, um ihr Geschäft weiter zu betreiben, auch wenn sie gewisse Verluste in Kauf nehmen müssen.“
Im Sektor der „Garagenwirtschaft“, wie Kordonski sie nennt, sind in den großen, aber armen Städten Russlands im Durchschnitt 15 % der arbeitsfähigen Bevölkerung tätig.
In der Perestroikazeit wurden ganze Industriezweige in Garagen geboren – etwa die moderne Möbelproduktion in Kusnezk, das heute als Möbelhauptstadt Russlands gilt. Die einen stellten in ihren Garagen Tischplatten her, andere Tischbeine, wieder andere Hocker. Heute sind in der Stadt etwa 150 offiziell eingetragene Möbelunternehmen ansässig; die inoffiziellen eingerechnet sind es ungefähr 300. Damit kommt auf 266 Kusnezker Bürger, einschließlich der Kinder und Rentner, ein Möbelunternehmen. Inzwischen sind die Betriebe in modernen Werkhallen untergebracht.
Heute, wo die Kosten für das Kaufen oder Mieten einer Wohnung ins Unvorstellbare gestiegen sind, werden Garagen auch in Wohn- und Unterhaltungsräume umgewandelt. Wer sich dringend am Meer erholen möchte, aber nur wenig Geld hat, kann Unterschlupf in einer preiswerten Garage – oder besser gesagt, Bude – finden, wie sie in großer Zahl inseriert werden. So kann man etwa in Sotschi schon ab 10.000 Rubel [100 Euro] monatlich einen Garagenraum von 30 Quadratmetern in Strandnähe mieten.
Garagen sind zu Fotostudios, Ferienapartments, Festsälen und sogar zu Saunas umgebaut worden.
Sergej Selejew und Alexander Pawlow haben in ihrem Buch Garaschniki [Die Garagenbesitzer (PDF)] die Evolutionsgeschichte der Garagen beschrieben: Zunächst waren sie Standardbauten für das Abstellen von Autos. Dann wurden sie angepasst, um Gemüse darin lagern zu können. Als nächstes folgten die Unterkellerung und die Aufstockung mit einer Etage zum Ausspannen. Später wurden die Garagen zu Handels- und Gewerberäumen und schließlich zu Wohnungen.
Nach der Überzeugung einiger Fachleute geht die Ära der Garagen ihrem Ende entgegen; sie würden zum einen durch Parkplätze im Hof der Wohnhäuser, zum anderen durch Kfz-Werkstätten ersetzt. Aus Daten, die die Onlineplattform Avito 2022 veröffentlichte, geht jedoch hervor, dass die Zahl der Kaufinteressenten für Garagen in Russland zum Ende des dritten Quartals um 8 Prozent höher lag als im Vorjahreszeitraum. Im Vergleich zum vorherigen Quartal war die Nachfrage nach Garagen sogar um 15 Prozent gestiegen.
Die Sicht der Stadtforschung
Die Sympathie für die Garagen wird nicht von allen geteilt. Die moderne Stadtforschung betrachtet die Garagengenossenschaften unter dem Gesichtspunkt der effizienten Flächennutzung.
Lew Wladow, der bis zum Februar 2022 das Stadtplanungsprojekt Tscheljabinskij Urbanist leitete, ist überzeugt, dass Garagengenossenschaften in Stadtlage heute nicht mehr vonnöten sind:
„Eine typische Stadt in Russland unterscheidet sich von europäischen Städten durch ihre geringe Bebauungsdichte. Garagengenossenschaften, die zu Sowjetzeiten auf Brachflächen und am Stadtrand bauten, befinden sich heute oft in einer relativ zentralen, für die Stadtentwicklung relevanten Lage, weil die Städte weiter gewachsen sind.
Für die Stadt (und die Bürger) ist eine Garage ein äußerst ineffizientes und unattraktives Gebäude, das in keiner Weise zur städtischen Wirtschaft beiträgt und dem Haushalt nichts einbringt. Sie belegt nur wertvolle Fläche, auf der Stadtbewohner leben und arbeiten könnten, ohne ein Auto zu brauchen, weil sich die gesamte soziale Infrastruktur in der Nähe befindet.
Braucht es Garagen in der Stadt?
Garagen belegen heute wertvolle Flächen, die zur Stadtverdichtung genutzt werden könnten, was dringend nötig wäre, um die Attraktivität der Straßen in den Städten Russlands zu erhöhen. Stattdessen werden neue Stadtteile am Stadtrand und auf Brachflächen errichtet, was wiederum dazu führt, dass neue Straßen und Autobahnen gebaut werden und der Bedarf an Parkplätzen weiter zunimmt. Dadurch werden Lebensqualität und Lebensfreude in der Stadt systematisch beeinträchtigt.
Deshalb sollten die Regeln für Garagenbesitz revidiert werden. Das Ziel sollte sein, den Verkauf von Garagen zu fördern, damit die Flächen effizienter genutzt werden können, und dafür zu sorgen, dass von dem durchaus hinterfragbaren Recht einer Privatperson, 30 Quadratmeter Land im Stadtzentrum zu besitzen, für die sie praktisch nichts bezahlt hat, auch die Stadtbewohner profitieren. Zu diesem Zweck könnte die Grundsteuer auf Garageneigentum auf den in der Stadt allgemein geltenden Satz erhöht werden.
Der Bürgerrechtler Denis Galizki aus Perm hat sich in seinem Blog mit dem „sowjetischen Garagenerbe“ befasst. Seiner Meinung nach hängt es von der Situation vor Ort ab, ob Garagen nötig sind oder nicht. Während Autobesitzer ihr Auto früher nur nutzten, um aufs Land oder auf ihre Datscha zu fahren, und auch das nur in der warmen Jahreszeit, steht es heute vor der Haustür und wird täglich genutzt. Und es kommt auch weit seltener vor, dass Garagen als Kfz-Werkstätten dienen, weil Autos heute viel komplexer konstruiert sind als früher.
Die zweite Meinung: Braucht es Garagen in der Stadt?
„Das Schicksal der Garagengenossenschaften hängt von ihrer Lage ab – davon, ob sie sich in einer Kleinstadt oder Großstadt, im Zentrum oder am Stadtrand befinden. Je größer die Stadt und je zentraler die Lage, desto teurer sind die Grundstücke. Das macht es wirtschaftlich unrentabel, die Garagen stehen zu lassen. Sie werden früher oder später durch eine geeignetere Wohn- oder Gewerbebebauung ersetzt. In kleinen Ortschaften und am Stadtrand kommt es hingegen durchaus vor, dass die Garagen ähnlich weitergenutzt werden wie schon zu Sowjetzeiten.“
Selbst wenn eine Garagengenossenschaft seit langem einen anderen Zweck verfolgt, darf die Gemeinde sie nicht einfach auflösen, sondern muss ihr ein Ausweichgelände anbieten, etwa am Stadtrand. „Genau das macht Stadtplanungspolitik aus“, erklärt der Stadtforscher Galizki. Es sei wichtig, aktiv mit der Bevölkerung zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass für die Garagen ein angemessener Kaufpreis gezahlt wird, damit die Besitzer sich nicht betrogen fühlen.
„Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten“, lautet Galizkis Fazit. „Die Garagen werden verschwinden. Aber das muss auf organische Weise geschehen. ohne Tragödien und ohne dass es als Verletzung des Rechts auf Eigentum empfunden wird.“
Der pensionierte Architekt Alexej Kisselew (Name auf Wunsch des Betroffenen geändert) ist überzeugt, dass der Abriss der Garagen sich weiter beschleunigen wird: Der Stadtverwaltung sei es gleichgültig, ob die Leute ihre Garagen brauchen; sie sei genauso wie die Bauträger nur am Profit interessiert.
„Ich habe dem Stadtbaudirektor schon 2007 gesagt, dass wir bei der Planung von Stadtvierteln die Anzahl der Parkplätze berücksichtigen müssen, weil hier schon fast auf jede Familie ein Auto kommt. Wenn in der Stadt also zweihunderttausend Familien wohnen, braucht es auch ebenso viele Parkplätze. Er hat mich ausgelacht: ‚Wie sollen wir das denn durchsetzen?‘ Einerseits wird Falschparken bestraft, andererseits gibt es keine legalen Parkplätze. Erst heißt es: ‚Ohne Garage brauchst du dir gar nicht erst ein Auto zu kaufen‘ und dann werden die Garagen einfach abgerissen. Wo bleibt da die Logik?“
Die dritte Meinung: Garagen sind notwendig
Garagenkomplexe sind für die Bevölkerung nützlich, für Bauträger und Lobby hingegen nicht, weil sie zu viel Fläche einnehmen, auf der Geschäftsbauten errichtet werden könnten.
Statt nur über die Garagen sollte man besser allgemein über Stadtplanungspolitik sprechen. Ganz banal gesagt: Diese Politik ist insgesamt falsch, wenn nicht sogar kriminell. Russland hat Raum genug, eine verdichtende Bebauung ist hier nicht üblich. Psychologen haben gezeigt, dass sie sich ungünstig auf die menschliche Psyche auswirkt. Der Platz reicht aus, um sowohl Garagen als auch hohe und weniger hohe Häuser zu bauen, ohne dass sie sich gegenseitig im Weg sind. Aber unser „nationaler Leader“ hat angeordnet, Milliarden Quadratmeter Wohnfläche zu schaffen – und seine Untergebenen haben aufs Geratewohl losgebaut. Nicht, wo und wie es für die Menschen am passendsten war, sondern um des Profits willen. Inzwischen ist man schon so weit, Eigentum zu „expropriieren“.
Die „Räumung“ der Garagen
Die ersten Garagen in Russland wurden nach jetzigem Kenntnisstand im Jahr 1907 errichtet. Später gab es jahrzehntelang nur staatliche Autohöfe. In den 1960er Jahren wurde ein Dekret über die Gründung von Garagenbaugenossenschaften erlassen. Die Garagen hatten quasi den Status von Eigentum, das jedoch gemeinsam, genossenschaftlich organisiert war. In den 1980er Jahren kamen dann die Rakuschki auf – behelfsmäßige Garagen, die offiziell als Unterstände für Autos galten. Sie wurden zu Tausenden gekauft und auf Flächen aufgestellt, wo dies genehmigt wurde. Seit 2006 gelten sie als illegal und es heißt, sie würden „das Stadtbild verschandeln“.
In den festen Garagenbauten wie in den blechernen Rakuschki sind Jungen an der Seite ihrer Väter groß geworden. Sie nahmen Zauberworte wie „Jawa “, „Vergaser“, „Aufhängung“, „Lager“ oder „Motor“ auf, wuchsen heran und erlernten einen Beruf. Ist das nicht genau die Kontinuität der Generationen, das Erbe der Väter, von dem die Propagandisten in einem fort sprechen? Heut versuchen diese längst erwachsenen Jungen an verschiedenen Orten, ihr Eigentum, das mit der Änderung der Staatsordnung legalisiert wurde, zu verteidigen. Denn auf einmal stellt sich heraus, dass Eigentum nur so lange Eigentum ist, wie es vom Staat nicht benötigt wird. Die Medien begannen den Abbau von Garagen sogar als „Säuberung“ zu bezeichnen, so wie man im Krieg das Gelände vom Feind säubert.
In Deutschland ist hingegen bis heute die Anekdote von Friedrich dem Großen lebendig, der sich beim Anlegen eines Parks an einer Mühle störte, die „die Umgebung verschandelte“. Er machte dem Müller ein Kaufangebot. Dieser lehnte ohne zu zögern ab, denn die Mühle war das Erbe seiner Vorfahren, sein Handwerk, sein Leben. Der König sagte erstaunt: „Weiß Er wohl dass ich Ihm seine Mühle nehmen kann, ohne einen Groschen dafür zu geben?“ Worauf der Müller erwiderte: „Ja, Euer Majestät, wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre.“
Schätzungen zufolge gibt es in Russland mindestens 5,5 Millionen Garagen. Der Staat ist mächtig genug, um sie alle zu „räumen“. Aber auch die Millionen „Garagenjungen“ sind womöglich stark genug, um ihren Besitz zu verteidigen.
Während das deutsche Außenministerium dringend von Reisen nach Russland abrät, hat Moskau eine Charme-Offensive gestartet, um insbesondere Reisende aus westlichen Staaten anzulocken. Im August 2024 führte Wladimir Putin per Erlass eine neue Visa-Kategorie ein: das „Privatvisum für Personen, die traditionelle russische geistige und moralische Werte teilen“. Damit solle Personen „humanitäre Unterstützung“ geleistet werden, „deren Staaten eine destruktive neoliberale ideologische Politik durchsetzen, die den traditionellen russischen spirituellen und moralischen Werten zuwiderläuft“, heißt es im Ukas.
Medial wird die Kampagne von einer Schar von Influencerinnen und Influencern begleitet, die auf TikTok, Instagram und YouTube die Vorzüge eines Lebens in Russland preisen. Diese decken sich oft mit dem, was Vertreter der politischen Ränder hierzulande kritisieren: keine Rundfunk-Gebühren, billiges Benzin, Frauen dürfen noch Frauen sein und Männer echte Männer.
Das Programm wird von der Ex-Spionin Maria Butina koordiniert (T-Online hat darüber im Dezember 2024 berichtet). Butina war im April 2019 in den USA wegen Spionage im Auftrag Moskaus zu 18 Monaten Haft verurteilt und nach Abbüßen eines Teils ihrer Strafe im Oktober 2019 nach Russland abgeschoben worden. Als Abgeordnete der Kreml-Partei Einiges Russland ist es seitdem ihre Rolle, die Menschenrechtslage im Westen zu kritisieren und Russland als das wahre Land der Freiheit zu präsentieren. Eine der prominentesten Bloggerinnen in Butinas TikTok-Team ist die „russische Amerikanerin“ Alexandra Jost mit insgesamt 500.000 Followern auf unterschiedlichen Plattformen. Laut Recherchen der Novaya Gazeta Europe bekam Jost zumindest im Jahr 2023 regelmäßig Geld von RT, dem wichtigsten Sprachrohr russischer Propaganda im Ausland.
Ballett, Birken und bunte Zwiebeltürme: Bloggerinnen im staatlichen Auftrag zeichnen Russland als Sammelsurium süßlicher Klischees / Illustration: Novaya Gazeta Europe
Zu TikTok-Liedern nimmt die 27-jährige Alexandra alias Sasha Jost coole viral gehende Videos an den heißesten Touristenspots Russlands auf: die Städte am Goldenen Ring, das Ballett Nussknacker, die Stadtzentren von Moskau und Sankt Petersburg. In ihrem Blog gibt es auch Videos von Fernreisen: zum Beispiel aus dem Petschoro-Ilitsch-Nationalpark in der Republik Komi, von der Krym und aus Sibirien. Die junge Frau besucht dort Restaurants und macht professionelle Fotoshootings, ohne Werbung in ihrem Blog zu bringen.
Jost bezeichnet sich selbst als „russische Amerikanerin“, da sie als Tochter einer Russin und eines Amerikaners geboren wurde. Die Familie lebte zunächst in Hongkong, dann zog sie in die Vereinigten Staaten, Jost machte einen Universitätsabschluss in Belgien. Doch, wie sie in einem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen sagt, hat sie „ihr Leben lang Russophobie erlebt, während sie im Ausland lebte.“ Mit 19 verbrachte Jost probehalber ein Jahr in Sankt Petersburg, und es gefiel ihr so gut, dass sie beschloss, für immer nach Russland zu ziehen.
Im Sommer 2023 startete sie einen YouTube-Kanal über ihre Leben und ihre Reisen in Russland. Ein Jahr später wurde er gesperrt, angeblich „ohne Begründung“, und sie wechselte zu anderen Sozialen Netzwerken. Inzwischen hat sie fast 160.000 Abonnenten auf TikTok, mehr als 200.000 auf Instagram und ihre Videos und Reels werden millionenfach aufgerufen.
„Jedes positive Video über Russland wird als Propaganda gebrandmarkt“
In den Videos vergleicht die junge Frau oft westliche Länder mit Russland – und stets schneidet Russland besser ab. So vertritt sie zum Beispiel die Meinung, dass Frauen in Russland unglaublich viel weiblicher seien und Männer sich immer um sie kümmern und Verantwortung für sie übernehmen würden. Gleichzeitig sagt die junge Frau nichts über das Problem der häuslichen Gewalt in Russland, wo im Zeitraum 2020–2021 mehr als 70 Prozent aller Morde an Frauen von ihren Partnern und Verwandten begangen wurden. Oder sie zeigt, dass es trotz der Sanktionen selbst in kleinen Lädchen in der russischen Provinz alle notwendigen Produkte gibt – von den Preisen ist dabei keine Rede.
Im Juni 2024, nachdem YouTube ihren Kanal gelöscht hatte, startete sie einen neuen, und änderte den Namen; jetzt hat sie dort schon 22.000 Abonnenten. „Offenbar wird jedes positive Video über Russland als Propaganda gebrandmarkt. Aber wie wir alle wissen: Russen geben nicht auf! Und auch ich werde nicht schweigen“, beteuerte Jost in ihrem ersten Video.
Den Kanal Sasha Meets Russia hat Youtube gesperrt. Die Bloggerin setzt ihr Programm jetzt unter dem Namen @SashaandRussia fort
Novaya Europe liegt die Steuererklärung von Sasha Jost vor: Demnach erhielt sie zumindest im Jahr 2023 regelmäßig Geld von TV Novosti – das ist die juristische Person hinter RT, dem Fernsehsender Russia Today. Sasha Jost hat nie öffentlich erwähnt, dass sie für diesen staatlichen russischen Fernsehsender arbeitet, der in vielen Ländern wegen Propaganda verboten ist. Stattdessen machte sie sich lustig über die Ansicht, dass jeder, der in Russland lebt, zwangsläufig für den Staat arbeitet.
RT wird seit vielen Jahren vom russischen Staat finanziert: Im Jahr 2023 erhielt der Sender 26,7 Milliarden Rubel [278 Millionen Euro] aus dem Haushalt, im Jahr 2024 waren es fast zwei Milliarden Rubel [20 Millionen Euro – dek] mehr. Seit März 2022 ist die Ausstrahlung von RT in der EU und den USA blockiert. In den Vereinigten Staaten gilt der Kanal als ausländischer Agent, und gegen Simonjan und ein paar weitere Top Manager sind Sanktionen verhängt worden. Im Jahr 2024 beschuldigte der US-Außenminister den Sender gar der Beteiligung an russischen Geheimdienstoperationen.
Die Novaya Europe bat Sasha Jost um eine Stellungnahme zu den Informationen über ihre Arbeit für RT. Die Bloggerin verlas die Fragen der Journalisten auf ihrem Telegram-Kanal, aber beantwortete sie nicht.
Ihren eigenen Aussagen zufolge unterrichtet Sasha Jost neben dem Bloggen Englisch und arbeitet als Designerin.
Eine internationale Blogger-Familie
Einige Reisen macht Jost gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Mexikaner Domingo Garcia. Er ist seinen Worten zufolge ebenfalls aus weltanschaulichen Gründen nach Russland gezogen. Bis 2024 hat er in Russland im Masterprogramm Internationales Management an der der Higher School of Economics studiert und danach die Lateinamerikanische Handelskammer gegründet, eine Organisation, die vorgeblich den bilateralen Handel und Investitionen zwischen lateinamerikanischen Ländern und der Russischen Föderation fördern soll.
Novaya Europe konnte keine Spur von Aktivitäten dieser Organisation finden – vor allem ist keine juristische Person unter dem Namen Garcia Domingo in Russland registriert. Als Blogger jedoch ist er bei der Agentur Besgranitschnyje (dt. die Grenzenlosen) gelistet. Im Firmenkatalog der Agentur ist auch Sasha Jost zu finden.
Das Profil von Garcia Domingo auf dem Portal von Besgranitschnyje. Auch seine Frau Sasha Jost ist dort vertreten. Rechts neben ihr der deutschsprachige Blogger Sven Svenson / Screenshots: dekoder
Die Agentur bietet ihren Kunden an, durch die Zusammenarbeit mit ausländischen Bloggern den „Wiedererkennungswert der Marke“ zu erhöhen und die „Reichweite bei den Kunden“ zu steigern. Gegründet wurde sie im April 2024 von der Assistentin der Duma-Abgeordneten Olga Timofejewna, der Polittechnologin und PR-Frau Maria Dudko.
Auch die Bloggerin Karina Kipp wird von der Agentur Besgranitschnyje vertreten. In Deutschland sehen ihr mehr als eine Millionen Menschen zu, wenn sie Küchen-Hacks ausprobiert / Screenshot dekoder
Domingos Social-Media-Konten sind nicht kommerziell ausgerichtet. Doch reist er regelmäßig mit seiner Frau durch Russland und gibt auch häufig in den Staatsmedien Interviews darüber, wie schön es sei, in Russland zu leben. „Ich habe eine russische Seele“ sagt Domingo und schimpft auf „die westlichen Länder“, in denen, wie er es nennt, „die traditionellen Werte ihre Bedeutung in der Gesellschaft verlieren“.
Maria Butinas TikTok-Team
Seit 2024 erscheinen in den Sozialen Netzwerken immer häufiger Videos von ausländischen Bloggern: Sie reisen alle immer an dieselben Orte und äußern sich zu Russland mit denselben Worten – das erweckt den Eindruck einer koordinierten PR-Kampagne.
So besuchten am 18. Januar beispielsweise Blogger aus mehreren Ländern das Kloster Neu-Jerusalem in der Region Moskau und nahmen an einem traditionellen Eisbad am Tag der Taufe Jesu teil. Die Reise wurde offenbar vom orthodoxen Fernsehsender Spas TV [dt. Erlöser TV] organisiert und bald erschien dort eine Reportage über dieses Fest. In dem von Jost veröffentlichten Video waren beispielsweise ihr Ehemann Domingo Garcia und die Bloggerin Gabrielle Duvoisin aus Frankreich zu sehen. Ebenfalls anwesend waren Pietro Stramezzi aus Italien und Lisa Graf aus Deutschland, die anschließend ein Video darüber auf ihre Seite stellten.
Zusammen mit der Bloggerin Lisa Graf veröffentlichte Jost fast zeitgleich ähnliche Inhalte: Beide posteten im Februar im Abstand von vier Tagen Videos über die Moskauer Metro; die jungen Frauen sprachen auch über das chinesische Neujahrsfest in Moskau am 29. Januar und über den Neujahrsmarkt auf dem Roten Platz mit ähnlichen Aufnahmen am 16. Und 20. Dezember.
Die Geschichte von Gabrielle ist der von Sasha auffallend ähnlich: Demnach war Gabrielle Umweltingenieurin und beschloss, aus Paris wegzuziehen, nachdem sie einmal in Sankt Petersburg war. Seit 2022 lebt die junge Frau in Russland und bloggt auf Französisch und Russisch. Einmal verriet Duvoisin sogar, dass sie im russischen Fernsehen das sagt, was ihre Mitarbeiter ihr vorsagen. „Als ich vor ein paar Wochen auf Rossija 1 war, bestand das Team darauf, dass ich sage, der Lieblingsfilm meiner Großmutter sei Der Profi. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, ob meine Großmutter den Film überhaupt je gesehen hat.“
Im Dezember 2024 interviewte die Französin Gabrielle Duvoisin Maria Butina, die ehemalige russische Spionin und heutige Duma-Abgeordnete, die auch für RT arbeitet. Ausländische Blogger gehen regelmäßig mit ihr auf Reisen und berichten darüber in ihren sozialen Netzwerken. Graf, Jost und der österreichischer Blogger Martin Held, der Butina nahesteht, fuhren nach Schuja in der Region Iwanowo zu einem Treffen mit ausländischen Familien, die nach Russland ziehen wollen.
2019 war Butina in den Vereinigten Staaten wegen illegaler Arbeit als Spionin zu 18 Monaten Haft verurteilt worden, kehrte aber nach Absitzen eines Teils der Strafe nach Russland zurück und begann, für RT zu arbeiten. Zunächst moderierte sie die Sendung Prekrasnaja Rossija bu-bu-bu [dt. Wundervolles Russland bu bu bu], dann begann sie, Russen im Ausland zu helfen – auch mit Unterstützung von Margarita Simonjan. Im Jahr 2020 wurde Butina Leiterin der RT-Stiftung Wir lassen unsere Leute nicht im Stich, deren Ziel es ist, im Ausland verurteilte Russen in ihr Heimatland zurückzubringen. Butina drehte weiterhin Beiträge für RT, zum Beispiel besuchte sie die Strafkolonie von Alexej Nawalny, der damals in Pokrow in den Hungerstreik getreten war, weil ihm ärztliche Hilfe verweigert wurde.
Vor laufender Kamera versuchte Butina, sich mit dem Gefangenen herumzustreiten und sagte, die Bedingungen, unter denen Nawalny festgehalten werde, seien viel besser als die, die sie in einem amerikanischen Gefängnis gesehen habe.
April 2021: Alexej Nawalny ist in den Hungerstreik getreten, weil ihm ärztliche Versorgung verweigert wird. Die Abgeordnete und RT-Mitarbeiterin Maria Butina sucht den Häftling auf und putzt ihn vor laufender Kamera herunter. Die Haftbedingungen seien besser als in den USA
Im Jahr 2021 wurde Butina auf der Liste der Partei Einiges Russland für die Region Kirow in die Staatsduma gewählt. Damals führte sie in der Erklärung über ihre Einkünfte die Fernsehsender NTW und RT als Einnahmequellen an. Als Abgeordnete setzte Butina dann ihre Zusammenarbeit mit RT fort. 2022 nahm sie beispielsweise ein Interview mit Viktor But auf, einem russischen Waffenhändler, der viele Jahre in den USA inhaftiert war und im Dezember 2022 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen den beiden Ländern freigelassen wurde. Im Jahr 2024 startete Butina eine neue Sendung auf RT, Familie – Russland, in der sie über Ausländer spricht, die sich aus Gründen der Weltanschauung für einen Umzug nach Russland entschieden haben.
Auch in TikToks der Blogger tauchen Menschen auf, die nach Russland umgesiedelt sind. Zum Beispiel postete kürzlich Sasha Jost ein Video mit Interviews von Menschen, die nach Nishni Nowgorod gezogen sind.
RT benutzt nicht zum ersten Mal Blogger, um verdeckt für seine Agenda zu werben
Ende 2024 eröffnete das US-Justizministerium ein Verfahren gegen die RT-Mitarbeiter Konstantin Kalaschnikow und Elena Afanasjewa. Sie wurden beschuldigt, pro-russische Propaganda zu verbreiten, und Journalisten fanden heraus, dass das amerikanische Medienunternehmen Tenet Media daran beteiligt war, für das mehrere amerikanische Blogger arbeiteten: Tim Poole (1,37 Millionen Abonnenten auf YouTube), Dave Rubin (2,45 Millionen Abonnenten auf YouTube), Matt Christiansen, Taylor Hansen, Benny Johnson und Laura Suthern.
RT überwies insgesamt 10 Millionen Dollar an Tenet Media, die möglicherweise für Publikationen auf YouTube, TikTok, Instagram und X verwendet wurden. Nach Überzeugung des US-Justizministeriums gaben RT-Mitarbeiter Anweisungen zum Inhalt der Materialien an die Influencer: So wurden sie beispielsweise nach dem Terroranschlag auf die Crokus City Hall bei Moskau aufgefordert, sich „auf die Version über die Beteiligung der Ukraine und der Vereinigten Staaten an dem Anschlag zu konzentrieren“ und das IS-Bekennerschreiben über die Organisation des Terroranschlags als Fälschung zu bezeichnen.
Nach der Enthüllung der Aktivitäten des Unternehmens behaupteten die Blogger, die mit dem Unternehmen zusammenarbeiteten, sie hätten von den Verbindungen zu RT nichts gewusst. Matt Christiansen sagte, er habe bei seiner Arbeit mit Tenet Media keine Anweisungen erhalten, sondern lediglich seine eigenen Gedanken geäußert.
„Wenn du eine Frau mit zum Angeln nimmst, wirst du nichts fangen“ – Weisheiten dieser Art füllen in Russland beliebte Kalender für Angler. Eine andere lautet: „Trifft ein Mann auf dem Weg zum Angeln eine alte Frau, bringt das Unglück. Zeigt er ihr aber im Vorbeigehen den Finger und spricht einen Fluch, dann bringt das Glück.“ Und ein Aberglaube besagt, dass eine Frau nicht mit ihrem Mann streiten soll, wenn er zum Angeln geht – sonst ist es ihre Schuld, wenn er ertrinkt.
In Gegenden, in denen es kaum Arbeit gibt und die Renten nur für das Nötigste reichen, ist der Fischfang nach wie vor wichtig für den Nahrungserwerb. Dort fischen auch viele Frauen das ganze Jahr über. Nicht zum Vergnügen, sondern um zu überleben. Obwohl: zum Vergnügen schon auch. Takie Dela hat einige Dörfer in Karelien besucht, gleich an der Grenze zu Finnland, und ist dort mit Frauen zum Winterfischen gegangen. Wie sich herausstellte, waren sie alle Rentnerinnen. Und fast alle waren Witwen. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass der Fischfang sie rettet – jede auf ihre eigene Weise.
Als ihr Mann vor zwölf Jahren starb, traute Antonina sich zunächst nicht, allein mit dem Boot auf den See hinaus zu fahren. Also fragte sie ihre Nachbarin Galja, ob sie mitkommt. Nach dem ersten Mal hatten sie’s raus und die beiden wurden dicke Freundinnen. „Als im Frühling die Maränen kamen, sind wir rausgefahren und haben unsere Netze aufgestellt“, erinnert sich Antonina. „Ringsum waren Männer in ihren Booten unterwegs, und mittendrin wir zwei Frauen. Die Männer haben ihre Mützen geschwenkt und uns zugewunken.“ Spott habe sie nie gehört. In ihrem Dorf haben alle Respekt vor den Fischerinnen.
Vor einem Jahr hatte ihre Freundin einen Schlaganfall. Seitdem fischt Antonina allein. „Wir haben immer viel gelacht mit Galja, das Angeln hat uns so viel Spaß gemacht“, erzählt sie. „Wenn wir um sieben Uhr früh zusammen rausgefahren sind, die Sonne aufging und der Kuckuck rief. Herrlich! Dann haben wir die Ruder aus dem Wasser gezogen, inngehalten und gelauscht.“
Heute findet Antonina nur noch selten eine Begleitung: „Kaum jemand mag mit mir Angeln gehen, weil man mich dann nur schwer wieder nach Hause kriegt. Wenn ein Fisch an meinem Köder spielt, kann ich bis zum Abend auf dem Eis sitzen“, sagt sie. Die Kälte macht ihr nichts aus: Mehrere Schichten Kleidung und eine Kiste mit einem Fell zum Sitzen, damit kann sie es stundenlang aushalten. „Nur die Eislöcher kann ich nicht mehr selbst bohren, meine Hand schmerzt. Also bitte ich meinen Nachbarn, der hilft gern.“
Ein anderer Aberglaube besagt, dass man auf dem See nicht fluchen und sich nicht über einen schlechten Fang beklagen darf. Wenn der erste Fang der Saison ein Erfolg war, haben die Karelier früher am Ufer eine Suppe daraus gekocht und sie für den Herren des Wassers zurückgelassen. Davon versprachen sie sich Petri Heil für die ganze Saison.
Im Sommer hat Valentina sich einen Traum erfüllt: ein E-Bike. Sie hat lange darauf gespart. Sie sammelt Beeren im Wald und verkauft sie auf dem Markt. Das Rad ist eine Investition: So kommt sie schneller in den Wald an die guten Plätze, wo die Heidelbeeren wachsen.
Menschenrechtler vergleichen das Strafvollzugssystem in Russland häufig mit dem sowjetischen Gulag. Anlass dazu bieten Folterskandale und Ideen des FSIN (Föderaler Strafvollzugsdienst), Häftlinge in Bauprojekten auszubeuten.
Das russische Onlinemedium Verstka erläutert, was FSIN und Gulag verbindet: Wie in der Sowjetunion einst Zwangsarbeitslager entstanden und inwieweit der Vergleich des damaligen Gulag mit heutigen Strafkolonien passt.
Eine Einführung in unseren neuen Themenschwerpunkt: Archipel Gulag-FSIN
Das heutige russische Haftsystem des Föderalen Strafvollzugsdiensts FSIN ist gewissermaßen der Nachfolger des sowjetischen Gulag. Die Zahl der Inhaftierten war jedoch in den sowjetischen Gefängnissen deutlich höher als heute.
Laut Historikern sind insgesamt etwa 20 bis 25 Millionen Menschen seinerzeit durch den Gulag gegangen, zwei Millionen davon im Lager gestorben. Berechnungen des Instituts für Demografie der Higher School of Economics ergeben, dass im Gulag jeder 15. Häftling ums Leben gekommen ist.
Der Gulag war ein Netz aus rund 500 Lagerverwaltungen, dem jeweils Hunderte Zweigstellen und Zentren untergeordnet waren – insgesamt über 30.000. Am höchsten war die Zahl der Lagerhäftlinge im Jahr 1953 mit bis zu 2,6 Millionen.
Das heutige russische Strafvollzugssystem umfasst dagegen etwa 550 Strafkolonien (Stand 1. Januar 2023). Im Oktober 2023 verkündete Russlands Vize-Justizminister Wsewolod Wukolow, die Insassenzahlen in russischen Gefängnissen seien so gering wie nie zuvor. In den russischen Strafkolonien hätten sich zu dem Zeitpunkt 266.000 Personen befunden. Zehn Jahre früher seien es noch rund 700.000 gewesen.
Zwangsarbeit auf Großbaustellen
2021 stand erneut die Frage zur Diskussion, ob Gefängnisinsassen zu Bauarbeiten an der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) herangezogen werden sollten. Damals bekundete der FSIN die Bereitschaft, in der Nähe großer Baustellen, auf denen Arbeitskräfte gebraucht werden, Arbeitslager zu errichten. Abgesehen von der BAM waren auch der Autonome Kreis der Nenzen, die Tajmyr-Insel (im Norden des Gebietes Krasnojarsk – dek), die Oblast Magadan und Norilsk als potenzielle Standorte für solche Lager im Gespräch.
Die Arbeitskraft von Gefangenen russischer Strafkolonien wird heute ohnehin genutzt, meist in der Leichtindustrie, etwa in der Herstellung von Berufskleidung. In manchen Kolonien nähen die Insassen auch Uniformen oder knüpfen Tarnnetze für das russische Militär in der Ukraine.
Olga Romanowa, Vorsitzende der Stiftung Rus sidjaschtschaja, nennt einige Faktoren, die das moderne Strafvollzugssystem vom Gulag „übernommen“ hat: die marode Infrastruktur in den Haftanstalten, das geringe Ausbildungsniveau des Personals, Intransparenz, vorsintflutliche Auffassungen vom Sinn einer Strafe sowie das Fehlen von Resozialisierungsprogrammen.
Heute jedoch hätten der administrative Druck auf die Verurteilten und die flächendeckende Missachtung ihrer Rechte nicht mehr nur das Ziel, sie im allgemeinen Interesse – zur Industrialisierung des Landes beispielsweise – einen Belomorkanal oder eine BAM bauen zu lassen. „Das ganze System ist so konstruiert, dass es die privaten, kommerziellen Interessen einer Personengruppe erfüllt, die ihre Gehälter aus dem Staatshaushalt beziehen“, erklärt Romanowa.
Zunehmende Repressionen
In modernen russischen Strafkolonien werden – genau wie früher in stalinistischen Lagern – Opfer politischer Repressionen gefangengehalten. Memorial zufolge waren in der UdSSR elf bis 11,5 Millionen Menschen von politischen Repressionen betroffen.
Das Menschenrechtszentrum setzt seine Zählung fort: Derzeit gelten 769 Personen als politische Gefangene (weitere 605 Personen werden verfolgt, sind aber nicht in Haft).
Als Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, gab es in Russland nur einen einzigen politischen Gefangenen. Während Putins Amtszeit zählten Menschenrechtsaktivisten insgesamt 1500 politische Häftlinge. Die meisten politisch motivierten Verhaftungen gab es in Russland 2019. Seit Beginn des vollumfänglichen russischen Kriegs gegen die Ukraine 2022 nimmt der Frauenanteil unter den politischen Gefangenen deutlich zu, nämlich auf 27 Prozent.
Die Liste der Personen, die in Russland aus politischen Gründen verfolgt werden, sei allerdings nicht vollständig, so Memorial, weil die Einstufung als politischer Gefangener nach bestimmten Kriterien erfolge und eine gewisse Zeit in Anspruch nehme, weswegen viele noch „unsichtbar“ blieben.
„Wir bemühen uns, es jedes Mal überzeugend zu begründen und maximal objektiv nachvollziehbar zu machen, wenn wir jemanden als politischen Häftling anerkennen“, heißt es von Memorial. Die Untersuchung jedes Freiheitsentzugs, bei dem ein politisches Motiv vermutet wird, erfordere die Vorlage von Dokumenten und ausreichend Zeit. „Allein das Zusammentragen des Materials dauert oft schon ziemlich lange, vor allem, wenn die Ermittlungen und Verhandlungen geheim sind.“
Was FSIN und Gulag auf jeden Fall gemeinsam haben, seien Folterpraktiken in den Strafkolonien: Die Gefangenen würden physisch misshandelt und zu übermäßiger Arbeit gezwungen, ohne freien Tag und angemessene Vergütung.
Wie die UdSSR das Gulag entwickelte
Die Abkürzung Gulag steht für Glawnoje uprawlenije lagerej (dt. Hauptverwaltung der Lager) – eine Organisation dieses Namens wurde 1934 geschaffen, doch die Abkürzung ist in Dokumenten bereits ab 1930 zu finden. Die Entwicklung eines solchen Systems begann gar bereits viel früher, nämlich ab 1919.
Ab 1934 kontrollierte der Gulag – geleitet von Genrich Jagoda – praktisch alle Haftanstalten der Sowjetunion und war unmittelbar dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten unterstellt.
Bereits 1918 begannen die Revolutionsanführer Wladimir Lenin und Leo Trotzki, damals tatsächlich noch „Konzentrationslager“ genannte Gefangenenlager zu planen, in denen man die Arbeitskraft der „Klassenfeinde“ nutzen wollte. Am 15. April 1919 wurde der Beschluss zur Schaffung von Zwangsarbeitslagern gefasst, und bereits im darauffolgenden Jahr entstand am Weißen Meer das erste Lager des zukünftigen Gulag.
1929 wurde die bisherige Unterteilung in Lager für politische und kriminelle Häftlinge aufgehoben, sie wurden in einem gemeinsamen System vereint. Im Zuge der Kollektivierung und Industrialisierung wuchs dieses Lagernetz : Allein in den ersten Monaten der Kollektivierung der Landwirtschaft wurden rund 60.000 „Kulaken“ inhaftiert.
Zusätzliche Lager wurden nach Möglichkeit dort errichtet, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden: in den Goldminen am Fluss Kolyma, am Bau des Belomorkanals zwischen dem Weißen und dem Baltischen Meer und am Bau der Baikal-Amur-Magistrale. An dieser Eisenbahnstrecke entstand 1932 das BAMlag, dessen Insassen 190 Kilometer Schienen verlegten, die die BAM mit der Transsibirischen Magistrale verbanden.
Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.
Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.
Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch.
Hier ist Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland.
Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
Ein paar Tage später kommt der russische Soldat mit Rufnamen 505 wieder zu Witali in den Folterkeller: „Wir haben wieder von den Dichtern und so angefangen“, erinnert sich Witali. „Und da geht plötzlich das Kriegsschiff Moskau unter. Das vermieste ihm die Stimmung. Er fing an: ‚Wer braucht das alles, wie hat das überhaupt angefangen …‘ Ich wusste es auch nicht.“
Bis zum 14. April bekam Witali nichts zu essen. Zu trinken gab es nur Wasser aus der Kanalisation. Über zwei Wochen war er nicht auf der Toilette, er konnte nicht. Auf dem Kellerboden standen auch so knöcheltief Kot und Urin. Witali sagt, die Militärs hätten die Klos kaputtgeschlagen. „Sie haben ins Loch geschissen, kein Papier benutzt. Es lief alles in den Keller.“
Irgendwann erzählte 505 Witali, da würde jeden Tag eine Frau Essen für ihn zum Stabsquartier bringen. Als er hörte, dass Witali nichts davon bekam, versprach er, sich darum zu kümmern.
Kapitel 6: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“
Wynohradne, Mai 2022
Irina Manshos kam wirklich jeden Tag zur ehemaligen Stadtverwaltung von Molotschansk. Sie stand um fünf Uhr morgens auf, molk und tränkte die Ziegen, kochte frisch – „eine Suppe, damit er was Flüssiges hat, oder Nudeln mit Fleisch oder Frikadellen mit Kartoffelbrei, legte ein Stück Schokolade und Zigaretten dazu“ – und fuhr zum Stabsquartier. Die Soldaten nahmen die Behälter und die Thermoskanne an und gaben sie ihr am nächsten Morgen leer zurück. „Ich dachte, das isst alles Witali.“
Über einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, der aus dem Keller freikam, richtete Witali ihr aus, dass er am Leben sei und Zigaretten brauche.
„Dabei hab ich ihm jeden Tag welche zum Essen dazugelegt … Vielleicht haben sie das weggekippt, vielleicht haben sie es selbst gegessen. Die waren hungrig. Ich habe gesehen, wie sie unsere wilden Rebhühner gefangen und selbst gerupft haben, gleich dort im Amtsgebäude.“
505 hielt Wort: Ab nun kamen Essen und Zigaretten im Keller an. Eines Abends entdeckte Irina beim Abwaschen der Thermoskanne unter dem Deckel auch einen Zettel. Witali hatte ihr auf einem Fetzen Zeitungspapier mit Putin auf der Titelseite eine Botschaft hinterlassen. Er schrieb, sie soll die Reisepässe vergraben und die Bankkarten verstecken. So begann ihre Korrespondenz. Im zweiten Briefchen bat er um eine Bibel. Irina besorgte beim Priester kleine Heftchen.
Tochter Sascha munterte Irina manchmal auf: „Es wird alles gut mit Papa“, und tauchte wieder in ihren Computerspielen ab. So habe sie abschalten können, erklärt Irina. Manchmal legte sie mit einer Freundin Tarotkarten. Sie sagten, ihrem Vater würde die Kraft der Diplomatie in die Hände spielen.
Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Steht vor mir, als würde er sich verabschieden.
Noch mal zwei Wochen später ließ Stabsleiter 505 Witali zum ersten Mal seine Frau anrufen. Dann kam er mit einer guten Nachricht: Am nächsten Tag würden sie sich sehen dürfen. „Aber erzähl nicht zu viel“, ermahnte er ihn. „Das wäre sowieso nicht gegangen“, erinnert sich Irina. Das fünfminütige Treffen fand im Beisein eines bewaffneten Wachmanns statt.
„Witali kam in denselben Sachen, die er vor einem Monat getragen hatte. Pullover, Hose, Armeeunterhose und grüne Socken mit Dreizack …“ Sie tauschten nur ein „Hallo, wie geht’s dir?“ und „Gut“ aus. Aber alles in Irinas Innerem schrie: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ Irina erinnert sich: „Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Stand vor mir, als würde er sich verabschieden. Anfassen durfte ich ihn nicht. Er fragte nach seiner Tochter.“
Weil Witali seltsam schief stand, entdeckte Irina die Einschusslöcher in der Hose. Bei nächster Gelegenheit brachte sie ihm Wunddesinfektionspulver. Witali schüttete das Pulver in die Einschusslöcher im Schritt, und es kamen verrottete Stofffetzen zum Vorschein.
Nach diesem Treffen legte Irina ihre ukrainische SIM-Karte ein, rief im Verteidigungsministerium in Kyjiw an und meldete, dass ihr Mann gefoltert wird. Es war Anfang Mai 2022. Witali saß immer noch im Keller.
„Lasst mich doch wenigstens zum Tag des Sieges raus. Wer bin ich denn schon?“, bat Witali Georgi. – „Du weißt zu viel, der FSB ist an dir dran, dein Bruder ist bei der Armee, die pfuschen uns in den Vormarsch. Du wirst sowieso nicht eingetauscht, und ausreisen darfst du auch nicht.“
Am 15. Mai ließen sie Witali schließlich doch für einen Tag nach Hause. Zum ersten Mal seit März konnte er duschen. Dann sagte der Stabsleiter, er solle Kartoffeln setzen, schließlich sei schon Mai.
Zwei Wochen später ließ ihn 505 aus dem Keller, unter der Bedingung, sich einmal am Tag im Stab zu melden und sich höchstens fünf Kilometer von seinem Haus zu entfernen. Deswegen fuhr Witali nicht ins Krankenhaus – das nächste war 12 Kilometer entfernt, dazwischen 14 Checkpoints. Der Entlassungsschein ist immer noch im Garten hinter ihrem Haus in Wynohradne vergraben, erzählt Witalis Frau.
Als Witali aus dem Stabsquartier kam, sah er den Kommandanten, der ihm in Knie und Schritt geschossen hatte: „Ich sagte zu ihm, ich schulde dir noch drei Kugeln. Da zuckte er zusammen. Ich werde ihm das noch heimzahlen“, sagt Witali.
„Haben Sie die Kartoffeln gesetzt?“
„Und geerntet.“
„Mit angeschossenen Beinen?“
„Ich hab einen Traktor.“
Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow
Kapitel 7: „Die Dorfälteste blieb auch unter den Russen die Dorfälteste“
Wynohradne, 2023 unter Besatzung
Stabsleiter 505 gab Witali vor seiner turnusmäßigen Abreise dessen Handy, SIM-Karte und Papiere zurück. Dazu legte er eine Wurst und eine Schachtel Fruchtpastillen. Witali briet ihm zum Abschied eine Ente: „Danke, Georgi, wenigstens ein Mensch hier.“ Das Essen schlug 505 allerdings aus.
„Ich sag zu ihm: Georgi, sei mal ehrlich, wie soll ich die Ukraine nicht lieben? Wir gehen zu meinem Haus. Ich zeig ihm meinen Hof, meine Puten. Sag zu ihnen: ‚Slawa Ukrajini!‘ Und die Vögel so: ‚Iu-iu-iu!‘“ Witali imitiert das Gekacker. „Da zischt Georgi, ich soll bloß leise sein. Aber ein Pfundskerl, echt! Wenn ich ihn finde, gibt’s was zu feiern. Er sagte, ich soll die Seite wechseln, für die arbeiten. Aber ich lehnte ab.“
„Haben Sie mit ihm über die Folter gesprochen?“
„Nein, nie. Wir haben über Majakowski, Twardowski, Borodino geredet. Und die globale Kastration von Russland. Er hat alles verstanden.“
„Über die globale Kastration?“
„Er hat gesagt, die Ukraine wär am Arsch, sie würden uns flächendeckend niederbomben. Wie Amerika Vietnam. Dann gäb’s die Ukraine schlichtweg nicht mehr. Und ich: Träum weiter! Wir werden auferstehen und euch alle umbringen.“
Unsere Jungs ließen grüßen, mit Beschuss. Die ganze Technik war im Arsch.
Im September 2023 hat Witali den russischen Pass und eine Arbeit als Elektriker in der Kolchose angenommen: „Ich musste ja irgendwie meine Familie ernähren. Also hab ich als Systemadministrator diesen ganzen russischen Dreck eingerichtet, S1, Kontur.Fokussy und wie sie nicht heißen. Die ganze Kolchose kam zu mir. Den Omas half ich mit den ukrainischen Banken, damit sie ihre Rente bekamen.“
Am 6. Mai 2023 war die Kolchose von der ukrainischen Armee beschossen worden: „Unsere Jungs ließen schön grüßen, mit Beschuss. Aber das Ding ist, solange die Russen da waren, war Ruhe. Kaum waren die abgezogen, schlug es bei uns in die Kolchose ein, die ganze Technik war im Arsch.“
Sofort kam ein Zugriffstrupp zu ihm nach Hause. Sie verdrehten Witali die Arme und zerrten ihn in den Gemüsegarten. „Du hast unsere Koordinaten ausgeliefert“, sagten sie und schlugen zu.
Irina leistete indes stillen Widerstand: weigerte sich zu arbeiten, den russischen Pass anzunehmen und ihre Tochter zur Schule zu schicken. Dem Referendum blieb die Familie fern. Abends stritten sie: „Wir müssen weg!“ – „Wie soll ich weg? Sie lassen mich nicht raus! Fahr alleine …“ Die Dorfälteste setzte sie unter Druck: „Warum geht ihr nicht wählen? Ihr müsst zur Wahl!“
„Die Dorfälteste Nina Wassiljewa blieb auch unter den Russen die Dorfälteste. Der Mann unserer Nachbarin ist abgehauen und dient jetzt in der ukrainischen Armee, sie hat den russischen Pass angenommen und lebt im besetzten Dorf. Die Feldscherin Sneshana Iwantschidse spielt jetzt in Propagandafilmchen der russischen Staatssender mit“, zählt Irina auf und zeigt uns einen Nachrichtenbeitrag.
Auch Witali gehört formell zu den Kollaborateuren, weil er als Elektriker beim Werk gearbeite hat: „Man hat natürlich gesehen, dass ihm das alles, gelinde gesagt, nicht gefällt“, erklärt aber sein Chef in der Kolchose und bekräftigt damit Witalis Aussage.
Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen.
Irina Manshos erinnert sich, wie russische Soldaten einmal 20 Eier von ihr haben wollten und zum Tausch 15 Dosen Kondensmilch, Konserven und fünf Kilo Zucker angeschleppt haben. Sie nahm es an. In den Dorfladen brachten sie Waffeln, Kekse und Bonbons, damit sie gratis verteilt wurden.
„Ich hab dieses System in den zwei Jahren, die ich dort gelebt habe, nicht kapiert. Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen. Dann machten sie so Zentren auf – ‚Unser Russland‘ – die Kinder durften kostenlos ins Ferienlager, auf die Krym, nach Moskau …“, erzählt Irina.
„Selbst der Patenonkel meiner Frau …“, fährt Witali über die Kollaborateure fort. „Als sie mich schlugen, sollte ich sagen, wer bei der Polizei war. ‚Verrat es uns, und wir lassen dich laufen.‘ Dieser Patenonkel war zum Beispiel Polizist, aber ich hab noch letztens auf seiner Hochzeit getanzt, sie haben gerade ein Kind bekommen. Ich denk, Scheiße, die killen den armen Kerl doch, und halt meine Klappe … Dann komm ich aus dem Keller, und er sitzt da und trinkt mit denen Tee. Immer noch Polizist, nur jetzt für die Russen.“
Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow
Unter der Besatzung stellte Witali eine Fernsehantenne so ein, dass er ukrainische Sender empfangen konnte. Da kam in den Nachrichten gerade die Meldung, dass der Staat knapp eine Milliarde Hrywnja [ca. 22,9 Millionen Euro – dek] für Militäruniformen ausgegeben habe.
„Verstehst du, mein Neffe ist mit 18 an die Front gegangen. Er hat mir Videos geschickt, überall Leichen, verdammte Scheiße, Mann. Und er sagt: Na, wenigstens muss ich nicht für den Bus bezahlen … Kacke, verfickte.“ Witali bricht in Tränen aus. „Sie bringen die Menschen tonnenweise ins Grab, tonnenweise … Ich hab dieser Armee 7,5 Jahre geopfert … Ich will nicht mehr …“
Obwohl über seinem Haus in Wynohradne auch nach der Rückkehr von der Front die ukrainische Flagge weht, hält Manshos von den ukrainischen Soldaten fast genauso wenig wie von den Russischen, die ihn beinahe umgebracht hätten.
„Waren es nicht die Russen, die das alles angefangen haben?“, fragen wir nach.
„Es waren die Chochly. 2013. Die verfickten Chochly aus Donezk und Dnipropetrowsk: Kolomoiski und Janukowytsch. Damit fing die ganze Scheiße an“, antwortet er.
„Welche Scheiße?“
„Der Krieg. Die Aufteilung der Macht. Verstehst du, die wollten in Kyjiw keine Nummernschilder aus Donezk und Dnipro sehen. Was sollen die mit der Südostukraine? Lieber weg damit und keine Renten mehr bezahlen. Weißt du, wie viel die sich sparen?“
Die Leute wechseln schnell die Lager.
Die Gebiete, die jetzt von Russland okkupiert sind, sollten Witalis kruder Theorie nach an die USA gehen, weil die das fruchtbare Land brauchen würden; auf die Menschen würden „die Chochly scheißen“. Seine Theorie sieht er darin bestätigt, dass es die Russen in vier Tagen bis nach Tokmak geschafft haben.
„Wissen Sie, was einen Chochol von einem Ukrainer unterscheidet? Ein Ukrainer lebt in der Ukraine, und der Chochol dort, wo es am besten ist. Aber momentan kennt sich keiner aus: Wo ist es denn am besten, vielleicht doch drüben? Die Leute wechseln schnell die Lager. Das sind diese Shduny. Bequem haben Sie’s ja: bekommen russische und ukrainische Rente. Natürlich schreien sie da: Slawa Rossii! Dann hauen sie mich noch an, ich solle ihnen russisches Fernsehen einstellen. Und ich: ‚Wenn du noch einmal ankommst, knall ich dich eigenhändig ab!‘“
„Wären Sie geblieben, wenn Ihre Frau nicht darauf bestanden hätte?“
„Nein. Ich wollte schon über die Minenfelder laufen. Aber die Besatzer haben gesagt: Du kannst nur nach vorne raus, über die Frontlinie. So lässt dich hier niemand durch. Oder du nimmst den Weg durch den Kachowka-Stausee.“
Ende 2023 beharrte Irina Manshos immer dringlicher auf der Abreise. Am 10. Dezember unternahmen sie den ersten Versuch: Ukrainische Freiwillige schickten ein Auto. Das ganze Dorf kam, um die Familie zu verabschieden, alle weinten, erzählt Witali. Er rasierte sich ordentlich, ließ sich die Haare schneiden, zog einen neuen Pullover an. Gleich beim ersten Checkpoint bei Nowoasowsk ließen die Posten seine Frau und Tochter zwar durch – aber er musste in den Keller.
Witali hatte die Facebook-App vom Handy gelöscht, aber an sein Profil hatte er nicht gedacht. Bei der Überprüfung der Papiere entdeckten die russischen Soldaten dort das unglückselige Foto mit dem abgebrannten Panzer.
„Hat man Sie dort geschlagen?“
„Ein bisschen. Ins Gesicht, in die Brust, dann legten sie mir wieder Handschellen an: Du bist ein Verräter, hast den Donbas bombardiert. Sie sagten, ich käme in Russland vor Gericht und sie würden mich nicht laufen lassen. Dann holten sie ein paar Tschetschenen und sagten denen, die könnten mit meiner Frau und meiner Tochter machen, was sie wollen, wenn ich nicht sofort hier verschwinde und in mein Dorf zurückgehe.“
Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, du Penner!
Also lief die Familie die 13 Kilometer über Eis und Schnee zurück. Um vier Uhr nachts kamen sie in Nowoasowsk zu einem Hostel, das noch geöffnet war, und checkten dort ein. Drei Tage lang schliefen sie sich aus. Dann fuhren sie mit einem Taxi durch die Ruinen von Mariupol nach Wynohradne zurück. Der Ortsvorsteher schickte ihnen Geld, damit sie den Fahrer bezahlen konnten.
Witali lacht: „Aber die Weiber im Dorf waren zufrieden: ‚Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, Witalik, du Penner! Hast wohl gedacht, du kannst dich aufspielen? Ohne dich haben wir nicht mal Internet!‘ Die haben sich gefreut.“
Einen Monat später beschlossen die Manshos, es noch mal zu versuchen, diesmal über die Krym. Um ausreisen zu können, ließen sich auch Witalis Frau und die Tochter einen russischen Pass ausstellen. Am 8. Februar packte Witali, mittlerweile mit Bart und langen Haaren, seine Sachen, erzählte noch mal seine Geschichte – „wir müssen nach Simferopol ins Krankenhaus“ – und setzte sich ins Freiwilligenauto. Ein Rucksack, eine Tasche und ein Notebook. Diesmal fuhren sie stillschweigend los, niemand verabschiedete sie, die Nachbarn dachten, die Manshos wären zu Hause. Nach zehn Stunden Warten an der Grenze wurde Witali zum Verhör abgeholt.
Sie fuhren nach Simferopol, von dort nach Belarus und weiter nach Polen.
„Wieder den Bock geschossen, aber sowas von“, sagt der ehemalige Soldat. „Der Posten fragt mich: ‚Witali Wladimirowitsch?‘ – ‚Jawohl!‘ – ‚Haben Sie gedient?“ –‚Jawohl!‘ Ich denke, jetzt bin ich am Arsch. Und sage: ‚Militärkreis Turkestan, Einheit 701518, Obergefreiter.‘ Aber der Grenzer sagt nur: ‚Gute Reise‘, und gibt mir meinen Pass zurück.“
Sie fuhren nach Simferopol, von dort mit dem Zug nach Belarus und weiter nach Polen. Die Freiwilligen hatten ihnen zuvor geraten, dass sie beim Grenzübergang in Brest kein einziges russisches Dokument dabeihaben dürften. Also zerrissen sie auf der Zugtoilette ihre russischen Pässe, Steuer- und Rentennachweise und spülten alles im Klo runter. Die ukrainischen Pässe hatte Irina am Tag zuvor im Garten ausgegraben.
So kam die Familie nach Europa: zum ersten Mal im Leben im Ausland, ohne jegliche Sprachkenntnisse.
Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow
Epilog: „Von einem Gefängnis ins andere“
Ludwigshafen, Juni 2024
Von Polen aus machte sich die Familie auf den Weg nach Berlin: „Am Bahnhof lauter Araber, Türken, Kanaken. Ich denk, Scheiße, wo bin ich denn hier gelandet …“
Witali lässt sich noch eine Weile xenophob über Migranten aus. Seit Februar hat die Familie Manshos drei Flüchtlingsunterkünfte gewechselt, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Alles mit Hilfe von Freiwilligen.
Wir treffen die Manshos im vierten Lager in Ludwigshafen. Witali ist abgemagert, die Spuren der Folter sind immer noch sichtbar. Die dunkelhaarige Irina hat einen schneeweißen Ansatz: In den zwei Jahren Okkupation ist sie ergraut.
Die dreiköpfige Familie ist nun in einem verlassenen Supermarkt untergebracht. Die Menschen leben hier in Metallkäfigen, voneinander mit schwarzer Plastikfolie abgeschirmt. Man hört jedes Geräusch. In Witalis Abteil stehen zwei Stockbetten, auf dem freien Bett liegt ein Kleiderhaufen: „Wir sind mit einer Reisetasche gekommen, das hier haben wir aus dem Müll gefischt.“
Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow
Witali und die anderen 14 Ukrainer, die hier wohnen, sind von den Geflüchteten aus arabischen Ländern, die hier in der Mehrheit sind, und deren Gebeten zunehmend genervt: „Ich kann nachts nicht schlafen. Ich kann gar nicht so viel saufen, dass ich umkippe und das nicht mehr höre.“ Er beklagt sich auch über verdreckte Toiletten: „Sie benutzen kein Papier, genau wie die im Keller.“
„Wieder lebe ich jetzt unter der Aufsicht solcher Leute, Allahu Akbar. Ich bin von einem Gefängnis ins andere gekommen, erlebe den zweiten Ramadan im Keller, nur jetzt mit Frau und Kind“, sagt Witali.
Eine richtige Wohnung müssten sie selbst suchen. Das Jobcenter übernimmt die Kosten (ca. 50 m² für drei Personen, maximal 560 Euro im Monat), aber ohne Sprachkenntnisse gestaltet sich die Suche schwer. Deutschkurse besuchen sie trotzdem nicht: „Du schläfst zwei Stunden pro Nacht, und dann sollst du noch Deutsch lernen“, beklagt eine Ukrainerin.
Wir gehen raus rauchen, und Witali erzählt zu den Klängen arabischer Musik, die aus einem Handy schallt: „Was das Schlimmste im Keller war? Wenn die gesagt haben, wir geben deine Frau und Tochter den Tschetschenen, deine Frau bekommt eine Granate und wird Terroristin, dein Kind töten wir. Verfluchte Scheiße. Dann sitzt du da, und sie kommen zwei, drei Tage lang nicht wieder. Weißt du, was da in deinem Kopf für ein Kino abgeht?“
Als wir zum zweiten Mal rauchen gehen, kommen wir an zwei Ukrainern vorbei. Sie fragen Witali, wie die Wohnungssuche läuft: „Keine Chance. Ich geh zurück in die Ukraine, meine Frau und mein Kind sollen hierbleiben. Was soll ich sonst tun? Ich hab kein Geld, nichts, wovon ich leben könnte“, sagt Witali plötzlich. „Wenn ich keine Wohnung bekomme, wartet die 53. Brigade [der ukrainischen Streitkräfte] schon auf mich, die stehen in der Nähe von Awdijiwka. Ist das hier etwa besser?“
Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.
Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.
Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch.
Hier ist Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller.
Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
Als sie Witali Manshos die Tüte vom Kopf gezogen hatten, schossen sie ihm ins Knie und zwischen die Beine; dann schlugen sie die Kellertür hinter sich zu. Doch Witali Manshos blieb bei Bewusstsein.
„Ich schau an mir runter, das eine Hosenbein voller Blut, das andere auch. Ich bringe meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorn. Taste mich an der Wand lang. Ein Stromschlag. Oh, bljad’, Kabel! Ich reiße die Kabel raus, drehe die Aluminiumenden ab, die aus der Wand ragen. Ich binde das Bein oben ab, es blutet weiter. Ich binde weiter unten ab. Die Zehen werden langsam taub, aber es hört halbwegs auf zu bluten.“ Anstatt sich mit seinem abgebundenen Bein hinzulegen, humpelte Witali Manshos nun die Wand entlang; versuchte sich zu orientieren: Wie viele Sonnenaufgänge, wie viele Sonnenuntergänge. Es vergingen drei Tage.
Der 29. März 2022 war ein klarer Morgen in Molotschansk: Durch einen Spalt unter der Decke sah Witali gegen sechs Uhr das Morgenrot. Jemand schaute zur Tür herein:
„Noch nicht verreckt, du Hund?“
Kapitel 1: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“
Wynohradne, 23. Februar 2022
Der 53-jährige Obergefreite Witali Manshos wurde im Frühjahr 2021 mit dem Status eines Vaterlandsverteidigers aus der ukrainischen Armee entlassen. Er musste eine Verletzung an der Wirbelsäule operieren lassen, bevor er ins Dorf Wynohradne in der Oblast Saporishshja fuhr, zu seiner Familie.
„Ich sagte mir, Schluss, ich pfeif auf diese Armee, keine zehn Pferde bringen mich da nochmal hin. Also fuhr ich nach Hause. Und dann, was war das Erste? Ich hab mich zugelötet und das Auto meiner Frau zu Schrott gefahren. Mehr ist mir nicht geblieben. Ich hatte nichts, keine Kopeke“, erzählt Manshos.
Etwas später kam dann Geld. Für die 32.000 Hrywnja, die ihm für nicht genommenen Urlaub gezahlt wurden, kaufte er seiner Tochter weiße Sneakers und seiner Frau Stiefel. Für den Rest schaffte er vier Ziegen an. Die brachte er zu den Puten, Enten, Gänsen und Hühnern, die es bereits auf dem Hof gab. Bis zum Winter kaufte er mit Geld von seinem Bruder und seiner Invaliden-Entschädigung noch ein Nachbarhaus.
„Es hat acht Zimmer, vier Öfen auf 52 Quadratmeter. Ich hab das alles eingerissen und drei Zimmer daraus gemacht, einen Ofen hab ich als Kamin gelassen“, erinnert sich Witalij.
„Unsere Tochter wollte unbedingt ein eigenes Zimmer, wir wollten ihr die Zimmerdecke mit Sternen schmücken“, seufzt Witalis Frau Irina.
Am 23. Februar 2022 fordert die Tochter von Witali: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“
Also fuhren Witali und Irina zum Markt nach Tokmak. Eine Ratte fanden sie nicht, kauften aber ein Chinchilla und ein Paar Liebesvögel mit roten Köpfen gleich dazu.
Abends mussten sie nochmal los, um Gitter für den Käfig zu besorgen.
„Ich schnitt die Gitter zurecht und bastelte den Käfig. Und am Morgen ging es schon los“, erzählt Witali. „Raketen flogen, ich brachte die Familie in den Keller, und betrank mich. Ich habe 500 Liter Wein da unten.“
Die Männer aus Wynohradne fuhren zusammen zum Rekrutierungsamt in Tokmak – um Waffen zu holen.
„Und ich auch, besoffen wie ich war, rein ins Auto und nichts wie hin“, sagt Witali. „Auf in den Kampf, verdammt! Also, wir kommen an, der Kommandeur kommt raus – Oberst Witer, Veteran der Antiterroroperation (ATO), verdammt … Wir fordern Waffen: ‚Wir wollen kämpfen‘, und der so: ‚Habt ihr ‘ne Einberufung? Nein? Dann zieht Leine!‘ Der hat uns einfach weggeschickt!“
Laut dem Datenportal Myrotworets und ukrainischen Medienberichten lief jener Oberst Wadim Witer eine Woche später zu den russischen Truppen über und steckte Routen für deren Kolonnen ab.
Wieder zu Hause rief Witali seinen älteren Bruder Eduard an, der als Offizier Soldaten der ukrainischen Streitkräfte im Donbas kommandierte. Der sagte: „Witacha, du bist kriegsversehrt, das ist nichts für dich, bleib zu Hause.“
Heute fühle sich sein Bruder schuldig, meint Witali: „Na ja, weil er mir sagte, ich soll hierbleiben. Die Jungs hatten mich ja damals angerufen: ‚Witacha, es gibt ‘nen Korridor. Zehn Minuten über Orichiw, mach dich bereit …‘ Aber wissen Sie, das war alles so irreal, was sollte das, dieser Überfall auf uns?“
Kapitel 2: „Die Leute hatten den Staat satt“
Enerhodar, 2014
Witali Manshos wurde in Saporishshja geboren. Den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte er als Wehrpflichtiger aber in Ferghana (er sagt, dort seien den Soldaten grüne Pionierspaten ausgegeben worden, mit denen sie „aufständische Usbeken erschlagen“ sollten). Witali lebte viele Jahre in Russland. Er arbeitete am Bau eines Wasserkraftwerks an der Angara, löschte Ölbrände in Urengoi, Tjumen und Salechard, fuhr Holztransporte in der Region Krasnojarsk. An die 1600-Kilometer-Trasse durch die Taiga erinnert er sich mit einem Seufzen:
„Da gibt’s Orte … Ich liebe diese Strecke bis heute. Nachts wachte ich mit der Frage auf: ‚Warum kann ich nicht dort sein?!‘ Jetzt aber nicht mehr, ich wache nicht mehr auf. Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen.“
1996 machte Manshos mit einem Freund in Moskau eine Firma auf. Sie bauten Stahltüren aus Joschkar-Ola ein: „Nach den Terroranschlägen, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, gab’s ‘ne große Nachfrage nach gepanzerten Eisentüren.“
2002 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, nach Enerhodar im Gebiet Saporishshja.
„Wenn ich frei hatte, fuhr ich zum Angeln ans Asowsche Meer. Wir haben Grundeln gefangen, die wir in der Stadt verkauften. Aber keiner kaufte sie, die Grundeln wurden schlecht. Ich schenkte sie meiner Freundin, die ich damals gerade erst kennengelernt hatte. Sie war 14 Jahre jünger als ich, und ich beschloss, ihr Mann zu werden“, erzählt Witali.
Natürlich war ich gegen die Annexion der Krym. Was sonst? Das ist mein Territorium.
Dann ließen sich Witali und Irina in Enerhodar nieder.
„Was ich über unseren Putsch denke? 1991 kam der Sampolit zu uns, zerriss das Gorbatschow-Porträt und sagte, der sei ein Vaterlandsverräter und ein Mistvieh. Fünf Tage später hängte er das Porträt wieder auf. Das war der ganze Augustputsch.“
Zum Euromaidan meint Witali: „2014 hatten die Menschen es einfach satt, sie wollten nicht mehr in so einem Staat leben.“ Er war damals Systemadministrator beim Sender Orion Media in Enerhodar. Witali und seine Kollegen sammelten Geld für Zelte und Zigaretten für die Demonstranten; er war aber nicht auf dem Maidan: „Ich war mit allem zufrieden – ich hatte einen stabilen Job und ein normales Leben.“
Die Annexion der Krym tat ihm weh: „Natürlich war ich dagegen. Was sonst? Das ist mein Territorium. Als sie die Krym abzwackten und all das andere, haben wir von jedem Lohn fünf Hrywnja per SMS an die Armee gespendet. “
2015 begriff Witali, dass das „ein heftiger Krieg“ wird. Er brachte seine Frau und das Kind nach Wynohradne (rund 100 Kilometer von Enerhodar). Dort kaufte er ein Haus, anderthalb Hektar Land und legte zusammen mit seinem Bruder einen Garten an.
„Mein Bruder ist zwar Soldat, hat aber sehr viel für Gartenarbeit übrig. Er blüht einfach auf dabei. Er hat 300 Apfelbäume gepflanzt, die Äpfel wogen 450 Gramm das Stück. Weinstöcke hat er gepflanzt, Mandelbäume. Und ich wollte leben. Ich wollte einfach leben“, klagt Witali. „Jetzt ist das alles Russische Föderation, verdammt.“
Kapitel 3: „Fuck you, Moskali!“
Wynohradne, 26. März 2022
In den ersten Tagen des Einmarschs „benahmen sich die Männer wie kleine Kinder, stellten sich vor die Panzer, fuhren in den Wald und gaben sich Verfolgungsjagden“, erinnert sich Irina Manshos. Sie erzählt, wie Witali sich einen 20-Liter-Kanister griff und auf die Straße lief: Er wollte eine Kolonne russischer Panzer anzünden, die an seinem Haus vorbei Richtung Bohdaniwka unterwegs waren. Irina erzählt, wie sie ihn ins Haus zurückzerrte und schrie: „Die überfahren dich einfach, die kannst du nicht allein aufhalten.“
Auch nach dem Einmarsch blieb Witali im Dorf. Am hinteren Scheibenwischer seines Hyundai Santa Fe hatte er eine große ukrainische Flagge befestigt: „Sie flatterte hinten am Auto, und ich saß in Armeekleidung am Steuer.“ Andere Kleidung trug er seiner Frau zufolge gar nicht mehr; er hatte von seiner Dienstzeit noch Hosen, Unterhosen und Socken mit ukrainischen Armeesymbolen. „Leute sagten mir: ‚Du bist vollkommen übergeschnappt!‘, aber ich fuhr weiter, mir doch scheißegal, ich war besoffen. Und dann kam ich mit einigen ATO-Jungs nach Molotschansk und kapiere auf einmal, dass das schon Russland ist. Bei der Brücke sitzt er schon, der Wichser.“
„Ein Russe?“, fragen wir nach.
„Ja, ein Maschinengewehrschütze.“
Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen.
„Der wievielte Tag war das?“
„Keine Ahnung, ich war schon dunkelblau. Vielleicht schon der dritte oder sogar vierte. Ich war schon komplett hinüber, verstehste? Nichts mehr gecheckt, gar nichts. Das Rekrutierungsamt hat uns verarscht.
„Nicht die beste Zeit zum Trinken.“
„Was blieb denn sonst?“
„Alles Mögliche: sich retten, die Familie in Sicherheit bringen …“
„Mit einem Liter Wein intus bis du nicht mehr du selbst. Und es war mir scheißegal. Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. Bloß gut, dass die Jungs sie mir aus der Hand geschlagen haben. Der Schütze beachtete uns nicht mal; aber hinter ihm stand eine ganze Einheit. Die Jungs sagten: ‚Drück aufs Gas, Witacha‘. “
Als sie in sicherer Entfernung waren, nahm Manshos die Flagge vom Auto ab. Aber auf dem Weg zündete er noch mit einem Molotow-Cocktail einen liegengebliebenen Schützenpanzer an: „Den haben sie voll ausgestattet zurückgelassen, weil irgendwas kaputt war. Ich hab das alles aufgenommen und das Video auf Facebook gestellt. Hab ihnen beide Mittelfinger gezeigt, die sie mir später abschneiden wollten: ‚Fuck you, Moskali!‘“
„Allerdings haben mir die Tschetschenen im Keller dann auch gesagt, dass sie die Moskali selbst hassen, weil das alles Schwuchteln sind. Und der Panzer, den ich abgefackelt habe, war längst abgeschrieben.“
Zunächst seien die Russen nicht nach Wynohradne gekommen, sagt Witali: „Das interessierte die ‘nen Scheißdreck“, sie fuhren nur immer wieder die Strecke Moskau–Simferopol.
Ich hab alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben: die Standorte und ihre beschissenen Waffendepots.
„Sie zogen einfach kolonnenweise durch, mit 200, 300 … Ich hab das alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben, fuhr umher, versuchte ihre Stellungen zu finden. Wo die Geräte für die elektronische Kampfführung stehen. Hab die Standorte abgefilmt und ihre beschissenen Waffendepots“, sagt er.
Nach rund einem Monat, am 26. März, saß Witali, der gewöhnlich früh aufstand, auf einer Bank vorm Haus und rauchte. Plötzlich sah er, wie die Zu- und Ausfahrt aus dem Dorf mit Schützenpanzern blockiert wurde und Soldaten von Haus zu Haus gingen.
Witali rief seinen Bruder an: „Die Russen gehen durchs Dorf … Soll ich abhauen? – „Nein, bleib zu Hause, du bist Invalide, dein Krieg ist zu Ende.“
„Ein gepanzerter Wagen schlich hinter den Soldaten her, zu jedem durchsuchten Haus“, erinnert sich Witali.
Er rief seinen Bruder nochmal an: „Sie checken schon die Häuser, brechen die Schlösser und Türen auf …“ – „Dann bist du am Arsch.“
„An dem Tag hat mich die Scheiße echt voll getroffen“, betont Witali.
Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow
Kapitel 4: Borja und das Achmat-Dreieck
Keller in Molotschansk, 26. März 2022
Am 26. März wurde Irina Manshos um sechs Uhr früh vom Dröhnen der Awtosak geweckt. Sie versteckte Witalis häusliche Armeeklamotten und seine Auszeichnung von Poroschenko, aber die Tasche mit den Armeedokumenten und der Pensionsbescheinigung übersah sie. Als die Soldaten in den Hof kamen, hörte Irina vor Schreck nicht, was sie sagten. Sie seien etwa zu fünft gewesen, erinnert sie sich, „bärtige Kaukasier, mit Akzent“:
Witali musste sich ausziehen, die Männer durchsuchten die Schränke. Irina hat noch heute vor Augen, wie sie die saubere Bettwäsche mit dem Pistolenlauf anhoben und auf den Boden warfen. Sascha, die Tochter, lag im Zimmer auf dem Sofa. In der Schublade darunter waren ein Gummiknüppel von der Polizei und ein Luftdruckgewehr. Irina sagt, das hätten sie mal von einem Bekannten bekommen, um Wildenten aus dem Gemüsegarten zu verscheuchen. Sascha weigerte sich aufzustehen.
Plötzlich entdeckte Irina, gleichzeitig mit den Soldaten, wie die khakifarbene Tasche aus der Kommode herausragte. „Da waren alle Bescheinigungen: Teilnahme an Kriegshandlungen, Rente …“ Das hat gereicht: „Du kommst mit.“ Die Tochter filmte die Festnahme mit dem Handy. Die Soldaten schrien sie an, zielten auf sie. Während Irina ihre Tochter beruhigte, wurde Witali abgeführt.
„Wohin?“, schrie Irina und rannte ihnen nach.
„Wir lassen ihn wieder gehen, keine Sorge, wir müssen was klären und lassen ihn dann frei.“
Wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt.
Mit einem Sack über dem Kopf wurde der ehemalige Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte in den Gefangenentransporter gesteckt. Witali erinnert sich, dass er dort drinnen kaum den Boden berührte: Er wurde so sehr verprügelt, dass er von Wand zu Wand flog, von einem Soldaten zum anderen. Sie brachten ihn zu einem Bach, gaben ihm eine Schaufel und sagten, er soll sich sein Grab schaufeln.
„Sie nannten mich Abschaum und Bastard. Während sie mich schlugen, sagten sie, dass sie salo [ukrainischer Speck – dek.] aus mir machen. Salo aus einem Chochol.“
„Und Sie haben gegraben?“
„Nee, ich hab gesagt: Wozu graben? Ist doch ein Fluss da, ich füttere lieber die Krebse. Verstehst du, wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt. Außerdem hatten die mich so verdroschen … Ich war blutüberströmt, da macht noch mehr Schmerz keinen Unterschied. Sie schlugen mir die Zähne aus … Ich konnte nichts machen.“
„Erinnern Sie sich an Namen?“
„Sie sagten, sie seien von der OMON in Dagestan. Ich war allein, ohne Zeugen. Wer den Befehl gab, mich zu schnappen und fertig zu machen, weiß ich nicht.“
Witali wurde nicht umgebracht. Stattdessen brachten sie ihn ins Gebäude der Stadtverwaltung von Molotschansk. Zogen ihm den Sack vom Kopf, aber die Handschellen blieben dran.
„Ich steh im Korridor, alles fließt aus mir raus: Rotz, Blut, Sabber, Pisse. Wieder musste ich mich ausziehen und durchsuchen lassen.“
Er wurde in den Keller gebracht. Sein Handy rutschte ihm aus der Unterhose. Darin fanden sie ein Foto seines Bruders mit Scharfschützengewehr in der Hand.
„Das volle Programm, ich hab versucht, mich zu schützen, mal den Kopf, mal die Beine, die Arme, wo ich eben gerade Halt fand.“
„Hatten Sie denn keinen Pin-Code am Handy?“
„Hatte ich nicht, wozu auch. Die haben mein ganzes Geld vom Konto abgebucht. Hätte nichts genützt, wenn’s gesperrt gewesen wäre.“
‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Borja war eine Pistole.
„ZSU-Socken, ungesichertes Handy, Sie waren eindeutig nicht auf eine Verhaftung vorbereitet.“
„Auf was bitte? Ich hatte keine Angst, hab geglaubt, unsere Leute lassen das nicht zu. Uns kann man nicht aufhalten, uns kann man nicht verraten. Ich war doch in Tschonhar, in Armjansk, dort war alles vermint, al-les vol-ler Mi-nen. Da brauchst du nur eine Selbstfahrlafette hinzustellen, und keiner kommt mehr durch, durch diese Hölle. Alle zehn Minuten – Kawumm! Aber sie haben uns einfach hängenlassen.“
„Sie haben doch selbst gesagt, dass es auch viele prorussische Leute gab.“
„Na ja, ich konnte das trotzdem nicht so recht glauben. Ich war schon zu Hause, raus aus der Armee. Ich hab diesen Wichsern auch gesagt: Ich kämpfe nicht gegen euch. Aber dann haben sie auf meinem Handy den brennenden Schützenpanzer auf Facebook gefunden. Und was ich auf WhatsApp rumgeschickt habe: ‚Hängt euch auf, ihr Russenwichser‘.“
„Sie waren wieder zu fünft. Wieder Sack übern Kopf, und dann volles Rohr: Prügel, Prügel, Prügel.“ Dann kam der Kommandeur dieser OMON aus Machatschkala und sagte: ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Und er holte Borja.“
Borja war eine Pistole. Der Kommandeur schlug Witali damit ins Gesicht, sodass er hinfiel. Dann begann er zu schießen: „Er sagte, das heißt Achmat-Dreieck: beide Knie und Pimmel. Ich hatte die Hände am Rücken, konnte nichts machen.“
„Er schoss mir nacheinander in die Knie, zielte mir zwischen die Beine. Aber ich wich aus. Er traf mich am Oberschenkel. Dann wummerte mir ein Rucksack an den Schädel. Einer stach mir mit einem Messer in die Arme.“
Witali streicht sich über die Arme. Er hat Dutzende kleine Narben, von den Handflächen bis zu den Ellenbogen. Am Oberschenkel haben die Kugeln Spuren hinterlassen.
Kapitel 5: „Da bin ich mal einem Guten begegnet …“
Keller in Molotschansk, 10. April 2022
Im März 2022 zog vor Witalis innerem Auge seine gesamte Dienstzeit vorüber. Was ihn rettete, war, dass die Pistole Borja keine tödlichen Geschosse hatte und es im Keller kalt war. Und, dass er selbst halb nackt war (Den Verletzungen nach zu urteilen war es eine Pistole vom Typ Osa, die Gummigeschosse hatten einen Metallkern – Novaya).
„Anscheinend hat mein Körper jede Menge Adrenalin ausgestoßen. Ich kam zu mir, guckte: Meine Schuhe sind voller Blut. Ich brachte meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorne.“
Drei Tage lang blieb er auf den Beinen, lief im Kellerraum umher. Am Morgen kam der Wächter und wunderte sich, dass Witali noch lebt.
„Ich wundere mich selbst, dass ich nicht verreckt bin … Dann wieder Prügel. Und Folter mit Strom. Mit Tapik (Feldtelefon der Armee, das auch zur Folter mit Stromstößen eingesetzt wird – dek), das ist echt scheiße, da musst du zeigen, dass es dich zerreißt, musst dich winden und schreien. Dann drehen sie die Spannung nicht hoch und du überlebst.“
Die einen droschen los, während sich die anderen unterhielten, dann droschen die anderen.
„Sie fragten, wen ich in der Stadt vom Militär kenne … Ich sagte, ich bin nicht von hier, ich war in Enerhodar beim Militär. In Molotschansk kenn ich keinen, was wollt ihr von mir? Dann fragten sie nach Geschäftsleuten. Einer der Russen sagte: ‚Zu mir haben sie schon Bauern in den Keller gebracht. Einer wurde einen ganzen Tag verprügelt. Seine Frau brachte 2000 Bucks, und er kam frei. Zwei Tage später wurde er wieder gebracht, wieder verprügelt. Seine Frau brachte nochmal 2000, und er wurde freigelassen.“
Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …
Witali hatte da schon gelernt, woran er den Morgen erkannte, weil dann nämlich die Leute „zur Bearbeitung gebracht werden“: „Wenn sie zurückkamen, konnte ich die einzelnen Leute an den Schreien erkennen. Nach dem Mittag fing das an.“
Am 10. April 2022 waren in Molotschansk Explosionen zu hören. Witali erinnert sich, wie alle, die ihn vorher geschlagen hatten, in den Keller gelaufen kamen und sich dort bei ihm versteckten.
Sie fingen an: „Witacha, du kennst doch bestimmt diesen Punja aus deinem Dorf?“ – „Kenn ich nicht, wer ist das? (Ich kannte ihn natürlich, aber warum sollte ich …)“ – „Der soll vier Autos haben, Geld ohne Ende, 150 Stück Hornvieh und 200 Schweine. Wir teilen.“
„Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …“, schnaubt Witali. „OMON-Leute gegen Infanteristen … Sie schrien: Wir haben den zuerst geschnappt. Die anderen: Nein, wir waren die Ersten … Und Punja saß nebenan und brüllte, dass alle ATO-Veteranen Junkies und Mörder sind und er sie hasst … Dann kam der Bürgermeister, der schon vor 2022 Bürgermeister von Molotschansk gewesen war, und nahm Punja mit: Hat ihn gerettet.“
Unter denen, die sich vor dem Beschuss im Keller versteckten, war auch ein Soldat Namens Georgi, Rufname „505“.
„Da bin ich mal einem Guten begegnet. Während die anderen über Punjas Besitz stritten, saßen wir nebeneinander und redeten“, erzählt Witali.
Georgi fragte: „Was bist du für einer?“ – „ATO-ler.“ – „Dann bist du am Arsch“, schlussfolgerte 505, brach das Gespräch aber nicht ab.
Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.
Sie kamen drauf, dass Witalis Bruder, der für die ukrainischen Streitkräfte kämpfte, in der gleichen Saratower Militärschule ausgebildet worden war wie Georgi. Sie redeten über die Armee in den 1990ern. Georgi reagierte schockiert darauf, dass man Witali in die Beine geschossen und ihn mit einem Messer malträtiert hatte.
„Er brachte mir einen Verbandskasten russischer Produktion. Ich nahm Elastikbinden und wickelte sie mir um die Beine.“
„Danke, Major.“ – „Woher kennst du dich mit Rängen aus?“ 505 hatte keine Abzeichen. – „Ich spür das.“
Dann erzählte Georgi, dass er Stabsleiter ist, und Witali rezitierte das Gedicht „Wassili Tjorkin“ von Alexander Twardowski.
Als eine halbe Stunde später alle weg waren, musste Witali hoch in das Zimmer von 505 im ersten Stock: „Der Stabsleiter hat gesagt, wir müssen ein Video aufnehmen.“
„‚Ich, Manshos Witali Wladimirowitsch, verpflichte mich, zum Wohle meiner Heimat mit der russischen Armee zu kooperieren.‘ Das habe ich aufs Handy aufgesprochen. Na und? Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.“