Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.
Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.
Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.
Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine
Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.
Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.
Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?
Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten
Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen.
Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs.
Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten?
Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird.
All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein.
Melitopol im Süden der Ukraine fiel schon im Februar 2022 unter russische Kontrolle. Seitdem wurde die Stadt zur Hochburg des ukrainischen Widerstandes gegen die Besatzer. Und gleichzeitig, wie iStories berichtet, zum „größten Gefängnis Europas“, wo Russland hunderte Zivilisten entführt und foltert. Polina Ushwak hat mit Menschen gesprochen, die Opfer dieses Terrors wurden.
„Mama, ich war in der Hölle“ – die Videoreportage zum Material von iStories mit englischen Untertiteln
Bereits am 25. Februar 2022 kam die russische Armee nach Melitopol. In den ersten Tagen beschimpften die Stadtbewohner die Besatzer, forderten sie auf, ihr Staatsgebiet zu verlassen. „In der ersten Woche reagierten sie [die russischen Soldaten] zurückhaltend, vermieden den Kontakt. Wenn die Leute sie fragten: ‚Was wollt ihr hier? Haut ab!‘ senkten sie den Blick und schauten weg. Erst später, als sie sich ein bisschen eingelebt hatten, zeigten sie Zähne – sie errichteten Kommandanturen und Foltergefängnisse. Immer mehr Menschen verschwanden …“, erinnert sich der 29-jährige Maxim Iwanow, ein Landschaftsdesigner aus Melitopol.
„Umerziehung“ mit dem Gummiknüppel
Zum ersten Mal wurden Maxim und seine Freundin Tatjana Bech Anfang April entführt. „Ich hatte eine kleine [ukrainische] Flagge bei mir. Als ein Panzer an uns vorbeifuhr, habe ich sie aus der Tasche gezogen und gerufen: ‚Verpisst euch aus unserem Land.‘ Der Panzer hielt an, und mich umzingelten an die zehn Männer, sie schmissen die Flagge auf den Boden und trampelten darauf herum. Dann sagten sie: ‚Ihr kommt jetzt mit zur Umerziehung.‘“
Maxim und Tatjana mussten die Nacht in der Kommandantur verbringen. Da waren auch andere, die wegen einer proukrainischen Haltung oder Verstoß gegen die Ausgangssperre festgehalten wurden. „Sie [die russischen Soldaten] haben gesagt: ‚Du hast doch Ruhm der Ukraine gerufen? Ruf jetzt Ruhm für Russland!‘ Ich habe geantwortet, dass ich so einen Scheiß nicht rufen werde. Da haben sie mit Gummiknüppeln auf mich eingeschlagen. Damals kamen mir diese Schläge heftig vor.“ Am nächsten Tag mussten Maxim und Tatjana unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden hätten, und durften gehen.
Erst wurden vor allem Leute aus den einheimischen Behörden entführt. Später dann Lehrkräfte, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten
Im März häuften sich solche Entführungen. Ein Notfalltelefon wurde eingerichtet (Entführt in Melitopol). Dort konnte man anrufen, wenn ein Angehöriger entführt wurde. Man wurde beraten, was man tun und welche Behörden man informieren soll. Außerdem erhielt man psychologischen Beistand.
Natalja, eine Mitarbeiterin des Call-Centers, erzählt, kurz nach der Besatzung seien vor allem Leute aus den einheimischen Verwaltungsbehörden entführt worden. Zum Herbst hin, als die Besatzungsmacht einen russischen Lehrplan vorschreiben wollte, begannen die Entführungen von Schulleitungen und Lehrkräften, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten. „Dann kamen die Bauern dran. Es gab auch eine Phase, in der sehr viele Veteranen der ATO [Antiterroristische Operation, wie der Krieg im Donbass von 2014 bis 2018 genannt wurde, ab 2018 hieß er ,Operation der vereinten Kräfte‘ – iStories] entführt wurden“, erzählt Natalja. „Und viele Geschäftsleute, um Lösegeld zu erpressen.“
Seit Ausbruch des vollumfänglichen Angriffskriegs verzeichnen Mitarbeitende des Notfalltelefons 311 Entführungen, 107 Menschen sind nach wie vor in Geiselhaft, zu 56 Personen liegen keine Informationen vor. Nach Einschätzung der Mitarbeitenden des Notfalltelefons Entführt in Melitopol ist die Dunkelziffer der Entführungen dreimal so hoch.
500.000 Rubel für Denunzianten
Am Morgen des 22. August verließen Maxim Iwanow, der wegen der ukrainischen Flagge „zur Umerziehung“ festgenommen worden war, und seine Freundin Tatjana ihre Wohnung. Sie wollten zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine (24. August) Flyer kleben, doch sie schafften nur ein paar wenige. „Dann kam die sogenannte Polizei. Sie durchsuchten uns und fanden die Flyer, und außerdem noch Nachrichten auf meinem Handy an einen Menschen, dem ich Koordinaten [von russischem Militärgerät] übermittelt hatte.“ Sie warfen Maxim zu Boden, fesselten ihn und steckten ihn in den Kofferraum. So wurden Tatjana und er zum zweiten Mal festgenommen und auf das Polizeirevier in der Tschernyschewski-Straße gebracht.
Tatjana ist sich sicher, dass ein Einheimischer sie denunziert hat. „Die Leute bekommen Geld dafür, dass sie es gleich per Anruf melden, wenn sie etwas sehen. Diesmal haben wir mit der Klebeaktion im Stadtzentrum angefangen. Sobald wir bei den Wohnhäusern waren, war fünf Minuten später die Polizei da – jemand hatte uns verpetzt.“
In manchen Bezirken hat die Besatzungsmacht eigene Telegram-Bots eingerichtet, wo jeder Informationen über „Saboteure“ hochladen kann. Bei einer Festnahme der beschuldigten Person soll der Denunziant angeblich 500.000 Rubel [etwa 5200 Euro – dek] bekommen.
„Ich habe die Koordinaten von Truppenbewegungen und Militärgerät in Melitopol und Umgebung bei einem Chat-Bot hochgeladen. Das war sehr riskant, aber ich wollte diese Dämonen aus unserer Stadt verbannen und weiß, dass das richtig war …“, erzählt Maxim.
Schon beim ersten Verhör wurde er auf dem Polizeirevier geschlagen, ihm wurden mehrere Rippen gebrochen. Sie sind auch ein Jahr später noch nicht verheilt. Am nächsten Tag wurde er zu den Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol gebracht und abermals brutal zusammengeschlagen.
Du krepierst hier und keiner kriegt es mit
„Sack über den Kopf und raus. Sie schubsen mich, ich falle. Sie schlagen mit einer Eisenstange und irgendwelchen Stöcken auf mich ein. Auf die Brust, auf den Rücken. Dann stülpen sie mir einen Eimer über den Kopf und hämmern darauf ein. Ich fiel immer wieder hin, verlor mehrmals das Bewusstsein. Ich habe nichts mehr gespürt. Später sah ich, dass meine großen Zehen gebrochen waren, das musste beim Hinfallen passiert sein. Sie konnten mich jeden Moment umbringen. Ich habe gefragt, ob ich meine Eltern anrufen kann, um mich zu verabschieden. Vergiss es, hieß es, du krepierst hier und keiner kriegt es mit. Dann brachten sie mich in eine Garage und ließen mich dort zurück. Ich öffnete die Augen: Das Blut rann nur so an mir herunter, es war überall“, erinnert sich Maxim Iwanow.
Am nächsten Tag gingen die Misshandlungen weiter. „Es war immer das Gleiche. Ich stand da mit dem Gesicht zur Wand, sie kamen rein und schlugen mir von hinten auf die Rippen, richtig heftig, und auf den Nacken.“ Am fünften Tag wurden Maxim und andere Gefangene zum Duschen nach draußen gebracht. „Da war nur ein Wasserschlauch. Aber wir haben uns gefreut, wir hatten uns so lange nicht gewaschen. Ich zog mich aus, da fingen die Aufseher an zu tuscheln, dann sagte einer: ‚Der ist fertig, nehmt ihn mit.‘ Wahrscheinlich haben sie gesehen, dass mein Rücken und meine Rippen komplett schwarzblau waren, und entschieden, dass es reicht.“
Alles „ganz zivilisiert“?
Vor dem Krieg lebte der 23-jährige Leonid Popow bei seiner Mutter in der Oblast Poltawa. Ende 2021 kam er nach Melitopol, um mit seinem Vater Neujahr zu feiern, bei Kriegsbeginn war er immer noch dort. Von den ersten Tagen der Besatzung an führte er Tagebuch, er notierte alles, was er sah: dass ständig Schüsse zu hören waren; dass die Leute durchdrehten und Lebensmittelläden plünderten, dass er einen erschossenen Mann auf der Straße liegen sah. Seine Mutter Anna flehte Leonid immerzu an, sich evakuieren zu lassen, solange es noch gehe, aber er wollte nicht. „Nein, Mama, gerade jetzt, wenn in der Stadt so etwas passiert, gehe ich nicht weg. Ich werde hier gebraucht“, antwortete er. Anna erzählt, sie habe ihrem Sohn Geld für den Lebensunterhalt geschickt, mit dem er Bedürftige in Melitopol und Geflüchtete aus Mariupol unterstützte.
Im Mai 2022 wurde Leonid zum ersten Mal entführt. Er verließ das Haus, um ein Schawarma zu kaufen, da wurde er in ein Auto gezerrt und in eine Kommandantur gebracht. Dort kam er erst nach drei Tagen wieder raus. Seiner Mutter erzählte er nicht, was in diesen drei Tagen geschah. Dass ihr Sohn gefoltert wurde, erfuhr sie erst von ihrem Ex-Mann. „Betrunkene Kadyrowzy haben ihn an der Wand fixiert, sie haben gelacht und mit Messern nach ihm geworfen, ihn mit Stromschlägen gequält. Er weiß bis heute nicht, warum sie ihn entführt haben. Vor der Freilassung haben sie ihm seinen Pass weggenommen und gesagt, er soll sich einen russischen besorgen – das hat er alles seinem Vater erzählt“, sagt Anna.
Auch Leonids jüngerer Bruder Jaroslaw blieb nicht von den massenhaften Entführungen verschont. Als im Mai 2022 alle Handynetze der Stadt darniederlagen, ging er – wie viele andere – nach der Sperrstunde noch raus, um ein Signal zu suchen. Alle wurden festgenommen und auf eine Kommandantur gebracht. Anna erzählt, ihr Sohn sei mit etwa 30 Personen in einer sehr engen Zelle gewesen.
Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab
Laut Jaroslaw sei darunter ein psychisch kranker oder betrunkener Mann gewesen. Er habe die ganze Zeit geschrien und Radau gemacht. „Die Soldaten sagten: ,Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab wie junge Katzen.‘ Da haben die Leute Angst bekommen, haben zu mehreren auf den Mann eingeprügelt. Als er trotzdem weiter schrie, haben sie angefangen ihn zu würgen, damit er aufhört. Bis er tot war. Ich habe meinen Sohn gefragt: Und was hast du gemacht? Er sagte, er habe sich weggedreht, mit dem Finger in der Mauer gepult und zum ersten Mal in seinem Leben gebetet“, erzählt Anna die Erinnerungen ihres Sohnes nach.
Auch nach seiner ersten Entführung und der Folter mit Stromschlägen weigerte sich Leonid Popow, Melitopol zu verlassen. Er verbrachte ein Jahr in der besetzten Stadt und war erst im April 2023 bereit, sich von freiwilligen Helfern rausbringen zu lassen. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise verschwand er.
Bei der Polizei, an die Leonids Vater sich wandte, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, sagte man ihm, dass sein Sohn höchstwahrscheinlich von Soldaten mitgenommen worden sei. „Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist nur so ein Kontrollverfahren, sie halten ihn zwei Wochen fest und lassen ihn wieder laufen. Alles ist gut, machen Sie sich keine Sorge, alles läuft ganz zivilisiert“, erzählt Anna die Worte ihres Ex-Mannes nach. „Das ist ja deren Lieblingssatz: Alles ganz zivilisiert“, kommentiert sie.
Drei Monate nach der Entführung brachten Soldaten Leonid mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus
Leonid kam nicht frei – nicht nach zwei Wochen und auch nicht nach zwei Monaten. Vertreter der zivilen und der Militärpolizei setzten sich mit seinen Eltern in Verbindung und versprachen, ihn zu finden. Aber Anna erfuhr erst von einem anderen Entführten, der mit Leonid in einer Zelle gewesen war, was mit ihrem Sohn passiert ist.
„Im Juni hat ein Mann Leonids Vater angerufen und gesagt, er sei mit unserem Sohn im Keller einer Kommandantur festgehalten worden. Er sagte, dass es Leonid sehr schlecht geht. Er liege da und bewege sich nicht, sei völlig abgemagert und flüstere ständig: ‚Ich hab Hunger.‘ Er erzählte, dass sie dort nur alle zwei, drei Tage ein bisschen Wasser kriegen. Essen bekommen sie auch nicht jeden Tag und immer nur sehr wenig. Außerdem sei das Zeug ungenießbar, schlimmer als Hundefutter. Und sie würden geschlagen.“
Anna befürchtete, dass sich die psychische Erkrankung ihres Sohnes in Geiselhaft verschlimmern könnte. Mit 17 wurde bei Leonid Schizophrenie festgestellt. Dank einer Therapie konnte eine Remission erreicht werden, doch die Ärzte warnten Anna, dass sich Leonids Zustand bei starkem Stress verschlechtern und er auf die intellektuellen Fähigkeiten eines Zehnjährigen zurückfallen könnte.
In Geiselhaft wurde Leonids Gesundheitszustand kritisch. Drei Monate nach der Entführung brachten ihn Soldaten mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus: Bei einer Größe von 1,95 m wog er nur noch 40 Kilo.
Während des Krankenhausaufenthaltes gelang es Leonid, vom Handy seines Zimmernachbarn ein paar Nachrichten an seine Mutter zu schicken. „Ich hatte in der Zelle solche Angst vor dem Einschlafen. Angst, dass sie wiederkommen und mich würgen, zu Tode quälen. Durst hatte ich auch so sehr, sie gaben uns nichts zu trinken. Und Hunger. Außerdem haben sie mich heftig geschlagen. So fest, dass ich vier Tage lang nicht auf die Toilette konnte. Weswegen, Mama? Vielleicht weißt du, was ich getan habe?“, schrieb er an seine Mutter.
Gegen Leonid wurde nie eine offizielle Anklage erhoben. Seinem Vater wurde nur mündlich mitgeteilt, Leonid sei festgenommen worden, weil er Militärtechnik fotografiert und Kontakt zur ukrainischen Armee gehabt habe. Beweise wurden dafür keine geliefert.
Mit einer Tüte über dem Kopf und Elektroden am Arm
Anhand von Gesprächen mit Menschen, die Entführungen und Folter überlebt haben, und mit Angehörigen von Menschen, die immer noch in Gefangenschaft sind, konnten wir fünf Adressen ausmachen, wo man die Entführten festhält.
Meistens kommen sie in die Kommandanturen. Eine befindet sich in einem ehemaligen Gebäude der Verkehrspolizei auf der Alexejewa-Straße 26, eine andere auf der Tschernischewski-Straße 37, in einer ehemaligen Polizeidienststelle für den Kampf gegen organisierte Kriminalität.
Leonid Popow wurde auf der Alexejewa-Straße festgehalten, bis er akut unterernährt war. Das Gebäude der Verkehrspolizei ist überhaupt nicht als Haftanstalt geeignet.
Die Räume, in denen verhört und gefoltert wird, befinden sich direkt neben den Zellen. Deswegen können die Gefangenen hören, wie andere gefoltert werden. Die schlimmste Folter kommt zum Einsatz, wenn jemand in der ukrainischen Armee gekämpft hat oder der Weitergabe von Koordinaten verdächtigt wird.
Das Wasser hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte
Bei seiner ersten, dreitägigen Entführung hielt man Leonid in der Tschenyschewski-Straße fest. Dorthin kamen auch Maxim und Tatjana. Maxim wurde am Folgetag in die Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol verschleppt, wo er weiter misshandelt wurde. Tatjana wurde durchsucht, sechs Stunden lang verhört und dann in einen Container im Innenhof der Kommandantur gesperrt. „Da war ein Parkplatz, auf dem ein Container stand, wie für Frachtschiffe. Ohne Fenster, eine Tür war hineingesägt, die abgeschlossen werden konnte. Es war August – tagsüber unerträglich heiß und nachts sehr kalt. Da drin gab es zwei Bänke und einen Hocker. Auch Wasser stand da, aber es hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte. In den ersten Tagen bekam ich nichts zu essen. Später brachte mir irgendein Koch was. Auf die Toilette durfte ich nur zwei Mal am Tag, aber das war unmöglich. Ich fand einen kleinen Eimer und machte da rein, das kippte ich ihnen später am Eingang vor die Füße.“
Nach dem Container und den Misshandlungen wurden Maxim und Tatjana auf das Polizeirevier in der Getmanskaja-Straße gebracht. Dort saßen sie in verschiedenen Zellen. Tatjana wurde in Ruhe gelassen, aber Maxim wurde auch hier schwer misshandelt.
Sie machen den Strom erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe
„Zwei Männer kommen rein. Tüte übern Kopf, die sie mit Klebeband so umwickeln, dass ich kaum Luft bekomme. Ich soll mich auf den Boden setzen, sagen sie. Dann spüre ich, wie sie mir Zangen an die Zehen machen, wie so Klemmen …“, erzählt Maxim. „Mittlerweile kann ich ruhig darüber reden. Aber sobald ich es mir wieder bildlich vorstelle … Sie verpassen mir Stromschläge, ich schreie. Sie fragen mich nach dem ukrainischen Sicherheitsdienst, nach Soldaten, nach der Polizei. Ich sage ihnen, ich kenne niemanden, ich habe ja nicht einmal Kontakt zur Polizei, mit dem SBU hatte ich überhaupt noch nie zu tun. Aber die meinen: ‚Du lügst!‘ Sie verpassen mir Stromschläge, zwanzig Minuten lang. Lassen den Strom sieben Sekunden laufen und machen erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe. Ein paar Sekunden später wieder.“
Um den Lärm zu übertönen, schalteten die Folterer von 8 bis 22 Uhr laute Musik ein, wie uns alle erzählten, die die Folter erlebt haben. Maxim erinnert sich, dass die russische Nationalhymne dabei war, und viel „suizidales Zeug“, Songs über den Tod, aber auch russische Pop- und Rockmusik: Gasmanow, Morgenshtern, Instasamka, Korol i Schut, Aria. Es war auch der Song Das geht vorbei von Pornofilmy dabei, darin heißt es:
„Mit einer Tüte überm Kopf und Elektroden am Arm sitzt mein Russland im Knast aber glaub mir: Das geht vorbei!“
Inoffizieller Clip zum Song Das geht vorbei der seit 2022 im Exil lebenden Punkband Pornofilmy
„Seltsam, dass sie das dort gespielt haben“, wundert sich Maxim. „Aber uns tat es gut, es gab Hoffnung, dass der, der die Playlist zusammenstellte, noch nicht völlig hinüber war.“
Ganz konnte die Musik die Schreie der gefolterten Häftlinge dennoch nicht übertönen. „Es gab Tage, an denen es still war, aber die meiste Zeit wurde irgendwo gefoltert. Man hörte, wie jemand geprügelt wurde. Hörte Schreie. Manchmal schrie jemand ‚Hilfe, Gnade, es reicht, bitte‘, manchmal war es einfach nur ein langes: ‚A-a-a-a‘“, beschreibt Maxim die Zustände in den Zellen.
Manche Häftlinge hielten es nicht aus und begingen Suizid. „Der Wärter schaute in die Zelle, griff zum Handy und meldete nur, es habe sich einer die Pulsadern aufgeschlitzt. Danach hörte man, wie sie den Leichnam verpacken und in irgendetwas einwickeln“, erinnert sich Maxim an einen solchen Fall. Von Suiziden erzählten uns auch andere Entführte.
Die Militärs haben das Sagen
In der besetzten Stadt existieren weiterhin eine Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungskomitee und die Polizei. Aber in Wirklichkeit haben allein die Militärs das Sagen.
Als Leonid im Krankenhaus lag, rief jemand vom Ermittlungskomitee seinen Vater an und sagte, gegen Leonid gebe es kein laufendes Verfahren, er könne seinen Sohn abholen. „Ich habe mich so gefreut! Er ist frei! Ich habe schon einen Fahrer gesucht, um zu ihm nach Melitopol zu kommen“, erinnert sich Leonids Mutter an ihre damaligen Gefühle. Die Freude währte nicht lange.
Leonids Vater brachte ihn nach Hause. Aber kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, hielt ein schwarzer Niva mit getönten Scheiben neben ihnen. Ein Soldat stieg aus – es war derjenige, der Leonid in der Kommandantur das Essen gebracht hatte – und sagte, niemand habe ihn freigelassen. „Er hielt ihm die Tüte hin und sagte, so laufe das nun mal. Leonid hat sie sich selbst über den Kopf gezogen“, erzählt Leonids Vater von der dritten Entführung.
Beim Ermittlungskomitee sagte man Leonids Eltern, man habe keinen Einfluss auf das Militär. „Bei uns laufen Untersuchungen, um seinen Aufenthaltsort festzustellen. Bei uns ist er nicht. Wenden Sie sich an die Militär-Kommandantur. Wir haben das auch schon getan, aber wir können Ihnen die Antwort nicht mitteilen – Ermittlungsgeheimnis“, sagte die Ermittlerin, die für Leonid Popows Fall zuständig ist.
Nicht nur russische Soldaten
Doch an dem System der Entführungen sind nicht nur russische Soldaten beteiligt. Nach ihrer Freilassung konnte Tatjana Bech den Ermittler Alexander Kowalenko identifizieren. Er hatte ihr erstes Verhör geführt. Vor dem Krieg war er in Melitopol bei der ukrainischen Polizei gewesen.
Nach Leonids Entführung nahmen drei Männer Kontakt zu seinen Eltern auf. Der erste sagte, er sei ein Ermittler von der zivilen Polizei. Er stellte sich nicht vor, sondern sagte: „Schreiben Sie einfach Fox.“
Später rief Leonids Vater jemand an, der stellte sich als Militärpolizist vor und schlug ein Treffen vor. Er sagte, Leonid gehe es gut, er bekomme zu essen und werde nicht misshandelt, festgenommen habe man ihn, weil er Militärgerät fotografiert habe. Wir fanden heraus, dass es sich bei dem Anrufer um Igor Kara handelte, einen ehemaligen Ermittler aus Mariupol. Als wir ihn anriefen, stritt er zunächst ab, Leonid Popow zu kennen, später gab er zu, mit dessen Vater gesprochen zu haben. Dann verwies er auf das Ermittlungskomitee: „Dort ist er vermisst gemeldet. Das Ermittlungskomitee kümmert sich um die Suche.“
Der dritte Mann, zu dem Leonids Eltern nach seiner Entführung Kontakt hatten, war ebenfalls von der Militärpolizei und hieß Lew. Anfangs gab er vor, nach Leonid zu suchen. Aber als Leonids Eltern von einem anderen ehemaligen Häftling erfuhren, dass sich ihr Sohn in der Kommandantur befindet, erklärte Lew sich bereit, Lebensmittel zu überbringen. Er war es auch, der Leonid abholte, als er zum dritten und letzten Mal entführt wurde. Mittlerweile haben alle drei Männer Annas Nummer blockiert und den Kontakt abgebrochen.
Ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut
Maxim und Tanja wurden nach der Folter gezwungen, bei einem Propagandavideo über ein Attentat auf Jewgeni Balizki mitzumachen, den Vorsitzenden der Besatzungsverwaltung der Oblast Saporishshja. Kurz danach wurde Tatjana freigelassen. Maxim wurde noch einen weiteren Monat misshandelt. Nach zwei Monaten Gefangenschaft und Misshandlung war Maxims Zustand kritisch. „Ich konnte nicht mehr richtig gehen, ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut“, erinnert er sich. Ende Oktober 2022 wurde er auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet deportiert – unter der Bedingung, dass er den Russen von dort per Telegram Koordinaten der ukrainischen Armee durchgibt. Der Ermittler hatte den Namen eines Telegram-Kanals auf einen Zettel geschrieben und ihn Maxim in die Hosentasche gesteckt.
Zu Fuß bis zum ukrainischen Kontrollposten
Man brachte Maxim bis Wassiljewka, zum letzten Kontrollposten auf besetztem Gebiet. Damals konnte man von dort noch zum ukrainisch kontrollierten Teil der Oblast Saporishshja gelangen – mittlerweile haben die Russen diesen Weg blockiert.
„Sie haben vor der Kamera ein Urteil gesprochen, dass ich in Melitopol eine Persona non grata sei“, erinnert sich Maxim. „Danach lief ich 40 Kilometer zu Fuß von Wassiljewka bis [zum ukrainischen Kontrollposten in] Kamenskoje. Es war die Hölle. Kamenskoje ist eine Grauzone, da sind auf einem Hügel unsere Jungs, und auf dem nächsten diese Wichser. Und ständig wird geschossen. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte irgendwo klopfen und fragen, ob ich übernachten könnte, aber das Dorf war tot, die Häuser zerstört. Ich fand eine verlassene Tankstelle und verbrachte die Nacht dort. Es war kalt – Ende Oktober. Raureif überall, meine Füße waren Eiszapfen. Ich fand ein Stück Glaswolle und deckte sie damit zu. Und ständig Schüsse. Es schlägt irgendwo neben mir ein, und ich höre die Erde herunterprasseln. Ich dachte schon, diese Tankstelle würde mein Grab.“
Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen
Bei Sonnenaufgang erreichte Maxim einen Kontrollposten. „Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen – ich hätte weinen können. Ich dachte, sie bringen mich gleich um, weil ich keine Papiere bei mir habe. Aber unsere Jungs haben mir etwas zu essen gegeben, mir Kaffee eingeschenkt und mich beruhigt. Es kamen ein paar Polizisten, sie brachten mich nach Saporishshja. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, fühlte ich gar nichts mehr. Ich konnte nicht glauben, dass das alles wahr war: dass ich die Sonne sehe, frische Luft atme und nicht beim kleinsten Geräusch zusammenzucken muss.“
Tatjana war schon einen Monat vorher ausgewiesen worden. Heute lebt sie mit Maxim in Saporishshja. Sie arbeitet in einer Fabrik, Maxim kann noch nicht arbeiten, weil er von der Folter zu viele Verletzungen davongetragen hat, und nicht nur körperliche. „Es ist fast ein Jahr her, aber für mich fühlt es sich an wie eine Woche“, sagt Maxim. „Bei der kleinsten Beugung nach vorn habe ich furchtbare Schmerzen, denn mit den Rippen ist es leider nicht so wie mit einem Bein, man kann sie nicht eingipsen, deswegen weiß ich gar nicht, wie sie zusammengewachsen sind. Meine Zehen sind falsch zusammengewachsen. Ich habe oft Albträume. Früher kannte ich so etwas nicht. Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto häufiger erinnert mich mein Unterbewusstsein daran … Viele glauben mir bis heute nicht, sie sagen: Was für eine Folter denn im 21. Jahrhundert? Aber ich habe es erlebt, genau wie tausend andere Männer und Frauen, und es passiert auch heute noch.“
Den Erlass zur „Ausweisung von Bürgern, die an Terrorakten beteiligt waren“ hat der Verwaltungsvorsitzende der besetzten Oblast Saporishshja im Juli 2022 unterschrieben. Die Verwaltung stufte die Deportation als „die humanste Strafmaßnahme“ ein. Die Vorgangsweise wurde gefilmt: Den Folteropfern mit Säcken über dem Kopf wurden ihre „Urteile“ verlesen und anschließend befohlen, zum ukrainischen Kontrollposten zu laufen, der sich mehrere Dutzend Kilometer entfernt befand. Vielen bekamen ihre Ausweispapiere nicht zurück. Die letzte uns bekannte Ausweisung war im Januar 2023, seitdem wurden keine entführten Menschen mehr aus der Stadt gelassen.
Anna Machno weiß nicht, wo ihr Sohn ist und was mit ihm passiert ist. Seit seiner letzten Entführung sind fünf Monate vergangen. Beim russischen Verteidigungsministerium behauptet man, Leonid sei nie von russischen Soldaten festgenommen worden. Das Ermittlungskomitee in Melitopol führt Scheinermittlungen durch, obwohl eindeutige Beweise vorliegen, dass Leonid entführt und gefoltert wurde. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa lässt Leonids Mutter bereits seit zwei Monaten auf Antwort warten.
dekoder: Sie haben gerade einen Monat lang als „Artist in residence“ in Kyjiw gearbeitet. Warum geht man als Künstler in ein Land, das sich im Krieg befindet?
Norman Behrendt: Der Düsseldorfer Maler Paul Maciejowski hatte die Idee, Künstlern aus Deutschland einen Aufenthalt in Kyjiw zu ermöglichen. Der Titel Ich komme und sehe trifft es sehr gut: Nach bald zwei Jahren sind wir alle ein bisschen abgestumpft und viele wollen nichts mehr vom Krieg hören. Dort hinzufahren, den Alltag zu erleben und den Menschen zu begegnen, war unser Ziel. Als Künstler teilen wir unsere Erfahrungen aus dieser Zeit und können so weiter für das Thema sensibilisieren. In meiner Arbeit beschäftige ich mich schon länger mit der Architektur von Metro-Systemen; da war ich neugierig zu sehen, wie sich die Metro in Kyjiw von einem Transportsystem zu einem Schutzraum verwandelt.
Dieses Foto ist auch in einem Luftschutzbunker entstanden. Wie kam es dazu?
Bevor ich nach Kyjiw kam, habe ich mich gefragt, ob ich dort überhaupt konzentriert arbeiten kann, oder ob ich ständig von Fliegeralarm unterbrochen werde. Tatsächlich hat es fast zwei Wochen gedauert, bis wir zum ersten Mal einen Alarm hatten. Unser Atelier war in einem großen Gebäude, in dem zu Sowjetzeiten das Institut für Automation untergebracht war. Seit einigen Jahren arbeiten dort verschiedene Künstlergruppen. Da gibt es im Keller einen richtigen Bunker mit dicken Betonwänden und schweren Stahltüren. In Kyjiw haben alle auf ihren Handys eine App, die bei Angriffen anzeigt, wo der nächste Schutzraum ist. Aber es kamen gar nicht so viele Menschen in diesen Schutzraum. Die ukrainischen Künstler haben einfach weiter gearbeitet. Die Flugabwehr fängt ja glücklicherweise das Meiste ab.
Das war in den ersten Tagen des russischen Überfalls anders. Auf der Tafel, die dort an der Wand hängt, hat jemand bei jedem Alarm das Datum notiert …
In dem Bunker suchen auch viele Leute Zuflucht, die in der Nähe wohnen oder arbeiten, auch Familien mit Kindern. Diese Daten vermitteln etwas von dem bedrückenden Gefühl, jeden Tag in diesen Bunker zu müssen. Und niemand weiß, wie lange das dauern wird. Ende März hören die Aufzeichnungen auf, aber wir wissen ja, dass der Krieg immer noch andauert. Die Zeichnungen lassen vermuten, dass Kinder sich die Zeit mit Malen vertrieben haben. Das zeigt, dass selbst an so einem Ort die Fantasie lebendig ist.
Haben Sie auch in der Metro fotografiert?
Dafür hätte ich eine Erlaubnis gebraucht, die hatte ich nicht. Aber mich hat sehr beeindruckt, wie routiniert die Kyjiwer mit der Situation umgehen. Viele Schulklassen bringen sich bei einem Luftalarm in der Metro in Sicherheit, deshalb sind dort sehr viele junge Leute. Die Metro in Kyjiw ist sehr tief, teilweise bis zu hundert Meter unter der Erde. Da fühlt man sich sehr sicher. Das Bahnpersonal hat dann faltbare Hocker ausgeteilt, man konnte sich setzen, man konnte auf die Toilette gehen. Und die ganze Zeit fuhren auch die Züge weiter. Menschen kamen und gingen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, die Stadt hat eine beeindruckende Resilienz, sie lebt einfach ihr Leben weiter. Wüsste man nicht, dass sich das Land im Krieg befindet, würde man sich vielleicht über die Kontrollposten in der Stadt und die Militärfahrzeuge auf den Straßen wundern. Die Leute gehen zur Arbeit, die Restaurants haben geöffnet, auf den Straßen ist viel Verkehr. Trotzdem merkt man natürlich in Gesprächen, wie der Krieg die Menschen belastet.
Was kann Kunst an so einem Ort schaffen?
Zusammen mit dem Berliner Fotografen Eric Pawlitzky haben wir eine Skulptur gebaut, die aus einem Notausgang und zwei Lüftungsschächten besteht. Aus den Lüftungsschächten waren Geräusche und Ansagen aus der Berliner U-Bahn und der Kyjiwer Metro zu hören. Die Idee war, eine symbolische Verbindung zwischen der deutschen und der ukrainischen Hauptstadt zu schaffen, die seit September 2023 auch Partnerstädte sind. Wir können als Künstler keine U-Bahn-Linie zwischen Berlin und Kyjiw bauen, aber wir können die Idee einer echten Verbindung der beiden Städte in die Köpfe pflanzen.
Ihr Aufenthalt in der Ukraine war ja an sich auch eine solche Verbindung. Wie ist das bei den Künstlern in Kyjiw angekommen?
Die Künstler, aber auch die Menschen generell, die wir getroffen haben, waren alle sehr dankbar. Es bedeutet ihnen viel, wenn andere ganz konkret ihre Verbundenheit mit ihrem Land zeigen. Im Moment kommen außer NGO-Vertretern und Journalisten nur wenige Ausländer. Wir wurden unglaublich warmherzig aufgenommen. Ab 21. November werden unsere Arbeiten im Zentrum für Moderne Kunst M17 gezeigt. Das ist eine unglaubliche Ehre.
Mit dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich auf Telegram ein regelrechtes Ökosystem sogenannter Z-Kanäle entwickelt: Sie werden betrieben von Militärbloggern, Frontberichterstattern, Kadyrow-Anhängern und Propagandisten aus den Staatsmedien, die alle den Krieg gegen die Ukraine befürworten und sich meist ein noch entschlosseneres Vorgehen des Kreml wünschen.
Der Schriftsteller Iwan Filippow verfolgt diese Szene genauestens und berichtet auf seinem eigenen Telegram-Kanal darüber. Im Interview mit dem Portal Republic spricht er darüber, wie diese sogenannten „Z-Blogger“ ihre Enttäuschung über den Kriegsverlauf zeigen, warum sie Putin für einen Trottel halten und was sie zum Gaza-Krieg schreiben.
Jewgeni Senschin: Gibt es so etwas wie eine Z-Ideologie, oder ist das ein Mosaik aus Meinungen, Positionen, Stimmungen und Äußerungen, die nur die Idee vereint, gegen die Ukraine zu kämpfen?
Iwan Filippow: Die Z-Ideologie ist eine Ideologie des Kriegs, die auf jeden Fall die militärische Niederlage Kyjiws und den Sieg Russlands in seiner „militärischen Spezialoperation“ umfasst. Auf dieser Basis sind sich alle einig, aber dann beginnen die „ideologischen Unstimmigkeiten“. Je nach Themengebiet haben alle unterschiedliche Vorstellungen. Wie sieht der Sieg aus? Soll die ukrainische Sprache verboten werden oder nicht? Soll die gesamte ukrainische Bevölkerung ausgerottet werden, oder kann man manche am Leben lassen? Was soll man mit Kyjiw machen: es russifizieren oder in einen gigantischen Friedhof verwandeln?
Da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten
Soll man es bei der Ukraine belassen oder auch das Baltikum und Polen erobern? Welche postsowjetische Republik soll nach der Ukraine „bestraft“ werden – Kasachstan, Armenien, Georgien? Sogar die Gründe für den Krieg sehen die Betreiber von Z-Kanälen manchmal völlig unterschiedlich.
Nachdem Sie diese Community jetzt so lange beobachtet haben, was können Sie über deren psychische Verfassung sagen? Sind die ganz bei Sinnen oder nicht? Vielleicht ist die Eroberung Polens ja eine durchaus rationale Idee, für die es knallharte Argumente gibt? Wir verstehen sie nur einfach nicht und halten ihre Verfechter deswegen zu Unrecht für Psychos und Menschenfresser?
Ja, da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten und für Konzentrationslager und sonstige Scheußlichkeiten Stimmung machen. Zu den Ärgsten gehören da Goworit TopaZ (dt. Hier spricht TopaZ) oder Alex Parker Returns.
Der Grat ist natürlich schmal – dass Russland den Krieg gewinnt, wollen sie ja sowieso alle, aber trotzdem rufen noch lange nicht alle Autoren zu Kriegsverbrechen und bestialischen Ungeheuerlichkeiten auf. So mancher glaubt ehrlichen Herzens und nicht nur, um sich vom Kreml finanzieren zu lassen, an die Größe des Imperiums, an Russlands Waffen, an die Überlegenheit der Russen über alle anderen. Von Schlagwörtern wie „Entnazifizierung“ und sonstigen propagandistischen Klischees halten sie genauso wenig wie die Kriegsgegner, gleichzeitig glauben viele von ihnen aber tatsächlich an das zugrundeliegende Narrativ von der „Bedrohung durch die NATO“, der „Verteidigung nationaler Interessen“ und so weiter.
Was Militärblogger betrifft, so gibt es unter ihnen sehr viele Ideologen, die seit 2014 kämpfen und sich ein Leben ohne Krieg gar nicht mehr vorstellen können. Obwohl man auch über die Armeeangehörigen nichts Fixes sagen kann: Es gibt Zweifler, es gibt Gleichgültige, und es gibt richtige Menschenfresser.
Der Betreiber des Kanals Ubeshischtsche №8 (dt. Schutzbunker Nr. 8) schrieb zum Beispiel einmal einen sehr prägnanten Text über die Stimmung in der Armee, der auf den einfachen Gedanken hinausläuft: Zwar sehe ich keinen Sinn in diesem Krieg, mir ist die Ukraine absolut egal, aber wenn sie mich schon losschicken und mir Geld dafür zahlen, dann kämpfe ich eben.
Sie sehen ein Problem, bleiben aber buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen
Solche Stimmungen zu erforschen, ist deswegen interessant, weil wir daran die Entwicklung der Gedanken beobachten können. Wie Zweifel entstehen, wie sich Sichtweisen verändern, wie Reflexion beginnt. Zusammen mit Kollegen, die ebenfalls die Kreml-Propaganda untersuchen, bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Die Denkweisen all dieser Autoren haben eine Gemeinsamkeit. Sie sehen ein Problem, das eine Lösung erfordert, bringen einleuchtende und vernünftige Argumente vor, denken logisch über das Problem nach und … bleiben buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen.
Seht nur, schreiben die Z-Autoren, ringsum gibt es nichts als Probleme, vor allem Korruption und Willkür, es fehlt an Meinungsfreiheit, an Rechtsstaatlichkeit, an fairen Wahlen. Darüber gibt es tausende Z-Beiträge, doch keiner der Verfasser antwortet auf die Frage: „Wie kam es denn dazu?“ Tja, offenbar ist das ganz von selbst so gekommen.
Wahrscheinlich kann man so gut wie alle Z-Blogger als Imperialisten bezeichnen. Nicht unbedingt Monarchisten, obwohl es auch die massenhaft gibt, aber generell Menschen, die davon träumen, in einem großen, mächtigen Land zu leben, einer Art neuer Sowjetunion. Als Staatsbürger von diesem Imperium auf Händen getragen zu werden und sich erhaben zu fühlen, allein durch Geburt. Amüsant war, wie sich etwa vor einem Jahr gleich mehrere Blogger verbittert über die neue Einstellung des Westens gegenüber Russland beklagten: Dass sie uns nicht mögen können, verstehen wir ja, aber warum fürchten sie uns nicht mehr? Wie können sie es wagen, keine Angst vor uns zu haben?
Sie sprechen von einer Art Entwicklung der Ansichten. Welche Ereignisse haben diesbezüglich Einfluss? Wahrscheinlich solche wie die Verhaftung von Strelkow, Prigoshins Meuterei und seine anschließende Ermordung, dann diverse Misserfolge an der Front. Wie spiegelt sich all das in dieser „Evolution“?
Hierzu gehören auch der Rückzug aus der Oblast Charkiw, die Übergabe von Cherson, das Scheitern der Eroberung von Kyjiw, Prigoshins Kritik, Bachmut, Prigoshins Konflikt mit Schoigu, Prigoshins Ermordung.
Die Geschichte mit Igor Strelkow ist für die Z-Community extrem wichtig. Es gab offenbar ein unausgesprochenes Tabu, Putin persönlich zu kritisieren. Das betraf nur Putin höchstselbst, nicht etwa seinen „Furniermarschall“. Aber je miserabler die Lage an der Front war, desto zorniger richtete sich Strelkows Kritik gezielt gegen Putin, und kurz vor seiner Verhaftung artete das schon in regelrechte Beschimpfungen aus. Und mit ihm fingen auch andere damit an … Doch kaum befand Strelkow sich in U-Haft, breitete sich ein vielsagendes Schweigen aus. Wenn man jetzt auf einem Z-Kanal eine Beleidigung oder Kritik liest, die direkt gegen Putin gerichtet ist, dann lebt der Verfasser garantiert im Ausland.
Für sie ist Putin ein Trottel
Ein unerwartetes Ergebnis dessen, wie sich die Z-Meinungen angesichts der Ereignisse entwickelt haben, ist Enttäuschung über Putin. Diese wird sehr dezent formuliert und nie direkt geäußert (zumindest nicht von Leuten, die noch in Russland leben), aber generell wiegt die Enttäuschung schwer. Putin hat sich als Schwächling erwiesen. Seine Anhänger wollen ihn als Feldherren sehen, als Visionär, der die Soldaten an der Front besucht und jede Sekunde seines Lebens dem Sieg Russlands widmet. Aber er ist ein Piepmatz. Es macht sie rasend, dass Putin ständig lamentiert, wie ihn der Westen betrogen hat. Darüber, dass Putin übers Ohr gehauen wurde, kursieren in der Z-Community bereits Memes. Sie und ich, wir können darüber nur schmunzeln, aber die Z-Community lacht breit und schadenfroh aus vollem Halse. Für sie ist Putin ein Trottel. Wer wird über den Tisch gezogen? Ein Trottel. Und wen können die „geschätzten Partner im Westen“ zum x-ten Mal reinlegen? Einen Trottel.
Gleichzeitig wird seit der Sache mit Strelkow und seit Prigoshins Tod jetzt nur mehr unpersönlich und in Andeutungen geschrieben, oder man wendet sich dem altbewährten Mythos zu: Gut ist der Zar, die Bojaren sind böse. Und wer Putin „Pynja“ oder „Pypa“ nennt, lässt uns wissen, dass er im Ausland lebt.
Wo denn zum Beispiel?
Eine Bloggerin lebt in England. Zwei in Spanien. Ein radikaler Autor schreibt, er lebe in Kanada. Ein anderer in Armenien. Sie lieben ihre Heimat und unterstützen den Krieg aus sicherer Entfernung.
Kürzlich sind an der Front ATACMS-Raketen aufgetaucht. Wie reagierte das Z-Publikum darauf?
Der Angriff mit ATACMS auf den Flugplatz im besetzten Berdjansk, der je nach Quelle zu einem Verlust von bis zu sieben Helikoptern führte, hat die Z-Community erschüttert. Man ist aber nicht nur frustriert, sondern auch empört, und buchstäblich jeder Blogger monierte, dass es nirgendwo – weder in Russland noch in den besetzten Gebieten – Schutzbauten für Hubschrauber und Flugzeuge gebe. Sie regen sich auf, dass es seit über einem Jahr keiner schafft, diese einfachste aller Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Und sie fordern (wie immer) die Erschießung der Verantwortlichen. Die Diskussion über Perspektiven des Kriegs angesichts dieser ATACMS-Lieferungen verläuft ruhiger. Man geht davon aus, dass sie zwar keine Wende im Kriegsverlauf, aber trotzdem allerhand Probleme bringen werden.
Vor allem aber ärgert die Z-Blogger, dass Russland zuerst mit Tod und Teufel droht und rote Linien zieht, wenn Langstreckenraketen ins Spiel kommen sollten, und dann auf einmal: Pffft. „Was können wir denn machen? … ordentlich kämpfen (wie Israel gerade) traut sich keiner, die roten Linien gehen durch die Unterhosen der Kinder eines Tuwiners und einer Turnerin. Dafür stopfen sie den eigenen Leuten das Maul immer fester, statt den Feind zu vernichten“, schreibt der Betreiber des Channels DschRG Russitsch.
Die Z-Community speist sich aber nicht nur aus der Ukraine. Die Weltpolitik hat auch noch die Konfrontation zwischen Hamas und Israel für sie in petto. Was sagen die denn dazu?
Etwa 70 Prozent reagierten auf die tragischen Ereignisse in Israel mit Begeisterung. Sie hegen starke Antipathien gegen Israel, zumal dort viele Russen Zuflucht vor der Mobilmachung gefunden haben. „Ihr habt unsere Verräter aufgenommen, das habt ihr nun davon.“ Sie feiern jeden Tod in diesem Krieg, posten unzensiert die furchtbarsten Videos, die die Hamas verbreitet. Sie freuen sich über die Vernichtung israelischer Zivilisten und wünschen der Hamas den Sieg. Zugleich schreiben sie über Verbrechen des israelischen Militärs in Gaza. Und hier und da schimmert der alte banale Antisemitismus durch. Wie Sie wissen, hatte die Hamas für Freitag, den 13. Oktober, einen weltweiten Pogrom gegen Juden angekündigt, doch nichts geschah. Einer der Z-Blogger war sogar enttäuscht: „Wie denn das, kein einziger Toter, ich dachte, wenigstens die Muslime sind effektiv, aber auch die sind faul geworden und können nicht mal mehr Juden ermorden.“
Ich betone, das ist nicht die Haltung des Mainstreams, aber der Antisemitismus nimmt in den Z-Kanälen tagtäglich zu. Zum Beispiel die aussagekräftige Reaktion nach dem Fernsehauftritt von Amir Weitmann, dem Vorsitzenden der libertären (die Hälfte schrieb irrtümlich: liberalen) Fraktion der Likud-Partei, in dem dieser versprach, nach dem Sieg Israels müsse Russland seine Rechnung zahlen. „Glauben Sie mir, Russland wird bezahlen. Russland unterstützt Israels Feinde. Russland unterstützt Nazis, die einen Genozid unseres Volkes wollen. Und Russland wird dafür bezahlen, genauso wie die Hamas bezahlt hat.“ Der Blogger von Grey Zone schrieb: „Lck mcham Arsch, eine sprechende Seife … Wir können das wiederholen.“ Oder, formal weniger radikal, Shiwow Z: „Ihr habt selber noch etliche Rechnungen offen, von der Ermordung des russischen Zaren bis zur Ausmerzung der russisch-orthodoxen Kirche und Auslöschung ganzer Klassen aus unserer Gesellschaft.“
Die größte Freude bezüglich des Hamas-Angriffs auf Israel macht jedoch die Hoffnung, dass Amerika nicht gleichzeitig zwei Kriege unterstützen und seine Waffen statt in die Ukraine nach Israel liefern wird – was Russland natürlich zugute käme.
In den letzten Wochen bestand der Content von Z-Channels zu circa 40 Prozent aus Beiträgen über Israel.
Doch in diesem Z-Strom passiert auch Skurriles. Es gibt Autoren, die ihren politischen Überzeugungen nach absolut proisraelisch sind. Doch in der aktuellen Situation wird ihnen plötzlich bewusst, dass das Land, das sie medial bedienen, nicht für Israel ist, sondern für die Hamas. Das ist für sie ein schwerer Schock. Im Fernsehen ist das Jakow Kedmi, auf Telegram Jewgeni Satanowski, der den Kanal Armageddonytsch betreibt. Wo er die Frage stellt: „Wie kann ein Land, das Budjonnowsk, Nord-Ost, Beslan hinter sich hat, die Hamas unterstützen?“ Er ist aus der Bahn geworfen und versucht, die Balance wiederzufinden. Und er kommt zu der Lösung: In der Ukraine werde ich Russland unterstützen, im Nahost-Konflikt Israel.
Meiner Ansicht nach sind das zwei unvereinbare Positionen, diese Haltung ist schizophren. Das vorhersehbare Ende kennen wir. Satanowski nannte in einem Interview [Außenamtssprecherin] Maria Sacharowa eine „versoffene Schlampe“ und wurde von Solowjow umgehend entlassen. Die Z-Community interpretiert diesen Vorfall durchweg dahingehend, dass „ein schlafender Agent des globalen Zionismus enttarnt wurde“. Nicht ohne immer wieder auf die Nationalität von Jewgeni Janowitsch Satanowski hinzuweisen, und ungefähr jeder zweite Text ist – mal heftiger, mal weniger – antisemitische Hetze.
Wie lassen sich die Stimmungen zusammenfassen, die in dieser Szene derzeit vorherrschen?
Ich habe für mich längst beschlossen, ihre Stimmungen nicht nur anhand dessen einzuschätzen, was sie an einem konkreten Tag schreiben. Sie sind wie hyperaktive Kinder, ihre Launen schwanken in einer gigantischen Amplitude. Heute schreiben sie vielleicht: „Alles verloren, Chef!“, und morgen schon: „Klar wird Kyjiw erobert!“ Wobei natürlich sehr wohl eine allgemeine Richtung auszumachen ist. Die Gefühle, die die Z-Community heute vorwiegend durchlebt, sind Fassungslosigkeit und Besorgnis.
Fassungslosigkeit, weil sie nicht verstehen, wieso – so scheint es ihnen – „keiner versucht, den Krieg zu gewinnen“. Daraus wächst Misstrauen, vor allem an die Adresse Putins – er will diesen Krieg nicht so richtig führen. Außerdem kann er der Gesellschaft nicht einmal ein Bild des Sieges bieten. Der Krieg dauert nun schon weit über 600 Tage, und noch immer erhalten wir, wenn wir zwanzig Z-Bloggern die Frage stellen, wie ein Sieg Russlands in dieser „Spezialoperation“ aussieht, ganz unterschiedliche oder gar keine Antworten. Gleichzeitig ist Bitterkeit und Enttäuschung darüber zu verspüren, dass die „Spezialoperation“ irgendwie nur für den Schein sei, aber die Menschen tatsächlich darin umkommen.
Sie fürchten, dass sich der Kreml auf ein faules Abkommen einlassen könnte
Die Tendenz der letzten Tage ist, dass die Z-Blogger ihre Beiträge von vor einem Jahr ausgraben, in denen sie sich über Probleme in der Armee beklagten, um damit zum Ausdruck zu bringen: „Seitdem ist nichts besser geworden.“
All das zusammen führt zu Besorgnis. Sie befürchten, dass der Kreml sich auf ein faules Abkommen einlassen und damit die nationalen Interessen verraten könnte. Manche rechnen sogar ernsthaft damit, dass Russland die Krim abtreten könnte, was für sie einer Katastrophe gleichkommt.
Eine meiner wichtigsten Schlussfolgerungen, die sich auf tausende Z-Postings stützt, lautet: Heute unterstützt nur eine Minderheit der russischen Gesellschaft den Krieg. Trotz aller weit verbreiteten Mythen und Behauptungen der Propaganda ist der Krieg unpopulär, wurde nie und wird auch jetzt nicht von der großen Masse unterstützt. Die Kriegspartei ist eine marginale Minderheit, die die Interessen eines sehr kleinen Segments der russischen Gesellschaft vertritt. Und das Wichtigste, die Z-Blogger wissen das eigentlich, und es macht ihnen sehr zu schaffen, weswegen sie endlos darüber jammern.
Wollen Sie sie nur beobachten wie ein Biologe das Verhalten von Mäusen? Oder muss man sie als würdige Opponenten betrachten und versuchen, mit ihnen in einen Dialog zu treten, zu diskutieren, sie von etwas zu überzeugen?
Ich glaube schon, dass man mit ihnen diskutieren sollte. Die Z-Community besteht ja aus realen Menschen. Und wie schon gesagt, viele von ihnen zweifeln, sind enttäuscht von der Regierung, ihr Denken entwickelt sich weiter. Es ist absolut nicht ausgeschlossen, auch wenn es jetzt naiv klingt, dass es manchen von ihnen sogar irgendwann dämmert, wie sinnlos und kriminell dieser Krieg ist.
Und natürlich muss es eine Möglichkeit zum Dialog mit ihnen geben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dazu bereit sind, aber eine solche Möglichkeit, auch wenn sie vielleicht nur theoretisch besteht, vom Tisch zu wischen, das fände ich nicht richtig. Was meinen eigenen Kanal betrifft, so weiß ich ganz bestimmt, dass die Z-ler ihn lesen und hier und da auch beeindruckt davon sind. Das merkt man an den Kommentaren. Wobei jedoch ein Austausch mit Kriegsverbrechern, die einen Genozid rechtfertigen, nicht möglich ist.
Welche Prognosen könnte man ausgehend vom Content der Z-Kanäle zu den Perspektiven des Kriegs anstellen?
Am allerwenigsten will ich ein Professor Solowei sein, Prognosen sind eindeutig sein Metier. Ich verfüge über kein geheimes Wissen. Aber die Stimmung in den Z-Kanälen ist nicht siegessicher. Der letzte Beitrag, in dem es um die Besatzung von Kyjiw ging, liegt, wenn ich mich recht erinnere, ein Jahr zurück. Sie haben schon die Rechtfertigung dafür gefunden, warum das so ist – weil Russland gegen die ganze Welt kämpft. Es herrscht Enttäuschung über Putin, über den Kriegsverlauf: Wir gehen nicht auf Angriff, und wenn doch, dann wird es ein Fleischwolf à la Awdijiwka, wir sind ständig in der Defensive, und da gewinnt man nicht, wir bekommen unser Land kriegstechnisch nicht auf Schiene … Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Kann man daraus schließen, dass sie einsehen, dass Russland diesen Krieg schon verloren hat?
Ich glaube, so ganz stimmt das nicht. Obwohl – während zu Beginn sehr viel vom Sieg die Rede war, wird dieses Thema mittlerweile tatsächlich einfach ignoriert. Jetzt sind andere Themen aktuell: Hoffentlich überleben wir heute den nächsten Streubombenangriff, und was übermorgen passiert, werden wir ja dann sehen. Mit einem Wort: Kaum jemand will weit vorausdenken, weil die Zukunft völlig im Ungewissen liegt.
Der britische Fotograf Christopher Nunn hat eine Gabe, Dinge zum Sprechen zu bringen. Beim Ansehen seiner Arbeiten spielen sich ganze Geschichten im Kopf des Betrachters ab. Nach Beginn des verdeckten Krieges gegen die Ukraine im Donbass 2014 fotografierte er Fernsehgeräte in Wohnräumen und Behörden, einige in russisch kontrolliertem Gebiet gelegen, einige auf Gebiet unter ukrainischer Kontrolle. Einige Geräte zeigten die russische Sicht der Welt in der Version der staatlichen Propaganda, auf anderen liefen ukrainische Sender. Infowar nannte er das Projekt. In seinem jüngsten Projekt War Rooms geht es wieder darum, dass der Krieg in die Häuser der Menschen eingedrungen ist. Aber diesmal nicht durch den Fernseher, sondern in seiner ganzen realen Brutalität.
dekoder: Wie finden Sie die Orte, an denen Sie diese Fotos aufnehmen?
Christopher Nunn: Ich habe bei diesem Projekt mit der ukrainischen Regisseurin Oksana Karpovych zusammengearbeitet. Ihr Film Intercepted soll im kommenden Jahr erscheinen. Die meisten Bilder entstanden während der ukrainischen Gegenoffensive im Jahr 2022 in der Region Charkiw. Wir hatten einen großartigen Producer, Artem Fysun, der selbst aus Charkiw stammt. Er hat uns in unterschiedliche Städte und Dörfer geführt, die gerade erst befreit worden waren nach Monaten russischer Besatzung.
Wie gefährlich war es, dort zu arbeiten?
Piwnitschna Saltiwka, ein Wohnviertel am Stadtrand von Charkiw, ist einer der am stärksten zerstörten Orte. Das Viertel wurde praktisch in eine Geisterstadt verwandelt. Das erste Mal, als wir dort hinfuhren, war kurz vor der Gegenoffensive, und die russischen Stellungen lagen noch sehr nahe an Charkiw. Wir mussten ein paar Minuten nach unserer Ankunft schon wieder gehen, weil etwa 100 Meter die Straße hoch „Grad“-Raketen eingeschlagen waren. Das war zu der Zeit die tägliche Realität der Menschen dort. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer leben heute noch immer in dieser dauernden Angst.
Als Betrachter fragt man sich, ob diese Räume schon lange verlassen sind, oder ob das Geschoss gerade erst eingeschlagen hat?
Einige der Gebäude befanden sich im Zentrum von Charkiw und wurden nur wenige Stunden vor unserer Ankunft bombardiert. Einige der Bilder habe ich in der Region Kiew aufgenommen, diese wurden während der frühen Phasen der Invasion beschädigt. Die Zerstörung ist allgegenwärtig, aber die Ukrainer beeilen sich auch, zerstörte Gebäude entweder schnell zu reparieren oder abzureißen. Wir wussten daher, dass die Räume, die wir betraten, vielleicht nicht lange in diesem Zustand existieren würden.
Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass gar nicht alle Räume durch Artillerie verwüstet wurden. Einige sind auch einfach verlassen, weil die Einwohner fliehen mussten. In anderen haben Besatzer gehaust.
Genau. Wir sehen einen Raum, der auf die eine oder andere Weise durch den Konflikt verändert wurde und in einem Zustand der Unordnung ist. Die Räume waren im Grunde Tatorte und sie zeigen die Folgen des russischen Krieges: Tod, Vertreibung, Besatzung und Zerstörung. Je besser man die Ukraine und ihre Kultur kennt, desto mehr Details erkennt man auf den Bildern. Alltägliche Dinge wie bestimmte Tapetenmuster, die man in der Ukraine häufig findet, Ikonen oder das Blumenmuster auf einem Kochtopf zum Beispiel. Viele Wohnungen waren noch für Weihnachten und Neujahr geschmückt. Die Ukrainer begehen Weihnachten am 7. Januar, und am 24. Februar begann die Invasion.
Gibt es etwas, was Sie an diesen Orten besonders berührt hat?
Abgesehen von der menschlichen Tragödie dieses Krieges und dem Leid, das er verursacht, war es immer traurig, auf verlassene oder sterbende Haustiere zu treffen, oder einfach die Spuren des friedlichen Lebens zu sehen, das nicht mehr existiert. Wir haben viele zerstörte Schulen gesehen, das ist auch sehr bedrückend.
Russland hat die Sanktionen wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine bislang besser weggesteckt als erwartet. Das Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr geringer aus als geplant, der Entwurf für das kommende Jahr sieht noch einmal deutliche Steigerungen bei den Verteidigungsausgaben vor. Das liegt vor allem am hohen Ölpreis und an der schwachen Währung. Der Ökonom und Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, wo dabei die Risiken liegen und was was diese Entwicklung für die russischen Bevölkerung bedeutet.
dekoder: Russland kurbelt seine Rüstungsproduktion massiv an. Im Haushaltsentwurf für 2024 wurden die Ausgaben für Verteidigung fast verdoppelt. Mehr als jeder dritte Rubel wird für Militär und Sicherheit ausgegeben. Ist das schon Kriegswirtschaft?
Janis Kluge: Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an diesem Punkt. Um von Kriegswirtschaft zu sprechen, müssten etwa zivile Industrien per Dekret verpflichtet werden, für das Militär zu produzieren. So etwas hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben. Wenn Fabriken, die vorher Autos herstellten, auf staatliche Anordnung hin gepanzerte Fahrzeuge vom Fließband ließen, wäre das Kriegswirtschaft. Letztlich ist das Planwirtschaft. In Russland sind aber marktwirtschaftliche Mechanismen bislang noch weitgehend in Kraft. Die Rüstungsproduktion läuft größtenteils über staatliche Unternehmen und gewöhnliche Marktprozesse. Im kommenden Jahr wird Russland insgesamt wahrscheinlich knapp zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung aufwenden. Da kann man schon davon sprechen, dass die Wirtschaft auf das Kriegführen ausgerichtet wird. Aber obwohl die Kosten enorm sind, ist der wirtschaftliche Alltag davon noch relativ unbeeinträchtigt. Das wäre bei einer Kriegswirtschaft nicht mehr der Fall.
Wie finanziert Moskau diese Ausgaben?
Trotz steigender Militärausgaben sollen die Ausgaben in anderen Bereichen nur leicht sinken. Dafür plant das Finanzministerium mit Mehreinnahmen in unterschiedlichen Feldern: Es gab im vergangenen Jahr eine Stundung von Sozialbeiträgen, die 2024 fällig werden. Im Öl- und Gassektor gibt es kleinere Steuererhöhungen. Dazu kommt eine neue Exportsteuer für viele Industrien, die steigt, wenn der Rubel fällt, und damit die Wechselkursgewinne der Exporteure abschöpft. Große Defizite sind nicht geplant, im Gegenteil: Das russische Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr sogar geringer aus als erwartet. Das Finanzministerium hatte für 2023 ein Defizit von zwei Prozent eingeplant, aktuell rechnet man nur noch mit einem Prozent. Die Kriegsausgaben lenken den Staat jedoch davon ab, nachhaltigen Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen.
Welche Rolle spielt dabei der schwache Rubel?
Der Staat profitiert von der schwachen Währung, weil er für jeden Dollar aus dem Export von Öl und Gas mehr Rubel in die Kasse bekommt. Umgekehrt werden Importprodukte teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Auch Unternehmen spüren die Währungsschwäche, wenn sie zum Beispiel Maschinen aus China kaufen. Hohe Preise auf dem Weltmarkt und eine schwache Währung machen es für russische Unternehmen attraktiver, ihre Produkte zu exportieren. Der Staat hat deshalb zeitweilig den Export von Getreide und Benzin beschränkt. Denn wenn die Unternehmen mehr Geld mit dem Export verdienen können, sagen sie sich: Okay, dann erhöhe ich auch meine Preise im Inland. Für die Verbraucher wirkt die Rubelschwäche wie eine versteckte Besteuerung, im Ergebnis führt sie zu einer Umverteilung von den Bürgern in den Staatshaushalt.
Wie lange macht die Bevölkerung das mit?
Auf lange Sicht kann sich die Inflation zu einem Problem entwickeln. Der Staat wird deshalb auch die Renten und die Löhne staatlicher Bediensteter anpassen müssen. Auch deshalb will das Finanzministerium trotz der kurzfristigen Mehreinnahmen nicht, dass der Rubel weiter an Wert verliert. Im nächsten Jahr stehen außerdem Präsidentschaftswahlen an, und da ist es schlecht, wenn die Bevölkerung die gestiegenen Preise allzu sehr im Supermarkt spürt.
Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus?
Russlands Arbeitslosigkeit befindet sich derzeit auf einem Rekordtief, an vielen Orten herrscht Arbeitskräftemangel. Der ergibt sich aus mehreren Faktoren: Hochqualifizierte Fachkräfte verlassen das Land, weitere Arbeiter verschluckt die Mobilisierung. Außerdem treten aufgrund des demografischen Wandels aktuell ohnehin wenig junge Leute in den Arbeitsmarkt ein. Die niedrige Arbeitslosigkeit bedeutet auch: Viele Arbeitnehmer profitieren von der auf Krieg ausgerichteten Wirtschaft, denn durch die Knappheit steigen ihre Reallöhne stärker als die Inflation. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die in kriegsrelevanten Branchen arbeiten. Wenn einem der politische Hintergrund egal ist, ist die aktuelle Situation sogar ein guter Moment, um Karriere zu machen. Denen, die gut vernetzt sind und dem Krieg positiv gegenüberstehen, bieten sich durch die Abwanderung ausländischer Investoren viele Gelegenheiten. Deswegen fühlt es sich für viele Russinnen und Russen nicht wie eine Krise an.
Welchen Einfluss haben da die Sanktionen?
Von den Sanktionen sind besonders die Sektoren betroffen, die eng mit dem Westen verflochten waren, zum Beispiel die Automobilindustrie. Aber auch in vielen anderen, wirtschaftlich weniger wichtigen Branchen gibt es Auswirkungen: Kinos können sich zum Beispiel jetzt nicht mehr auf legalem Weg westliche Filme beschaffen. Hinzu kommt, dass die Sanktionen Fachleute dazu zwingen können, das Land zu verlassen, wenn sie weiterhin bestimmte westliche Software-Dienstleistungen nutzen oder Teil der vernetzten Welt sein wollen. Das macht sich vor allem in der IT-Branche bemerkbar.
Je nach Schätzung sind im letzten Jahr bis zu einer Million Russinnen und Russen emigriert.
Ja, aber es haben auch einige Unternehmen ihre Zelte im Land abgebrochen. Es sind also nicht unbedingt so viele Stellen tatsächlich frei geworden, denn einige sind zurückgekehrt, nachdem sie den Schock der Teilmobilisierung überwunden hatten. Oder sie arbeiten aus der Ferne weiter für ihre russische Firma. Es ist also nicht so ganz klar, wie viele nun wirklich weg sind vom Arbeitsmarkt, deswegen ist der Effekt auf die Wirtschaftsleistung nicht eindeutig. Bei den weniger qualifizierten Berufen funktioniert weiterhin die Arbeitsmigration. Auch dieses Jahr sind wieder sehr viele Arbeitsmigranten vorrangig aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland gekommen, die sind ein wichtiger Ersatz für russische Männer, die in die Armee eingezogen wurden.
Wo weniger gearbeitet wird, kann weniger produziert werden. Der Staat muss seine Verluste also irgendwie kompensieren. Da ist zum Einen die wachsende Rüstungsindustrie. Was noch?
Der Staat versucht zu verhindern, dass die Produktion ausländischer Unternehmen wegfällt. Deshalb versucht die russische Führung, internationale Konzerne dazu zu zwingen, im Land zu bleiben oder ihre Unternehmen zu Spottpreisen an russische Eigentümer zu verkaufen, die das Geschäft fortführen sollen. Damit wird auch der Rubelkurs geschützt. Normalerweise müsste ein russischer Käufer, der ein deutsches Unternehmen übernimmt, erst einmal Euros besorgen, um es auszubezahlen. Der Abfluss ausländischen Kapitals schwächt aber weiter den Rubel, und das möchte man vermeiden. De facto werden Firmen wie Danone oder Carlsberg, die jetzt ihre Geschäfte aufgegeben haben, dadurch enteignet, selbst wenn sie nach den offiziellen Regeln spielen wollten.
Die Fortsetzung des Geschäfts nach so einem Eigentümerwechsel funktioniert unterschiedlich gut. Um das zu beurteilen, schaut man sich am besten die Lieferketten an. Je mehr das Unternehmen in westliche Lieferketten integriert ist, desto schwieriger ist es, die Produktion komplett vom vorherigen Eigentümer unabhängig zu betreiben. In der Automobilindustrie ist es bisher kaum gelungen, sie unter russischer Führung wieder in Gang zu bringen. Anders ist das zum Beispiel bei McDonald’s, weil es da von vornherein lokale Lieferketten gab. Aber das ist nicht alles, denn langfristig hat diese Unternehmen sicher noch mehr ausgezeichnet, als nur ein westliches Label auf irgendwelche russischen Dinge draufzuschreiben. Weil die Kommunikation mit dem Mutterkonzern jetzt abgeschnitten ist, werden wichtige Prozesse in den russischen Zombie-Unternehmen nicht weiter verbessert und dadurch fehlen Innovationen.
Wie lange kann der Westen den wirtschaftlichen Druck aufrechterhalten?
Für den Westen steht wirtschaftlich erst einmal nicht so viel auf dem Spiel wie für Russland, weil die Kosten der Sanktionen sich auf eine viel größere Volkswirtschaft verteilen, während der Schaden in Russland konzentriert auftritt. Für den Westen ist auch die Unterstützung der Ukraine nicht sehr teuer.
Ist die Belastung des Westens durch den Krieg, die viel diskutierte „Ukraine fatigue“, nur Einbildung?
Wenn die Unterstützer der Ukraine dauerhaft nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Ukrainehilfen aufbringen würden, wäre das immer noch mehr, als Russland aktuell für den Krieg ausgeben kann. Das spürt der einzelne Bürger nicht in seinem Portmonee. Aber die Frage „Unterstützen oder nicht?“ ertrinkt immer mehr in Symbolik und wird zu einem Streitthema in Wahlkämpfen. Tatsächlich kommt Deutschland trotz des Sondervermögens nur mit Ach und Krach auf die von der NATO empfohlenen 2 Prozent an Verteidigungsausgaben. Der Westen schöpft seine wirtschaftlichen Möglichkeiten, sich dem Krieg entgegenzustellen, nicht aus.
Wann könnte Russland doch noch in Schwierigkeiten geraten?
Der Ölpreis ist entscheidend. Russland hat aktuell kaum Reserven, um niedrige Preise abzufedern. Früher hat der Staat bei hohen Ölpreisen Reserven in ausländischen Währungen gebildet. Wenn die Preise wieder sanken, wurden die Reserven in Rubel umgetauscht, um den Rubel zu stärken. Diesen Ausgleichsmechanismus kann Russland jetzt nicht mehr auf die selbe Weise nutzen, denn durch die Sanktionen kann die Zentralbank die noch vorhandenen Reserven nicht mehr verkaufen und zumindest selbst auch keine neuen Reserven in liquiden Währungen wie Dollar und Euro anhäufen. Wenn der Preis für Öl plötzlich einbräche, wie etwa 2014, würde das Russland jetzt viel stärker treffen. Danach sieht es zwar aktuell nicht aus, aber dennoch: Russlands wirtschaftliche Resilienz hat Grenzen.
Experte: Janis Kluge Interview: Alexandra Heidsiek Veröffentlicht am 2.11.2023
Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.
Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.
Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin
Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.
Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.
Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?
Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.
Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.
Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?
Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.
Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden
„Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“
Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.
„Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“
„Haben Sie die Explosion gehört?“
„Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.
Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“
„Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“
„Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“
Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.
„Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.
„Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“
„Und Ihre Frau?“
„Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“
„Was war sie von Beruf?“
„Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“
Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.
Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen
„Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.
„Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“
Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.
***
Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.
„Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“
***
Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.
Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks
„Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.
„Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“
„Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“
„Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“
Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.
„Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.
„Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“
„Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“
Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.
Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“
Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.
Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen
„Wie hießen die beiden?“
„Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.
Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.
„Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“
„Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“
„Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“
„Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“
„Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“
„Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“
„Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“
Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.
***
Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.
„Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“
„Wie heißen Sie?“
„Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“
Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden.
„Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“
Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.
„Geht nicht, sind im Dienst.“
„Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“
Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.
***
Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:
„Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“
„Das wissen wir nicht …“
Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.
„Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig.
Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.
Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist.
„Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.
Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist
Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“
Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.
***
Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.
Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“
Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher
Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren:
„Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“
Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.
„Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“
Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.
„So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.
Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“
Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.
Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf
„Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“
Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.
„27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“
Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.
„Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“
Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.
***
Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.
„Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“
„Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“
„Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“
„Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“
„Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“
„Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“
Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht
„Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“
„Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“
Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.
„Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“
Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.
Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.
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Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.
„Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.
Am 30. September 2022 verkündete Wladimir Putin die Angliederung von vier ukrainischen Gebieten in die Russische Föderation: Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson. Obwohl Moskau zu keinem Zeitpunkt auch nur eines dieser Gebiete vollständig unter seiner Kontrolle hatte, wurden eilig Verwaltungsbehörden nach russischem Vorbild eingerichtet. Journalisten des russischen Portals Verstka haben recherchiert, wer in den Okkupationsorganen wichtige Ämter innehat und dazu die Biographien von 224 Verwaltungsbeamten des mittleren und höheren Dienstes analysiert.
Das Ergebnis: Etwa jeder zweite Leitungsposten in den regionalen Behörden ist von Beamten besetzt, die aus der Russischen Föderation kommen. Auf kommunaler Ebene überwiegen derweil Mitarbeiter, die vor der Besetzung bereits in den ukrainischen Behörden tätig waren. Ein beträchtlicher Teil der aus Russland zugezogenen Beamten wurde offenbar von der Aussicht angelockt, durch den Einsatz in den Besatzungsbehörden einer Strafverfolgung zu entkommen. Ukrainische Kollaborateure wurden dagegen mit Karriereversprechen geködert.
Anfang Februar 2021 platzierte Igor Telegin aus Cherson auf dem Jobportal work.ua seine Bewerbung, in der er sich bereit erklärte, für 30.000 Hrywnja pro Monat (seinerzeit umgerechnet 1100 US-Dollar) als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten. Als eine seiner besten Arbeiten nannte Telegin einen 2017 auf YouTube veröffentlichten Clip zu einem Lied von Alexander Ponomarjow, einem Schlagersänger mit dem Rang eines „Volkskünstlers der Ukraine“. Die erste Zeile lautet: „Wir werden uns nie von unserer Muttersprache lossagen.“ Die Videosequenz zeigt Antiterrorübungen von Spezialeinheiten der ukrainischen Streitkräfte und Schüler, die eine riesige ukrainische Flagge entrollen. Auch sind Kinder zu sehen, die in ukrainischer Nationaltracht einen ukrainischen Volkstanz aufführen. Telegin bezeichnete sich auch als Autor des Drehbuchs für eine Staffel der populären ukrainischen Serie Weschtschdok (dt. Sachbeweis), die von einem faschistischen Kollaborateur und Spion erzählt, der von Kyjiwer Milizionären gefangen wurde.
Vor Kriegsbeginn war Telegin ein intensiver Facebook-Nutzer, wobei er dezent die Sowjetunion lobte und ironische Bemerkungen über russische wie auch ukrainische Politiker schrieb. So postete er nach einer der Militärparaden in Kyjiw, auf der sowjetische Kriegstechnik zu sehen war, eine Kollage mit Wladimir Putin und Dimitri Medwedew in T-Shirts in den ukrainischen Nationalfarben – und mit einem Aufdruck „Putin ist ein Schwanz!“. Telegin hat bis zum Abschluss dieser Recherche weder seine Bewerbung noch die Kollage gelöscht.
Nach Beginn des großangelegten russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 wurde Telegin zu einer der markantesten Figuren der Besatzungsbehörden. Ende Mai letzten Jahres wurde er zum Chef der Abteilung für Innen- und Außenpolitik der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Cherson ernannt. Im September wurde er Abgeordneter der „gesetzgebenden Versammlung“ der Region. An Clips mit heldenhaften Kämpfern der ukrainischen Streitkräfte und eine Zusammenarbeit mit einem Kanal des ukrainischen Oligarchen Viktor Pintschuk erinnert er sich nicht. Stattdessen erzählt er, die lokale Bevölkerung habe „auf ihre Befreiung gewartet“, hätte aber „Angst, darüber zu sprechen“, weil sie Repressionen durch das „ukrainische Regime“ fürchte.
Vor dem Krieg war Telegin kein Ziel strafrechtlicher Verfolgung durch die ukrainischen Behörden. Die örtlichen Medien nannten ihn respektvoll einen „Prominenten der Stadt“. Auf eine Anfrage von Verstka hat Telegin nicht reagiert.
Er ist längst nicht der einzige Einheimische, der einen leitenden Posten in der Besatzungsverwaltung der Gebiete Cherson und Saporishshja übernahm. Wolodymyr Saldo war Bürgermeister von Cherson und ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada für die Region. Dann wurde er Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson. Drei von fünf seiner wichtigsten Stellvertreter sind ebenfalls Einheimische.
Früher gratulierten sie den ukrainischen Streitkräften, jetzt feiern sie russische Propaganda
Einige von ihnen haben wohl, genauso wie Telegin, erst kürzlich gemerkt, dass sie das ukrainische Regime nicht mögen, dafür aber das russische. So erklärte der stellvertretende Ministerpräsident des Gebiets Witali Buljuk noch im April 2022 öffentlich: „Cherson gehört zur Ukraine“. Schon wenige Wochen später erhielt er einen Posten in der Besatzungsverwaltung von Saldo. Ukrainische Medien erklären dieses Umsatteln damit, dass Buljuk, der vor dem Krieg stellvertretender Vorsitzender der Gebietsrada war, einer der größten Unternehmer von Skadowsk ist, einer Stadt im Süden des Gebietes Cherson, die von russischen Truppen in den ersten Tagen der Invasion erobert wurde. In dieser Stadt gelangten ebenfalls Leute aus Buljuks Dunstkreis an die Macht. Stellvertretende Bürgermeisterin wurde beispielsweise Ljudmila Zelep-Koslowa, lokalen Medien zufolge eine Verwandte von Buljuk. Im Dezember 2021 hatte sie in den sozialen Medien noch Gratulationen zum Tag der ukrainischen Streitkräfte gepostet. Jetzt sind auf ihren Seiten Lieder des russischen Propaganda-Bаrden Jaroslaw Dronow (Schaman) zu finden.
Das markanteste Beispiel von Kollaboration zur Sicherung des eigenen Besitzes ist das Oberhaupt des benachbarten Gebietes Saporishshja, Jewhen Balyzkyj, ein ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada der Ukraine für den Oppositionellen Block. Vor dem Krieg hatte seine Familie zu den größten Unternehmern in Melitopol gezählt. Die Stadt wurde bereits Anfang März 2022 eingenommen und zur „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Saporishshja gemacht. Und dort gab es dann auch die erste hochrangige Kollaborateurin: Melitopols „Bürgermeisterin“ Galina Daniltschenko, die in den Unternehmen der Familie Balyzkyj für Finanzen und Buchhaltung zuständig war. Auch andere lokale Unternehmer widersetzten sich dem neuen Regime nicht. So erhielten Sergej Solotarjow aus Melitopol und Viktor Gretschka aus Berdjansk recht bald in ihrer Stadt jeweils einen Posten als Vizebürgermeister. Solotarjow ist inzwischen Vorsitzender des Stadtrates von Melitopol.
Unter den Führungskräften gibt es übrigens auch „unfreiwillige Kollaborateure“: Der Landwirtschaftsminister des Gebietes Cherson, Pjotr Sbarowski, hatte vor dem Krieg ein Unternehmen zur Produktion von Windkraftanlagen geleitet. Bevor er seine Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern begann, hatte es Informationen gegeben, dass er angeblich zuerst gekidnappt und dann von russischen Sicherheitskräften wieder freigelassen worden sei.
Früher Animateur im Bärenkostüm, heute verantwortlich für Kultur
Für viele bedeutet eine Zusammenarbeit mit den Russen einen beträchtlichen Karrieresprung. So war Tatjana Kusmitsch, die Vizegouverneurin von Cherson, vor dem Krieg in der alles andere als beneidenswerten Stellung einer Lehrerin, die von den ukrainischen Sicherheitsbehörden des Landesverrats zu Gunsten Russlands beschuldigt wurde. Jelena Terskich, die Bürgermeisterin von Henitschesk, der „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Cherson, war zuvor eine gewöhnliche Angestellte in der Stadtverwaltung. Und der Kulturminister des Gebietes, Alexander Kusmenko, war zuvor Direktor einer Musikschule in Cherson.
Die Beamten der „neuen Verwaltungen“, die aus der Gegend kommen, sprechen allerdings nicht von Karrieresprung. Und sie können sehr genau von den Vorteilen „durch die Ankunft Russlands“ erzählen: „In der Ukraine schert sich niemand um die jungen Leute. Es wurden zwar Haushaltsmittel für sie bereitgestellt, doch die Gelder kamen nicht bei den Menschen an. Deswegen war es öfter so, dass die Verwaltung oder ein Mäzen einen Laden oder einen Spielplatz baute, und der dann nach ein paar Tagen von lokalen Jugendlichen zerstört wurde. Einfach, weil die nichts zu tun haben“, erinnert sich Bogdan Kasnawezki im Gespräch mit Verstka. Er kommt aus Cherson und arbeitet in der Kulturverwaltung des Gebietes. Vor dem Krieg war er Statist und Animateur, trat bei Unternehmens- und Familienfeiern im Bärenkostüm auf.
Nach der Eroberung von Henitschesk durch russische Truppen wurde Kasnawezki zunächst erster Stellvertreter des Chefs der Militär- und Zivilverwaltung der Stadt. Dann merkte er aber, „dass ihm die Kultur näher liegt“. Und er begann, im Auftrag der Kulturverwaltung des Gebiets, Veranstaltungen zu organisieren. „Jetzt sind die Kinder aktiv, es gibt viele Organisationen, die sie in ihre Tätigkeit einbinden. Im Gebiet wurden 360 Veranstaltungen durchgeführt, im Jugendbereich! Und das bringt Ergebnisse: Bei den Feiern zum 9. Mai kamen viele junge Leute. Die hat niemand gezwungen, das war freiwillig“, erzählt er. Auf die Frage von Verstka, wie das zu dem Umstand passe, dass Umfragen zufolge 64 Prozent der Bewohner des Gebiets Cherson für Ukrainisch-Unterricht in den Schulen sind, meint Kasnawezki, es gebe „tatsächlich nicht wenige Shduns hier“, doch die „können nichts als einem in die Suppe spucken“.
Flucht vor Strafverfahren
Ende Dezember 2021 durchsuchte der FSB das Bürgermeisteramt in Krasnodar sowie die privaten Räume des gerade vor einem Monat ernannten Stadtoberhauptes Andrej Alexejenko. Der wurde wegen des Verdachts auf Bestechung festgenommen. Der mutmaßliche Bestechungslohn: eine handgefertigte extravagante Jagdflinte im Wert von 1,5 Millionen Rubel [damals etwa 18.000 Euro – dek]. Der Pressedienst der regionalen Verwaltung des Strafermittlungskomitees veröffentlichte sogar ein 18-sekündiges Video, in dem der Ermittler Alexejenko den Haftbefehl verliest. Bald wurde bekannt, dass Einiges Russland die Partei-Mitgliedschaft des Bürgermeisters ausgesetzt hat. Alles sah nach einer typischen regionalen Korruptionsgeschichte aus. Im weiteren Verlauf hätte – so das übliche Szenario – eine Untersuchungshaft oder ein Hausarrest und dann eine tätige Reue des Bürgermeisters erfolgen müssen und es wären eine Menge Details darüber in Umlauf gekommen, wie er und seine Untergebenen sich bereichert haben.
Doch Alexejenko widerfuhr nichts dergleichen. Im Gegenteil: Das Video von seiner Festnahme wurde von den Sicherheitsbehörden in den Netzwerken zwei Tage nach seiner Veröffentlichung wieder gelöscht. Der Bürgermeister verschwand zwar aus der Öffentlichkeit, trat aber nicht umgehend zurück. Quellen von Verstka meinen, der Bürgermeister sei von Gouverneur Weniamin Kondratjew gerettet worden, zu dessen Team Alexejenko in den letzten Jahren gehörte. „Kondratjew hat für Alexejenko buchstäblich so etwas wie eine zweite Chance erbeten und sich für ihn gegenüber den Behörden in Moskau verbürgt“, behauptet ein Gesprächspartner von Verstka in der Verwaltung von Krasnodar, ohne genauer zu sagen, um welche Behörden es ging.
Und in der Tat eröffnete sich ihm schon bald eine zweite Chance: Am 19. August schied er offiziell aus dem Amt des Bürgermeisters von Krasnodar aus; bereits am nächsten Tag wurde er zum ersten stellvertretenden Leiter der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Charkiw ernannt. Zu jener Zeit traten Führungspersonen der Besatzungsverwaltung wie Wladimir Saldo und Jewgeni Balizki vorwiegend in repräsentativer Funktion in Erscheinung. Für die tatsächliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden und die Verwaltung des besetzten Gebietes waren deren erste Stellvertreter zuständig.
In Cherson war das zum Beispiel Sergej Jelissejew, ein ehemaliger FSBler und Vizegouverneur der Oblast Kaliningrad. Für Alexejenko hätte der Posten bedeutet, dass er alle Hebel in der Region Charkiw in die Hand bekommt. Die Streitkräfte der Ukraine eroberten jedoch schon einen Monat später das Gebiet nahezu vollständig zurück. Und Alexejenko blieb nichts, was er noch verwalten könnte.
Alexejenko ist nicht der einzige, der in den „neuen Territorien“ einer Strafverfolgung in Russland entkommt. Der Chef des Bauministeriums der „Volksrepublik Donezk“, Nikolaj Ziganow, ein Verwaltungsbeamter aus der Oblast Leningrad, war einer derjenigen, der von Sankt Petersburg aus den Wiederaufbau von Mariupol leitete. Im „großen Russland“ liefen bereits vor Wirtschaftsgerichten verschiedener Instanzen Bankrottverfahren gegen seine Unternehmen für Immobilienentwicklung namens Premjer-Holding, das nicht beglichene Schulden hat und betrogene Investoren hinterlässt.
Im Gebiet Saporishshja wird die Behörde für Inneres vom ehemaligen stellvertretenden Leiter der Fahndungsabteilung der Moskauer Polizei, Oleg Koltunow, geleitet. Ukrainische Medien berichten, dass seine Versetzung in die besetzten Gebiete darauf zurückzuführen ist, dass Koltunow in Moskau bei ausgiebiger Bestechung erwischt wurde.
Ehemalige und aktive Verwaltungsbeamte, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, beneiden diese Leuten: „Als ich aus der Untersuchungshaft freikam, setzten sich sofort einige gute Bekannte mit mir in Verbindung die ‚hinter dem Streifen‘ [= „in der Ukraine“ – dek] arbeiten: ‘Komm her, mit deinem Profil kannst du hier arbeiten. Was den Lohn angeht – so einer ist mir in Russland noch nicht untergekommen. Und was die Stelle angeht – nach einer solchen kannst du hier [in Russland] ewig suchen. Ich hatte schon zugesagt, aber meine Familie hat mir abgeraten, schließlich fliegen dort Granaten und Autos gehen in die Luft“, klagt einer von ihnen gegenüber Verstka.
Eine Person aus dem Stab des Bevollmächtigten des Präsidenten im Zentralen Föderalbezirk bestätigte Verstka: „Ein Trip ‚hinter den Streifen‘ setzt deine gesamte Vergangenheit auf null. Sünden, Strafverfahren oder Fehlschläge in der Verwaltung sind dann mit einem Mal vergessen, aber deine Erfahrung behältst du. Das ist eine Chance, aus dem Nichts eine Karriere zu starten. Für einige kann es die einzige Möglichkeit sein, in der Spur zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.“
dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto gemacht hast?
Bartosz Ludwinski: Am 2. August 2023 fuhr ich mit zwei anderen Freiwilligen einer NGO, die Evakuierungen und Hilfseinsätze im Donbass durchführt, in die Frontstadt Tschassiw Jar. Ich habe mich der NGO im Sommer 2023 angeschlossen. Vorher, kurz nach Beginn des Krieges, hatte ich mich als Fahrer für Hilfskonvois gemeldet. Für mich ist es wichtig, etwas zurückzugeben, sonst fühle ich mich schnell als Nutznießer. Am Tag zuvor hatten wir also von einer möglichen Zwangsevakuierung der verbliebenen Kinder in der Umgebung erfahren. Zwischen 60 und 70 Kinder waren aber noch vor Ort. Also machten wir uns auf die Suche nach ihnen.
Was für einen Eindruck hattest du von Tschassiw Jar?
Während wir durch den Ort fuhren, schlug unweit von uns eine Granate ein. Es müssen etwa 200 Meter gewesen sein. Eine Frau kam uns auf ihrem Fahrrad entgegen und fuhr einfach geradeaus durch eine weiße Rauchwolke. Die Granate hatte sie nur knapp verfehlt, aber sie beeilte sich nicht einmal. Viele der Menschen, die nahe der Front geblieben sind, sind schwer traumatisiert und nehmen die Gefahr um sie herum nicht mehr wahr, es sei denn, sie betrifft ihr direktes Zuhause. In solchen Momenten versuchen wir, die Menschen zur Flucht zu motivieren.
Schließlich traft ihr auf das Mädchen auf dem Foto, die achtjährige Diana. Was ist ihre Geschichte?
Diana war gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause. Wir sprachen sie an und erfuhren von ihrer Geschichte. Auch ihre Großeltern kamen heraus und zeigten uns das Haus, das mehrfach von Grad-Raketen getroffen worden war. Diana war zuvor in einen anderen Teil der Ukraine geflohen, der als relativ sicher gilt. Dort wurde sie in der Schule von den anderen Kindern als „Separatistin“ beschimpft. Sie antwortete zwar, dass ihr Vater in Bachmut für die Ukraine kämpfe, aber das interessierte die anderen Kinder nicht. „Du bist eine Separatistin“, sagten sie immer wieder. Als wir sie trafen, war Diana gerade wieder in den Donbass zurückgekehrt. Heute ist ihr Vater tot und mit ihm sein Bruder. Beide sind an der Front gefallen. Diana hat nur noch ihre Großeltern. Die wiederum befinden sich in einem Rechtsstreit mit der eigenen Familie um das Land des verstorbenen Vaters. Das war eine Realität, die mich sehr bewegt hat. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, begleitet mich ein Gefühl der Ohnmacht und Fassungslosigkeit.
Wie war es für dich, als Fotograf in der Ukraine zu arbeiten?
Es ist schwierig, zu beschreiben, wie es ist, in einem vom Krieg zerrütteten Land zu leben. Man lernt, seine Gedanken und Ängste zu kontrollieren, einige besser als andere. Während meiner Zeit dort habe ich jedoch vor allem viel Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft erfahren und enge Freundschaften geschlossen. Mir war es wichtig, den Krieg authentisch und ehrlich aus meiner Perspektive zu zeigen, aber natürlich auch aus der Perspektive der Ukrainer. Dafür habe ich Wochen und Monate mit ihnen zusammengelebt und konnte so ihre alltäglichen Gedanken, Ängste und Hoffnungen besser verstehen. Das erfordert natürlich viel Zeit und ist nicht jedem möglich.
Was wünschst du dir hinsichtlich des Fotojournalismus in Kriegsregionen?
Generell wünsche ich mir mehr Zeit für den Journalismus. Das Bild eines Fotografen, der sich kurz in ein Kriegsgebiet abseilt und dann für immer von dort verschwindet, gefällt mir nicht. Dennoch ist mir klar, dass es oft unvermeidbar ist.
Inwiefern haben diese Erfahrungen dich als Fotografen und deine Arbeitsweise beeinflusst?
Natürlich beeinflussen all diese Erlebnisse, wie man auf unsere Welt blickt. Gerade der westliche Lebensstil mit all seinem Konsum und seinen Sorgen erscheint einem absurder denn je. Man hinterfragt sich und seine Umwelt nach der Rückkehr. Für kurze Zeit hatte ich das Gefühl, mich innerlich aufzulösen, bevor ich mich wieder an das Leben zu Hause gewöhnen konnte. Durch meine Erfahrungen im Krieg sehe ich aber auch Ereignisse oder Probleme zu Hause viel gelassener. Als Fotograf bin ich natürlich gewachsen und habe mich weiterentwickelt. Im Grunde hat sich an meiner Arbeitsweise nichts geändert. Aber ich denke, ich bin heute besser in der Lage zu erkennen, wann ich visuell überreizt bin und die Kamera für eine Weile weglegen muss.
BARTOSZ LUDWINSKI, geboren 1983 in Stettin, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Münster. Das Fotografieren brachte er sich selbst bei. In der Ukraine dokumentiert er das Leben der Menschen im Krieg. Seine Werke und Reportagen wurden in verschiedenen deutschen und internationalen Medien veröffentlicht, darunter etwa der Spiegel und das Magazin der Süddeutschen Zeitung.
Die Ideologie des Russki Mir beschreibt Russlands Konfrontation mit dem Westen als apokalyptischen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein einstmals international gefeierter Regisseur deutet ein eingeritztes Zeichen im Boden einer Moskauer Kirche als Beleg dafür, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine auf göttlicher Vorsehung beruhe. Die orthodoxe Kirche übernimmt Formulierungen von Ideologen, die sie früher wegen Okkultismus und Satanismus bekämpft hat. Wladimir Putin argumentiert mit „Erkenntnissen“, die sein Geheimdienst mit Hilfe von Gedankenlesern errungen haben will. Der Präsident und sein Verteidigungsminister besuchen gemeinsam „Kraftorte“ in der Taiga. Woher dieser Trend zum Magischen in der russischen Führung kommt, schildert der Religionsexperte Alexander Soldatow in der Novaya Gazeta.
Im Zuge der wachsenden Sinnkrise der „militärischen Spezialoperation“ tauchen immer öfter Begriffe wie „Magie des heiligen Krieges“ oder „Blut- und Opferkult“ auf. Die Bemühungen des Patriarchen Kirill, das Geschehen in ein christliches Gewand zu hüllen, klingen wenig überzeugend. Besser funktioniert da schon das Verschwörungskonstrukt von Alexander Dugin oder die heidnisch-manichäische Doktrin des Russki Mir.
Das lateinische Wort occultus bedeutet so viel wie „geheim“, „verborgen“. Und während die großen klassischen Religionen offen predigen, liegt der Reiz des Okkulten im Verborgenen, in seinem esoterischen Charakter. Träumen Sie von geheimen Instrumenten der Weltpolitik, und möchten Sie ewig in Ihrem physischen Leib leben? Dann ist Okkultismus genau das Richtige für Sie. Besonders hilfreich beim Eintauchen in esoterische Tiefen sind Verschwörungserzählungen.
Die Doktrin des Russki Mir, die der Russischen Föderation heute als Ideologie dient, ist durch und durch konspirologisch. Im vergangenen Jahr haben orthodoxe Theologen aus mehreren Ländern diese Doktrin in einer gemeinsamen Erklärung kritisiert. Sie verglichen sie mit dem Manichäismus – dem Glauben an einen ewigen Kampf zwischen Gut (Russland) und Böse (der Westen). Wenn es sich bei der „Spezialoperation“ um eine metaphysische Schlacht handelt, wie Patriarch Kirill behauptet, dann reichen weltliche – militärische und politische – Mittel allein nicht aus, um sie zu gewinnen. Dann braucht man „Hilfe von oben“.
Die Facetten der neuen russischen Konspirologie
„Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen“, sprach Jesus (Matthäus-Evangelium 12:39). Wenn man eines braucht, dann findet man auch ein Zeichen – und den Einen oder Anderen vermag es sogar zu überzeugen. So entdeckte Nikita Michalkow in der Großen Christi-Himmelfahrt-Kirche in Moskau ein „Z“ (welches man übrigens auch als „N“ lesen kann), das jemand im 19. Jahrhundert in den Steinboden geritzt haben soll. Daraus schlussfolgerte der Großmeister des Kinos: „Also ist das [was in der Ukraine geschieht] von Gott gewollt“.
Einer gründlicheren Suche nach einer orthodoxen Rechtfertigung für die „Spezialoperation“ widmete sich im vergangenen Oktober das Weltkonzil des Russischen Volkes in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Einer der Ideologen des Konzils war Alexander Dugin, dem die Russisch-Orthodoxe Kirche einst mit Misstrauen begegnete, weil seine Schriften eine Fülle von okkulten Verschwörungsmythen enthielten. Nun finden sich Dugins Gedanken in den Abschlussdokumenten des Konzils wieder: „Der Westen ist eine Idee. Die Einpflanzung dieser Idee begann mit der Säkularisierung, die das Göttliche vom Menschlichen trennte … Die Spezialoperation ist ein Krieg zwischen Himmel und Hölle.“
Vordenker des Nationalsozialismus als Inspiration
Auf Dugins Lehren, die von russischen Intellektuellen bisher belächelt wurden, muss man nun genauer schauen – der ideologische Überbau der „Spezialoperation“ ist unübersehbar von seinen Postulaten beeinflusst. Dugins Ansichten gediehen im mystischen Nebel des Jushinski-Zirkels, der in den 1960er Jahren von dem Schriftsteller Juri Mamlejew gegründet wurde. Die Teilnehmer – überwiegend Studenten – probierten sich durch sämtliche ihnen zugängliche esoterische und magische Praktiken, psychedelische eingeschlossen. Nach Radikalität strebend, entdeckten die Mamlejew-Anhänger die Ideologie der europäischen Rechtsextremen für sich. Dugin verbreitete im Folgenden die Ideen des französischen Traditionalisten René Guénon und des italienischen Esoterikers Julius Evola. In seinem Buch Heidnischer Imperialismus schreibt Evola: „Der Mensch besitzt keinen Wert an sich. Sein Leben wird durch und durch vom Kastensystem bestimmt und entfaltet sich erst im Imperium … Der Humanismus ist das Böse. Der Imperator steht über der Religion … Die wahre Freiheit ist die Freiheit zu dienen.“ Auf der Suche nach einem Ort, an dem er seinen rechtsextremen Ideen nachgehen konnte, trat Dugin der [National-patriotischen Front] Pamjat bei, wo man ihn jedoch wegen seines „okkulten Satanismus“ rauswarf. Bald darauf gründete er seine Eurasische Bewegung.
Der heutige Kriegsphilosoph begeisterte sich für die Mystik des Dritten Reiches. In Archiven studierte er die Schriften der okkulten SS-Abteilung Ahnenerbe, und sein Buch Hyperboreische Theorie gibt die Anschauungen eines ihrer Köpfe wieder – Herman Wirth.
In seinem Almanach Das Ende der Welt publiziert Dugin Werke des englischen Schwarzmagiers und Begründers des Ordo Templi Orientis Aleister Crowley, der dem Satanismus nahe stand. Dugins Kernidee, die der Kreml und das Weltkonzil des Russischen Volkes übernommen haben, ist der „okkulte geopolitische Dualismus“. Für die Anhänger dieser Idee ist die Weltgeschichte einzig ein Kampf zwischen dem Atlantischen Orden des Todes und dem Eurasischen Orden des Lebens. Diese Theorie gipfelt in einer grotesken Rassenlehre: Laut Dugin stammen die reinrassigen Arier von Cro-Magnon-Menschen ab, während die westlichen „Dämonen-Menschen“ von den Neandertalern abstammen. Seine Überzeugungen betrachtet der Chefdenker der Eurasier als durchaus orthodox, genauer noch: als altgläubig – und bezieht sich dabei auf die Starowerzy (dt. Altgläubige), wurzelnd in einer volkstümlichen esoterischen Strömung, die von der offiziellen Kirchen vergessen worden sei.
Moskau als Nachfolgerin von Byzanz
Eine andere Figur, die einen religiösen Einfluss auf das aktuelle Geschehen hat, ist Metropolit Tichon (Schewkunow), ehemals Archimandrit des Sretenski-Klosters auf der Lubjanka, jetzt Metropolit von Pskow. Tichon und Putin verbindet eher Freundschaft, wobei dem Lubjanka-Archimandrit einst die Rolle des persönlichen Geistlichen des Präsidenten zugeschrieben wurde. Ihre Freundschaft reicht lange zurück: Bereits 2001 begleitete Tichon Putin zum Starzen Johann Krestjankin, und vor kurzem besuchten sie gemeinsam das Freilichtmuseum Chersonesos von Tauria auf der Krim. Tichons Ideologie ist zwar orthodoxer und weit entfernt von Dugins kruden Theorien, aber in der Praxis führt sie zu denselben Schlüssen.
Tichons Lehre zufolge ist Russland von Gott als Nachfolger von Byzanz auserwählt und dazu berufen, ein Abbild des Reiches Gottes auf Erden zu sein. Doch eine Vielzahl an äußeren, vom Teufel inspirierten Feinden sorge dafür, dass es ständigen Prüfungen ausgesetzt sei.
Die „Geschichtsparks“, die unter Tichons Patronage eröffnet wurden und in die Milliarden aus Staatsunternehmen fließen, vermitteln den Besuchern mit interaktiven Mitteln einen einfachen Gedanken: Russland hat immer wieder seine Feinde besiegt, ist dann auf seinen vorbestimmten Weg zurückgekehrt und hat andere Völker mitgezogen.
Der russische Präsident und Tichon haben sich über den heute im Exil lebenden Oligarchen Sergej Pugatschow kennengelernt, und der ist folgender Ansicht: „[Tichon] verehrt Putin wirklich, er glaubt an sein gottgleiches Charisma.“ Tichon seinerseits sagte unlängst dem Staatssender Rossija 24: „Ich kenne den russischen Präsidenten persönlich. Er hätte die Spezialoperation unter anderen Bedingungen und Umständen für Russland nicht begonnen. Also musste es sein.“
Populärer Okkultismus bietet einfache Lösungen
Der populäre, kommerzielle Okkultismus unterscheidet sich von traditioneller Religiosität und geopolitischen Verschwörungsmythen dadurch, dass er einfache Lösungen anbietet. In den vergangenen Jahren (und im letzten ganz besonders) ist oft davon die Rede, dass die Machthaber aktiv auf archaische schamanische Praktiken, Magie, Zauberei und andere esoterische Methoden zurückgreifen würden. Einer der ersten „Schamanismus-süchtigen“ russischen Politiker war der Vorsitzende der gesetzgebenden Versammlung in Sankt Petersburg Wadim Tjulpanow. Bereits als Senator brachte er den nenzischen Schamanen Kolja Talejew mit in den Föderationsrat. „Er bekommt Botschaften vom Universum und kann dir alles über dich erzählen, über deine Vergangenheit und deine Zukunft. Die Vergangenheit kennt er so gut, dass ich Gänsehaut bekomme“, schwärmte der Senator. Bei der gläubigen Orthodoxen [und Vorsitzenden des Föderationsrats] Valentina Matwijenko zeigte das Schwärmen Wirkung: „Dann zaubern Sie uns doch was herbei, damit die Wirtschaft wächst“, bat sie Kolja.
Davon, dass das Schamanismus-Thema nicht nur Spaß ist, zeugt das tragische Schicksal von Alexander Gabyschew, einem jakutischen Schamanen, der sich zu Fuß nach Moskau aufgemacht hatte, um „den Präsidenten zu vertreiben“. Jetzt wird er seit drei Jahren von unterschiedlichen Gerichten von einer Nervenheilanstalt in die nächste geschickt. Gleichzeitig werden die „richtigen“ Schamanen von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitiert: „Der oberste Schamane der Russischen Föderalen Kara-ool Doptschun-ool dankte den Schamanen in Russland für das gemeinsam durchgeführte Ritual zur Unterstützung der russischen Streitkräfte und wünschte ihnen viel Erfolg für die weitere Stärkung unserer Heimat.“
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der aus einer Region stammt, in der der Schamanismus zur Tradition gehört, ist der einzige russische Minister, der unter allen Präsidenten und Premierministern in der Regierung verblieb. Er war schon als Kind mit den Traditionen seines Volkes vertraut – er führte Archäologen aus Leningrad zu tuwinischen Grabhügeln. Der junge Schoigu begeisterte sich außerdem für die Geschichte des „schwarzen Barons“ Roman von Ungern-Sternberg, der während des Bürgerkriegs im russisch-mongolischen Grenzgebiet kämpfte. Als einer der ersten eurasischen Mystiker träumte von Ungern-Sternberg von der Wiedererrichtung des Reiches von Dschingis Khan und einem neuen „Feldzug nach Westen“, an dem die Völker Asiens beteiligt sein sollten. Der Vater des Ministers, Kushuget Schoigu, war als Volksheiler und „wahrer Hüter der Volkstraditionen“ bekannt, was ihm zu einer Parteikarriere unter dem alternden Breshnew verhalf. Offenbar haben auch Putins und Schoigus berühmte gemeinsame Reisen zu sibirischen „Kraftorten“ eine spirituelle Erklärung.
Streben nach ewigem Leben
Unter der Leitung von Michail Kowaltschuk wird derweil am Kurtschatow-Institut an der Verlängerung des Lebens geforscht. Das Wissenschaftsverständnis von Kowaltschuk, der als Freund Putins gilt, ist dabei durchaus ungewöhnlich. So schlug er 2016 bei einem Treffen mit dem Präsidenten vor, „nach Organisationen zu suchen, die den Gedankenfluss in bestimmte Richtungen lenken können“, und in jüngster Zeit machte er auf die Gefahr von „ethnischen Waffen“ aufmerksam („Kampftauben“ oder „Moskitos“, die „nur Russen“ angreifen würden).
Auf dieser Ebene bewegt sich auch das Interesse an künstlicher Intelligenz, die es ermöglichen soll, nach dem physischen Tod in ein Meta-Universum umzusiedeln. Die Ablehnung des wissenschaftlichen Weltbildes auf Staatsebene zieht auch die Weltanschauung der einfachen Bürger in Mitleidenschaft, die zunehmend in Aberglaube und magisches Denken abgleitet. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums im vergangenen Jahr ergab, dass nur ein Viertel der Russen an das Reich Gottes nach dem Tod glaubt, aber fast ein Drittel an den bösen Blick und Verwünschung (das sind doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren). Als wäre das nicht genug, hat das Präsidium der Russischen Akademie der Wissenschaften ohne viel Aufhebens die Kommission zur Bekämpfung von Pseudowissenschaft und Verfälschung wissenschaftlicher Erkenntnisse abgeschafft. Der Verschwörungs-Ideologe Dugin argumentiert: „Echte Forschung und echte Wissenschaftler gibt es schon lange nicht mehr … Durchdrungen von der starren Diktatur des Liberalismus, sehen sie in allem nur noch die in sie selbst eingeimpften Codes.“
Atmosphäre des kollektiven Rasputinismus
Esoterik und Okkultismus gab es im Kreml schon lange vor Putin. Gleich zu Beginn von Boris Jelzins Amtszeit ernannte der Leiter des Sicherheitsdienstes, Alexander Korshakow, den General Boris Ratnikow zu seinem Chefberater und General Georgi Rogosin zu seinem ersten Stellvertreter: In den 1980er Jahren hatten diese beiden in geheimen KGB-Labors auf dem Gebiet der „Psychotechnik“ und „extrasensorischen Wahrnehmung“ geforscht. Rogosin erstellte astrologische Karten für Jelzin und förderte die Psychotronik, auf deren Grundlage der Generalstab „psychotronische Waffen“ entwickelte. Laut Eduard Krugljakow, dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommission der Russischen Akademie der Wissenschaften zur Bekämpfung von Pseudowissenschaften, brachte Rogosin „alle möglichen Hellseher, Heiler, Okkultisten, Astrologen und andere Scharlatane“ mit in den Sicherheitsdienst, was zu einer Atmosphäre des „kollektiven Rasputinismus“ geführt habe.
General Boris Ratnikow ging obendrein in die Geschichte ein, weil er das Gehirn von Madeleine Albright „auf Entfernung scannte“ und „pathologischen Slawen-Hass“ darin vorfand. Ratnikow sah seine Mission im Sicherheitsdienst des Präsidenten darin, das Bewusstsein des Staatsoberhaupts vor Manipulationen zu schützen, so erklärte er es in einem Interview mit dem Staatsblatt Rossijskaja Gaseta. Die Manipulationen des parapsychologischen Generals selbst haben jedoch eine deutliche Spur in der Geschichte hinterlassen. Vergleichen wir zwei Aussagen: „Wir haben eine Seance durchgeführt, um uns mit dem Unterbewusstsein von US-Außenministerin Albright zu verbinden … Sie war empört darüber, dass Russland über die größten Rohstoffreserven der Welt verfügt. Ihrer Meinung nach sollten die russischen Reserven in Zukunft nicht von einem Land allein verwaltet werden“ (General Ratnikow, 2006). „Jemand wagt es ungerecht zu finden, dass Russland allein die Reichtümer einer Region wie Sibirien besitzt – ein einzelnes Land“ (Wladimir Putin, 2021). Im Jahr 2015 erklärte Albright, in Russland gebe es „Leute, die glauben, ihre Gedanken lesen zu können“, und fügte hinzu, dass sie „nie so etwas über Sibirien oder Russland gedacht oder gesagt“ habe.
Hoffen auf Botschaften aus dem All
Bis 2003 existierte innerhalb der russischen Streitkräfte die sogenannte Dienststelle Nr. 10003 – eine Experten-Abteilung des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation für außergewöhnliche menschliche Fähigkeiten und besondere Waffentypen. Ihrem ehemaligen Chef Generalleutnant Alexej Sawin zufolge, sei es die Aufgabe der Abteilung gewesen, „das Gehirn für Botschaften aus dem Universum empfänglich zu machen“. Er erläuterte: „Wir nannten uns ‚Spezialoperatoren‘ – Menschen mit erweiterten Hirnfähigkeiten … Die Amerikaner erreichten nicht annähernd unsere Ergebnisse.“ Mir, dem Autor dieses Textes, war es vergönnt, an Konferenzen teilzunehmen, auf denen Militärwissenschaftler, viele von ihnen im Generalsrang, allen Ernstes ihre mit Hilfe von „psychotronischen Techniken aufgedeckten“ konspirologischen Erkenntnisse präsentierten. Das sowjetische New Age, das von Science Fiction das in den 1960er bis 1980er Jahren von Science Fiction, Ufologie und dem Glauben an das Übersinnliche geprägt war, wächst und gedeiht in der Armee-„Elite“ fröhlich weiter.
Angesichts der extremen Auswüchse der russischen Propaganda fragt man sich häufig: „Sind diese Menschen verrückt geworden oder täuschen sie einfach nur sehr professionell eine Paranoia vor?“ Tatsächlich erleben wir gerade eine interessante Verschiebung des Massenbewusstseins weg von einer objektiven und hin zu einer esoterischen Sicht auf die Welt. Einerseits erinnert das an Massenhysterie und eine extreme Archaisierung des Denkens. Wenn wir uns jedoch das ganze technologische Arsenal ansehen, das zur Volksverdummung eingesetzt wird, wirkt es eher wie eine komplexe Manipulation. Wer braucht noch systematische Bildung, nüchterne Religiosität oder die Fähigkeit zum kritischen Denken, wenn der große Leader alles mit Hilfe von Schamanen und künstlicher Intelligenz entscheidet?
In Wirklichkeit ist das Erstarken des Okkultismus in den Regierungskreisen ein klares Zeichen für ihre Schwäche und Unfähigkeit. Wenn ein Politiker oder ein militärischer Führer nicht in der Lage ist, seine Handlungen rational zu planen und seine Macht lieber an unbekannte und unsichtbare Kräfte „delegiert“, offenbart er damit seine Unfähigkeit, die Situation zu kontrollieren.