дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die ostslawischen Sprachen

    Die ostslawischen Sprachen

    Das historische Verhältnis der drei ostslawischen Sprachen Belarusisch, Ukrainisch und Russisch ist offensichtlich nicht nur für den erlesenen Kreis slawistischer Mediävist*innen interessant. In den Fokus der breiten Bevölkerung ist es gerückt, weil Wladimir Putin seinen Feldzug gegen die Ukraine mit vermeintlichen historischen Fakten begründet, auch sprachgeschichtlicher Natur. So schreibt Putin in dem Aufsatz Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer, dass die mittelalterlichen slawischen Stämme „von Ladoga, Nowgorod, Pskow bis Kiew und Tschernigow“ durch „eine Sprache vereint“ gewesen seien. Wie beiläufig lässt er fallen, dass „wir diese Sprache heute altrussisch nennen“. Ein genuin philologisches Interesse ist dem Autor nicht zu unterstellen. Vielmehr verhandelt er über die Eigenständigkeit von Sprachen die Eigenständigkeit von Nationen und Ländern, um daraus handfeste eigene, politische Ansprüche abzuleiten. Denn wenn sich die belarusische und die ukrainische Sprache irgendwann einmal vom Russischen abgespalten haben – so ein nicht nur von Putin bedienter, weit verbreiteter Irrglaube –, sind sie dann nicht letztlich nur Unterarten der russischen Sprache? Und wenn dem so wäre, müssten dann nicht Belarus*innen und Ukrainer*innen letztlich eigentlich Russ*innen sein? 

    Putin spricht in jenem Aufsatz ein Gebiet an, das weite Teile der heutigen Ukraine, der Republik Belarus und des europäischen Russlands umfasst.1 Im Mittelalter bestand an dieser Stelle das Großreich der Kyjiwer Rus. Die Bevölkerung dieses Reiches sprach neben finnischen und baltischen vor allem ostslawische Mundarten – einer der drei Zweige des Slawischen. Die Bezeichnung Rus stammt – so die gängigste Theorie – vom ostseefinnischen Wort ruotsi, das wohl seinerseits auf ein nordgermanisches Wort für „Ruderer“ zurückgeht. Hiermit waren zunächst nicht Ostslawen, sondern auch als Waräger bekannte Wikingergemeinschaften gemeint, die über Flüsse wie Newa, Wolchow, Düna und Dnipro aus der Ostsee durch das ostslawische Gebiet ins Schwarze Meer und nach Konstantinopel reisten. Zur Sicherung ihrer Routen errichteten sie Stützpunkte, aus denen sich lokale Machtzentren herausbildeten. Im späten 9. Jahrhundert gelang es, die größten dieser Machtzentren – Nowgorod im Norden und Kiew/Kyjiw im Süden – zu vereinen. Das neue Großreich übernahm die Bezeichnung Rus. Bald passten sich die skandinavischen Waräger sprachlich an die ostslawische Bevölkerungsmehrheit an. Mit der Zeit wurde Rus zur Bezeichnung der Ostslawen schlechthin. 

    Rus kommt nicht von Russisch

    Putin ist nicht der erste, der dieses mittelalterliche Reich als ersten „(alt-)russischen Staat“ bezeichnet und dessen Sprache als „altrussisch“. Diese Bezeichnungen sind zumindest irreführend: Sie suggerieren, dass die Menschen damals Russen gewesen wären und sich einer Form des Russischen bedient hätten, und eben nicht des Belarusischen oder des Ukrainischen. Somit scheint das Russische, erstens, seit dem tiefsten Mittelalter dagewesen zu sein, und zwar, zweitens, als einzige ostslawische Sprache, und, drittens, seine Identität bis heute bewahrt zu haben. Dem Belarusischen und dem Ukrainischen bliebe dann nur die Rolle des Spalters. Ursprünglich meinte „russisch“ aber nichts anderes, als ein Teil des Reiches der Rus zu sein beziehungsweise gewesen zu sein.2 Anders als das Ukrainische und das Belarusische („Weißrussische“) hatte das Russische letztendlich vor allem eines: das historische „Glück“, die Bezeichnung Rus ohne irgendeinen einschränkenden Wortteil zu erben. Dieses „Glück“ ist letztlich in der Vormachtstellung des Russischen Zarenreiches ab dem 17. Jahrhundert begründet.

    Über die Sprachen in der Kyjiwer Rus

    Man könnte dies nun alles ignorieren – schließlich haben das Alter von Sprachen und mittelalterliche Sprachverhältnisse, ja Sprachverhältnisse überhaupt, nichts über heutige nationale und staatliche Eigenständigkeiten auszusagen. Wirkmächtig sind solche Vorstellungen dennoch, so dass man doch nicht umhin kommt, über Sprache und Sprachen der Ostslawen, deren Alter und Verhältnis zueinander zu sprechen. Dabei ist es wesentlich, zwischen zwei Erscheinungsformen von Sprache zu unterscheiden: einerseits Standardsprachen im modernen Sinne beziehungsweise für frühere Epochen überregionale, geschriebene Formen, die von wenigen Kundigen für kulturell hochstehende Bereiche verwendet wurden; andererseits die Mundarten, die die breite Bevölkerung in ihrem Alltag verwendete.

    Geschrieben wurden ostslawische Mundarten relativ selten, wenn, dann zum Beispiel auf Birkenrinde, hier ein Exponat aus dem 13./14. Jahrhundert / Foto © Lapot/Wikimedia unter CC0 1.0 Universal
    Geschrieben wurden ostslawische Mundarten relativ selten, wenn, dann zum Beispiel auf Birkenrinde, hier ein Exponat aus dem 13./14. Jahrhundert / Foto © Lapot/Wikimedia unter CC0 1.0 Universal

    Im Alltag sprachen die Bewohner der Kyjiwer Rus ihre ostslawischen Mundarten (oder ihre baltischen und finnischen Mundarten). In dieser Zeit können keine klar voneinander getrennten Vorläufer der drei ostslawischen Sprachen identifiziert werden. Zwar gab es deutliche Unterschiede zwischen räumlich weit entfernten Mundarten, zwischen den aneinandergrenzenden Mundarten gab es aber fließende Übergänge. Die Geschichte dieser ostslawischen Mundarten ist kurz erzählt: Wie jede Sprachform veränderten sie sich im Laufe der Jahrhunderte, sie blieben aber das Kommunikationsmittel der breiten Bevölkerung bis in das 20. Jahrhundert hinein und existieren bis heute. Dabei bestehen immer noch fließende Übergänge der Mundarten, selbst über die heutigen Staatsgrenzen hinweg. Dies ist auch für Mundarten in anderen Teilen Europas nichts Ungewöhnliches – beispielsweise an der niederländisch-deutschen oder der portugiesisch-spanischen Grenze.

    Geschrieben wurden ostslawische Mundarten relativ selten – bekannt sind Alltagstexte, verfasst auf Birkenrinde (z. B. kurze private Briefe), die vor allem in Nowgorod, aber auch an anderen Orten gefunden wurden. Diese Texte spiegeln die dortigen Mundarten wider. Auch die eher schematisch-formelhafte Sprache von Rechtstexten war ostslawisch (im Wesentlichen handelt es sich um einen größeren Text, die Russkaja prawda – zu übersetzen eben nicht mit „Russisches Recht“, sondern mit „Recht der Rus“). Kurzum: Ostslawisch war die Sprache von weltlichen Texten. Allerdings war ein sehr großer Teil des Schrifttums in der Rus wie anderswo im mittelalterlichen Europa religiös geprägt. Ähnlich wie weiter westlich das Lateinische den kulturell-religiösen Bereich und damit das Schrifttum überhaupt dominierte, dominierte auch im ostslawischen Raum eine importierte Sprache, und zwar das sogenannte Kirchenslawische. 

    Der Weg des Kirchenslawischen

    Das Kirchenslawische kam über Umwege in die Rus. Es war bereits im 9. Jahrhundert von den Brüdern Konstantin (der später den Mönchsnamen Kyrill annahm) und Method, zweier im Dienste von Byzanz stehenden Geistlichen erschaffen worden, und zwar zur Missionierung der Westslawen im damaligen „Mährischen Reich“. Um den Slawen die heiligen Texte in „ihrer“ Sprache näherbringen zu können, kombinierten die beiden sogenannten Slawenapostel ihren südslawischen Dialekt mit komplexeren Satzstrukturen und abstrakterem Wortschatz, die sie an griechische oder lateinische Vorbilder anlehnten. Kyrill entwickelte ein eigenes Schriftsystem, das Glagolitische. Für kurze Zeit war das Altkirchenslawische als erste und einzige Sprache auf zeitgenössischer Basis (wenn es letztlich auch eine Plansprache war, ohne „Muttersprachler“) neben Latein, Griechisch und Hebräisch auch von Rom als Sakralsprache anerkannt.

     Kyrill und Method / Foto © Mikuláš Klimčák (Maler), Peter Zelizňák (Fotograf), Wikimedia unter CC-BY SA 3.0
    Kyrill und Method / Foto © Mikuláš Klimčák (Maler), Peter Zelizňák (Fotograf), Wikimedia unter CC-BY SA 3.0

    Die „mährische Mission“ scheiterte jedoch, in ihrem Zielgebiet setzte sich die lateinische Liturgie durch. Die Schüler von Kyrill und Method mussten bald fliehen, die meisten in das damalige Bulgarische Reich. Hier entstand das nach Kyrill benannte, aber nicht von ihm selbst entwickelte kyrillische Alphabet, das kaum auf dem Glagolitischen, aber stark auf dem griechischen Alphabet beruht. In der Folge sollte es zur Schrift der orthodoxen Slawia werden. Als um 990 der Großfürst der Rus Wolodymyr (so der ukrainische, auf dem Ostslawischen beruhende Name) bzw. Wladimir (so der heutige kirchenslawisch geprägte russische Name) mit seinem Gefolge das Christentum annahm, wurde dieses kyrillisch geschriebene Kirchenslawische zur Missionierung der Bevölkerung eingesetzt. Den Ostslawen war das im Wesentlichen südslawische Kirchenslawische zu dieser Zeit partiell wohl noch verständlich, zumindest klang es vertrauter als es etwa beim Griechischen oder beim Lateinischen der Fall gewesen wäre. 

    Sprachkonkurrenz in Moskau und Litauen

    Die Kyjiwer Rus zerfiel im 13. Jahrhundert. Der östliche Teil wurde der mongolischen Goldenen Horde tributpflichtig. Später, im 14. und 15. Jahrhundert, etablierte hier das ursprünglich unbedeutende Fürstentum Moskau seine Vorherrschaft. Die bis dahin bestehende sprachliche Konstellation hatte in der Moskauer Rus, aus dem das Russische Zarenreich hervorging, noch bis ins 17. Jahrhundert Bestand: Ostslawisch (im Sinne zahlreicher Mundarten) war die Sprache im Alltag und in weltlichen Angelegenheiten, wurde aber nur begrenzt geschrieben. Kirchenslawisch galt für die höheren Sphären. Es ergab sich eine sogenannte Diglossie: eine Situation, in der sich zwei Sprachen – eine „hohe“ und eine „niedrige“ – recht strikt die Anwendungsbereiche aufteilen. 

    Anders sah es im westlichen Teil der einstigen Rus aus, auf dem Gebiet der heutigen Belarus und der Ukraine. Im 14. Jahrhundert waren diese Gebiete Teile des Großfürstentums Litauen geworden. Anders als in Moskau entstand hier relativ früh eine überregionale Schriftsprache, die auf dem Ostslawischen beruhte.3 Die litauischen Eroberer nutzten das Ostslawische der Bevölkerungsmehrheit und das kyrillische Alphabet in der Verwaltung ihres riesigen Reiches. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert machte dieses westliche, aus heutiger Sicht „belarusisch“ und „ukrainisch“ geprägte Ostslawische dem Kirchenslawischen ernsthafte Konkurrenz, denn es wurde nun nicht nur zu profanen Zwecken, sondern auch für Übersetzungen religiöser Texte, vor allem aber in konfessionellen Disputen gebraucht. Diese Sprache wurde von Zeitgenossen als „Sprache der Rus“ (ruska mova) oder als „einfache Sprache“ (prosta mova) bezeichnet. „Einfach“ ist dabei keinesfalls mit „simpel“ gleichzusetzen, sondern hebt auf ihre im Gegensatz zum Kirchenslawischen volkssprachlich-autochthone Basis ab. Diese Emanzipation der autochthonen Prosta mova passierte ganz ähnlich wie bei anderen europäischen „Volkssprachen“ im 16. und 17. Jahrhundert im Zuge von Reformation und Gegenreformation. 

    Während die Prosta mova von russischer Seite und auch in älteren deutschsprachigen Quellen oft und problematischerweise als „westrussisch“ bezeichnet wird, wird heutzutage im Deutschen in der Regel die Bezeichnung „ruthenisch“ bevorzugt. Diese Bezeichnung drückt aus, dass es sich eben nicht um eine Unterart des Russischen handelte. In der Belarus ist die Bezeichnung „Altbelarusisch“, in der Ukraine „Altukrainisch“ geläufig. Auch diese Bezeichnungen sind nicht unproblematisch, denn die Prosta mova insgesamt ist weder klar dem heutigen Belarusischen noch dem Ukrainischen zuzuordnen, auch wenn einzelne Texte mal mehr Ähnlichkeiten zu Mundarten des heutigen belarusischen, mal zu solchen des ukrainischen Gebiets aufweisen.

    Die ruthenische Schriftsprache des Großfürstentum Litauens hat wie das Großfürstentum selbst die Jahrhunderte nicht überdauert. Ende des 17. Jahrhunderts wurde ihre Verwendung in Verwaltung und Rechtsprechung aufgehoben, ihre Bedeutung hatte sie schon zuvor verloren. Nachdem Litauen bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Teil eines gemeinsamen polnisch-litauischen Staates geworden war und sich kulturell immer stärker an Polen orientiert hatte, wurde die ruthenische Schriftsprache vom kulturell attraktiven Polnischen verdrängt. 

    Die modernen Standardsprachen

    Um 1700 war damit „in der ostslavischen Sprachlandschaft […] noch nichts von dem in Sicht, was heute als Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch (im Sinne der jeweiligen Standardsprachen) bezeichnet wird“.4 Die Bevölkerung sprach ihre jeweiligen Mundarten. Als Schriftsprache dominierte im Großfürstentum Litauen nunmehr das Polnische, im russischen Zarenreich nach wie vor das Kirchenslawische. Angestoßen durch die Modernisierungen Peters des Großen gab es im Zarenreich des 18. Jahrhunderts einen vehementen Konflikt, ob die als notwendig erachtete zukünftige russische Schriftsprache eher am Kirchenslawischen oder eher an der Volkssprache auszurichten war. Die moderne russische Standardsprache, die sich im 18. Jahrhundert allmählich herausbildete und im 19. Jahrhundert insbesondere im Werk des Schriftstellers Alexander S. Puschkin verfestigte, ist letztendlich ein Kompromiss: Sie beruht zum einen auf mittelrussischen Mundarten rund um Moskau, enthält aber sehr viele Elemente und Eigenschaften des Kirchenslawischen. 

    Die moderne ukrainische und die moderne belarusische Standardsprache sind nur etwas jünger. Wie viele andere moderne Standardsprachen sind sie Kinder des „Völkererwachens“ des 19. Jahrhunderts. Die Startbedingungen waren für sie schlechter als für das Russische: Zu dieser Zeit war das belarusische Sprachgebiet Teil des Russischen Zarenreiches geworden, das ukrainische größtenteils ebenfalls, ein kleinerer Teil gehörte zu Österreich. Dennoch bildeten sich in dieser Zeit das moderne Ukrainische und das moderne Belarusische im Werk von Schriftstellern wie den Ukrainern Iwan P. Kotljarewsky und Taras Schewtschenko und den Belarusen Winzent Dunin-Marzinkewitsch und Franzischak Bahuschewitsch heraus. Beide Sprachen beruhen auf damaligen ukrainischen beziehungsweise belarusischen Mundarten, ohne größere Rückgriffe auf das Kirchenslawische oder die frühneuzeitliche ruthenische Schriftsprache.5 

    Angesichts der Dominanz des Russischen in diesen Gebieten hatten die belarusische und die ukrainische Standardsprache auch weiterhin keine einfache Geschichte. Gerade in der Zeit der Sowjetunion gab es starke Versuche, die beiden Sprachen zugunsten des Russischen zurückzudrängen und sie zu „russifizieren“, dem Russischen ähnlicher zu machen. Diese Politik hat zweifellos ihre Spuren im Belarusischen und Ukrainischen hinterlassen. Aus dem Russischen entwickelt haben sie sich aber ebenso zweifellos nicht. Wenn die Kyjiwer Rus als Beginn der russischen Sprache und der „russischen Welt“ bezeichnet wird, nicht aber der belarusischen und ukrainischen, so beruht dies auf einem nomenklatorischen Trick: nämlich auf der Bezeichnung eines mittelalterlichen Großreiches und seiner Sprache, in dem an das Russische, das Ukrainische und das Belarusische, so wie wir es heute kennen, nicht zu denken war, als „altrussisch“.

    Und noch eine ostslawische Sprache?

    Abschließend: Es mag überraschen, dass auch Slawist*innen auf die simple Frage, wie viele ostslawische Sprachen es denn gäbe, unterschiedlich antworten. Dies liegt daran, dass manche Sprachformen eine größere Menge an kommunikativen Funktionen ausfüllen als typische Mundarten bzw. Dialekte, aber andererseits auch weniger als typische, voll ausgebildete Standardsprachen. Ein solcher Fall ist zum Beispiel das Russinische, das oft als vierte ostslawische Sprache bezeichnet wird. Es wird im Karpatenraum vor allem der Slowakei, der südwestlichen Ukraine und im südöstlichen Polen verwendet, nach migrativen Verschiebungen im 18. Jahrhundert auch in der serbischen Wojwodina. Für das Wojwodina-Russinische ist der Ausbau zu einer Standardsprache recht weit vorangeschritten. Für das Karpato-Russinische ist die Lage unterschiedlich, am wenigsten weit ist man in der Ukraine, am weitesten in der Slowakei.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. Eine kritische Einordnung des Textes findet sich in Kappeler, Andreas (2021): Revisionismus und Drohungen: Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: Osteuropa 2021:7, S. 67–76 ↩︎
    2. Moser, Michael (2022): The late origins of the glottonym “русский язык”, in: Russian Linguistics 46, S. 365–370 ↩︎
    3. Moser, Michael (2020): Middle Ruthenian, in: Encyclopedia of Slavic Languages and Linguistics Online, Brill ↩︎
    4. Hentschel, Gerd (1997): Rußland, Weißrußland, Ukraine: Sprachen und Staaten der ‘slavischen Nachfolge’ von Zarenreich und Sowjetunion, in: Hentschel, Gerd (Hrsg.): Über Muttersprachen und Vaterländer: Beobachtungen zum Problemkreis von Sprache und Nation, Frankfurt, S. 211–240, hier: S. 224 ↩︎
    5. Bieder, Hermann (2014): Herausbildung der Standardsprachen: Ukrainisch und Weißrussisch, in: Gutschmidt, Karl/Berger, Tilman/Kempgen, Sebastian/Kosta, Peter (Hrsg.): Die Slavischen Sprachen: Halbband 2, Berlin, München, Boston, S. 1412-1422 ↩︎

    Weitere Themen

    Die moderne belarussische Sprache

    Das Denkmal für Fürst Wladimir

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Russki Mir

    Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

  • „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

    „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt die Redaktion des russischsprachigen Exilmediums Meduza über den Artikel, in dem sie Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt. 

    Darunter sind Aussagen von Personen aus Russland und seinen Nachbarstaaten, aber auch aus Deutschland und Österreich. In vielen finden sich Sorgen um die eigene Zukunft im Falle einer militärischen Niederlage Russlands. Einige spiegeln auch Phrasen und Narrative aus der russischen Propaganda wider. Auffällig ist, dass in nur einem der veröffentlichten Kommentare die ukrainische Bevölkerung vorkommt. 

    Ähnliche Erkenntnisse gewann auch das russische Forschungskollektiv Laboratorija publitschnoi soziologii (dt. Labor der öffentlichen Soziologie) in zwei Studien zur Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine. In ihrem Fazit Ende 2022 heißt es: „Ein erheblicher Teil der Unterstützung für den Krieg ist in der heutigen russischen Gesellschaft eine passive Unterstützung. Die Nicht-Gegner des Krieges würden es vorziehen, dass dieser nie begonnen hätte und wünschen sich, dass er bald endet. Und ein russischer Sieg ist für viele von ihnen sogar nur das geringere ,Übel‘.“

    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt Meduza über den Artikel, in dem es Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Andrej, 35, Wolgograd

    Der Krieg ist zu Ende, wenn eine der beiden Seiten gewonnen hat. Eine Niederlage würde für Russland eine nationale Demütigung bedeuten, das darf man nicht zulassen. Folglich müssen wir gewinnen – wir haben keine andere Wahl mehr.
    Die Ukraine will keinen Frieden. [Meduza: Ist das so? Das offizielle Kyjiw behauptet nur, es wolle alle von Russland annektierten Gebiete wieder zurückholen.] Die Ukrainer fordern immer mehr Waffen und beschießen russische Städte. Es ist schon viel zu viel Blut vergossen worden, um jetzt zu sagen: „Danke, das war’s. Lasst uns auseinandergehen.“

    Alexej, 24, Jakutsk

    Die Frage [von Meduza an die Leser nach Gründen, den Krieg zu unterstützen] ist nicht korrekt formuliert. Ich unterstütze den Krieg nicht, aber ich will auch nicht, dass Russland verliert. Dann wird es für alle noch schlimmer. Die Welt, wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind, wird mit Sicherheit zusammenbrechen, und es kommen noch dunklere Zeiten. Der Krieg ist ein Fehler, aber es darf keine Niederlage geben.

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg

    Pawel, 30, Deutschland

    Ich unterstütze den Krieg nicht, habe aber beschlossen, diesen Kommentar zu schreiben, weil die, die versuchen, Rechtfertigungen für diesen Krieg zu finden, oft mit Unterstützern gleichgesetzt werden.

    Ich bin wütend auf beide Seiten in diesem Konflikt. Auf Russland, weil es diesen dummen, blutrünstigen Krieg begonnen hat, der jeden Tag zu sinnlosem Töten führt. Auf die Länder, die die Ukraine unterstützen, bin ich wütend, weil sie nicht dazu aufrufen, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, also das sinnlose Töten zu beenden. [Meduza: Ist das so? Nein. Die westlichen Partner haben mehrfach von den russischen Machthabern gefordert, den Krieg zu beenden.] Stattdessen versorgen sie [diese Staaten] das Land immer weiter mit Waffen, obwohl sie wissen, dass das nur noch mehr Opfer bringen wird.

    Anonymer Leser, 38, ohne Ortsangabe

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es war ein irrsinniger Fehler, ihn zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen, sonst wartet auf uns das Leid der Besiegten. Putin unterstütze ich nicht, zum Teufel mit ihm.

    Oleg, 27, ohne Ortsangabe

    [Ich unterstütze den Krieg], weil ich denke, dass der „Friedensplan“, den Selensky vorgebracht hat und den der „kollektive Westen“ unterstützt, Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Schaden zufügen würde, dass es daran zerbrechen könnte. Und mir ist bewusst, dass sich [in diesem Fall] mein Wohlstand, meine Sicherheit und meine Perspektiven stärker verschlechtern, als wenn die russische Armee den ukrainischen Streitkräften so sehr schadet, dass sie danach bei einem Friedensschluss mehr Kompromisse eingehen müssen.

    Mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt

    Anonymer Leser, 36, Tjumen

    Ich unterstütze den Krieg nicht im Sinne der Z-Patrioten. Am 24. Februar [2022] war ich geplättet. Als Bürger der Russischen Föderation halte ich den Einmarsch der Truppen in die Ukraine zwar für einen Fehler, aber ein Abzug wäre ein Verbrechen. Ich habe nicht vor, die nächsten 20 Jahre Reparationen für Fehler zu bezahlen, die andere begangen haben. Mit der Verliererseite wird niemand reden.

    Zur Waffe greifen werde ich nicht. Man kann sagen, ich bin ein Beobachter, der nicht für die Ukraine ist. Ich war vor dem Maidan dutzende Male dort, ich weiß Bescheid, wie sich die Stimmung und Gesetze [im Land] verändert haben. Wenn dort ein europäischer Staat entstehen sollte, dann einer, der mit Francos Spanien oder Portugal unter Salazar vergleichbar ist und sich keinen Deut von Putins Russland unterscheiden würde.

    Viktoria, 28, Sankt Petersburg

    Am Anfang habe ich [den Krieg gegen die Ukraine] abgelehnt, wie alle kriegerischen Aktivitäten. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt, die Schadenfreude über den Beschuss der Krim-Brücke, die aktive Aufrüstung der Ukraine durch den Westen – da wurde mir klar, dass die Russophobie und andere Dinge, die ich früher für stumpfe Propaganda gehalten hatte, nicht immer gelogen sind. Krieg bedeutet immer Leid, aber manchmal sind die unpopulären Entscheidungen die richtigen.

    Nikolaj, 27, Österreich

    Ich finde den westlichen Standpunkt nicht ganz korrekt und stimme Putins Terminologie von der monopolaren Welt mit doppelten Standards zu. Meiner Meinung nach hat der Westen das Boot selbst ins Wanken gebracht und macht nun Russland dafür verantwortlich. Darüber hinaus führen die stetige finanzielle Unterstützung der Ukraine und die kontinuierlichen Waffenlieferungen dazu, dass das ukrainische Regime den Krieg weiterführt und sich nicht auf Verhandlungen einlässt.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke

    Artjom, 40, Berlin

    Ich unterstütze nicht in erster Linie den Krieg, sondern das russische Volk und Russlands Interessen. Ich war zuerst entschieden dagegen, aber im Laufe der Entwicklungen habe ich meinen Standpunkt geändert.

    Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland und habe noch nie solche Propaganda gesehen. Die westlichen Politiker und Medien haben eine absolut einseitige Position eingenommen: Russland ist der Aggressor, die Ukraine ein Heldenstaat; Putin hat immer Unrecht, und Selensky redet man nach dem Mund. Alle, die eine andere Position vertreten, werden aus dem Informationsfeld gedrängt und „gecancelt“.

    Die westeuropäischen Staaten erweisen sich als vollkommen willenlos und handeln auf Befehl der USA. Die Ukraine wird direkt von den Amerikanern kontrolliert. Dieser Konflikt beweist endgültig, dass es in Westeuropa keine und auch in Osteuropa kaum noch unabhängige Staaten gibt.

    Sergej, 27, Perm

    Ich stehe hinter dem Vorgehen meines Präsidenten und meines Landes. Ja, anfangs habe ich den Sinn dieser ganzen „Operation“ nicht wirklich verstanden, aber mit der Zeit habe ich die russophoben Äußerungen vonseiten der Ukraine als auch der EU und der USA gesehen. Jeder, der kritisch denken kann und auch nur irgendwie bei Trost ist, weiß: Russland ist kein „Terrorstaat“, wir verteidigen nur unsere Interessen und unsere Souveränität. Daher unterstütze ich wie die meisten russischen Staatsbürger diese militärische Spezialoperation in vollem Umfang, und wenn es erforderlich ist zu kämpfen – werde ich kämpfen.   

    Anonymer Leser, 30, Astana

    Innerhalb eines Jahres sind [meine] Autoritäten und moralischen Vorbilder zu Verrätern geworden (die den Bürgern des eigenen Landes Böses wünschen, die zu Sanktionen aufrufen, anstatt zu versuchen, sie aufzuheben), zu Schandmäulern (die finden, wir sollten uns ergeben und die Schuld auf uns nehmen), zu Schwächlingen und Lügnern. 

    Ich finde auch jetzt noch, dass Russland diesen Krieg nicht hätte beginnen sollen, das war ein großer Fehler. Aber die Art von Ausgang, den jene [Politiker] vorschlagen, auf die ich [früher] gehofft habe, ist peinlich, schmerzhaft, erniedrigend und verlogen. Da warte ich lieber auf Putins Nachfolger: In Russland gibt es genug kluge Köpfe.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke. Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist und möglichst wenige Menschen darin umkommen – vor allem keine Russen, aber auch keine Ukrainer. 

    Ruslan, 28, Kasan

    Ich bin nicht für den Krieg, aber verurteile Russland auch nicht dafür. Meines Erachtens hat Russland dadurch, dass es diesen Krieg angefangen hat, seine diplomatische Schwäche und Unfähigkeit zur Einigung mit seinen Nachbarländern gezeigt. Ich teile aber nicht die Sichtweise jener, die Russland schon mit dem faschistischen Deutschland vergleichen

    Erstens hatte die Ukraine die Wahl, sie hätte in den ersten Tagen des Krieges, als alles noch nicht so weit fortgeschritten war, mit uns verhandeln und unsere Forderungen erfüllen können. Sie hätte Territorium verloren, aber wäre als Staat bestehen geblieben. Ist etwa Territorium wichtiger als Menschenleben? Daher trägt auch die Ukraine eine Teilschuld am Tod jener Menschen, die getötet wurden. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in jenen Gebieten, die an Russland fallen würden, keinesfalls schlechter leben würden. Vielleicht sogar in mancher Hinsicht besser. [dekoder: Die seltenen Berichte aus bereits von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine zeichnen ein anderes Bild. Sie thematisieren häufig Verfolgung, Haft und Folter von Angehörigen ukrainischer Soldaten und zivilgesellschaftlichen Aktivisten.]

    Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen

    Murad, 28, Moskau

    Mag unsere Regierung auch korrupt und ineffektiv sein, so stellt die Ukraine doch eine Gefahr für unsere Grenzen im Süden dar. Ohne die Schwarzmeerflotte auf der Krim verlieren wir den Einfluss im Schwarzen Meer und im Kaukasus. In den Jahren 2014 bis 2022 haben alle ukrainischen Regierungen aktiv verkündet, dass sie die Krim und die Gebiete im Osten mit Gewalt oder auf diplomatischem Wege zurückholen werden. Das sind unmissverständliche Drohungen. 

    [Zum Vergleich:] Jedes beliebige Land in Europa oder den USA wendet selbstverständlich Gewalt an, wenn es seine Grenzen bedroht sieht. Ihre aktuelle Rhetorik zeigt, dass sie mit zweierlei Maß messen.    

    Dimitri, 24, Moskau

    Die Idee, diesen Krieg zu beginnen, unterstütze ich nicht, aber ich bin auch nicht dafür, ihn jetzt zu beenden. Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen. Die Staatsmacht lässt alle in Ruhe, die studieren oder etwas machen, das zur Verteidigung beiträgt, daher lässt sich der Krieg unter dieser Regierung überleben.

    Aus dem Ausland hört man nur Gerede über die finstere Zukunft [Russlands] oder über unsere Entmenschlichung. Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak [Mychajlo Podoljak, Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamts] oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient.  

    Weitere Themen

    Entfesselte Gewalt als Norm

    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Mobilmachung für die Planzahl

    „Putin versucht mit aller Kraft, ein neues Russland zu verhindern“

    „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

  • „Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

    „Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

    Dass ein Vertrauter von Putin den Kreml direkt herausfordert und mit schweren Waffen auf die Hauptstadt zumarschiert, erschien am 23. Juni ungeheuerlich. Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“. 

    Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben.  

    War das nun ein Militärputsch? Еine Spaltung der politischen Elite? Ist Putin wirklich angezählt? The Bell hat mit dem Politikwissenschaftler Grigori Golossow gesprochen.

    Denis Kassjantschuk: Gleich nach dem Aufstand waren sich westliche Experten relativ einig, dass Putins Regime einen schweren Schlag erlitten habe. Ist das tatsächlich so? 

    Grigori Golossow: Ich weiß nicht, wieso sie das denken. Eigentlich hat Putin ein ernstes Problem, das ihm schon lange bewusst war, verhältnismäßig leicht gelöst – das Problem Prigoshin. Wie hätte Putin denn sonst erreichen können, dass sich die Wagner-Strukturen dem Verteidigungsministerium unterordnen, was ganz klar das Ziel der russischen Staatsmacht war. 

    Wie wird Prigoshin nun einen neuen Platz für sich finden? 

    Das ist die Frage. Aber Tatsache ist, dass jene, die am Aufstand beteiligt waren, nicht mehr wie früher Putins Vertrauen genießen werden (wenn sie es denn je genossen haben). Und insgesamt hat der russische Präsident infolge der jüngsten Ereignisse seine Kontrolle über die Sicherheits- und Machtstrukturen eher gestärkt. 

    In Russland wird oft von einem Kampf der Eliten gesprochen, von einem „Krieg zwischen unterschiedlichen Türmen des Kreml“​. Aber wirklich manifestiert hat sich dieser Kampf für das breite Publikum nie. Ist Prigoshins Aufstand eine solche Manifestation? Oder ist Prigoshin eine zufällige Erscheinung, eine Randfigur, deren Handlungen die Prozesse in den russischen Eliten nicht widerspiegeln?

    Ein Großteil dessen, was über die „Türme des Kreml“ gesagt wurde, war reine Phantasie. Was Prigoshins Handlungen betrifft, ist klar, dass er von der herrschenden Klasse ziemlich weit entfernt stand und dort kein sonderlich großes Vertrauen genoss. Mehr noch, er machte nie einen Hehl aus den tiefen Zerwürfnissen, die zwischen ihm und dieser Klasse bestehen. Prigoshins Aufstand lässt sich also nur im weitesten Sinne als Manifestation dessen interpretieren, was in den russischen Medien normalerweise als „Spaltung der Eliten“ bezeichnet wird. 

    Viele Beobachter fragten sich in den Monaten vor dem Aufstand: Warum stopft Prigoshin keiner das Maul? Warum lassen sie ihn vor aller Welt den Verteidigungsminister und den Generalstabschef grob beschimpfen? Und bedeutet das, dass die Situation für den Kreml außer Kontrolle gerät? War dem so?

    Das ist eine ziemlich naive Frage, wenn man bedenkt, welch kolossale Rolle die Söldnertruppe Wagner bis zuletzt auf dem Schlachtfeld spielte. Wie hätte man sie aus dem Weg räumen können, wenn doch sie es waren, die Bachmut eingenommen haben. Und das war die entscheidende Schlacht in der vorangegangenen Etappe der Kampfhandlungen.

    Genau das ist ja der Punkt, dass Prigoshin für Putin zum Problem wurde, weil man ihn nicht ausschalten konnte. Man musste ihn aber ausschalten, weil seine politischen Ambitionen offensichtlich wurden.  

    Wie kamen diese Ambitionen zum Ausdruck?

    Prigoshin strebte danach, als politische Figur in der Öffentlichkeit zu stehen. Er machte zutiefst politische Vorwürfe – die Regierung sei ineffektiv, deshalb sei die herrschende Klasse ineffektiv, korrupt und unfähig, die Interessen von Volk und Staat zu vertreten. Das ist eine populistische Position, die bei Wahlen gut funktioniert. Ich glaube zwar nicht, dass Prigoshin in nächster Zeit bei irgendwelchen Wahlen kandidieren wollte. Aber dass er schon begonnen hatte, sich nicht nur als militärischer Führer, sondern auch als Politiker einen Namen zu machen, das war ganz offensichtlich.

    Und ich nehme an, für Putin war das ein Teil des Problemkomplexes, der mit Prigoshins mangelhafter Loyalität zu tun hatte. Dieses Problem ist aus Putins Sicht jetzt gelöst. Und ich sehe das genauso.

    Es zeigt sich: Solange Putin an den Kontrollhebeln sitzt, hat Prigoshin keine Chance, in Russland eine politische Rolle zu spielen. Wenn sich die Situation grundlegend ändert und Prigoshin dann noch lebt und er sein in den letzten Monaten erarbeitetes politisches Kapital weiterentwickeln will, dann können sich für ihn durchaus realistische Perspektiven auftun. Sein politisches Kapital ist zwar nicht gerade groß, aber unter bestimmten Bedingungen durchaus ausbaufähig.

    Wahrscheinlich ist Putin die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber dafür sind sie so loyal

    Was meinen Sie, was war Prigoshins Ziel? Und warum hat er es nicht erreicht?

    Prigoshin hat klar gesagt, dass sein Ziel ein Führungswechsel im Verteidigungsministerium ist. Das glaube ich ihm. Wenn Prigoshin das gelungen wäre, dann wäre sein Einfluss nicht nur auf das militärische Establishment, sondern auch auf Putin kolossal gestiegen: Die Personen, die Schoigu und Gerassimow abgelöst hätten, hätten mehr in Prigoshins Gunst gestanden als unter der Kontrolle des Präsidenten. 

    Das ist der Grund, warum Putin sich darauf nicht einließ. Wahrscheinlich ist ihm die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber er schätzt sie für ihre Loyalität und glaubt, dass er sich rückhaltlos auf sie verlassen kann. Ich glaube, dass für ihn deshalb ein Rücktritt von Schoigu und Gerassimow nicht in Frage kam.

    Eine weit verbreitete Meinung über Putin ist, dass er Verrat nicht verzeiht. Bedeutet das, dass Prigoshin keine Ruhe mehr finden wird?

    Sobald Putin der Meinung ist, dass er seinen Teil der Abmachungen erfüllt hat und dass alle Fragen zu den Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in und außerhalb Russlands geklärt sind, kommt der Moment, von dem an Putin zu dem Schluss kommt, dass er mit Prigoshin nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Und dann kann es durchaus sein, dass er sich an ihm rächen wird. Doch Prigoshin – der kann für seine Sicherheit sorgen. Was weiter mit ihm geschehen wird, ist also nochmal ein eigenes Thema.

    Wird es jetzt Säuberungen geben?

    Möglicherweise werden einige Offiziere mittlerer und sogar höherer Ränge ausgetauscht. Doch wenn es Umstellungen auf höchster militärischer Führungsebene gäbe, dann hieße das, dass Prigoshin sein Ziel erreicht hat. Deswegen sind solche Umbesetzungen nicht zu erwarten. 

    Im Westen ist die Meinung verbreitet, dass es für Putin schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein wird, sein Ansehen bei den Russen wiederherzustellen. Was denken Sie darüber?

    In der politisierten Öffentlichkeit ist das Bild entstanden, die russische Führung sei geschwächt. Aber diese Vorstellung gab es auch früher schon. Sie wurde von einflussreichen Bloggern wie Girkin-Strelkow und anderen, die für den Krieg sind, kultiviert. Weit verbreitet war auch eine Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Militäroperation geführt wurde. Diese Skepsis wurde auf die allgemeine Vorstellung von der Effektivität der russischen Regierung projiziert. 

    Wahrscheinlich hat sich diese Skepsis nach dem Aufstand ein wenig verstärkt. Aber man muss wissen, dass es sich da um eine vergleichsweise kleine Gruppe extrem politisierter Bürger handelt. Natürlich gibt es auch eine andere Gruppe von Bürgern, die Putin schon lange nicht unterstützt und seiner Regierung gegenüber immer skeptisch eingestellt war. Ich nehme an, dass sie zahlenmäßig größer ist als die der „Turbopatrioten“. Aber bezüglich jener Gruppe, die Putin nie unterstützt hat, hat sich ganz bestimmt nichts verändert: Sie waren früher nicht für ihn und sind es auch jetzt nicht. 

    Eine landesweite Unterstützung für Putin war während des Aufstands auch nicht zu sehen. Wie so oft musste der Kreml Staatsbedienstete mobilisieren, um Unterstützung vorzutäuschen. Was bedeutet das? Dass Putins Rückhalt übertrieben dargestellt wird?

    In Russland gab es nie eine Unterstützung für Putin, die in irgendeiner politischen Handlung hätte zum Ausdruck kommen können. Das liegt in der Natur des russischen Regimes, das darauf setzt, dass die Bürger sich aus der Politik heraushalten. Es wäre seltsam, wenn die Leute spontan auf die Straße gehen, eine Niederschlagung des Aufstands fordern und ihre Begeisterung für Putin zum Ausdruck bringen würden. Für Massenaktionen braucht es organisatorische Mechanismen. Doch das russische Regime ist so angelegt, dass unabhängig davon, wie viel Unterstützung Putin erfährt, derartige Demonstrationen gar nicht möglich sind. 

    Die Mehrheit der Russen hat ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen 

    Welche Schlüsse können die Russen aus den Ergebnissen dieses Aufstands überhaupt ziehen? Und bringt das die Staatsmacht ins Wanken?

    Die überwiegende Mehrheit der Russen hat meiner Einschätzung nach ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen. Das ist alles, was der großen Masse der Bevölkerung durch das Geschehen klar geworden ist. Ich glaube, viele haben diesen Aufstand als Bedrohung empfunden, vor allem die Moskauer. Aber es hat sich ja alles erledigt, na wunderbar.  

    Und die Eliten? Kommt es da zu einer Spaltung oder rücken sie jetzt noch näher um Putin zusammen?

    In der herrschenden Klasse herrscht schon lange eine negative Einstellung bezüglich Putins Handlungen. Die meisten in der russischen Elite fühlen sich von Putin hintergangen.

    Was lernen sie daraus? Die meisten neigen, nehme ich an, zu der Ansicht, dass Putin ihnen Probleme eingebrockt hat. Aber diese Probleme sind ihrer Meinung nach wiederum leichter unter Putins Mitwirkung zu lösen, wenn er an der Macht bleibt. Und sie glauben, dass das immer noch möglich ist. Und Putin nährt diesen Glauben natürlich nach Kräften. 

    Was ist jetzt Putins größte Herausforderung?

    Seine größte Herausforderung besteht darin, aus der Situation wieder herauszufinden, die er letztes Jahr im Februar geschaffen hat. Offenbar vor diesem Hintergrund schenkt Putin dem wachsenden Unmut in der herrschenden Klasse einiges an Aufmerksamkeit, er erwartet von seinen Sicherheitsdiensten, dass sie eventuell auftretende Unmutsbekundungen rasch unterbinden.

    In seiner Rede hat Putin den Westen beschuldigt, diesen Aufstand organisiert zu haben. Worin besteht die Logik dieser Vorwürfe, wenn wir doch genau wissen, wer der Organisator und die Hauptperson des „Marsches der Gerechtigkeit“ war?    

    Nun, hier gibt es keine Logik. Das ist die übliche Rhetorik: An allem Schlechten, was in Russland passiert, ist der Westen schuld

    An der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko hat sich nichts geändert

    Einige sagen, dass es für Putin die größte Erniedrigung war, sich auf Alexander Lukaschenkos Vermittlung verlassen zu müssen. Welche Rollen spielen die beiden jetzt füreinander ?

    Ich glaube nicht, dass Putin das als Erniedrigung empfindet. Er betrachtet Lukaschenko schon lange als seinen Juniorpartner. Wenn der Juniorpartner dem Senior bei der Lösung von Problemen helfen kann, dann ist das aus dem Blickwinkel der geschäftlichen und politischen Logik Russlands ein völlig normales Phänomen. Und da hat sich in der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko auch nichts geändert.

    Lukaschenko hat Putin einen wichtigen Dienst erwiesen und ist jetzt womöglich der Meinung, dass der russische Präsident in seiner Schuld steht. Aber die Balance ihrer Beziehung hat sich keineswegs verändert. Das ist eine ungleiche Partnerschaft mit Putin in der Führungsrolle.  

    Für den militärischen Aufstand und die Piloten, die dabei umkamen, wurde niemand bestraft. Was denken Sie, warum verzichtet die Staatsmacht hier auf Ermittlungen?

    Wegen diverser Umstände, die uns im Detail nicht bekannt sind, hat Putin beschlossen, sein Versprechen gegenüber Prigoshin zu halten. Dazu gehört, dass die Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden und Prigoshin sich mit einem Teil seiner Anhänger nach Belarus absetzen kann. Aber das ist nur das, was wir wissen. 

    Vielleicht hat Prigoshin noch weitere Garantien bekommen. Tatsache aber ist, dass Putin ganz einfach Wort hält, und zwar jenseits jeder Rechtslogik, auf die Sie verweisen. Das sind in höchstem Maße politische Handlungen. Dass Justiz und Verwaltung in Russland politisiert sind, ist nichts Neues. Jetzt sehen wir ein weiteres Mal, dass politische Erwägungen weit über dem Gesetz stehen. 

    Prigoshins Aktion war kein versuchter Militärputsch. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen

    Sie haben bereits vor dem Aufstand geschrieben, dass eine militärische Revolte eines der Zukunftsszenarien Russlands sei. Sehen Sie das immer noch so? Oder werden jetzt die Schrauben angezogen, damit das so schnell keiner mehr versucht?

    Dass es eine militärische Revolte geben wird, habe ich nicht geschrieben. Allerdings musste man kein Prophet sein, um mit radikalen Aktionen von Prigoshin zu rechnen. 

    Was eine weitere Verschärfung der Sicherheitskomponente in der russischen Politik angeht, so folgt sie aus der Entwicklungsdynamik eines politischen Regimes, das sich unter Bedingungen des Krieges immer stärker auf die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat verlassen können muss. Und wenn ein Land von einer solchen Dynamik erfasst wird, dann erhöht das generell die Möglichkeit einer militärischen Revolte.  

    Aber wie sieht eine solche Revolte aus? Das wiederum ist eine Frage, die von der Dynamik des Regimes abhängt. Militärische Revolten können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Situationen, in denen die Sicherheitsstrukturen zusammen mit den Streitkräften die Macht an sich reißen und ein konsolidiertes Regime errichten, das ziemlich lange bestehen kann, wie das etwa in den 1970er Jahren in Chile der Fall war. Eine solche Wendung halte ich in Russland für extrem unwahrscheinlich.   

    Aber es gibt auch Situationen, in denen sich innerhalb der Sicherheitsstrukturen schwere Spannungen bemerkbar machen. Und dann kann eine unkonsolidierte Militärregierung entstehen. Solche Regimes halten nicht lange. Häufig lösen sie einander ab, ohne sich grundlegend voneinander zu unterscheiden. So etwas ist in Russland durchaus möglich, zeichnet sich aber derzeit nicht ab.

    Ich möchte aber noch einmal betonen, dass Prigoshins Aktion kein versuchter Militärputsch war. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen. Und selbst wenn die Aufständischen erfolgreich gewesen wären, hätten sie nicht ein Militärregime installiert, sondern einen Ausbau des Sicherheitsapparats in den Strukturen des russischen Regimes forciert. 

    Weitere Themen

    Lukaschenko – der lachende Dritte?

    Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das?

    Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse

    Klub der zornigen Patrioten

    Jewgeni Prigoshin

  • Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

    Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

    „Domoi! Ab nach Hause!“, rufen die Menschen im Stadtzentrum von Cherson. Mit ukrainischen Flaggen laufen sie auf einen russischen Militär-LKW zu, der sich im Rückwärtsgang von der Menschenmenge entfernt. Die Bilder von den Protesten gegen die russische Besatzung der südukrainischen Stadt Cherson gingen im März 2022 um die Welt. Wenig später folgten erste Berichte über Verschleppungen: „Ich bin in Cherson auf einer friedlichen Protestaktion gewesen. Mein Vater wird seit Montag, den 21. März 2022, vermisst; er ist zu einer Kundgebung gegangen und nicht zurückgekehrt.“

    Russland hat zahlreiche ukrainische Zivilisten gefangen genommen und auf die Krim verschleppt. Auf Meduza berichten ehemalige Häftlinge, wie sie dort im Gefängnis misshandelt wurden.

    Achtung: Der Text enthält drastische Darstellungen von Folter und Gewalt.

    Am Morgen des 9. Mai 2022 hörte Alexander Tarassow, Gefangener des Untersuchungsgefängnisses SISO Nr. 1 in Simferopol, hinter der Tür seiner Zelle die Speznas-Leute des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN brüllen: „Antreten! Kopf runter, rauskommen! Zackig, hab ich gesagt!“

    Die fünf Zelleninsassen senkten mit einstudierter Bewegung die Köpfe und verschränkten die Hände auf dem Rücken. Von da an sah Tarassow nur den Boden, die eigenen Füße und die Stiefel der Speznasowzy. Tief heruntergebeugt in der Stellung „Delfin“ kam er aus der Zelle und stellte sich mit dem Gesicht an die Wand. „Breiter! Die Beine breiter auseinander, hab ich gesagt!“ Einer der FSIN-Männer schlug Alexander so lange auf die Waden, bis der Häftling praktisch im Spagat stand.

    Mit der Stirn an die Wand gepresst dachte Tarassow nur an seine zu reißen drohenden Sehnen und hörte, was die Einsatzleute jetzt von ihm wollten: „Welcher Feiertag ist heute? Hm? War dein Opa im Krieg? Antworte!“

    Egal, wie die Antwort lautete – jeder Häftling bekam einen Schlag mit dem Elektroschocker: „Eure Großväter würden sich im Grabe umdrehen, ihr Faschisten!“

    Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, ‚Den Pobedy‘ zu singen

    Wenige Stunden später kam die Speznas zur nächsten Kontrolle. Diesmal gingen die mit Elektroschockern bewaffneten Einsatzleute gleich in die Zelle. In der Tür stand der Hundeführer. Sein Hund zerrte an der Leine, wollte sich auf die Häftlinge stürzen und bellte heiser, erinnert sich Tarassow.

    Einen von Tarassows Zellengenossen, Sergej Derewenski, nannten die Speznasowzy „Kämpfer des Rechten Sektors“. „Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, [das Sowjetlied] Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) zu singen“, erzählt Tarassow. „Sie verpassten ihm einen Tritt direkt in die Magengrube: ‚Los, sing!‘“

    Tarassow sah nicht hoch. „Das bringen sie dir schnell bei“, erläutert er dem Korrespondenten von Meduza die Ordnung im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1. „Die kleinste Augenbewegung, und du hast den Elektroschocker am Schädelknochen. Also schaute ich auf meine Füße. Und hörte zu.“

    „Dieser Tag des Sieges riecht nach Schießpulver …“, begann Derewenski mit fremder, ganz anderer Stimme – zitternd, gebrochen – zu singen. Den Einsatzkräften gefiel ganz offenbar, was sie hörten, denn sie sagten immer wieder: „Weiter!“ und machten weiter mit dem Elektroschocker, wenn Sergej sich verhaspelte.

    Der Stromschlag geht durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann

    „Der Stromschlag geht gefühlt durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann“, beschreibt Tarassow das Gefühl der Elektroschockbehandlung. „Danach krampfen sich die Muskeln weiter zusammen … Und in diesem Zustand sang er: ‚Mit Tränen in den Augen …‘“

    Bei diesen Klängen kamen weitere Gefängniswärter dazu. Der Hundeführer sah dem Auftritt weiterhin von der Tür aus zu; sein Diensthund war jetzt ruhig. „Ich betete, dass das an mir bitte vorübergeht“, erinnert sich Tarassow. „Wir waren zu fünft in der Dreierzelle, und wir hatten alle Angst, dass wir auch singen müssen.“

    Als die Speznasowzy weg waren und die Häftlinge wieder aufschauen konnten, sah Tarassow, dass Derewenski ganz blass war. „Wir alle hatten schweigend mit ihm gelitten. Hatten ihn aber nicht beschützen können. Wir waren beschämt, dass wir nichts dagegen ausrichten konnten“, sagt Tarassow. „Du wirst gequält, musst aber deine Schutzreflexe unterdrücken. Weil jeder Widerstand es nur schlimmer macht.“

    Vor seiner Verhaftung organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson

    Vor seiner Verhaftung im März 2022 organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson. Seine Zellengenossen waren ukrainische Aktivisten und Freiwillige, die der ukrainischen Armee geholfen hatten und in den Gebieten festgenommen wurden, die Russland zu Beginn des Krieges erobert hatte. Den Aufsehern zu widersprechen wagte niemand mehr: Jeder in dieser Zelle hatte bis Mai 2022 bereits Folter erfahren. Nikita Tschebotar aus Hola Prystan hatten sie aus dem Luftgewehr in die Beine geschossen – und ihn dann gezwungen, sich eigenhändig die Bleikugeln aus dem Fleisch zu pulen. Alexander Geraschtschenko aus Cherson wurde mit Stromschlägen gefoltert. Sergej Zigipa aus Nowa Kachowka wurde aus dem Gefängnis ins FSB-Gebäude nach Simferopol gebracht und stranguliert.

    Tarassow selbst war nach seiner Verhaftung im Keller der Stadtverwaltung von Cherson gefoltert worden (in der sich zu dem Zeitpunkt bereits die russischen Truppen eingerichtet hatten). Man klebte ihm Elektroden an die Ohrläppchen, ließ den Strom laufen und verlangte von ihm, die Namen der anderen Organisatoren der Proteste zu nennen. Tarassow zufolge nannten die FSB-Leute diese Methode „Anruf an Selensky“.

    „Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe und sagte: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe“, berichtet Tarassow. „Ich wusste echt nicht, ob er abdrückt oder nicht.“

    Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe

    Tarassow gibt zu, dass er bei den „Kontrollen“ im Simferopoler Untersuchungsgefängnis am liebsten aufbegehrt und zugeschlagen hätte. „Ich weiß noch, wie wir da sitzen, und einer [ein Mithäftling] nimmt einen Löffel und fängt an, ein Loch in die Wand zu kratzen. Sagt: ‚Guck mal, wir könnten echt einen Tunnel buddeln!‘ Ich sag zu ihm: ‚Und dann?‘ Da waren immer mindestens drei von der Speznas und der Typ mit seinem Hund plus zwei Wachen. Der ganze Block war vergittert. Und wir kannten nicht mal den Weg da raus.“

    Im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1 kann man sich leicht verirren: Es befindet sich in einer richtigen Gefängnisfestung aus dem 19. Jahrhundert. Tarassow erinnert sich: „Es ist wie ein mittelalterliches Verlies: Du wirst durch endlose verschlungene Gänge geführt, eine Gittertür nach der anderen wird aufgeschlossen … Und dazu hast du einen Sack über dem Kopf.“

    Die in der Ukraine festgenommenen zivilen Geiseln – so nennen Menschenrechtler die ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen ohne Anklage oder Kriegsgefangenenstatus in Untersuchungshaft gehalten werden – waren in einem Sonderblock untergebracht und komplett von allen anderen Häftlingen isoliert.

    „Im SISO gingen Gerüchte um, wir wären irgendwie besonders gefährlich“, erinnert sich Tarassow. „In Wahrheit wurde das gemacht, damit keinerlei Informationen über uns nach außen drangen. Einmal gingen wir an Insassen vorbei, die Küchendienst hatten, da rief der Gefängniswärter: ‚Wegdrehen, Gesicht an die Wand!‘“

    Die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen festgehalten werden, ohne offiziell als Kriegsgefangene oder als Angeklagte zu gelten, ist unbekannt.


    „Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?“

    Die Gefangenen im Simferopoler SISO erinnern sich gut an das Surren des Elektroschockers – und wie es nach dessen Einsatz roch.

    „Wenn denen irgendwas nicht passt – Stromschlag. Sie haben aus uns verängstigte Tiere gemacht“, sagt Alexander Tarassow. „Sie haben uns dazu gebracht, dass wir bei den routinemäßigen Kontrollen horchten, ob wir hinter der Wand den Elektroschocker hörten. Allein von dem Geräusch bekam ich Muskelkrämpfe.“

    Die Speznas-Leute wussten genau, welche Wirkung das Summen des Elektroschockers auf die Häftlinge hatte – und spazierten ausgiebig ohne echten Grund mit den eingeschalteten Geräten durch die Korridore. „Sie machten sich einen Spaß draus und ließen die Dinger im Takt surren: pam-pam-pa-pa-pam“, erinnert sich Tarassow. „Sie wussten, dass uns dieses Geräusch in die Eingeweide fährt. Dass wir Bauchkrämpfe davon bekommen und es uns gegen die Schläfen haut.“

    Sie zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation‘

    „Sie haben uns einfach dafür gehasst, dass wir ihre Truppen [zu Beginn der Invasion] nicht mit Brot und Salz empfangen haben“, sagt Tarassow. „Sie schlagen dir gegen die Waden, zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?‘“

    Nach Aussage von Meduzas Gesprächspartnern war der ukrainische Widerstand gegen den russischen Einmarsch ein echter Schock für das Personal des Simferopoler SISO Nr. 1. Und so versuchten sie, die Häftlinge „umzuerziehen“. Behaupteten ihnen gegenüber, dass die russischen Truppen bereits Odessa und Poltawa eingenommen hätten.

    Die Häftlinge hatten keine Verbindung zur Außenwelt. „Uns erreichten nur spärliche Informationen; manchmal konnten wir das Radio hören, das für die anderen Gefangenen angemacht wurde“, erzählt Tarassow. „Und im Mai [2022] mussten wir uns alle die Sendung Wojennaja taina [Kriegsgeheimnis] angucken, in der Russland versprach, bald das Regierungsviertel [in Kyjiw] einzunehmen. Da konnten wir dann selbst unsere Schlüsse ziehen: Wenn Selensky eine Videobotschaft auf dem Chreschtschatyk aufnimmt, was bedeutet das? Alles in Sicherheit.“


    „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen“

    Im Oktober 2022 wurde der gesamte „ukrainische“ Spezialblock des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1, darunter auch Alexander Tarassow, in das neu eröffnete Untersuchungsgefängnis Nr. 2 verlegt, das sich ebenfalls dort befindet. Der neue Gefängnisbau, der ausschließlich für verschleppte Ukrainer bestimmt war, wurde derart eilig in Betrieb genommen, dass nicht einmal die Bauarbeiten abgeschlossen waren, erfährt Meduza von drei ehemaligen Insassen. Dass die Inhaftierten dorthin verlegt wurden, konnte man auch aus den ukrainischen Medien erfahren.

    Die Scheiben der neuen Plastikfenster wurden vor dem Eintreffen der Ukrainer komplett zugetüncht. „Damit wir weder den Hof sehen noch die Tageszeit erkennen“, sagt Tarassow. „Wir mussten uns daran gewöhnen, nicht zu wissen, ob es Vor- oder Nachmittag ist.“

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht. Aus den Lautsprechern ertönen regelmäßig die Gefängnisordnung und die russische Hymne – so laut, dass der drei Kilometer entfernt wohnende russische Anwalt Emil Kurbedinow, der den ukrainischen Geiseln zu helfen versucht, sie häufig von seinem Fenster aus hört. Von sechs Uhr morgens bis zur Nachtruhe ist es den Häftlingen verboten, auf ihren Pritschen zu sitzen oder zu liegen.

    „Damit ist es ihnen auch verboten, das Namaz [das muslimische Gebet] durchzuführen“, sagt uns Amide, die Frau des Krimtataren Ekrem Krosch, der vor kurzem in das SISO Nr. 2 überführt wurde. „Er darf nicht beten, weil er stehen muss.“

    Die Häftlinge würden maximal isoliert gehalten, damit sie weder einander noch die Gefängniswärter wiedererkennen, erklärt Tarassow. „Eine kurze Zeitlang konnten wir über die Lüftungsschächte kommunizieren“, erinnert sich ein anderer ehemaliger Häftling. „Wir hatten sogar eine Art Chat – einen Buschfunk zwischen den Zellen. Doch einer [der Häftlinge] namens Sascha, der im ‚Chat‘ die ukrainische Hymne gesungen hat, kam in den Karzer. Und Nikita, der im ‚Chat‘ zu Silvester Olivier-Salat forderte, hätten sie fast die Beine gebrochen.“

    Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich

    „[Die FSB-Leute] beginnen [die Verhöre] direkt mit Drohungen sexueller Art. Oder sagen: ‚Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich‘“, erinnert sich ein weiterer Ex-Häftling, Maxim. Er sah gleich, dass die Einsatzkräfte nicht älter waren als er, und nahm ihre Drohungen nicht ernst. „Die waren um die 25, wie ich“, sagt Maxim. „Die guckten in mein Handy und lachten mich aus, weil ich Kryptowährung zu teuer gekauft hatte. Das Fenster zum Innenhof war geöffnet, und mitten im Verhör sagten sie: ‚Wenn du aus dem Fenster schreist: ‚Schnauze, ihr Schwuchteln!‘, dann lassen wir dich frei!‘“

    Maxim wurde nicht nur vom FSB verhört, sondern auch von einem Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Er erzählte, er sei [angeblich] in der Ukraine geboren, in Irpin, aber er liebe Russland“, erinnert sich der Ex-Häftling an das Gespräch. „Er sagte, seine Schwester sei [seit dem Maidan] ein Topfkopf und deswegen für die Ukraine.“

    Dann kamen Silowiki aus Moskau ins SISO und brachten einen ganzen Stapel Protokolle mit, erzählt Maxim. Sie fragten, was er über die „Verbrechen der ukrainischen Armee in Mariupol“ wisse. Ähnliche Fragen stellten sie auch Tarassow. „Sie wollten von uns Aussagen erpressen für ein Strafverfahren, dass die Ukraine gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen habe“, ist sich Tarassow sicher. „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen.“

    Das erste Strafverfahren wegen „Anwendung verbotener Mittel und Methoden der Kriegsführung“ hatte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation schon im Mai 2014 gegen die Ukraine eröffnet – während des Kriegs im Donbass und kurz nach der Annexion der Krim. Im Frühjahr 2022 erfuhr dann die ganze Welt von der Ermordung von Zivilisten in Butscha durch die Russen. Zu dieser Zeit sprach Meduza mit einer dem Ermittlungskomitee nahestehenden Quelle: Nach den „Berichten der Chochly über Kriegsverbrechen in den Vororten [von Kyjiw]“ hätten die russischen Ermittler und Fahnder in den okkupierten Gebieten „sofort losgedonnert und die Aufklärung von Kriegsverbrechen des ‚Rechten Sektors‘ der ganzen letzten acht Jahre verlangt“. 

    „Das Ermittlungskomitee ist extrem daran interessiert, sein politisches Gewicht beizubehalten – genau deswegen seien in den okkupierten Gebieten temporäre Zweigstellen eingerichtet worden“, erfährt Meduza von einem russischen Juristen, der mit den zivilen Geiseln aus der Ukraine arbeitet. „Militärermittler aus dem ganzen Land wurden dahin abkommandiert und haben intensiv gearbeitet: an Hunderten von Fällen, Tausenden Geschichten, Bastrykin redet ständig öffentlich davon.“


    „Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch“

    Ende März 2022 wurden Alexander Tarassow und Sergej Zigipa mitten in der Nacht von Aufsehern geweckt. Mitarbeiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN kamen in die Zelle und stellten ihnen eine seltsame Frage: Ob einer von ihnen Spanisch könne? „Serjoga kann Portugiesisch“, erzählt Alexander. „Sie baten ihn, mitzukommen und einen Spanier zu beruhigen, der gerade aus Cherson gebracht worden war.“

    Die neue zivile Geisel war Mario García Calatayud, ein Rentner aus Spanien, der seit 2014 in der Ukraine lebt. „Sergej sagte ihm damals natürlich, dass alles in Ordnung käme“, erinnert sich Tarassow. „Aber Mario hatte einen Schock: Er begriff nicht, wo er da gelandet war und wer all diese Leute in Uniform waren, die ihn anschrien. Er sah aus wie ein gehetztes Tier.“

    Der Spanier wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand

    Mario Calatayud, der trotz mehrerer Jahre in der Ukraine weder Ukrainisch noch Russisch sprach, wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand. „Er musste alle diese Posen lernen: Antreten, zum Ausgang, Kopf runter. Ich hab aus der Zelle gehört, wie sich der Aufseher und der Speznas-Mann amüsierten: ‚Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch‘“, erinnert sich Tarassow.

    Seinen 75. Geburtstag erlebte Mario Calatayud im SISO Nr. 2 – und nicht in bester Verfassung. Anatoli Fursow, der Rechtsvertreter des Spaniers, erklärte Meduza, dass Calatayud Probleme mit dem Herzen habe, ihm aber in der Haft die Medikamente weggenommen worden seien. „Er rief immer auf Spanisch nach einem Arzt“, erinnert sich Tarassow, der in der Nebenzelle saß. „Aber der Arzt kam manchmal erst nach einer Woche. Dann roch es im ganzen Flur nach Corvalol.“

    Irgendwann lernte Calatayud doch noch ein paar Wörter Russisch: „choroscho“ (dt. gut), „spassibo“ (dt. danke), „normalno“ (dt. etwa okay, gut). Für die seltenen Gelegenheiten zum Duschen bedankte er sich bei den Aufsehern aber immer noch auf Spanisch: „Perfecto, señor comandante!“

    Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt

    Nicht einmal für die Verhöre fanden sie für Calatayud einen Dolmetscher – und zwar weder im SISO noch in der lokalen Verwaltung des FSB, wohin die Geiseln gelegentlich gebracht wurden. „Als wir [in das Gebäude] hineingeführt wurden, sagte einer vom FSB schon in der Tür, dass Mario ein Faschist sei“, erinnert sich Maxim, der zusammen mit dem Spanier zum Ermittler gefahren wurde. „Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt.“

    In der Zelle war Calatayud der Sauberkeitsfanatiker: Er wischte die Regale und die Fenstersprossen, bevor sich da überhaupt Staub angesammelt haben konnte. Sein Zellengenosse Jewgeni Jamkowoi glaubt, dass Calatayud den Aufsehern „seine Fügsamkeit demonstrieren“ wollte: „Im SISO schlugen sie richtig zu. Ich hab seine Narben vom Dynamo [das heißt die Spuren von der Folter mit Strom] gesehen. Und einmal hat sich ein Diensthund in seinem Bein verbissen: Das Blut spritzte, und er konnte sich nicht mehr zurückhalten und schlug dem Hund mit der Faust auf den Kopf. Das zahlte ihm der Hundeführer sofort heim.“

    Bevor Calatayud in Simferopol inhaftiert wurde, hatte er sich den russischen Silowiki gegenüber ziemlich kühn verhalten. „Sogar in der Zelle [in Cherson], als er gerade erst von einer Demo weg verhaftet worden war, brachte er es fertig, ‚Slawa Ukrajini!‘ zu rufen – und seine Morgengymnastik zu machen“, erzählt seine Frau, die 39-jährige Chersonerin Tatjana Marina. „Die hiesigen Aufseher schlackerten nur so mit den Ohren, wenn Mario sie unverblümt ‚puta madre‘ nannte – was soviel heißt wie Hurensöhne.“

    Marina erklärt, dass Calatayud 2014 in die Ukraine gezogen sei, um humanitäre Hilfsgüter in Kinderheime zu liefern, die sich im Osten des Landes nahe der Front befanden. „Er nannte Putin ‚señor de la guerra‘; die Ungerechtigkeit machte ihn ganz kirre. Er hatte in der Stadtverwaltung von Valencia gearbeitet, war aber schon in Rente – und kam, um zu tun, was in seiner Macht stand“, erzählt Tatjana Marina. 

    Die Hilfsgütertransporte unter Beschuss bis direkt an die Front haben Mario waghalsiger gemacht, meint seine Frau: „Er hat immer gesagt: ‚sangre española brava‘ [spanisches Blut ist tapfer]! In den ersten Tagen der Okkupation von Cherson benahm er sich wie ein Irrer. Jedes Mal, wenn er die Kette russischer Soldaten rund um unser Verwaltungsgebäude sah, formte er mit den Fingern Pistolen – wie ein Kind – und drohte ihnen [auf Spanisch]: ‚Ich knall dich ab, Besatzer!‘ Ich bekam schweißnasse Hände vor Angst.“

    Tatjana fragt sich, wie Mario im SISO überlebt: „Er ist doch so freiheitsliebend. Wie kann man einen, der so gern frei atmet, einfangen und in einen Käfig sperren?“


    „Kriegsgefangene kann Russland sie nicht nennen“

    Die meisten Gefangenen im SISO in Simferopol haben keinerlei gesetzlichen Status (etwa als Verdächtigte); ihre Inhaftierung entbehrt somit jeglicher Rechtsgrundlage. Gegen manche Zivilgeiseln wird dann doch ein Strafverfahren eingeleitet, unter anderem wegen „internationalen Terrorismus“ oder „versuchter Terroranschläge“. Konkret wurde mindestens sieben aus der Oblast Cherson entführten Personen eine Mitgliedschaft im [krimtatarischen, in Russland als „terroristisch“ eingestuften – dek] Noman-Çelebicihan-Bataillon zur Last gelegt.

    In den Antworten auf Anwaltsanfragen zu den Haftgründen der Ukrainer erscheint auch so etwas wie „Überprüfung durch den FSB“. „Sie [die Gefangenen] müssen sich einfach einer so genannten ‚Überprüfung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘, unterziehen. In jeder Antwort einer lokalen FSB-Zweigstelle wird diese ‚Überprüfung‘ erwähnt“, gibt ein von Meduza befragter Anwalt an.  

    Die Geiseln sind „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“

    Russland unterscheidet bei den Gefangenen nicht zwischen Zivilisten und Militär: Für die russischen Behörden gelten sie offiziell alle als „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“. „Unter diesem Begriff werden alle zusammengefasst“, sagt Anwalt Dimitri Sachwatow Meduza gegenüber. „Kriegsgefangene kann die Russische Föderation sie nicht nennen, weil das ja bedeuten würde, dass das ein Krieg ist.“

    Im Russischen Strafgesetzbuch gibt es allerdings keinen Paragrafen, der die Formulierung „Widerstand gegen eine Spezialoperation“ enthält. Anwälte werden zu den Geiseln schlichtweg nicht durchgelassen: Die meisten Informationen darüber, wer in diesen Haftanstalten sitzt und was dort geschieht, bekommen die Juristen von Ukrainern, denen es gelungen ist, aus diesen russischen Gefängnissen herauszukommen. Zu zivilen Geiseln aus der Ukraine erhalten auch ihre Angehörigen keinen Zugang, während Krimbewohner mit russischen Pässen, zum Beispiel Krimtataren, immerhin Besuch empfangen können. 

    Alexander Tarassow wurde am 14. Februar 2023 aus dem SISO Nr. 2 entlassen und lebt jetzt in Deutschland. Noch immer hat der Chersoner aber weder durchschaut, warum er entlassen wurde, noch mit welcher Begründung er fast ein Jahr lang ohne Anklage eingesperrt war. Bei seinen Verhören fragte er die Ermittler manchmal, warum er ohne Gerichtsbeschluss in Haft sei. „Irgendwann haben sie einen ‚Erlass des russischen Präsidenten über die Isolierung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘ erwähnt. Und hinzugefügt: ‚Na, es ist Krieg, du weißt ja.‘ Als ich rauskam, habe ich nichts darüber im Netz gefunden.“

    Bisher gebe es keine verlässlichen Hinweise auf die Existenz einer „Geheimverfügung“, meint Roman Kisseljow, ein russischer Menschenrechtsverteidiger, der Ukrainern dabei hilft, ihre Angehörigen in der Russischen Föderation zu finden. (Auch Meduza konnte keine solchen Hinweise finden). „Doch ich nehme an, dass solche Dokumente mit der Zeit auftauchen werden“, überlegt Kisseljow. „Ursprünglich hat einfach niemand [in der Regierung] damit gerechnet, dass der Krieg so lange dauern und ein solches Problem [mit zivilen Geiseln] überhaupt entstehen wird. Aber als sie dann doch so viele Gefangene beisammen hatten, kratzten sie sich die Köpfe und überlegten, wie sie es anstellen können, den Menschen ohne Gerichtsverfahren die Freiheit zu entziehen.“ 


    „Ukrainer gibt es hier massenhaft. Einfach massenhaft“

    Ukrainische Geiseln werden nicht nur auf der Krim, sondern auch in anderen Regionen der Russischen Föderation festgehalten, wie Meduza von russischen Anwälten und Menschenrechtlern weiß. Während auf der Krim der FSB mit ihnen „befasst ist“, ist es in anderen Gegenden die dem Verteidigungsministerium unterstellte Militärpolizei GUWP. 

    Dass sich das russische Verteidigungsministerium und der FSB die Zuständigkeit für ukrainische Geiseln teilen, ist kein Widerspruch, wie Andrej Soldatow, Experte für die russischen Geheimdienste, Meduza erklärt. Ihm zufolge wird die Militärpolizei von der Spionageabwehr DWKR überwacht, die wiederum eine Unterabteilung des FSB sei. Dass für die ukrainischen Geiseln die Spionageabwehr zuständig ist, bestätigte Meduza gegenüber auch ein Gesprächspartner aus dem FSB. Ein Büro für Spionageabwehr gibt es in jeder Armeeeinheit, erklärt Soldatow, und wenn eine Truppe an die Front geschickt wird, dann müssen auch die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes mit in die Kampfzone, wo sie „in temporäre Einsatzgruppen aufgeteilt“ werden.  

    Irina Badanowa schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000

    So funktionierte die Spionageabwehr in der Ukraine zu Beginn des Krieges, sagt Soldatow. „Die ‚Filtration‘ [der Ukrainer], die Bearbeitung der Einwohner, all das ist alles ihre Aufgabe“, meint der Experte. „Um die Sicherheit der russischen Truppen zu gewährleisten, müssen die Informanten der ukrainischen Streitkräfte ausfindig gemacht und drangsaliert werden. Und natürlich müssen sie ihre Agentennetze ausbauen. Das mit Filtrationslagern zu machen ist einfach und effektiv – eine in Tschetschenien erprobte Methode. Man saugt wie mit dem Staubsauger tausende junge Ukrainer ein, wirbt ein paar von ihnen an, und dann lässt man alle wieder laufen.“

    Die Arbeit mit Ukrainern, die in den besetzten Gebieten entführt und in russische Gefängnisse gesteckt wurden, ist die „natürliche Fortsetzung“ der militärischen Spionageabwehrmission, die sie an der Front verfolgen, meint Soldatow.

    Wie viele ukrainische Staatsbürger aktuell in diesen russischen Gefängnissen sitzen, ist unbekannt. Irina Badanowa von der Abteilung für die Suche und Befreiung von Kriegsgefangenen beim Generalstab der ukrainischen Streitkräfte schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000. Dutzende von ihnen sind, wie sie betont, unter den Haftbedingungen umgekommen.

    „Ukrainer gibt es hier massenhaft“, pflichtet Badanowa ein russischer Anwalt bei. „Einfach massenhaft.“

    Vom russischen Verteidigungsministerium, dem FSB, der FSIN, der Presseabteilung des Kreml und der prorussischen Verwaltung der Krim kamen keine Antworten auf die Fragen von Meduza. 

    Weitere Themen

    Krieg im Namen des Sieges von 1945

    FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine

    Russlands Passportisierung des Donbas

    Entfesselte Gewalt als Norm

    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    Wie Putin lernte, die Ukraine zu hassen

  • „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    Sozialer und kultureller Widerstand in Belarus – auf diese Themen hat sich Yauhen Attsetski unter anderem in seiner fotografischen Arbeit fokussiert. So ist das preisgekrönte Fotoprojekt Messed up entstanden, in dem er das Leben der Musikerinnen der gleichnachnamigen Hardcore-Punkband in der west-belarussischen Stadt Hrodna dokumentiert. Einem größeren Publikum wurde er bekannt, als er die Entstehung des Platzes des Wandels in Minsk während der Proteste 2020 begleitete. Mittlerweile lebt Attsetski mit seiner Frau Julia in Lwiw. In der Ukraine, wo er gerade seine erste Ausstellung hatte, hält er die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das gesellschaftliche Leben fest. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und sein Leben in der Ukraine gesprochen, zudem zeigen wir eine Auswahl seiner Bilder. 

    Nach den russischen Raketenangriffen auf das ukrainische Energie-Netz sind Teile von Lwiw ohne Strom. In den Häusern auf der linken Seite gibt es Strom, auf der rechten Seite beleuchten die Menschen ihre Wohnungen mit Taschenlampen oder Kerzen. / Foto © Yauhen Attsetski

    dekoder: Sie wohnen heute in Lwiw. Wie kam es dazu? 

    Yauhen Attsetski: Im Sommer 2021 kam der KGB zu meiner Frau Julia, Hausdurchsuchung. Nach den Ereignissen im Land im Jahr 2020 hatten wir keinerlei Illusionen auf eine faire Rechtsprechung. Es war ein Signal. Also zogen wir mit unseren beiden Katzen nach Kyjiw. Ein halbes Jahr später begann der Krieg.

    Ich gestehe, ich hatte kaum geglaubt, dass so etwas möglich ist. Wir überlegten zwei Tage lang, blieben zunächst noch in der Stadt. Doch nach einer Nacht, die wir in den Büroräumen von Julias Firma verbrachten und in der wir Salven von Maschinengewehren und wohl auch Panzerfeuer hörten, beschlossen wir weiterzuziehen. Wie durch ein Wunder fanden wir einen Bus und kamen nach Lwiw, wo wir von unserer Freundin Alina aufgenommen wurden. Für die ersten drei Monate war ihre Wohnung unser neues Zuhause. Über Alina kamen wir auch in Kontakt mit den anderen Belarussen in Lwiw. Das gemeinsame Leid einte uns, mit vielen von ihnen sind wir heute befreundet.

    Viele Belarussen sind wegen der Repressionen in die Ukraine geflohen und dann vor dem Krieg in andere Länder. Warum sind Sie geblieben?

    Zuerst wollten wir nach Polen ausreisen. Doch in den ersten Wochen war der Lwiwer Bahnhof ein einziges Chaos, in einen Zug zu kommen, war unrealistisch. Wir beschlossen, einige Zeit abzuwarten, und nach ein paar Wochen hatten wir uns schon an die Stadt gewöhnt. Uns interessierte das, was hier vor sich ging. Ich holte die Kamera hervor und begann zu fotografieren. Ich spürte, dass die Ukraine eine Chance hat standzuhalten. In diesem Moment wollte ich an der Seite der Ukrainer sein. Als Autor hielt ich die Geschehnisse fest, als Mensch half ich dem Land, so gut ich konnte. Für uns Belarussen ist es sehr wichtig zu sehen und zu erleben, dass Gerechtigkeit existiert, dass man Terror abwehren kann. Deshalb bin ich hiergeblieben, um diese Erfahrung aufzusaugen. Heute ist mein Glaube an ein gutes Ende so stark wie nie zuvor.

    Was sind das für Projekte, an denen Sie gerade arbeiten?

    Seit 2020 verlässt mich das Gefühl nicht, dass wir einen historischen Umbruch erleben, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind. Als Dokumentarfotograf ist es mir wichtig, diese Zeit einzufangen und festzuhalten.

    In meinem Projekt verfolge ich gleichzeitig mehrere Stränge. Der erste sind die sozialen Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Kultur, zudem auch noch in einem Moment großer Herausforderung, weshalb ich das Objektiv auf die sozialen Reaktionen richte. Parallel dazu halte ich unseren Alltag fest. Das ist Tagebuchfotografie mit einer kleinen Analogkamera. Das Leben im Krieg, das sind nicht nur Explosionen, Angst und Kampf. Die Menschen im Krieg finden zusammen, stehen enger beieinander. Der dritte Strang sind Schwarzweißporträts meiner Freunde. Hauptsächlich sind das Belarussen, die wie ich beschlossen haben, in Zeiten des Krieges in der Ukraine zu bleiben.

    Belarus gilt der Ukraine als Co-Aggressor. Wie ist für Sie das Leben in der Ukraine?

    In den ganzen 15 Monaten seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine war ich nur wenige Male mit Aggression gegenüber Belarussen aufgrund ihrer Nationalität konfrontiert. Ich denke, die Mehrheit der Menschen versteht, dass wir gute Gründe haben, noch hier zu sein. Wir alle helfen der Ukraine wie wir können – mit Taten, Informationen, Geld. Wir haben Kerzen für die Schützengräben gebastelt, Tarnnetze geflochten, manche haben auf dem Bahnhof geholfen. Als Autor habe ich meine Arbeiten bei wohltätigen Aktionen zugunsten der Unterstützung der Ukraine verkauft. Besonders möchte ich das Engagement unserer Freundin Tanya Hatsura-Yavorska hervorheben. Aktuell sammelt sie schon zum zweiten Mal Spenden für Vakuumpumpen für Unterdrucktherapie zur Behandlung von Kriegswunden. Zudem baut sie ein Rehazentrum für Soldaten, die gegen Russland kämpfen. Im November 2022 organisierte Tanja das belarussisch-ukrainische Filmfestival Na Mjashy (dt. An der Grenze), auf dem die ukrainischen Zuschauer mehr über Belarus erfuhren, und die belarussischen über die Ukraine.

    Welche künstlerische Herangehensweise ist Ihnen bei Ihrer Arbeit wichtig?

    Als ich die sozialen Reaktionen fotografierte, ging ich maximal auf Abstand. Ich fokussierte auf das Geschehen selbst, nicht auf den Menschen. Ich betrachtete die Prozesse, nicht das individuelle Heldentum. Wenn du vom Krieg weit entfernt bist, wird sein Bild oft von Bildern von der Front geprägt, von der Zone der aktiven Kampfhandlungen. Aber das Leben geht überall weiter, das ganze Land, in jedem Winkel, reagiert auf den russischen Angriff. Mir war es wichtig zu zeigen, dass das Leben im Krieg in erster Linie eben das Leben ist, in all seinen Ausprägungen, Leid, Freude, Kampf. Manchmal scheint es, dass gar nichts passiert, doch wenn du dann hinausgehst, kannst du nicht übersehen, in welchem Zustand sich das Land befindet: Plakatwände, Werbung, Radio, Fernsehen – überall Krieg; Menschen in Militäruniform, Panzerigel, mit Säcken verbarrikadierte Fenster – all das gehört gerade zum Bild einer jeden ukrainischen Stadt. All das hinterlässt ohne Frage Spuren bei den Menschen. Und bei alldem freuen wir uns, erholen wir uns, reisen wir. Dieses Gefühl wollte ich mit meinem Projekt vermitteln.

    Was planen Sie für die Zukunft?

    In Minsk hatte ich eine Schule für Fotografie, ФШ1 (FSch1). Neben der Ausbildung beschäftigten wir uns damit, ein Netzwerk aufzubauen, uns war es wichtig, junge Fotografen zu unterstützen. Wir organisierten Filmabende, gaben Fotografen eine Bühne, luden erfahrene Kollegen zu Artist Talks ein, organisierten Partys. Diese Arbeit würde ich gern wieder aufnehmen. Leider hat sich das Netzwerk seit 2020 auf verschiedene Länder verteilt. Ein Großteil der Leute war noch in Minsk und in Warschau. Ich würde die Kontakte gern wieder aufbauen. Es wäre großartig, wenn die Menschen sich wieder treffen und kreativ arbeiten könnten. Für diejenigen, die in der Heimat geblieben sind, will ich Online-Veranstaltungen organisieren, doch am wichtigsten sind persönliche Treffen. Wir haben ein solches Treffen bereits in Warschau durchgeführt, es war sehr herzlich und lebensbejahend.

     

    Julia und ihre Katze Fujuza flüchten während der Luftangriffe auf Lwiw ins Badezimmer. Das Bad ist der einzige Ort in der Wohnung, der dem Zwei Wände-Prinzip gerecht wird / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Katze Fujuza hat sich selbst in den Koffer gepackt / rechts: Oxana mit Blumenvase nach Alinas Geburtstag. Alina gehört zur belarussischen Community in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Julia kuschelt mit Katze Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Julia, Alina, Tanja und Jas arbeiten während eines Luftangriffs. In den ersten Kriegsmonaten wurde empfohlen, die Fenster zu verdunkeln, also auch das Licht auszuschalten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Tanja und ihr Hund Kailas in ihrer Wohnung in Kyjiw / rechts: Tisch in Alinas Wohnung / Fotos © Yauhen Attsetski
    Alina umarmt Tanja bei einer Veranstaltung im Menschenrechtszentrum in Tschernihyw / Foto © Yauhen Attsetski
    Oleg ist Belarusse, er lebt in Charkiw. Im November 2022 wurde er Mitglied der belarussischen Community in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Die Küche in Julias und Shenjas Wohnung in Lwiw nach einer Party / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Julia mit ihrer Katze Petra / rechts: Fujuza trinkt Wasser aus dem Hahn / Fotos © Yauhen Attsetski
    Ikonen in der Mietwohnung, in der Julia und Shenja leben. In Lwiwer Wohnungen sind Ikonen keine Seltenheit / Foto © Yauhen Attsetski
    Plausch auf dem Balkon: Alina, Danik, Julia, Jegor und Kätzchen Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Kater Uwashajemy (dt. Sehr geehrter) / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Sonniger Tag in Lwiw im Februar 2023 / rechts: Religiöse Malerei an einem Gebäude in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Mascha auf einem Ausflug nach Werchowina, eine Stadt in den Karpaten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Oxana auf einer Party / rechts: Anissa mit einem Kopfschmuck, den sie auf der Reise in die Karpaten in einem Haus gefunden hat / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Jegor auf dem Balkon ihrer Mietwohnung in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick aus dem Zugfenster, auf dem Weg in die Berge / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Fujuza versteckt sich hinter dem Vorhang / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia trinkt einen Cocktail / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick auf Werchowina aus dem Gebäude des Busbahnhofs / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Shenjas und Julias Wohnung / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia entspannt im Pool / Fotos © Yauhen Attsetski
    Hund Kailas im Kofferraum / Foto © Yauhen Attsetski

    Fotografie: Yauhen Attsetski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Tina Wünschmann
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 04.07.2023

    Weitere Themen

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Kontaktprellen

    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Welchen Preis hat der Krieg für Belarus?

  • Bilder vom Krieg #11

    Bilder vom Krieg #11

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lesha Berezovskiy

    Dom Kultury | Kulturhaus / Foto © Lesha Berezovskiy, 2. April 2023 in Derhatschi, Oblast Charkiw

    LESHA BEREZOVSKIY

    [bilingbox]Ich kam mit Freunden von der Freiwilligenorganisation Livyj Bereh in die Oblast Charkiw. Die vergangenen sechs Monate hatten sie vor allem Dächer in der Gemeinde Derhatschi repariert, die zu Beginn der Invasion heftig bombardiert worden war, als die Russen versuchten Charkiw einzunehmen. 

    Dieses Gebäude weckte meine Aufmerksamkeit. Erstens war es das Dom Kultury (Kulturhaus), das seit Anfang der Invasion als humanitäres Hilfszentrum genutzt worden war. Menschen aus allen naheliegenden Dörfern kamen und holten sich Essen, Medikamente und andere humanitäre Hilfsgüter. 

    Neben allem berührte mich vor allem die Flagge der EU zwischen all den ukrainischen Flaggen, was die Haltung der Ukrainer klar zeigt – worüber Russland offensichtlich nicht froh ist. Deswegen setzen sie ihre Kriegsverbrechen in der Ukraine fort.

    In meinen Bildern möchte ich die Wahrheit und Komplexität der Situation zeigen. Und auch meine eigenen Erfahrungen als Mensch, der diesen Krieg seit fast neun Jahren miterlebt. Er drang erstmals 2014 in mein Leben, als ich in Donezk lebte.

    Die russische Propaganda hatte schon seit Jahrzehnten nicht nur innerhalb Russlands hervorragend funktioniert, sondern auch in der Ukraine und der ganzen Welt. Sie haben sich unglaublich ins Zeug gelegt, um im Westen die Meinung zu etablieren, dass die Ukraine ein Teil von Russland sei. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sie diesen Krieg vorbereitet. Und die ukrainische Identität schon lange davor angefangen zu zerstören, wie auch viele andere Nationalitäten auf dem Gebiet der Ex-UdSSR.

    Ich bin kein Fotoreporter oder Fotojournalist, sodass ich oft lieber nicht fotografiere, weil ich die Ereignisse zu verstörend finde und niemandem zu nahe treten möchte. Also versuche ich, eine tieferliegende Schicht des Krieges zu zeigen. In dem Schweizer Online-Magazin Republik mache ich seit dem ersten Tag der Invasion eine Kolumne und es kam viele Male vor, dass ich es vorzog, über Ereignisse zu schreiben, ohne davon Bilder zu machen.

    Wie sich meine Fotografie im Verlaufe des Kriegs verändert hat? Von der Technik her vielleicht: Ich fotografiere jetzt auch digital, zusätzlich zum Analogfilm, denn in den ersten Monaten nach dem 24. Februar 2022 war es einfach zu heftig: Mit einer analogen Kamera herumzulaufen und nicht zeigen zu können, was du gerade fotografiert hattest, war ein bisschen bedenklich. Also habe ich mich an eine kleine Digitalkamera gewöhnt, fotografiere aber immer noch lieber Mittelformat.

     

    LESHA BEREZOVSKIY

    Lesha Berezovskiy, 1991 geboren in der Oblast Luhansk, ist ein Fotograf aus der Ukraine. Der Autodidakt wuchs im Donbas auf, zwischen der rauen Industriestadt Jenakijewe und dem ruhig ländlichen Nowoaidar, wo seine Großeltern lebten und wohin die Mutter ihn und seine Schwester oft schickten, um ihn vor den harten Vibes der Stadt zu schützen. Dort verbrachte er die Tage mit Ziegenhüten und in der schönen Natur am Fluss Aidar. Hier entwickelte Lesha seine Liebe zur Natur und lernte es zu schätzen, Zeit allein und mit seinen Gedanken zu verbringen – etwas, das in seinen Fotografien von Beginn an spürbar war und sich in einer feinen Wahrnehmung der Atmosphäre eines Gegenstands oder einer Situation niederschlägt – und Leben in seine Bilder bringt.

    Lesha Berezovskiys Bildkolumne „Leben in Trümmern“ gibt es nun auch als Buch, derzeit arbeitet er unter anderem am Projekt „War Knocked On My Door Again“.~~~I went to Kharkiv region with my friends from volunteer organization Livyj Bereh. Over the past 6 months they were focused on fixing roofs in Derhachi hromada which was bombed heavily in the beginning of the full scale invasion when russians tried to occupy Kharkiv. 


    This particular building especially dragged my attention. First of all it was the house of culture which was actually used as a humanitarian hub since the full scale invasion began. People from all the nearest villages were coming there to get food, medicine and other humanitarian aid. Besides this what really touched me was the flag of EU along with Ukrainian flags which clearly shows the position of Ukrainians – and russia is obviously not happy with it. That’s why they keep committing war crimes in Ukraine.

    The truth and complexity of the situation are what I was trying to show in my pictures. Also my own experience as a person who experiencing this war for almost nine years. First it has broke in to my life in 2014 when I lived in Donetsk. 
    Russian propaganda worked very well for decades not only inside russia itself but also in Ukraine and all over the world. They’ve put so much effort to establish the opinion of Ukraine in the West like it’s a part of russia. They’ve been preparing for this war since the fall of USSR. And destroying Ukrainian identity even long before, as well as many other nationalities within the territory of ex-USSR. 


    I’m not a reportage photographer or photojournalist, so often I prefer not to photograph because I find the events too disturbing and don’t want to make anyone uncomfortable. So I try to show this war on a bit deeper level. I’ve been doing a column at Swiss magazine Republik since the first day of full scale invasion and there were many times when I chose to write about some events without taking pictures of it. 

    – Did your photography change in the course of the war? If so, in which way? 

    It may have changed a bit in technical aspect. I started using digital in addition to film because first months after 24.02.2022 were too incense and walking around with a film camera without ability to show what did you take a picture of was a bit risky. So I got used to small digital camera but I still prefer medium format on film. 

     

    LESHA BEREZOVSKIY

    Lesha Berezovskiy (*1991 Luhansk Oblast) is a photographer from Ukraine. The auto-didact grew up in Donbas, between the rough industrial city of Yenakijeve and the quiet, rural town of Novoaidar, where his grandparents lived and where his mother sent him and his sister as often as possible, in order to protect them from the tough city vibes. There, spending the days hoarding goats and enjoying nature by the Aidar River, Lesha developed his love for nature and learned to appreciate the time and space alone with his thoughts – a characteristic that has been recognizable in his photography from the very beginning, manifesting itself as a very fine sense for the atmosphere surrounding a subject or a situation, bringing his images to life.[/bilingbox]

    Foto: Lesha Berezovskiy
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 28. Juni 2023

    Weitere Themen

    Bilder vom Krieg #5

    Bilder vom Krieg #6

    Bilder vom Krieg #7

    Bilder vom Krieg #8

    Bilder vom Krieg #9

    Bilder vom Krieg #10

  • Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    In der Rhetorik des Kreml ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bis heute bloß eine „militärische Spezialoperation“ – ein begrenztes Unterfangen, das irgendwo in der Ferne stattfindet, aber den Alltag der Menschen in Russland nicht weiter beeinträchtigt. Diese Erzählung verliert immer stärker an Glaubwürdigkeit, je mehr der Krieg auch in Russland zu spüren ist: sei es durch Drohnenangriffe auf Moskau oder Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet. 

    Für die Menschen in der Oblast Belgorod ist der Krieg schon lange eine Realität, die sich nicht ignorieren lässt. Von dort rückten im Februar 2022 russische Besatzungstruppen auf die ostukrainische Stadt Charkiw vor, nahmen die Region unter Beschuss und provozierten entsprechend Gegenfeuer auch von ukrainischer Seite aus. Zum Brennpunkt auf russischem Gebiet entwickelte sich die grenznahe Kleinstadt Schebekino mit einst rund 40.000 Einwohnern, von denen viele die Stadt inzwischen verlassen haben. Die Region geriet jüngst in die Schlagzeilen, nachdem russische Freiwilligenverbände, die für die Ukraine kämpfen, die Grenze mit gepanzerten Fahrzeugen überquerten und Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet verübten. Dazu bekannten sich die Legion Freiheit Russlands sowie das Russische Freiwilligenkorps (RDK) um den Neonazi Denis Kapustin, der auch in Westeuropa kein Unbekannter ist.

    The Insider war vor Ort unterwegs und berichtet von leeren Straßen, zerstörten Häusern und von Menschen, die sich von ihrer Regierung im Stich gelassen fühlen. Eine Reportage aus der russischen Grenzstadt Schebekino, wo der Krieg inzwischen in voller Wucht angekommen ist.

    1. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“

    „Wir wissen, was ihr in Moskau denkt. Ihr denkt, wir wären irgendein Dorf. Nicht mal den Namen der Stadt könnt ihr richtig schreiben!“, beschwert sich einer der Sicherheitsbeamten in der Grenzstadt Schebekino, mutmaßlich ein Mitarbeiter des FSB. „Wir kriegen hier alles ab, und bei euch kommen nicht mal gescheite Nachrichten darüber, was hier los ist!“

    Wir sitzen im Keller des Polizeireviers in Schebekino. Hier wurde ich hergebracht, weil ich die kaputte Fensterscheibe eines Schönheitssalons auf der zentralen Einkaufsstraße der Stadt fotografieren wollte. Das Geschoss hatte das Kulturzentrum getroffen, aber die Detonationswelle hat Fensterscheiben im Umkreis von zig Dutzend Metern bersten lassen. Die Soldaten tauchten aus dem Nichts auf. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“, sagten die bewaffneten Männer, nahmen mir Handy und Ausweis ab, setzten mich ins Auto, fuhren mich aufs Revier und brachten mich dann in den Keller. Vielleicht, um mich einzuschüchtern, vielleicht aber auch zum Schutz vor den Einschlägen: An jenem Tag wurde Schebekino vier Mal beschossen, es donnerte fast ununterbrochen über unseren Köpfen.

    Nach einem Einschlag irgendwo in der Nähe geht das Licht aus. Das Verhör wird im Dunkeln fortgesetzt. Keiner von den Polizisten hat sich mir vorgestellt. Sie suchen ukrainische Kontakte, scrollen durch die Fotos in meinem Handy, das entsperrt war, als sie es mir aus der Hand gerissen haben. Wollen DNA-Proben und Fingerabdrücke nehmen, aber die Technik macht nach dem Einschlag nicht mit. Der Ton wird weicher, als sie irgendwo in meinen Nachrichten eine Bestätigung dafür finden, dass ich wirklich Journalistin bin. Die Presse interessiert sie in dieser Situation weniger.

    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider
    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider

    „Solche Spielchen spielen wir hier nicht. Wir haben keine Zeit für einen Krieg gegen Journalisten, wir führen hier einen echten. Nur die bei euch in Moskau wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen“, sagt genervt der eine Mitarbeiter, der sich mir immer noch nicht vorgestellt hat. Er muss sich sichtlich beherrschen, keine direkte Kritik an der Zentrale zu üben, aber das gelingt ihm nur mäßig. Genau wie der Großteil der Bevölkerung der Oblast Belgorod sind auch die hiesigen Behörden empört über die Gleichgültigkeit des Kreml gegenüber den Ereignissen im Grenzgebiet und das Ausbleiben jeglicher Hilfe. Nach knapp vier Stunden darf ich den Keller verlassen.

    Auch die hiesigen Behörden sind empört über die Gleichgültigkeit des Kreml

    Mein Gesprächspartner ärgert sich, dass sie in der Oblast „nicht einmal den Kriegszustand“ ausgerufen hätten: „Offiziell war das hier nur eine Antiterroroperation, aber die wurde beendet. Jetzt gibt es hier gar keinen besonderen Status. Aber wir arbeiten immer noch genau so“, versucht mir der Polizist die Festnahme, Durchsuchung und Befragung zu erklären.

    Wir verlassen das Revier, der Mitarbeiter begleitet mich zu unserem Auto, das beim Krankenhaus von Schebekino in einer Seitenstraße wartet. „Schreiben Sie lieber was darüber, wie wir trotz der ganzen Sache hier versuchen zu arbeiten“, klagt der Polizist. Das Stadtzentrum hat sich während meiner Stunden im Keller verändert: Die Bürgersteige sind mit Glasscherben übersät, hinter dem Polizeigebäude steigen schwarze Rauchwolken auf. Drei Tage später wird auch das Polizeirevier getroffen, in dem ich gerade verhört wurde.

    2. „Unser russisches Donezk oder Mariupol“

    Die Folgen von Putins Krieg sind in Schebekino seit dem Beginn der „Spezialoperation“ spürbar. Nach dem 24. Februar stand der Landkreis regelmäßig unter Beschuss, aber es handelte sich dabei um einzelne Gegenschläge. Die Oblast Belgorod diente als Aufmarschgebiet für die Offensiven gegen Charkiw und Sumy, und auf den Feldern, Äckern und rund um die Ortschaften herum war regelmäßig russische Kriegstechnik stationiert. Auch solche, mit der die Ukraine beschossen wurde. Doch eine derartige Eskalation hat in Schebekino niemand erwartet. Noch am 25. und 26. Mai war es in der Stadt verhältnismäßig ruhig, nur gelegentlich donnerte es. „Das ist die Luftabwehr“, sagten die Bewohner und schenkten dem nicht allzu viel Beachtung. Die Kinder spielten weiter auf der Straße, die Rentnerinnen hatten es nicht eilig, ihre angestammten Plätze auf den Bänken zu verlassen. Am Morgen des 27. Mai heulten in der Stadt die Sirenen los. Die waren allerdings im Zentrum kaum zu hören – im Gegensatz zu den Explosionen direkt über den Köpfen. An diesem Tag wurde Schebekino vier Mal angegriffen. Mit jedem Tag nahm die Intensität der Beschüsse zu.

    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider
    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider

    Während wir die Lenin Straße entlangfahren, gibt es wieder Luftalarm. Wir halten an, steigen aus und laufen in einen Hof, in den Pfeile mit der Aufschrift „Schutzbunker“ weisen, aber wir finden nur eine abgeschlossene Kellertür. Wir warten ein paar Minuten, aber es kommt niemand, der uns aufschließen könnte. Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann. Die Frauen winken uns zu, wir gehen rein. In diesem Moment ertönt direkt über uns ein lauter Knall, alle schreien auf.

    Wenn es pfeift, sind es die Ukrainer, wenn es Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere Leute

    „Wer war das? Unsere Leute oder die anderen?“, fragt eine Frau in einer Mischung aus Russisch und Ukrainisch und späht aus der Tür. Viele ältere Bewohner der Oblast Belgorod sprechen Surshyk. „Wenn es pfeift, dann sind es die Ukrainer, wenn es einfach nur Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere. Wenn es pfeift, ist es gefährlicher, dann ist was im Anflug.“

    „Unsere Leute“, so die hiesigen Bewohner, positionieren ihre Kriegstechnik am Stadtrand von Schebekino. Den Geräuschen nach zu urteilen, werden die Geschosse wenige Kilometer von uns entfernt abgefeuert. Vergangenen Sommer standen die Armeefahrzeuge mitten in der Stadt – Ural- und KamAZ standen auf dem Krankenhausgelände, das an eine große Militärbasis erinnerte. Die Einfahrten wurden von Bewaffneten mit Maschinenpistolen kontrolliert. Zutritt bekam man nur mit Genehmigung. Jetzt ist das Krankenhaus leer. Nach dem Beginn der massiven Beschüsse wurden die Patienten nach Belgorod verlegt. Geblieben sind nur ein paar diensthabende Ärzte.

    Am 28. Mai meldete Wjatscheslaw Gladkow, Gouverneur der Oblast Belgorod, 116 Einschläge im Stadtgebiet Schebekino, am 30. Mai waren es bereits 215, am 1. Juni dann der Rekord mit 850 und am 2. Juni 371. Unter den Beschüssen leiden neben der Stadt Schebekino auch die Grenzdörfer Nowaja Tawolshanka und Murom. Letzten Sommer hatte das russische Militär zwischen Murom und Archangelski eine große Reparatur-Basis für Militärtechnik aufgeschlagen. Als die Oblast Charkiw okkupiert war, konnte man hier Raketenwerfer und andere Kampffahrzeuge sehen.

    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider
    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider

    Ende Mai boten die Ladenflächen noch Schutz. Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen werden. Aber einige Tage später wurden die Geschäfte geschlossen. Jetzt besteht Schebekino aus leeren Straßen, zerstörten Häusern und brennenden Dächern. Von den Zerstörungen betroffen sind sowohl Hoch- und Einfamilienhäuser als auch Verwaltungsgebäude; ein Wohnheim, zwei Fabriken und zahlreiche Autos sind ausgebrannt. In der Stadt gibt es seit Tagen weder Strom noch Wasser, der öffentliche Verkehr und das Mobilfunknetz sind zusammengebrochen. Am 1. und 2. Juni bildeten sich an den Tankstellen Staus. Die Einfallstraßen in die Stadt sind in alle Richtungen gesperrt und werden von ganzen Militärbrigaden kontrolliert. Bis zum 1. Juni konnte man Schebekino noch durch die Ortschaft Titowka erreichen, dann wurde auch diese Straße gesperrt.

    „Die Stadt ist leer, alles brennt, Rauchsäulen, hungrige Hunde, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden, suchen nach Fressen. Ein furchtbarer Anblick“, erzählt eine Einwohnerin, die Schebekino am 2. Juni verlassen hat.

    „Unsere schöne, saubere Stadt ist jetzt quasi ein russisches Donezk oder sogar Mariupol. Sie haben sie ihren waghalsigen Abenteuern geopfert“, beklagt Wadim, der in Schebekino geboren und aufgewachsen ist.

    3. Die Geiseln von Schebekino

    Schebekino ist die erste russische Stadt, die die Bewohner wegen des von Putin entfesselten Krieges verlassen müssen, allerdings wurde keine offizielle Evakuierung ausgerufen. Aber weil die Stadt gesperrt ist, wird es für viele zur echten Herausforderung, hier rauszukommen.

    Am 1. Juni haben die Behörden Busse bereitgestellt, die die Menschen von Schebekino nach Belgorod bringen sollten. Aber zu den Sammelpunkten außerhalb der Stadt mussten die Menschen irgendwie selbst kommen. Manche legten mehrere Kilometer zu Fuß zurück. Ältere und gebrechliche Menschen waren tagelang dem Beschuss ausgesetzt. Auch ihre Angehörigen konnten sie nicht abholen, weil die Stadt gesperrt war. Die Einwohner von Schebekino richteten Selbsthilfe-Chats ein, in denen sie dringend jemanden suchten, der ihre Eltern oder Haustiere aus der Stadt bringt.

    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider
    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider

    „Bitte, holt uns hier raus, wir haben Kinder, unsere Mutter ist krank. Was sollen wir tun??? Helft uns bitte!!! Irgendjemand, bitte!!!“, schreibt eine Einwohnerin. Und solche Nachrichten gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte.

    „Die Menschen in Murom bei Schebekino haben seit acht Tagen keinen Strom, im benachbarten Siborowka seit vier Tagen“, kann man in den sozialen Netzwerken lesen. „Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung – nehmen Anfragen entgegen und schweigen sich aus. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust. In Murom bricht die Verbindung immer wieder weg.“

    Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust

    In den Chats bitten die Menschen Freiwillige, ihre Haustiere zu füttern, die angeleint zu Hause geblieben sind. Manche warten nicht nur für Hunde und Katzen auf Hilfe, sondern auch für Hühner und Ziegen.

    „Familie, drei Erwachsene, ein Kind, 7 Jahre, Kreis Schebekino, Maslowaja Pristan. Mit Vieh: 14 Ziegen, 30 Hühner, 9 kleine, gutmütige Hunde, 2 Katzen. Suchen gezwungenermaßen ein neues Zuhause, ein Haus, mit Möglichkeit für Tierhaltung“, lautet eine Hilfsanfrage.

    Allerdings gibt es auch Personen, die weniger Schwierigkeiten haben, sich durch die Oblast zu bewegen, als die Belgoroder selbst, zumindest in den Grenzgebieten – und zwar ukrainische Diversionsgruppen und die Kämpfer des Russischen Freiwilligenkorps (RDK). Ihr Auftauchen sorgt kaum mehr für Verwunderung bei der einheimischen Bevölkerung.

    4. „Das ist keine Grenze, sondern eine offene Tür“

    „Unsere Grenze ist nicht nur löchrig, sie ist freizügig wie ein Stringtanga! Also schon eine Unterhose, aber alles offen. Genauso ist das bei uns“, – der Belogoroder Jewgeni versucht gar nicht erst, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er ist vor 16 Jahren aus Norilsk hierher zu den Eltern seiner Frau gezogen. Die Region schien ihm das Paradies auf Erden: ein großes Haus, bestes Klima, 60 Kilometer bis ins ukrainische Charkiw. Er erzählt, dass sie früher oft hin- und hergefahren seien: Aus der Ukraine konnte man günstig und bequem nach Europa oder nach Asien fliegen. Jetzt geht das Ehepaar nach Pensa.

    „Unsere Eltern und die Kinder haben wir schon vorgeschickt. Ich musste unbezahlten Urlaub nehmen. Wir sind direkt von der Fabrik aus losgefahren. Ich habe zu viel Angst, um hierzubleiben, ich verliere lieber Geld als mein Leben“, sagt Jewgenis Frau.

    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google
    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google

    Wir stehen an der Ausfahrt von Schebekino an einer geschlossenen Gazprom-Tankstelle. Das ist reiner Zufall: In diesem Gebiet ist kein Empfang, das Navi spinnt und statt uns nach Belgorod zu führen, schickt es uns irgendwo Richtung ukrainische Grenze. Dorthin sind es von hier noch drei Kilometer, gleich hier ist die Kreuzung, wo man nach Woltschansk abbiegen muss, dort geht es dann zum Grenzübergang Schebekino. Und genau dort gab es laut Medienberichten am 1. Juni einen Versuch, von ukrainischer Seite aus die Grenze zu durchbrechen, und es kam zu einem Panzergefecht.

    Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da

    Die Abzweigung Richtung Grenzübergang Schebekino liegt verlassen da. Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da. Leere Befestigungen, eine offene Schranke, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“. Solche wurden verwendet, um entlang der ukrainischen Grenze die „Wagner-Linie“ zu ziehen. Die ist von hier aus zu sehen. Als das Verhältnis zwischen der Söldnertruppe und dem Verteidigungsministerium schlechter wurde, hieß diese Linie in den staatlichen Medien übrigens nicht mehr Wagner-Linie, sondern wurde zur „Belgoroder Verteidigungslinie“.

    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider
    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider

    Diese Befestigungsanlagen aus Betonkegeln scheinen ein Eindringen auf russisches Gebiet allerdings nicht wirklich zu verhindern. Russische Freiwilligeneinheiten, die den ukrainischen Streitkräften angegliedert sind, posten fast täglich Fotos und Videos aus russischen Grenzdörfern. Normalerweise geben sie keine Adresse an, aber in vielen Fällen kann man diese über Google Maps zurückverfolgen, vor allem wenn die Aufnahmen mit Drohnen gemacht wurden.

    So ist etwa auf einem Video vom 1. Juni die Zerstörung von militärischem Gerät zu sehen, das russische Soldaten im Dorf Nowaja Tawolshanka versteckt hatten, in der Gegend um die Pestschanaja Straße. Ein Foto von einem Panzer mit weiß-blau-weißer Flagge hat die Legion Swoboda Rossii [dt. Freiheit Russlands] am Anfang der Saretschnaja Straße in demselben Dorf gemacht. Von dort sind es bis zur ukrainischen Grenze nur 500 Meter. Diese russischen Grenzdörfer, in denen das russische Freiwilligenkorps RDK herumspaziert, hat keiner evakuiert. Das Dorf Nowaja Tawolshanka zum Beispiel hat rund 5000 Einwohner – alles lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken.

    Die Bewohner von Nowaja Tawolshanka sind lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken

    Die Videos der Legion Freiheit Russland zeigen, wie sich in den Wohnhäusern russische Soldaten verschanzen, die ihre Schützenpanzer am Gartenzaun oder einfach direkt vor den Häusern parken. Beim RDK, dem russischen Freiwilligenkorps, heißt es, es sei das russische Militär, das grenznahe Dörfer beschießen würde, um die Positionen des RDK zu vernichten. 

    Den Sicherheitsmann an der Tankstelle wundern die Versuche, die Grenzübergänge zu stürmen, offenbar nicht. Ihm zufolge kommen regelmäßig Ukrainer ungehindert in die Oblast Belgorod und kehren genauso unbehelligt wieder zurück. Die russische Regierung habe es nicht eilig, die Grenze abzusichern.

    „Die gehen aus und ein, als wären sie hier zu Hause. Wieso auch nicht, die Grenze steht offen wie eine Tür“, ärgert sich der Mann. „Kürzlich schau ich über die Felder, und da seh ich, wie etwa einen Kilometer weit weg etwas in der Sonne glänzt. Ich seh genauer hin – ein Pickup. Er wendet und beginnt zu schießen, er hatte ein Maschinengewehr oder einen Granatwerfer montiert, keine Ahnung. Die standen da eine Weile und schossen, dann fuhren sie gemächlich wieder zurück. Ohne Angst vor einem Gegenschlag – sie wissen ja, dass da keiner kommt.“

    5. „Wir sitzen den dritten Tag im Keller – für das Land ist Donezk leider wichtiger“

    Ein schwerer Schlag war für die Belgoroder auch das Schweigen der staatlichen Medien zur Lage in ihrer Region. Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender detailreich von den Erfolgen der russischen Armee rund um Awdijiwka in der ukrainischen Oblast Donezk. 

    „Wir sind denen allen scheißegal. Wir sitzen den dritten Tag im Keller, mein Kind hat schrecklich Angst, kann die ganze Zeit nicht raus. Aber für das Land ist Donezk offenbar wichtiger“, beschwert sich Tatjana aus Schebekino in den sozialen Netzwerken.

    Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender von den Erfolgen der russischen Armee in der Ukraine

    „Seit dem frühen Morgen hagelt es Raketen, alles brennt. Aber die großen Sender wissen anscheinend nicht mal, dass Schebekino existiert“, empört sich der User Konstantin Seliwanow.

    Der erste russische Fernsehsender Perwy Kanal widmete dem heftigen Angriff auf die Stadt am 27. Mai gerade mal eine Minute. In den Kommentaren zum Social-Media-Auftritt des Senders begannen die Leute zu fordern, dass diese Situation nicht weiter vertuscht wird, aber die Reaktion der Senderleitung beschränkte sich offenbar darauf, das Wort Schebekino zum Tabu zu erklären. Kommentare zum Thema Schebekino wurden entfernt. Findige User fingen an, Schebekino in lateinischer Schrift zu schreiben, um den Filter zu umgehen, aber dann wurde die Kommentarfunktion komplett ausgeschaltet. 

    In den sozialen Medien von Belgorod wurde unter den Hashtags #SchebekinoistRussland und #fürSchebekino zu Flashmobs aufgerufen, um die Aufmerksamkeit der staatlichen Medien zu erregen. „Die halbe Stadt ist zerstört. Keiner will uns verteidigen. Russen, helft uns“, schreibt eine Bewohnerin im Chat und bittet um Verbreitung ihres Appells.

    Die Hartnäckigkeit der Belgoroder hat mittlerweile tatsächlich Früchte getragen. Die staatlichen TV-Kanäle berichten nun doch über Schebekino, widmen dem Thema mehr Sendezeit. Aber wie heißt es so schön – hätten sie doch lieber geschwiegen: Der russische Abgeordnete Andrej Guruljow rief in der Sendung Solowjow Live dazu auf, „anzugreifen und plattzumachen, auch Schebekino … wenn’s sein muss mit Gleitbomben“. Offenbar hält er Schebekino für eine ukrainische Stadt. Und in der politischen Talk-Show 60 Minuten auf dem Sender Rossija-1 konnten sich Putins „Experten“ mit ihren schlauen Gesichtern nicht einmal den Namen der Stadt richtig merken, von der sie sprachen – mal sagten sie Schmjakino, dann wieder Schimekino.

    Das demonstrative Desinteresse seitens der staatlichen Medien macht sogar Bewohner wütend, die der Regierung gegenüber ansonsten loyal sind, hier aber das Gefühl haben, die ganze Oblast würde im Stich gelassen, die Leute würden verarscht und als lebende Schutzschilde missbraucht. Wie sich das auf die Umfragewerte der Regierung in der Region auswirkt, wird man sehen. Aber wohl kaum positiv.

    Es sind jetzt merklich weniger Zetts zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt

    „Es war interessant zu beobachten, wie nach der Ankündigung der Mobilmachung plötzlich Autos mit Spuren von abgerissenen Z-Stickern zu sehen waren“, erzählt Kristina [Name geändert – The Insider], Journalistin bei einer Belgoroder Zeitung. Sie hat den Eindruck, dass die Mobilmachung die Stimmung in der hiesigen Bevölkerung beeinflusst hat. Belgorod, wo wir Kristina treffen, scheint sich im letzten Jahr tatsächlich verändert zu haben. In etlichen Freiwilligen-Chats beklagten die Administratoren im Frühjahr, dass die Spenden weniger geworden seien. Die hurra-patriotischen Billboards Für Putin und Für Russland wurden stellenweise durch Plakate ersetzt, die dazu aufrufen, Vertragssoldat zu werden. An den Türen der Geschäfte und in den Fenstern von Gebäuden im Zentrum und in der ganzen Stadt sind jetzt merklich weniger Zs zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt. Heute prangt dafür auf jedem Haus ein Wegweiser zum Schutzraum.   

    6. Schutzraum betreten nur mit Gasmaske

    Das Artilleriefeuer auf Schebekino hat die Frage nach der Verfügbarkeit von Schutzräumen in Belgorod aufgeworfen. Aufgrund der Menge der Hinweisschilder könnte man annehmen, die Behörden seien dieses Thema ernsthaft angegangen. Wie sich jedoch zeigt, blieb es bei den Wandmalereien. Ich suche in dem Wohnblock, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, nach einem Schutzraum.

    „Sie schaffen es sowieso nicht bis zu einem Schutzraum, wenn die zu schießen anfangen“, sagt eine Nachbarin. „Wenn die Sirene heult, muss man im nächstmöglichen Haus über die Gegensprechanlage jemanden rufen, und der kommt dann raus und schließt den Keller auf.“ „Ganz ehrlich, mein liebes Mädchen“, mischt sich eine zweite Nachbarin ein, „diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen!“

    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider
    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider

    Nach den Angriffen auf Schebekino hat sich die Situation mit den Belgoroder Schutzräumen nicht verändert, meint die Lokaljournalistin. Und tatsächlich, die Pfeile an den Häusern führen zu Kellern, die abgeschlossen sind.  

    Der „Schutzraum“ sieht aus, als hätte ihn lange keiner mehr geöffnet: Von der kaum anderthalb Meter hohen Tür steckt der untere Rand in Erde und Geröll. Aus dem verschlossenen Keller dringt ein ekelerregender Gestank.

    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider
    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider

    Ein Gemeindebediensteter hilft mir, doch noch in so einen Schutzraum zu gelangen, aber das bereue ich sofort. Die Nachbarin hatte recht: Ohne Gasmaske hält man es in dem Keller maximal eine Minute aus, genauso lang, wie man den Atem anhalten kann. Der Mann, der mir den Keller zeigt, ist vorsorglich draußen stehengeblieben.

    7. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“  

    Belgorod hat die meisten evakuierten Einwohner von Schebekino aufgenommen. Erst mal in mehrere Auffanglager. In der ersten Nacht schliefen tausende Menschen Schulter an Schulter: Die Betten wurden ganz dicht aneinander aufgestellt, es gab keine Privatsphäre und zu wenig Hygieneartikel und Kindernahrung – die wurden von Freiwilligen gebracht. Jeder hatte eine Fläche von zwei Quadratmetern.  

    Dann wurden die Evakuierten in Wohnheimen der technischen Fachschulen und der Staatlichen Universität Belgorod untergebracht. Dafür wurden allerdings Studenten aus ihren Zimmern geworfen, noch dazu, wie Betroffene erzählten, um zwei Uhr nachts. Ihnen wurden Zimmer mit Kakerlaken und ohne jeglichen Komfort angeboten, und wer protestierte, dem wurde nahegelegt, auszuziehen.

    Viele aus Schebekino wollen nach wie vor nicht wegziehen – und dafür gibt es einen Grund: In so einer temporären Unterkunft kann man ein Jahr oder noch länger festsitzen, wie es Leuten aus dem Grenzdorf Sereda im Stadtgebiet Schebekino passiert ist. Das Dorf wurde gleichzeitig mit zwei anderen – Shurawljowka und Nechotejewka – gleich als erstes evakuiert im Frühjahr 2022. Die Menschen leben immer noch in Auffanglagern. Wegen der Artilleriefeuer können sie nicht nach Hause zurück, aber so viel Geld, dass sie sich eine neue Wohnung kaufen oder wenigstens mieten können, bekommen sie vom Staat nicht.

    Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle

    Zudem ist es in den Auffanglagern nicht immer ungefährlich. Das Zentrum, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss. Ein Wachmann kam ums Leben. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“, hieß es in den sozialen Medien verächtlich. Erst danach wurden die Menschen endlich an einen halbwegs sicheren Ort gebracht. Wobei natürlich niemand weiß, wie lange dieser Ort noch sicher sein wird: In Schebekino hatte auch keiner erwartet, einmal direkt an der Frontlinie zu wohnen.

    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider
    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider

    Die Behörden könnten die Situation für die Bewohner verbessern, indem sie in der Oblast den Notstand ausrufen. In diesem Fall bekämen kinderreiche Familien 15.000 Rubel [etwa 165 Euro – dek], alle anderen 10.000 Rubel [etwa 110 Euro – dek] für die Miete einer Wohnung. Aber noch kann davon keine Rede sein: Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle und als gäbe es auf russischem Staatsgebiet keinen Krieg.

    Weitere Themen

    Im Schienenkrieg gegen Putin

    „Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Bilder vom Krieg #8

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

  • „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    Unterstützen die Leute in Russland den Krieg gegen die Ukraine? Das scheint eine zentrale Frage sowohl für Forschende, als auch für Journalistinnen und Journalisten zu sein, die sich mit dem Land beschäftigen. Die renommierte Journalistin Jelena Kosjutschenko gibt eine Antwort darauf: Die Menschen wollen keinen Krieg. Warum? Weil es unmöglich ist, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder selbst sterben zu wollen. Doch Umfragedaten belegen, dass Putin weiterhin über eine hohe Unterstützung unter Russinen und Russen verfügt, was wiederum die Folge einer massiven „medialen Strahlung“ der Propaganda ist. Wie funktioniert die Propaganda und wie trifft sie auch die Menschen, die für sich glauben, gegen Propaganda immun zu sein? Was hat das heutige Russland mit Faschismus zu tun? Und welche Verantwortung tragen die Journalisten der unabhängigen Medien? Darüber hat das russische Projekt Otschewidzy (dt. Augenzeugen) von TV2media mit Jelena Kostjutschenko gesprochen. 

    TV2.media: Wie hat der Krieg Ihr Leben verändert?

    Jelena Kostjutschenko: Ich war 17 Jahre lang bei der Novaya Gazeta. Unsere Zeitung gibt es nicht mehr, ihr wurde die Lizenz entzogen. Ich denke, unter anderem wegen meiner Reportagen aus der Ukraine. Ich kann nicht nach Russland zurückkehren. Ich kann nicht zu meiner Mutter, zu meiner Schwester, meiner Katze. Die wichtigste Veränderung ist jedoch, dass mein Land Menschen tötet, Ukrainer. Ich weiß nicht, ob es irgendein Volk gibt, irgendein Land, das mir näher wäre als die Ukraine. Alle meine russischen Bekannten haben Verwandte in der Ukraine, und alle meine ukrainischen Bekannten haben Verwandte in Russland. Das ist ein so dermaßen unfassbares … ich wollte Verbrechen sagen, aber es ist schlimmer als das. Es gibt keine Worte dafür … Es gibt das Wort Krieg, aber das beschreibt eigentlich nichts. Es werden einfach tagtäglich in meinem Namen Menschen ermordet. Damit zu leben ist sehr schwer. 

    Spüren Sie eine persönliche Schuld oder Verantwortung für diesen Krieg?

    Natürlich. Ich war Journalistin, bin sehr viel gereist, habe sehr viel gesehen. Ich wusste um den Faschismus in Russland. Endgültig klar wurde mir das wahrscheinlich 2015, als das Gesetz gegen „LGBT-Propaganda“ beschlossen wurde und LGBT zum ersten Mal als sozial minderwertig bezeichnet wurde, als sozial minderwertige Bevölkerungsgruppe. Das ist bereits eine faschistische Kategorie, wenn wir die Bevölkerung in Gruppen einteilen und bestimmen, wer einen Platz in der Gesellschaft hat und wer nicht. Dann habe ich in einem psychoneurologischen Internat (PNI) gearbeitet. Das ist ein System von Internierungslagern, in denen Menschen mit psychischen und neurologischen Diagnosen eingesperrt werden. Ihnen werden alle Rechte entzogen, sie werden dort ihr Leben lang festgehalten, bis zum Tod. Ich wusste, dass es bei uns im Land Faschismus gibt, gleichzeitig dachte ich, es genügt, wenn ich meine journalistische Arbeit mache. Tja, ich habe mich wirklich sehr bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten, kann keinen Regimewechsel herbeiführen.              

    Ich habe mich wirklich bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten

    Irgendwie hatte ich diese illusorische Vorstellung, dass man als Journalist nirgendwo [aktiv] teilnehmen dürfe … Natürlich habe ich an Protestaktionen teilgenommen, das schon, aber erstens nicht so oft, wie ich gekonnt hätte, und zweitens … Ich glaube, es ist mittlerweile für jeden offensichtlich, oder? 2022 mit hübschen Plakaten auf die Straße zu gehen — damit ändert man nichts am Regime. 

    Ja, natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet. Einen solchen Krieg habe ich nicht für möglich gehalten. Nicht einmal 2014, nicht einmal, als Russland am 24. Februar in der Ukraine einmarschiert ist. Als ich meine Tasche packte, um für Recherchen in die Ukraine zu fahren, da nahm ich einen Pullover mit, Unterwäsche, Socken, Reservejeans, einen Schutzhelm, einen Vorrat an Medikamenten für eine Woche und sagte zu meiner Freundin: „Das kann höchstens ein paar Tage dauern“.

    Natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet

    Warum unterstützen in Russland so viele den Krieg?

    Ich kenne in Russland niemanden, der den Krieg unterstützt. Ich kenne Leute, die diesen Krieg für gerecht und unvermeidlich halten. Aber nicht einmal die wollen Krieg. Worauf beruht unser Optimismus, abgesehen von dem biologischen Gefühl, dass alles vorbeigeht, alles gut wird? Niemand wollte Krieg, die Menschen wollten keinen Krieg. Es ist ja eigentlich unmöglich, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder sterben zu wollen. Manche Leute glauben einfach, dass wir nicht die ganze Wahrheit wissen, dass unsere Regierung einen sehr triftigen Grund haben muss, solche entsetzlichen Verbrechen zu begehen. Manche wiederum fühlen sich einfach nicht in der Lage, dem Krieg etwas entgegenzusetzen. In Russland zu leben bedeutet sehr oft, sich machtlos zu fühlen.  

    Warum glauben die Leute Putin?

    Dafür wird ja sehr viel Aufwand getrieben, von sehr klugen, begabten, zielstrebigen Menschen mit einem gigantischen Budget. Unsere Propaganda ist ein Phänomen, ich weiß gar nicht, womit man das vergleichen könnte. Während meines Studiums schrieb ich eine wissenschaftliche Arbeit über Propaganda im Dritten Reich und dachte, das sei ein historisches Thema. Ich fand das alles schrecklich interessant, aber ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wissen tatsächlich einmal brauchen könnte. Aber unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten. Goebbels hatte nur den Rundfunk und die Zeitungen. Wir haben Radio, Zeitungen, Internet, Soziale Netzwerke, Fernsehen – ein gigantisches, enorm mächtiges Rüstzeug zur Einflussnahme. Ganz neue Technologien, ganz neue Narrative.    

    Unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten

    Mich amüsiert es, wenn Leute, vor allem aus der Bildungsschicht, sagen: „Wir lassen uns nicht von der Propaganda beeinflussen“. Die Propaganda erwischt alle. Sie verfolgt einfach mehrere Ziele. Das Hauptziel der Propaganda ist natürlich, alle davon zu überzeugen, dass Putin recht hat. Aber wenn das zum Beispiel nicht gelingt, dann versucht sie eben zu überzeugen, dass alles nicht so eindeutig ist, nach dem Motto: „In manchen Punkten hat er recht, in manchen nicht. Wir kennen ja nicht die ganze Wahrheit.“ Wenn auch das nicht funktioniert, will sie dich überzeugen, dass dein Leben zerstört wird, wenn du dich widersetzt. Hier schaltet sich der Repressionsapparat ein, der mit jedem Tag brutaler wird. Gerade erst wurde jemand wegen zwei Kommentaren im Internet zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wenn auch diese Strategie nicht aufgeht, dann reden sie dir ein, dass du allein bist, dass nur du so denkst. Sonst niemand. Und wenn das nicht gelingt, dann machen sie dir klar, dass du nichts dagegen tun kannst. Zusammengenommen funktioniert das. Es wirkt einfach alles auf unterschiedlichen Ebenen. 

    Kann man die Leute umstimmen, die vom Fernsehen „verstrahlt“ sind?

    Man muss. Meine Mutter sieht zum Beispiel fern. Soll ich etwa meine Mama Putin überlassen? Das wird nie passieren. Ich hab sie gern, sie hat mich gern, und wir reden jeden Tag miteinander. Nicht immer erfolgreich. Manchmal unterhalten wir uns fünf Minuten, dann sagt sie: „Ich kann nicht mehr weiterreden“. Dann reden wir zwei Tage nicht über den Krieg, bis sie sagt: „Lass uns reden“ und wir wieder fünf Minuten reden. So bewegen wir uns ganz langsam aufeinander zu.   

    Meine Mutter ist 75 Jahre alt. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist

    Wir müssen außerdem verstehen, dass das Angst macht. Wir verlangen von den Leuten eine schreckliche Erkenntnis. Meine Mutter ist 75 Jahre alt, sie war eigentlich Chemikerin, aber in den Neunzigern, als für die Wissenschaft kein Geld da war, wurde sie Lehrerin, sie unterrichtete Kinder. Sie ist wirklich ein sehr guter, kluger Mensch. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist. Dass in ihrem Land Faschismus herrscht. Derselbe Faschismus, den ihr Vater im Krieg besiegt hat. Dass sie jahrzehntelang Lügen aufgesessen ist. Sie wurde belogen und hat alles geglaubt. Und in ihrem Namen werden Menschen getötet. Das mit 75 Jahren zu begreifen – wie soll das gehen? Aber jede noch so entsetzliche Wahrheit ist besser als die Lüge. Weil mit Lügen Morde vertuscht werden. Wir alle sind Mittäter dieser Morde. Ob stillschweigend oder nicht, Mittäter sind wir. Dieses Lügenkonstrukt müssen wir um jeden Preis durchbrechen, auch wenn es sehr schmerzhaft ist. 

    Wir alle sind Mittäter dieser Morde

    Oft wird Putins Regime mit einer Sekte verglichen, von der man nicht mehr loskommt. Wie gerechtfertigt ist dieser Vergleich?

    Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Vor allem das sogenannte Prinzip der narzisstischen Verführung. Damit locken totalitäre Sekten Menschen an. Das funktioniert so, dass sie einem sagen: „Eigentlich bist du gut. Sogar sehr gut, du bist kein Versager. Du bist nicht schwach, nicht willenlos, nicht dumm. Aber du hast es schwer, stimmt’s? Stimmt, ja. Und weißt du, warum du es so schwer hast? Weil die Menschen um dich herum dir schaden, sie sind deine Feinde. Aber wie gut, dass du zu uns gefunden hast, wir werden dich lieben, dich unterstützen, uns um dich kümmern. Wir werden dir sagen, was du tun und wie du leben sollst.“ Genau das macht die Propaganda: „Russland ist frei von Sünde. Russland kann überhaupt keinen Schaden anrichten.“

    Bei meiner Arbeit in der Ukraine war ich in der Abteilung für Gerichtsmedizin in Mykolajiw, wo die Leichen hingebracht werden. Dort habe ich viel Zeit verbracht. Die Leichen lagen einfach übereinandergestapelt, weil die ukrainischen Leichenschauhäuser nicht auf solche Mengen ausgerichtet sind. Sie lagen auf dem Boden, in der Garage, die dafür geräumt wurde, sie lagen in den Kühlräumen aufgeschichtet übereinander. In einem lagen auf einem Haufen die Leichen von zwei Mädchen, zwei Schwestern von siebzehn und drei Jahren. Arina Butym und Veronika … Sie wurden durch Splitter getötet, als Mykolajiw beschossen wurde. 

    Meine Mutter rief mich täglich an und versuchte mir zu erklären, was passiert, was ich da eigentlich sehe. Ich sagte immer: „Lass es einfach“, aber sie versuchte es immer wieder. Und ich sage: „Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.“ Und sie sagt: „Das können keine russischen Soldaten gewesen sein. Das kann nicht sein. Na hör mal! Wie denn?“ Als Butscha geschah, schrie sie mich einfach am Telefon an: „Nein! Nein, unmöglich! Unmöglich!“ Es ist entsetzlich zu akzeptieren, sich einzugestehen, dass russische Soldaten so etwas tun können. Und auch früher schon getan haben. In Tschetschenien, in Syrien. Sie haben es getan. Viele, viele Jahre lang wurde die Idee des unschuldigen Russlands, die Idee, dass wir immer im Recht waren, dass wir keine historische Schuld tragen, dass unser Land niemals einen Fehler begangen hat, die wurde so richtig in die Köpfe eingehämmert. 

    Ich sage: ,Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.‘ Und sie sagt: ,Das können keine russischen Soldaten gewesen sein‘

    Das ist ja auch wirklich ein schöner Gedanke. Stellen Sie sich mal vor: Man lebt so vor sich hin und hat das Gefühl, einem absolut gerechten Staat anzugehören, der in seiner ganzen Geschichte niemals etwas Böses getan hat. Das ist einfach toll!
    Manche Behauptungen der Propaganda widersprechen ja sogar dem offiziellen Geschichtsunterricht, das wundert mich schon. Zum Beispiel die Behauptung, Russland beginne keine Kriege, sondern beende sie. Das stimmt ja nicht. Wir haben sehr viele Kriege begonnen. Genau wie viele andere Länder auch. Aber nein, da ist auf der einen Seite das trockene Geschichtsbuch, das übrigens momentan umgeschrieben wird, und auf der anderen Seite haben wir großartig konzipierte Sendungen mit Analysen, ganz bunte, kitschige Filme darüber, was für ein makelloses Land und was für ein unglaubliches Volk wir sind, ganz anders als die anderen. Das wurde alles sehr, sehr lange vorbereitet, man kann nicht sagen, dass alles ganz plötzlich am 24. Februar passiert ist. Es geschah für uns plötzlich, weil wir … Ich spreche mal für mich: weil ich eine dumme, faule Optimistin war. 

    Wovor haben Sie am meisten Angst?

    Dass Russland diesen Krieg gewinnt. Das würde den Tod für mein Land bedeuten. Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung. Damit meine ich nicht die vielen Menschen, die noch sterben werden, bis Russland siegt. Das wird die absolute Zerstörung unserer nationalen Identität. Das lässt den Faschismus erst recht erblühen. Auf diesen Krieg wird der nächste Krieg folgen, weil Faschismus immer expansiv ist. Es werden noch mehr Menschen sterben, das wird ein Schrecken ohne Ende. Das ist es, wovor ich am meisten Angst habe.      

    Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung

    Wie sehen Sie die Zukunft Russlands?

    Ich glaube, dass es eine Zukunft gibt, dass wir nicht verschwinden werden. Aber was passiert ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Es gibt keine Wiedergutmachung, nichts kann die Toten wiedererwecken. Aber ich glaube, wir werden die Möglichkeit haben, zu begreifen, was wir angerichtet haben, und irgendwie damit weiterzuleben. Und natürlich werden wir schon andere sein, wenn wir das begreifen, und das Leben wird ein anderes sein, sonst gibt es einfach nur … Auslöschung. Ich glaube, wir werden alle sehr viel arbeiten müssen, sowohl jetzt als auch später. Für Selbstmitleid ist da keine Zeit. Ich bin 35 Jahre alt, und ich frage mich, ob mein Leben ausreichen wird. Womöglich nicht. Aber ich glaube, wir müssen jetzt alle sehr viel arbeiten und sehr lange leben. Das wird kein einfaches Leben sein, aber immerhin ein Leben.      

    Weitere Themen

    Totale Aufarbeitung?

    „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    Fake-Satire als Propaganda

    Nichthumanitäre Hilfe

    „Putins Siegeskult erinnert an Kriegskult in Nazi-Deutschland“

    Wie Putin lernte, die Ukraine zu hassen

  • Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Die Söldnertruppe Wagner wirbt seit dem Frühjahr 2022 gezielt Gefängnisinsassen an, die sich parallel zur russischen Armee an der Invasion in die Ukraine beteiligen. Wenn sie sechs Monate im Einsatz überleben, winkt den Kämpfern die Begnadigung. Inzwischen kehren einige in ihre Heimatorte zurück – unter ihnen verurteilte Schwerverbrecher wie der 28-jährige Iwan Rossomachin. Sein 200-Seelen-Heimatdorf Nowy Burez in der Oblast Kirow, knapp 1000 Kilometer östlich von Moskau, machte in russischen Medien Schlagzeilen, seit er dort eine Rentnerin ermordet haben soll. Alina Ampelonskaja hat sich für das Sankt Petersburger Nachrichtenportal Fontanka auf seine Spuren begeben – und schildert in einer Reportage ihre Eindrücke.

    Um 17 Uhr ist die Straße [in Nowy Burez] menschenleer. Am Einkaufsladen hängt ein Schild: Öffnungszeiten 8 bis 19 Uhr. Ich ziehe an der Tür – geschlossen. Erst da sehe ich einen zweiten Aushang, ein ausgedrucktes A4-Blatt, das etwas oberhalb der Augenhöhe an der Scheibe klebt: Heute bis 15 Uhr.

    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach. Die Tür steht offen. Ich spähe hinein, in der Hoffnung, irgendjemanden anzutreffen oder wenigstens kurz aufs Klo gehen zu können: Von Kasan bis Nowy Burez sind es vier Stunden Autofahrt. Es gibt auch einen Bus von der Nachbarstadt Wjatskije Poljany hierher, aber er fährt nur dreimal die Woche. Wen es interessiert: montags, mittwochs und freitags.

    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach / Foto ©  Alina Ampelonskaja
    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach / Foto © Alina Ampelonskaja

    Drinnen steht vor der Bühne mit den zwei russischen Flaggen ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke. Daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Die drei wirken überaus freundlich, zumindest bis zu dem Moment, in dem ich mich als Journalistin vorstelle.

    „Wir haben keine Zeit, wir proben für den 9. Mai. Vielleicht finden Sie draußen jemanden, der mit Ihnen sprechen will …“ Ich nicke mit einem Lächeln, aber innerlich resigniere ich. Von draußen komme ich ja gerade und weiß, wie es dort aussieht. „Kann ich vielleicht Ihre Toilette benutzen?“ „Ja, raus und nach links.“

    Vor der Tür bleibe ich kurz stehen: An einem Aushängebrett sind die Eintrittspreise für diverse Veranstaltungen und Dienstleistungen angeschlagen: Film- und Zeichentrickvorführung – 30 Rubel [etwa 0,35 Euro – dek] pro Person, Diskothek – 30 bis 80 Rubel [etwa 0,35 bis 0,90 Euro – dek], Benutzung des Fitnessraums – 30 bis 50 Rubel [etwa 0,35 bis 0,60 Euro – dek] pro Stunde. Aber einen Fitnessraum gibt es hier gar nicht.

    Drinnen steht ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke, daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Sie proben für den 9. Mai / Foto © Alina Ampelonskaja
    Drinnen steht ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke, daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Sie proben für den 9. Mai / Foto © Alina Ampelonskaja

    Aus dem Inneren dringt der Anfang einer Reportage des lokalen Fernsehsenders Wjatskije Poljany herüber: „An einem grauen Sonntagmorgen haben sich besorgte Bürger im Kulturzentrum eingefunden, die sich von der Polizei und der regionalen Verwaltung Auskunft über den Vorfall erhoffen …“

    Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma

    Seit der Rückkehr von Iwan Rossomachin, der als Söldner für die Gruppe Wagner an der Front war, sind knapp zwei Wochen vergangen. Jetzt sitzt er hinter Gittern: Zuerst fünf Tage wegen Sachbeschädigung, mittlerweile steht er unter Mordverdacht. Nicht zum ersten Mal: 2020 hat er eine Bewohnerin von Nowy Burez umgebracht. Sie wird hier von allen nur Tante Tanja genannt, ohne Nachnamen.

    Um 17 Uhr ist die Straße in Nowy Burez menschenleer / Foto © Alina Ampelonskaja
    Um 17 Uhr ist die Straße in Nowy Burez menschenleer / Foto © Alina Ampelonskaja

    Da sehe ich auf der Straße einen Mann in Gummistiefeln. „Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma“, antwortet er lustlos. Gleich nach dem Schulabschluss sei er in die Stadt gezogen, berichtet er. Das Gespräch ist vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Über das Leben im Dorf wisse er nicht viel. „Da kann ich nicht helfen“, antwortet er knapp und verschwindet im Kulturzentrum.

    Später erfahre ich den Grund: In einem gemeinsamen Chat wurden die Dorfbewohner eindringlich davor gewarnt, mit der Presse zu sprechen. Während der drei Tage, die ich hier verbringe, wird man mich immer wieder bitten, das Diktiergerät auszuschalten und keine Namen zu nennen. Ich bin ratlos.

    Ich klopfe an ein Tor, unter dem eine Hundeschnauze hervorschaut. Es muss doch jemand hier sein, der diese Schnauze füttert? Nach ein paar Minuten höre ich im Hof Schritte und eine genervte Stimme: „Ist ja gut, jetzt gib schon Ruhe.“ Ein Mann in Camouflage-Overall und Gummistiefeln öffnet mir die Tür. „Ich wohne hier nicht, bin nur auf Besuch bei meiner Mutter. Hier gibt es nichts, nur den Laden und die Kolchose. Die Schule hat dichtgemacht, der Kindergarten auch.“

    „Die Kolchose“ ist der Agrarbetrieb Rus. Laut den Dorfbewohnern arbeitet dort der Großteil der hiesigen Bevölkerung. Die Popularität lässt sich leicht erklären: Erstens verdient man in der „Kolchose“ relativ gut – als Melkerin zum Beispiel rund 30.000 Rubel [etwa 340 Euro – dek]. Zweitens gibt es keine andere Arbeit. Die meisten Männer versuchen ihr Glück in der Stadt oder verdingen sich irgendwo als Tagelöhner.

    In der „Kolchose“ arbeitet der Großteil der Bevölkerung. Eine andere Arbeit gibt es nicht / Foto © Alina Ampelonskaja
    In der „Kolchose“ arbeitet der Großteil der Bevölkerung. Eine andere Arbeit gibt es nicht / Foto © Alina Ampelonskaja

    In einem der Nachbarhäuser geht ebenfalls eine Tür auf. Ein Mann gesellt sich zu uns, dann kommen noch weitere dazu – der eine wollte gerade etwas erledigen, ein anderer kommt gerade vom Angeln zurück. Auch die „Hundeschnauze“ rennt heraus – ein junger Rüde mit schwarzen Zotteln. „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“

    „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“ / Foto © Alina Ampelonskaja
    „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“ / Foto © Alina Ampelonskaja

    Die Männer gehen in die Hocke und unterhalten sich da unten weiter. Ich bin unschlüssig: Soll ich mich auch so hinhocken? Ich bleibe lieber erst mal stehen.

    „Noch mehr Journalisten, oder was?“

    Vor dem Kulturzentrum hält ein Auto an, das keiner von den Männern kennt.
    „Noch mehr Journalisten, oder was?“

    „Wir sind ja jetzt berühmt. Ob Skabejewa wohl kommt?“ Er dreht sich zu mir: „Haben Sie gesehen, wie sie sich im Fernsehen aufgeregt haben über diese Brigade in der Ukraine? Weil die angeblich Edelweiß heißt, wie bei der Wehrmacht? Wissen Sie, wie der militär-patriotische Club hieß, in den Wanja [Rossomachin] gegangen ist? Edelweiß.“ Ich schaue später nach: Den Club gibt es immer noch. Eine staatliche Organisation, wohlgemerkt.

    „Wie viele Menschen leben hier im Dorf?“ „Das Haus hier steht leer, das da auch, die hier kommen nur im Sommer … Vielleicht zweihundert? Die Alten sterben weg. Das haben die Menschen ja so an sich. Wir haben vier wichtige Dokumente im Leben: Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Scheidungsurkunde und Sterbeurkunde. So sieht’s aus. Wir sind hier die Jüngsten, auch wenn wir selber nicht mehr ganz frisch sind.“

    Viele Häuser stehen leer, manche sind nur im Sommer bewohnt / Foto © Alina Ampelonskaja
    Viele Häuser stehen leer, manche sind nur im Sommer bewohnt / Foto © Alina Ampelonskaja

    Bei der Volkszählung 2010 hatte Nowy Burez knapp über 350 Einwohner. Die Charakterreferenz für Rossomachins Gerichtsverhandlung haben 150 Menschen unterschrieben – fast jeder im Dorf, wie mir die Bewohner erzählen.

    „Das Leben ist ein Mysterium!“, sagt einer meiner Gesprächspartner. „Sie sollten sich mal mit Vytas unterhalten. Aber der war heute so besoffen, dass ihm sein Gebiss rausgefallen ist.“

    Ein Taxi in die Stadt und zurück kostet 1500 Rubel – unbezahlbar

    Vytautas Antanowitsch ist 80 Jahre alt. Er hat seinerzeit im Bergwerk in Workuta gearbeitet. In der Rente zog er gemeinsam mit seiner Frau zurück in ihr Heimatdorf Nowy Burez. Das gelb-grüne Holzhaus hat er selbst gebaut. Es hat mehrere große Zimmer, aber Vytautas verbringt die meiste Zeit in der ehemaligen Sommerküche. Mehr braucht er nicht, sagt er. Seine Frau ist nach langer Krankheit gestorben, sein Sohn ist ertrunken.

    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas. Er sitzt auf dem Bett auf einer kratzigen Wolldecke. In der kleinen Küche ist alles in greifbarer Nähe: Vor ihm steht ein Tisch, direkt dahinter der Kühlschrank.

    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas / Foto © Alina Ampelonskaja
    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas / Foto © Alina Ampelonskaja

    Links neben Vytautas liegt ein Haufen Medikamente. Er hat eine ganze Reihe von Krankheiten, eine davon ist Krebs. Mein gestriger Bekannter Slawa setzt dem alten Mann Spritzen. Anders geht es nicht: Die Spritzen braucht er täglich, aber die Feldscherin ist an Covid gestorben. Jeden Tag in die Stadt zu fahren, wäre unbezahlbar: Ein Taxi kostet hin und zurück fast 1500 Rubel [etwa 17 Euro – dek]. 

    Das gelb-grüne Holzhaus hat Vytautas selbst gebaut / Foto © Alina Ampelonskaja
    Das gelb-grüne Holzhaus hat Vytautas selbst gebaut / Foto © Alina Ampelonskaja

    Auf dem Staatssender Rossija 1 läuft eine Renovierungssendung. Die Moderatorin schwärmt, wie toll die Lounge-Ecke in der Moskauer Wohnung geworden ist.

    In der Küche sind außer uns noch zwei Männer. Nennen wir sie Petja und Jura. Jura holt die Wurst aus dem halbleeren Kühlschrank. „Wo hast du denn die *** [geklaut]? Die gibt’s hier doch gar nicht zu kaufen!“ „Mitgebracht.“ „[Lüg] *** doch nicht!“ Vytautas und Jura beschimpfen einander ständig, aber ihre Augen sind gutmütig.

    Petja ist jünger als ich. Er hält sich wie so viele mit Gelegenheitsjobs über Wasser: „In der Kolchose verdienst du zur Erntezeit als Traktorfahrer 20 bis 25 [Tausend; etwa 230 bis 285 Euro – dek]. Aber im Winter … Da kannst du nur Eier schaukeln, bekommst vielleicht grad mal die Hälfte rein.“

    Das Zimmer ist verqualmt. Der alte Mann raucht Gestopfte mit Bauerntabak. Neben der Packung liegt eine Schachtel normale Zigaretten einer mir unbekannten Marke. Ich hole zwei Schachteln Parlament aus meinem Rucksack, die ich „zum Tee“ mitgebracht habe. „Oho!“, lacht Jura. „Hast du gesehen? Der Tageslohn einer Melkerin. Eine Packung ist für mich!“

    Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wodka und zwei staubige Pinnchen. Eins ist für mich, wie sich zeigt. Als Vytautas noch fit war, brannte er seinen Schnaps selbst. Das Geschäft lief gut: In elf Tagen stellte er 12,5 Liter her. Pro Flasche nahm er 200 Rubel ein. Dieser Satz hat sich in Nowy Burez in den letzten Jahren übrigens nicht geändert. Nur Verkaufsstellen gibt es jetzt nur noch zwei anstatt vier. Wegen der Krise.

    Wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen

    „Jeder Mensch braucht doch irgendwas zu tun“, sagt Jura und schaut dabei rauchend aus dem Fenster. Viele von Vytautas‘ Nachbarn haben gesessen. Überhaupt kannst du in diesem Dorf mit einer Gefängnisstrafe niemanden groß beeindrucken.

    Wir kommen schnell auf das Thema Tod zu sprechen. Einer ist unter die Traktorräder geraten, ein anderer hat sich aufgehängt. Manchmal lauert das düstere Ende, wo man es am wenigsten erwartet: Zum Beispiel in den Geschichten von Kunden der „Verkaufsstelle“, die gern anschreiben ließen. „Eine hat über viertausend zusammenkommen lassen. Als sie ihre Rente bekam, sollte sie bezahlen, kam hier an mit zitternden Händen. Ich sag zu ihr: ‚Wenn du zu geizig bist, darfst halt nicht trinken.‘ Hab ihr nichts mehr gegeben. Jetzt ist sie schon tot.“

    Jura fällt Vytautas ins Wort. Er hat seine eigene Version der Geschichte: „Das hat doch nichts … Sie hat doch erzählt, dass ihre Neffen sie mit einer ganzen Horde *** [vergewaltigt] haben. Da war sie 80. Wir haben ihr gesagt, sie soll sie anzeigen, aber sie hatte Angst.“

    Von diesen Gesprächen wird mir übel. Offenbar merken sie das, ich höre: „Ja, *** [richtig krass]. Da gab es doch diesen Kafka, der hat über so was geschrieben. Wenn der heute noch leben würde, der würde *** [sich wundern]. Der hätte *** [ganz schön viel] Material. Da brauchst du weder Reporter noch eine Zeitung. Nur die Chroniken von Nowy Burez.“

    In der Dorfschule hat nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden im Nachbardorf unterrichtet / Foto © Alina Ampelonskaja
    In der Dorfschule hat nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden im Nachbardorf unterrichtet / Foto © Alina Ampelonskaja

    Von Vytautas‘ Haus bis zur ehemaligen Dorfschule ist es zu Fuß etwa eine Viertelstunde. Jetzt hat dort nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden in das [knapp 18 Kilometer entfernte] Dorf Srednjaja Toima gefahren. Seit ein paar Monaten funktioniert das [nach einer Unterbrechung] wieder: Man hat einen neuen Busfahrer gefunden. Der alte war in den ersten Tagen der Mobilmachung [im September 2022] einberufen worden. Die Kinder bekamen ihre Aufgaben per WhatsApp und mussten drei Mal die Woche mit dem Linienbus zur Schule fahren.

    Der 24-jährige Kirill (Name v. d. Red. geändert) hat noch die hiesige Dorfschule besucht. Die neunte Klasse schloss er mit drei anderen ab (eine zehnte und elfte Klasse gab es nicht). Zwei von ihnen sind zum Arbeiten weggegangen: Alexej nach Moskau, ein anderer irgendwo in den Norden. Der dritte starb bei der Armee und kehrte im Sarg vom Wehrdienst zurück. Iwan Rossomachin war nur ein paar Jahre älter.

    Meine nächste Station führt mich in den Laden, der gestern geschlossen war. Ich werde von Einheimischen begleitet. Verlaufen kann man sich zwar nicht, aber so ist es sicherer.

    Vom Shampoo bis zur Bettwäsche – im Geschäft von Nowy Burez kann man alles kaufen / Foto © Alina Ampelonskaja
    Vom Shampoo bis zur Bettwäsche – im Geschäft von Nowy Burez kann man alles kaufen / Foto © Alina Ampelonskaja

    In Nowy Burez gibt es nur ein Geschäft, deshalb kann man dort alles kaufen: Lebensmittel, Shampoo und Waschmittel, Schulhefte und Bettwäsche. Die Nudeln werden gleich in Großpackungen zu 1,5 Kilo verkauft. Mitten im Raum steht ein Tisch. Vermutlich zum Einpacken der Einkäufe. Auf dem Tisch liegen zwei ausgedruckte Zettel: „Sehr geehrte Dorfbewohner, wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen. Annahme in der Verwaltung.“ „Interessenten für Beichte, Krankensalbung und Fürbitten melden sich bitte in der Verwaltung. Kosten: circa 500 Rubel plus eine Kerze. Bei mindestens zehn Interessenten kommt Vater Anatoli (in die Bibliothek).“

    Das Bekleidungssortiment hängt an einer Stange beim Fenster. Das meiste sieht nach Frauenkleidung aus. Ein T-Shirt – 500 Rubel [etwa sechs Euro – dek], ein Hauskleid – 900 [etwa 10 Euro – dek]. Während ich das Angebot studiere, betritt ein Kunde den Laden, ein hagerer Typ mit Mütze. „Zwei Flaschen Wodka.“ „Ich hab dir doch gleich gesagt, du sollst mehr nehmen!“, lacht die Verkäuferin. „Ja ja …“

    Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst

    Ich sehe mir noch ein paar Minuten lang die Vitrinen an und gehe wieder raus. Meine neuen Bekannten streifen sich lachend Gummihandschuhe ab. Jeder hat nur einen an. „Hast du den Typen gesehen? Das ist Tolja (Name v. d. Red. geändert). Weißt du, warum wir Handschuhe anziehen? Er will einem immer die Hand geben, aber er bumst mit Schwangeren. Was guckst du so? Wirklich! Ist schon ein paar Mal vorgekommen in der Kolchose.“ „Warum denn Schwangere?“ „Na, sonst lässt ihn keine ran!“ Sie wiehern laut los.

    Auch der örtliche Kindergarten ist geschlossen / Foto © Alina Ampelonskaja
    Auch der örtliche Kindergarten ist geschlossen / Foto © Alina Ampelonskaja

    Das Gebäude der Dorfverwaltung befindet sich zwischen dem Einkaufsladen und dem Kulturzentrum. Im Vergleich zum Nachbargebäude, dem ehemaligen Kindergarten, wirkt es äußerst gepflegt. Vor dem Eingang sind weiße, dreieckige Steinplatten im Rasen verlegt.

    Die Bürgermeisterin von Nowy Burez zu treffen, entpuppt sich als die schwierigste Aufgabe. Weder geht Ljubow Wladimirowna ans Telefon, noch reagiert sie auf das Klopfen an der Tür. Zu Hilfe kommen mir ein paar Rentnerinnen, die zufällig da sind. Als ich mein Vorhaben erkläre, wählen sie gleich eine Nummer und überreichen mir das Handy – fast sofort geht jemand ran. „Ich kann Ihnen keine Auskunft geben“, wimmelt mich Ljubow Wladimirowna ab. Nichts zu machen. Ich sage: „Auf Wiederhören“ und gebe das Klapptelefon seiner Besitzerin zurück.

    Im Vergleich zum benachbarten Kindergarten wirkt das Gebäude der Dorfverwaltung äußerst gepflegt / Foto © Alina Ampelonskaja
    Im Vergleich zum benachbarten Kindergarten wirkt das Gebäude der Dorfverwaltung äußerst gepflegt / Foto © Alina Ampelonskaja

    „Ob er sie wohl umgebracht hat? Wir waren früher jeden Tag spazieren. Jetzt haben wir Angst. Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst, wenn sie [aus dem Gefängnis] zurückkamen.“

    Das Nächste, was ich höre war, dass er schon tot ist

    Neue Informationen über den Mordfall gibt es nicht – nur die trockene Pressemitteilung der Mordkommission. Nach ihrer unerwarteten Auskunftsfreude vor Rossomachins Verhaftung schweigt die Polizei nun. Der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoshin, hat sein Bedauern angesichts des Vorfalls geäußert und geraten, sich an seine Organisation zu wenden, sollten ehemalige Häftlinge durch aggressives Verhalten auffallen: „Wir schicken unseren Werbungstrupp, der hakt sich bei ihm unter und bringt ihn schnurstracks an die Front.“

    Gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor / Foto © Alina Ampelonskaja
    Gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor / Foto © Alina Ampelonskaja

    Vor meiner Reise hatte ich mir vorgenommen, die Leute über Iwan auszufragen. Jetzt sehe ich, dass es keinen Sinn hat: gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor und keiner bittet mich herein.

    Sweltlana und Jelena (Namen v. d. Red. geändert) stelle ich auch keine besonderen Fragen. Wir müssen in dieselbe Richtung, also laufen wir zusammen. Bereits nach wenigen Minuten klingelt Swetlanas Handy. Sie hebt ab und geht ein Stück weg. Als sie zurückkommt, will Jelena sofort wissen:
    „Hat sie dir gesagt, du sollst schön den Mund halten?“ Pause. „Ja.“

    Was wir besprochen hatten, war bestimmt streng geheim: Wie oft die beiden Freundinnen am Fluss spazieren gehen und welche Bücher sie zuletzt aus der Bücherei ausgeliehen haben.

    Die Bürgermeisterin von Nowy Burez treffe ich doch noch. Aber ein Gespräch wird daraus nicht: Ljubow Wladimirowna will als Erstes wissen, ob ich eine Genehmigung habe, mich hier aufzuhalten, und droht mir, mich der Kreisverwaltung zu melden.

    „Es läuft alles gut bei uns. Soziale Probleme sind unsere interne Angelegenheit. Hören Sie auf, hier herumzurennen und Sachen zu schreiben. Dörfer wie unseres gibt es hier noch und nöcher. Mit der gleichen Infrastruktur und sozialen Zusammensetzung, ohne Schule und Kindergarten. Sind wir etwa die Einzigen, die solche Probleme haben?“

    Vor meiner Abreise klopfe ich an die Tür eines Hauses, das ich bisher gemieden habe. Hier wohnt die Mutter des zweiten Wagner-Söldners, ebenfalls Iwan. Auch er hat sich im Gefängnis anwerben lassen, nur dass Rossomachin noch zehn Jahre abzusitzen gehabt hätte, und Iwan weniger als eins. Sie waren fast gleich alt.

    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn für Wagner kämpfte / Foto © Alina Ampelonskaja
    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn für Wagner kämpfte / Foto © Alina Ampelonskaja

    Die Tür macht eine müde aussehende Frau mit einer leisen Stimme auf. Sie bittet mich herein. Über dem Sofa hängt eine gerahmte Urkunde mit der Unterschrift von Leonid Passetschnik [dem Chef der selbsternannten LNRdek]: „Iwan Wladimirowitsch kämpfte für die Freiheit und Unabhängigkeit der Volksrepublik Luhansk. Er fiel nach mutigem und selbstlosem Kampf als Held auf dem Schlachtfeld.“

    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass Iwan einen Vertrag unterschrieben hatte. Sie habe es vom Enkelsohn ihrer Nachbarin erfahren, der ebenfalls eine Haftstrafe in der Strafkolonie in Rudnitschny absaß: „Er hat es mir gesagt, aber ich habe nicht kapiert, dass das wirklich wahr ist. Das Nächste, was ich hörte, war, dass er schon tot ist. Davor hat Iwan am Telefon zu ihm gesagt: ‚Mich braucht doch niemand, ich gehe.‘“

    Am Kreuz auf Iwans Grab liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner / Foto © Alina Ampelonskaja
    Am Kreuz auf Iwans Grab liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner / Foto © Alina Ampelonskaja

    Iwan liegt hier in Nowy Burez begraben. „In den Birken“, wie die Einheimischen sagen. Iwans Grab liegt ganz am Rand, beim Zaun. Aber an seinem Kreuz liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner.

    Weitere Themen

    „Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

    Kanonenfutter: „Wenn sie sterben – umso besser“

    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    Nichthumanitäre Hilfe

    „Sie trinken aus Angst. Aber das hilft nicht“