дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #25

    Bilder vom Krieg #25

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Pernille Sandberg

    Links: Die Tänzerin Liza Riabinia bei einer Probenpause. Rechts: Präsentation der Designerin Nadya Dzyak auf der Ukranian Fashion Week / Fotos © Pernille Sandberg

    dekoder: Als wir die Serie „Bilder vom Krieg“ gestartet haben, haben wir nicht an Fotos von Tänzerinnen oder einer Modeschau gedacht. Wie kommt der Krieg auf den Laufsteg?

    Pernille Sandberg: Ich war im Mai auf der Buchmesse in Kyjiw zu Gast und war beeindruckt von der kreativen Szene in der Ukraine. Dabei ist die Idee zu meinem Projekt A State of Uncertainty gereift. Die Menschen dort leben ständig in einem Zustand der Ungewissheit: Ungewissheit über ihre eigene Zukunft. Ungewissheit darüber, was aus ihrem Land wird. Ungewissheit, weil sie schon im nächsten Augenblick ihr Leben verlieren können. Dieses Gefühl wollte ich einfangen. Die Künstlerinnen, die ich dafür porträtiert habe, waren froh darüber, nicht als Opfer gezeigt zu werden, sondern mit ihrer Kunst. Schöpferisch zu arbeiten bedeutet, lebendig zu sein. Wenn Neues entsteht, ist das auch eine Antwort auf die zerstörende Kraft des Krieges.

    Die Frau auf dem ersten Bild wirkt zugleich erschöpft und entschlossen. In welcher Situation ist es entstanden?

    Liza Riabinia ist eine Tänzerin und Choreographin aus Kyjiw. Ich habe sie im September in ihrem Studio im Stadtteil Podil besucht. Sie probte dort zusammen mit einer anderen Tänzerin. Für die Fotosession hatten sie die Idee, die gleiche Kleidung zu tragen, die sie an dem Tag getragen hatten, als die russische Invasion begann. Sie wählten sehr düstere, atmosphärische Musik dazu. Dieses Bild ist in einer Pause entstanden, als Liza völlig erschöpft und verschwitzt aus dem Fenster schaute.

    Wie haben die Künstler in der Ukraine auf den russischen Angriff reagiert?

    Zunächst einmal sind von einem Tag auf den anderen alle Pläne in sich zusammengefallen. Liza hat in unterschiedlichen Ensembles getanzt, auch für internationale Produktionen. Die kamen jetzt nicht mehr in die Ukraine. Früher war sie viel auf Tournee, auch das ist jetzt schwieriger. Und dann kamen auch Zweifel am Sinn ihrer Arbeit: Bringt das, was ich tue, dem Land überhaupt irgendeinen Nutzen? Darf man Bilder malen, während Soldaten ihr Leben für uns opfern? Hat Musik noch einen Sinn? Wozu noch Gedichte schreiben? Wie kann man sich die Zeit nehmen, ein Buch zu lesen, wenn die Welt blutet? Aber mit der Zeit wurde vielen Künstlern klar, wie wichtig ihr Schaffen auch für die Gesellschaft ist. Dass sie den Menschen Freude machen und Lebensmut verbreiten können. Und dass Kunst und Kultur ein Gefühl der Verbundenheit und der Zusammengehörigkeit schaffen.

    Es ist schließlich auch ein erklärtes Ziel der Angreifer, die ukrainische Kultur zu zerstören…

    Kurz bevor ich im Mai zur Buchmesse nach Kyjiw reiste, hatten russische Raketen die Factor-Druckerei in Charkiw zerstört. Unter den Tausenden verbrannten Büchern in den Trümmern waren auch viele Kindenbücher, das hat die Menschen besonders getroffen.

    War es schwer, einen Zugang zu den Künstlerinnen und Künstlern zu bekommen?

    Im Gegenteil. Ich war überrascht, wie offen ich empfangen wurde und wie bereitwillig alle ihre Erlebnisse und ihre Emotionen mit mir geteilt haben. Auch ihre Zweifel und ihre Schwächen. In der Nacht, bevor wir zu einem Fotoshooting verabredet waren, gab es mehrfach Luftalarm. Wir hatten alle kaum ein Auge zugetan und waren ziemlich gerädert. Aber viele Menschen in der Ukraine gehen jeden Morgen in diesem Zustand zur Arbeit. In diesen Situationen trägt niemand eine Maske. Niemand versucht, sich als jemand anderes zu präsentieren, um dir zu gefallen. Da ist kein Platz für oberflächlichen Smalltalk. Diese Ehrlichkeit fand ich sehr befreiend.

    Was ist die Geschichte hinter dem zweiten Bild mit der Prothese auf dem Laufsteg?

    Das war auf der Kyjiw Fashion Week, die in diesem Jahr zum ersten Mal seit der Beginn des Angriffskrieges wieder stattgefunden hat. Die Veranstaltung im Kultur- und Museumskomplex Mystezkyj Arsenal war total überlaufen. Vor jeder Modenschau stand der ganze Saal auf und hat eine Schweigeminute abgehalten und der Armee gedankt, weil auch Dank ihr solche Veranstaltungen stattfinden können. Auf dem Gelände gab es auch eine große Gedenkmauer mit den Porträts von Frauen und Männern aus der Modeindustrie, die als Soldaten oder Zivillisten Opfer des Krieges geworden waren.

    Ist das Model mit der Prothese auch ein Opfer des Krieges?

    Karyna Staschtschyschtschak ist eine Tänzerin aus Odessa, die ihr Bein aufgrund einer Erkrankung in der Kindheit verloren hat. Sie tanzt sehr erfolgreich bei Wettbewerben für lateinamerikanische Tänze. Damit ist sie auch ein Vorbild für die vielen Kriegsversehrten: Auch mit einer Prothese kann man ein gutes Leben führen, sogar tanzen oder bei einer Modeschau auftreten.

    War der Krieg auch in den Kollektionen gegenwärtig?

    Viele Designer haben traditionelle Motive in ihren Kollektionen aufgegriffen als Bekenntnis zur Lebendigkeit der ukrainischen Kultur. Die Farbe Rot hat eine besondere Rolle gespielt, etwa in fließenden Stoffen, die an Blut erinnerten. Mein Eindruck, war, dass der Auftritt gerade den männlichen Models viel bedeutete: Über den Laufsteg zu gehen, die Musik zu genießen, etwas Schönes zu präsentieren und dafür gefeiert zu werden. Und für einen Moment die Angst zu vergessen, dass man vielleicht bald an die Front muss. Ich arbeite selbst in der Fashion-Industrie und habe Mode schon immer Spiegel der Gesellschaft gesehen. Aber zu erleben, welche Freude sie den Menschen in der Ukraine bringt, und dass sie gleichzeitig ihren Schmerz durch ihre Kreationen ausdrücken können, das hatte enorme Kraft.

     

    Fotos: Pernille Sandberg, aus der Serie: A State of Uncertainty
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 19.11.2024

    Weitere Themen

    Im Netz der Propaganda

    Bilder vom Krieg #21

    Bilder vom Krieg #22

    Nur weil sie Roma sind

    Bilder vom Krieg #24

  • Lieber tot als in Haft

    Lieber tot als in Haft
    Auf der Krankenstation der Strafkolonie Nr. 2 im Gebiet Krasnodar misst ein Arzt Fieber bei einem Häftling. Ein neues Gesetz erlaubt es, jederzeit Strafverfolgung oder Haft gegen einen Einsatz an der Front zu tauschen / Foto © Roman Sokolov/ Tass/ Imago 

    Das Anwerben von Straffälligen für Russlands Krieg gegen die Ukraine ist innerhalb von zwei Jahren von einer Ausnahme zur Normalität geworden: 

    Im Juli 2022 kursierten erstmals Aufnahmen davon, wie Jewgeni Prigoshin in russischen Straflagern Gefangene für seine irreguläre Wagner-Truppe anwarb. Zu diesem Zeitpunkt gab es dafür keinerlei rechtliche Grundlage – weder für eine Anwerbung von Häftlingen noch für deren Entlassung aus dem Strafvollzug. Per Geheimerlass verfügte Wladimir Putin persönlich die Begnadigungen von Verbrechern, die bereit waren, sich dem privaten Militärunternehmen Wagner anzuschließen. Gemäß informellen Vereinbarungen sollten die aus den Strafkolonien Freigekommenen sechs Monate in Sturmeinheiten dienen, bevor sie dann ihre volle Freiheit erhalten würden.  

    Vom Herbst 2022 an begann auch das Verteidigungsministerium, Häftlinge für die reguläre russische Armee zu rekrutieren. Die Praxis weckte Erinnerungen an die berüchtigten Strafbataillone, die Stalin im Zweiten Weltkrieg aufstellen ließ. Ende des Jahres verlor Prigoshin sein informelles Recht, Häftlinge für Wagner anzuwerben; dieses Recht hatte jetzt nur noch das Verteidigungsministerium. 

    Im Juni 2023 – ein Jahr nachdem die Anwerbung von Häftlingen für die Front faktisch begonnen hatte – verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das den ersten rechtlichen Rahmen schuf, um Verbrecher aus der Haft zu entlassen. In dem Gesetz gibt es die Bestimmung über eine „Entlassung auf Bewährung“ von Häftlingen, die einen Vertrag mit der russischen Armee geschlossen haben. Dasselbe Gesetz erlaubt es auch, Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, für den Krieg anzuwerben. Die Begnadigung von Personen, die in den Krieg ziehen, wurde beendet. Seither können Strafgefangene oder Beschuldigte nur dann von ihrer strafrechtlichen Verantwortung befreit werden, wenn sie eine Auszeichnung erhielten oder wegen einer Verwundung aus dem Dienst entlassen wurden; oder wenn die militärische Spezialoperation beendet ist. Damit gilt der Vertrag mit der Armee für die Häftlinge jetzt unbefristet. Sie werden nicht mehr nach sechs Monaten entlassen. Diese Neuerungen wurden später als Änderungen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung festgeschrieben. 

    Seit September 2024 können Häftlinge in jeder Phase eines Strafprozesses in den Krieg ziehen, aus der Strafkolonie, nach der Urteilsverkündung, während der Ermittlungen, und jetzt auch direkt im Laufe des Gerichtsprozesses. Formal erfolgt eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung nur dann, wenn ein Vertragssoldat eine staatliche Auszeichnung erhielt oder den Vertrag aufgrund der Beendigung der Kriegshandlungen erfüllt hat. 

    Faktisch werde damit eine Parallelstruktur zum regulären Rechtsweg geschaffen, urteilt die Novaya Gazeta Europe: In jedem beliebigen Stadium eines Strafverfahrens hat der Beschuldigte nun die Wahl, an die Front zu gehen – von der Festnahme bis zur Ankunft in einer Strafkolonie. 

    Aus Gesprächen mit Polizisten, Anwälten, Beschuldigten und deren Angehörigen hat die Novaya Gazeta Europe den Eindruck gewonnen, dass diese Form der Anwerbung für die Streitkräfte inzwischen zu einer Routine geworden ist, mit der jeder konfrontiert sein kann, der ins Visier von Strafermittlungen gerät. Im folgenden Text schildern die Autoren, wie das Verfahren abläuft und wer davon profitiert. 

    Die Namen der Personen in diesem Text wurden geändert, um sie nicht zu gefährden. 

    Dmitri sitzt seit sechs Monaten in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Er ist 36. In Freiheit machte er Musik und konnte sogar davon leben. Nebenbei verkaufte er Drogen, deswegen ist er hier. „Ich war auf meinem Gebiet recht erfolgreich. Aber ich ließ mich auf Drogen ein“, erzählt Dmitri. „Vieles, was man mir vorwirft, stimmt, aber ich habe nicht gedacht, dass es dafür so harte Strafen gibt“, sagt er. „Ich wurde wegen des Handels mit Drogen verurteilt, die in vielen Ländern legal sind. Ich habe gestanden, wurde aber trotzdem abgeurteilt als wäre ich ein Drogenbaron.“ 

    Da Dmitri ein Geständnis ablegte, ging der Prozess schnell über die Bühne, endete aber mit einem harten Urteil. „Ich bekam zehn Jahre unter verschärften Bedingungen. Das finde ich ungerecht. Ich konnte das nur schwer verdauen und bin immer noch aufgewühlt“, berichtet er. Das ließ bei ihm den Gedanken aufkommen, in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. „Das allgemeine Gefühl der Machtlosigkeit wegen des harten Urteils brachte mich auf den Gedanken, dass das vielleicht keine schlechte Lösung wäre.“ 

    Ende September 2024 verabschiedete die Staatsduma zwei weitere Gesetze, die Verbrechern die Möglichkeit eröffnen, einer strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium schließen und an die Front gehen. Die Verfasser dieser Gesetzesvorlagen sagen, dass damit lediglich eine Gesetzeslücke geschlossen werde: Wenn zuvor nur Leute an die Front gehen konnten, die bereits verurteilt sind und im Gefängnis ihre Strafe verbüßen, könnten jetzt Leute in jeder Phase der Strafverfolgung angeworben werden. Das wird ihnen sowohl von Polizisten sofort nach der Festnahme angeboten, als auch in Untersuchungshaft, bei Gericht, während der Ermittlungen und während des Prozesses. 

    Die Praxis wirkte anfangs wie aus einem Actionfilm: Der Söldnerchef Jewgeni Prigoshin landete nachts mit einem Hubschrauber in den Strafkolonien und warb dort persönlich Häftlinge für die militärische Spezialoperation an, die schwere oder besonders schwere Taten verübt hatten, damit sie dann „als Helden zurückkehren“. Inzwischen ist daraus eine Routine geworden, die jeden erwartet, der in das russische System der Strafjustiz gerät. 

    Die Rekrutierung 

    Dmitri entschied sich, einen Antrag auf Entlassung an die Front zu stellen, nachdem er mit Zellengenossen gesprochen hatte. Die Idee, in den Krieg zu ziehen, taucht in der U-Haft sofort auf, wie aus dem Nichts. „Es ist inzwischen eine ganz gewöhnliche Sache: Sobald du ankommst, sollst du unbedingt einen Antrag beim Wehrersatzamt stellen, dass du bereit bist zu dienen“, beschreibt Dmitris Anwalt die Stimmung der Untersuchungshäftlinge. 

    Als nächstes bekommen diejenigen, die ein Gesuch gestellt haben, Besuch von Männern in Uniform vom Wehrersatzamt. Sie landen dann diejenigen Häftling zum Gespräch, die einen Antrag gestellt haben, oder diejenigen, die über Kampferfahrung verfügen. Die Einberufung erfolgt nicht sofort; einigen Häftlingen wird aus verschiedenen Gründen ein Wechsel an die Front verweigert. „Viele meiner Zellengenossen schreiben jeden Monat an die Meldestelle in der Jablotschkow–Straße [die Moskauer Meldestelle für die Einberufung in die Armee – Novaya Gazeta Europe]; sie bitten um beschleunigte Bearbeitung ihres Antrags auf einen Vertrag“, sagt Dmitri. 

    Eine fröhliche Winkfigur in Flecktarnkleidung wirbt an einer mobilen Rekrutierungsstelle in Weliki Nowgorod um Freiwillige für die Front / Foto © Pond5 Images, Imago 

    Mit der Anwerbung befassen sich jetzt auch Mitarbeiter von Polizei und Justiz – von einfachen Polizisten bis hin zu Ermittlern. 

    „Wir wurden etwa im März dieses Jahres angewiesen, Leute für den Krieg anzuwerben“, erzählte Alexej M. der Novaya Gazeta Europe. Er arbeitet als Fahnder in einer Polizeieinheit in der Leningrader Oblast. Im August berichtete der Telegram-Kanal Baza, dass Polizisten in einigen Regionen eine Prämie für jeden Festgenommenen ausgelobt wird, der einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben hat. Die Polizisten, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, haben solche Prämien zwar nicht erhalten; sie hatten jedoch andere Gründe, sich aktiv an der Anwerbung zu beteiligen.  

    „Voraussetzung dafür, dass ein Festgenommener zur militärischen Spezialoperation geschickt wird, ist ein Geständnis. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die bereit sind, in die Ukraine zu gehen, die Aufklärungsquote erhöhen (Schließlich haben sie gestanden!)“, erzählt Alexander S., ein Mitarbeiter der Fahndung in der Hauptverwaltung des Innenministeriums für St. Petersburg ganz offen. 

    „Für einfache Revierpolizisten, die ihren Dienst auf der Wache tun, ist diese Anordnung schlicht ein Geschenk des Himmels. Zunächst einmal aus dem Grund, dass es weniger Schreibkram gibt. Überhaupt wird die Arbeit weniger: Der Festgenommene unterschreibt ein Geständnis, schreibt einen Antragt auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation – und damit ist die Sache erledigt. Die Statistik verbessert sich, was gewisse Dividenden einbringt: Prämien, Vergünstigungen, Rangerhöhung außer der Reihe, Beförderung.“ 

    Die Vorschrift, dass ein Schuldeingeständnis Voraussetzung ist, wird in der föderalen Gesetzgebung nicht erwähnt. Polizisten berichteten der Novaya Gazeta Europe, dass die Anweisung, Festgenommene für den Krieg in der Ukraine anzuwerben, in einer internen Dienstanweisung des Ministeriums verankert ist, den in den lokalen Polizeidirektionen kaum jemand je gesehen hat. 

    An dieser Stelle kommen nun die Ermittler ins Spiel. Sie sind das Bindeglied im Strafprozess. Für sie ist es eigentlich ungünstig, wenn Verdächtige an die Front geschickt werden. „Ein Indikator für gute Ermittlungsarbeit ist eine Übergabe des Verfahrens ans Gericht. Wenn sich viele Beschuldigte jetzt in einem Frühen Stadium des Verfahrens an die Front melden, ruiniert das den Ermittlern die Statistik. Deshalb sind sie unzufrieden“, erklärt die Anwältin Jelisaweta. Die Strategie der Ermittler bestehe daher darin, den Moment hinauszuzögern, an dem die Beschuldigten einen Vertrag als Soldaten abschließen. „Bei Eingang eines entsprechenden Antrags versuchen die Ermittler, ihn möglichst auf die lange Bank zu schieben, um das Verfahren abschließen und ans Gericht übergeben zu können; alles Weitere ist dann Sache des Gerichts.“ 

    „Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden“  

    In einer VK-Gruppe zum Untersuchungsgefängnis Kresty gibt es einige Dutzend recht aktueller Posts und Kommentare, in denen Angehörige von Verhafteten schreiben, dass diese in den Krieg ziehen wollen. Neben Fragen zu Dokumenten und Kleidung interessiert die Nutzer zum Beispiel auch, wie man sich so scheiden lassen kann, dass die Ehefrau nichts davon erfährt. Denn im Falle einer Verwundung oder des Todes bekäme sie sonst die ganzen Entschädigungszahlungen. 

    Jelena, eine Frau fortgeschrittenen Alters, berichtet, dass ihr Sohn Jewgeni gleich nach Verkündung des Urteils aus dem Untersuchungsgefängnis an die Front gefahren ist, noch bevor er in eine Strafkolonie verlegt wurde. Dort ist er in der zweiten Julihälfte gefallen. Jewgeni war ebenfalls wegen des „Drogenparagrafen“ 228 verurteilt worden; er hatte elf Jahre bekommen. 

    „Er zog am 3. Juli los, ich konnte mich noch von ihm verabschieden“, erzählt Jelena. „Shenja [Jewgeni – dek.] hatte große Angst, dass er zu spät kommt und der Krieg ohne ihn zu Ende geht. Er war ein wunderbarer Sohn, aber diese verdammten Drogen… Als er elf Jahre bekam, sagte er, dass er in den Krieg zieht; dort habe er eine Chance, und das Gefängnis sei nichts für ihn. Er wusste nicht, der Gute, dass seine Chancen dort minimal sind!“  

    Die Mutter des gefallenen Verurteilten erzählte, dass dieser im Krieg Kommandeur eines Zuges war, von dem „fast keiner mehr übrigblieb“. Trotz dieser Tatsache, und obwohl Jewgeni starb, ist seine Mutter von seiner Tat begeistert und sagt, dass ihr Sohn als Held starb: „Shenja dachte, dass er Glück haben würde. Natürlich haben wir ihm gesagt, dass es dort gefährlich ist, aber er hat sich anders entschieden. Er hat den Vertrag und ist gegangen. Jetzt werden alle genommen, Hauptsache ohne AIDS oder Syphilis. Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er starb als Held. Er wusste, wohin er geht. Ich muss ihn jetzt nur noch finden, damit ich ihn beerdigen kann. Da herrscht so ein Chaos auf dem Schlachtfeld, dass das schwer wird. Hoffen wir nur, dass er seine Erkennungsmarke noch bei sich hat!“ 

    Eine andere Frau, Anastassija, hat im Krieg ihren Mann verloren, der ebenfalls nach Paragraf 228 verurteilt wurde. Er war zunächst in U-Haft geblieben, in einer Hauswirtschaftsbrigade. Dort kommt man eigentlich nur schwer rein, sie nehmen nur Häftlinge mit mustergültiger Führung, weil die Bedingungen dort besser sind als in der Strafkolonie. Der Gefallene war lediglich zu drei Jahren verurteilt worden, für den Besitz psychotroper Substanzen. Aber schon anderthalb Jahren nach dem Urteil unterschrieb er einen Vertrag, obwohl die Verwandten ihm abrieten. „Ich weiß nicht, ob sie unter Druck gesetzt wurden, aber er ist guten Mutes losgezogen! Er hat auf niemanden gehört!“, sagt seine Witwe. 

    Angehörige von gefallenen Häftlingen behaupten oft, diese seien aus Patriotismus in den Krieg gezogen. Aber die Häftlinge, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, hatten unter ihren Zellengenossen keine sonderlich patriotischen Stimmungen festgestellt. „Ihre Einstellung zum Krieg ist so, wie es ihnen die Propaganda aufträgt. Sie wiederholen ihre Phrasen. Deshalb kann man mit ihnen gar nicht richtig diskutieren“, sagt Dmitri über die, mit denen er jetzt in Moskau in U-Haft sitzt. „Selbst die Ermittler ziehen sie auf: Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden.“ 

    Viele sagen ehrlich: „Jetzt hab ich wenigstens die Chance, freizukommen. Und obendrauf gibt es noch Geld.“ 

    Sogar Kriegsgegner lassen sich auf einen Deal ein 

    Anwälte, die Beschuldigte in politischen Prozessen vertreten, berichten, dass selbst diejenigen über eine Teilnahme am Krieg nachdächten, die wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ in Haft sind. „Einer meiner Mandanten, der in einem Untersuchungsgefängnis in Sankt Petersburg einsitzt [wiederum aufgrund dieses Paragrafen 228], hat dermaßen den Kopf hängen lassen und die Haft so unglaublich schlecht vertragen, weil er überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Er wollte um jeden Preis raus, obwohl wenn er den Krieg total ablehnte“, erzählt Jelisaweta, die politische Gefangene verteidigt. „Es hat mich viel Geld und Nerven gekostet, um ihn von dieser tödlichen Entscheidung abzubringen.“ Letztendlich sei er doch nicht zur Armee gegangen. 

    „Das war für mich eine Frage des Prinzips. Er wurde keiner schwerwiegenden Straftat beschuldigt und hätte wahrscheinlich noch nicht einmal eine Freiheitsstrafe bekommen. In so einer Situation wäre es sehr dumm gewesen, in den Krieg zu ziehen, selbst wenn man die moralische Seite außen vor lässt“, fasst die Verteidigerin zusammen. 

    Sie erzählt, dass er im Untersuchungsgefängnis „einen derart tiefen Schock erlebte, und ihm in Gefangenschaft klar wurde, dass sein Leben gescheiter war“, dass er diesen Zustand um jeden Preis beenden wollte: „Egal was, nur nicht sitzen. Außerdem hatte er idealistische Vorstellungen von einem Vertrag mit der Armee. Als ob er dann als Feldarzt oder Koch davonkommen würde, obwohl er weder von Medizin etwas versteht noch vom Kochen“, erklärt sie weiter. 

    Abgesehen davon, dass die Anwältin nach eigenem Bekunden „sehr spezifische“ Mandanten hat, und die Paragrafen, nach denen diese beschuldigt werden, nahelegen, dass sie den Krieg und eine Rolle als Vertragssoldat entschieden ablehnen, wollen in ihrem Umfeld alle – Zellengenossen wie Weggefährten – „um jeden Preis aus dem Gefängnis raus“. Ein anderer ihrer Mandanten sitzt im Untersuchungsgefängnis Kresty in Sankt Petersburg mit einem einzigen Zellengenossen zusammen. Der ist Jurist, ein intelligenter Mann. Ihm wird Betrug vorgeworfen, und auch er will an die Front. „Leute, die wegen bandenmäßiger Verbrechen beschuldigt werden (§ 210 des Strafgesetzbuches), müssen ein Gesuch an Alexander Bastrykin persönlich schreiben, den Chef des Ermittlungskomitees. Er muss darüber entscheiden, dass dieser Punkt fallengelassen wird. Solange dieser Anklagepunkt besteht, kann man kann keinen Vertrag abschließen. Nach Einschätzung dieses Mandanten wird das Gefängnis [nach Verabschiedung der Gesetzesreform] wohl verwaisen – alle werden den Dienst als Vertragssoldat wählen.“ 

    Dmitri berichtet, dass das Untersuchungsgefängnis die Menschen schockiert und orientierungslos macht, dazu muss man noch nicht einmal gefoltert oder misshandelt werden. „Die U-Haft war von Anfang an ungewohnt, vor allem wegen der viele Leute in der Zelle. Die ständige Kontrolle und die Enge machen es unmöglich, sich zurückzuziehen und nachzudenken.“ 

    Fast jeder Dritte wählt die Front 

    Bei der Frage, wie viele der U-Häftlinge tatsächlich bereit sind, in den Krieg zu ziehen, weichen die Schätzungen der Polizisten ein wenig von den Angaben der Anwälte ab. „Es gibt keinerlei Statistik, doch meinem persönlichen Eindruck nach sind rund 30 Prozent der Häftlinge, die wegen schwerer oder besonders schwerer Taten sitzen, bereit, an die Front zu gehen. Und wenn die begangene Tat nicht besonders schwer war (also etwa Diebstahl, geringfügiger Betrug, Amtsanmaßung, oder sogar Raub, sofern er nicht gemeinschaftlich begangen wurde), dann lehnen die Beschuldigten meiner Erfahrung nach sofort ab“, sagt Alexander S. von der Fahndung in Sankt Petersburg. 

    „Vor zwei Wochen hatte ich einen Beschuldigten, der betrunken bei einer Prügelei einen Saufkumpan erschlagen hat“, berichtete Sergej T., ein Fahnder aus Sankt Petersburg der Novaya Gazeta Europe. Da er schon zwei Haftstrafen auf dem Buckel hatte, drohte ihm fast lebenslänglich. Als er hörte, dass man ein „Geständnis“ ablegen und dann einen Antrag auf drei Jahre Kriegsdienst stellen könne [und dafür nicht ins Gefängnis muss], hat der sich riesig gefreut. Da er aber schon Erfahrung hatte (immerhin zwei Haftstrafen!), verlangte er, den Erlass zu sehen, demzufolge ihm seine Strafe für eine bestimmte Zeit Kriegsdienst in der Ukraine vollständig erlassen würde. Da ich ihm den Erlass nicht zeigen konnte, weigerte er sich zu gestehen. Er sagte, es sei wohl besser, in der Strafkolonie zu leben als in der Ukraine beim Sturm im ‚Fleischwolf‘ zu verrecken.“ 

    „Mit reinem Gewissen zurück in die Freiheit“ – Inschrift am Ausgang der Strafkolonie Nr. 1 in Nertschinsk in der Region Transbaikalien / Foto © Yevgeny Yepanchitntsev, TASS, Imago 

    Alexander S., der Polizist aus Sankt Petersburg, räumt ein, dass die neuen Regelungen der Regierung zur Anwerbung für den Krieg bei ihm ambivalente Gefühle auslösen: „Für den Krieg melden sich gerade diejenigen, gegen die handfeste Beweise vorliegen. Wenn sie auf diese Weise einer Strafe entgehen und sich dann auch noch mit dem ‚Kampf gegen die Nazis‘ brüsten, begehen sie später auf Fronturlaub zuhause oft richtig schwere Straftaten. Sie sind überzeugt, dass sie selbst dann, wenn sie geschnappt werden, der Strafe entgehen, wenn sie erneut einen Antrag auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation stellen.“ 

    Dennoch überwiegt der potenzielle Nutzen in Gestalt einer guten Statistik, und bei den Einsatzkräften dominiert den Worten von Alexander zufolge das Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Insbesondere weil sie ja „faktisch keinen Straftäter freilassen, sondern diesen auf eine andere juristische Ebene überführen“. 

    Nach Berechnungen von Verstka sind in zweieinhalb Jahren Krieg mindestens 500 russische Bürger Opfer von Menschen geworden, die an der militärischen Spezialoperation beteiligt waren. Aus der Untersuchung geht hervor, dass ehemalige Häftlinge öfter morden und öfter Straftaten gegen Frauen begehen.   

    Nur die Angehörigen sind dagegen 

    Die wohl einzigen Menschen, die sich heftig gegen die Entsendung der Beschuldigten in den Krieg wenden, sind deren Angehörige. 

    „Sagen Sie Ihren Verwandten, dass sie da besser nicht hingehen sollen, dass das eine Einbahnstraße in den Tod ist. Wenn ihnen Lebenslänglich droht – meinetwegen. Aber alle anderen sollten besser ihre Strafe absitzen“, schreibt Alla Danilina in einer Gruppe für Angehörige von Häftlingen auf VK. „Ich habe versucht, das meinem Sohn auszureden; er hat von mir solche Flüche zu hören bekommen, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich so schimpfen kann“, antwortet Irina. 

    „Mein Mann ist am 7. Juli zur Spezialoperation gegangen. Wir haben’s ihm nicht ausreden können; morgen ist die Beerdigung. Zwei Kinder hab‘ ich! Lasst das nicht zu!!!“ 

    In den Kommentaren gibt es viele ähnliche Geschichten: „Ende Juni sind 30 Mann aus Jablonewka zum Einsatz in der Spezialoperation aufgebrochen. Am 29. oder 30. Juni waren nur noch zwei am Leben, und selbst die waren verwundet.“ Viele Angehörige, die die Novaya Gazeta Europe angeschrieben hat, berichteten, dass ihre Verwandten innerhalb von Monaten nach ihrer Entsendung in den Krieg umgekommen sind. 

    Der Mann von Olga, die viel in der VK-Gruppe Kresty schreibt, war nach dem Urteil bereits in die Strafkolonie verlegt worden; er ist nicht in den Krieg gezogen. Aber ein enger Freund von ihm, mit dem sie sprach, der wollte da hin. „Er hat ‘ne lange Strafe, und niemand wartet draußen auf ihn. Einige dort werden moralisch unter Druck gesetzt. Natürlich nicht alle. Sie machen ihnen mit der Strafkolonie Angst. Jetzt hat er Kontakt zu seinen Eltern und seiner Freundin, bei der sein Kind lebt. Er wird wohl nicht gehen.“ 

    Dmitri, der noch aus der U-Haft ein Gesuch geschrieben hatte, um an die Front zu kommen, hat sich in Bezug auf den Krieg dennoch umentschieden. „Ich will einfach leben und meine Familie wiedersehen. Über die Zukunft habe ich noch nicht nachgedacht.“ 

     

    Weitere Themen

    Krieg in der Ukraine – Hintergründe

    Protest und Widerstand gegen den Krieg

    Im Netz der Propaganda

    Gefangen im Krieg

    Frachtgut Zinksarg: Unterwegs mit einem Leichenkurier

    Tote Seelen vor Gericht

    Nur weil sie Roma sind

    Jewgeni Prigoshin

  • Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Belarus spielt eine undurchsichtige Rolle bei der Verschleppung ukrainischer Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. Belarussische NGOs wie Nasch dom verfolgen schon länger, wie schon hunderte Kinder aus der Ukraine über Belarus letztlich nach Russland gebracht wurden. 

    Gleichzeitig holt Belarus immer wieder auch für kurze Zeit ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten zu sich ins Land: angeblich, um ihnen eine Auszeit vom Krieg zu ermöglichen. Diese ferienlagerartigen Projekte nutzen häufig die belarussischen Staatsmedien für ihre Propagandasendungen: Dann lassen sie die Kinder russische Propaganda nacherzählen und ideologische Phrasen aufsagen. Oft stellen die Moderatoren so lange Fragen zu Angriffen, Verletzungen und Todesfällen, bis die Kinder in Tränen ausbrechen.  

    Die ukrainische Menschenrechtsplattform Zmina hat diese Sendungen analysiert und fasst zusammen, wie die belarussischen Medien die ukrainischen Kinder dazu benutzen, russische Propaganda zu verbreiten. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tränen, TV und Traumata 

    In belarussischen Medien gibt es immer wieder Berichte, in denen Kinder aus den (von Russland – dek) besetzten ukrainischen Gebieten ihre Erlebnisse aus dem Krieg erzählen und dabei weinen. Es kümmert die Propagandisten nicht, dass solche Aufnahmen Traumatisierung und Retraumatisierung auslösen können. Dabei erwähnen sie oft, dass die Kinder den Angriff, die Verletzungen oder den Tod der Angehörigen eigentlich vergessen wollen. 

    Ein Beispiel dafür ist der Bericht des staatlichen Senders ONT über „Kinder mit besonderem Schicksal, die zur Rehabilitation in Belarus sind“. In dem Video erzählt eine 11- bis 12-jährige Weronika aus Horliwka von ihrer Freundin, die beim Brotkaufen getötet wurde. Während der Aufnahme wird das Kind buchstäblich zum Weinen gebracht. 

    Der gesamte Bericht basiert auf Retraumatisierung. 

    Das Gleiche passiert in einem Video auf dem YouTube-Kanal der Belteleradiokompanija. Bereits in den ersten Sekunden sagt dort ein Mädchen, dass dies ein „schmerzhaftes Thema“ sei, während ein anderes Kind weint. Die Autorin der Reportage, Daria Ratschko, setzt die Kinder jedoch weiter unter Druck und stellt ihnen unangenehme Fragen: Sie fragt nach den Angriffen, ob sie Angst hatten und ob es normal sei, dass dabei alle Fenster zerbrechen. Ratschkos gesamter Bericht basiert auf der Retraumatisierung der Kinder aus den besetzten Gebieten. 

    Genauso macht es ihre Kollegin Anastassija Benedisjuk in der Popagandadoku „Donbas. Belarus ist da“, zum Beispiel im Interview mit einem 11-jährigen David aus Mariupol. Zu Beginn des Films sieht man außerdem Mädchen vor der Kamera weinen, deren Namen nicht genannt werden. 

    „Russische Kinder mit russischen Pässen“  

    Ein anderes Propagandanarrativ in Belarus dreht sich um die Behauptung „ukrainische Nazis töten russische Kinder“. Russland würde sie dann retten und Belarus sei dabei ein märchenhaft ruhiges Land. Die Organisatoren der „Transporte“ seien Zauberer, die heilen und dabei helfen, die Schrecken der sogenannten Spezialoperation zu vergessen. 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    In einem Telegram-Video zeigen Kinder aus dem besetzten Teil der Region Cherson, die im März 2024 in Belarus waren, ihre russischen Pässe. Der Paralympiker und glühende Lukaschenko-Anhänger Alexej Talaj, eine Schlüsselfigur bei der Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten nach Belarus, kommentiert dazu im Video: „Das sind russische Kinder mit russischen Pässen.“ 

    Eine andere Propagandareportage des belarussischen Fernsehsenders CTV fokussiert sich indes auf Berichte über Minenverletzungen und andere Verwundungen von Kindern, wie etwa von Swjatoslaw Rytschkow. Swjatoslaw erzählt, er habe eine Schrapnellverletzung an der Lunge erlitten, als ein ukrainischer Panzer auf den Zaun seines Hauses zielte. Danach behauptet er, die Soldaten hätten keinen Krankenwagen zu ihm durchgelassen, stattdessen gemeint: „Lasst ihn sterben.“ 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tatsächlich war es jedoch das ukrainische Militär, das Swjatoslaw Rytschkow nach seiner Verletzung, welche die Journalistin auf dramatische Weise schildert, in ein Militärkrankenhaus in Bachmut brachte. Anschließend wurde er im Intensivwaggon eines Sanitätszuges ins St.-Nikolaus-Krankenhaus von Lwiw gebracht. 

    „Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen.“ 

    In einem anderen Fall brachte man 11 Kinder in die von Ksenija Lebedijewa moderierte Sendung „Das ist etwas anderes“ des Senders „Belarus“ und kündigte sie als Kinder aus „Orten der DNR“ an. Die Jugendlichen mussten berichten, wie sie die [russische – dek]  Besetzung ihrer Städte erlebten und was sich jetzt dort abspielt.  

    Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen, denn sie reproduzieren nur russische Narrative. So sprechen sie von der „militärische Spezialoperation“, sagen, dass „ukrainische Kämpfer die Stadt planlos beschießen“, dass „Russland sie rettet“ und dass „Mariupol sich zu erholen beginnt“. Auf Nachfrage der Moderatorin antworten die Kinder, dass sie „russische Kinder“ seien. 

    Einer der Jungen antwortet auf eine bewusst provokante Frage der Moderatorin: Wäre er älter, würde er in den Krieg ziehen, weil die Ukraine in sein Land gekommen sei und Leute wie ihn umbringe.  

    „Walerija hält ein Sturmgewehr.“ 

    Das Thema der anti-ukrainischen Militarisierung von Kindern und ihrer Bereitschaft, gegen die Ukraine zu kämpfen, wird von der belarussischen Propaganda häufig bespielt. Wie etwa in einem Bericht über den Aufenthalt von Kindern aus Donezk und Mariupol im Sanatorium Wolma im Juni 2022: 

    „Walerija Ljachowa hält ein Sturmgewehr. Sie sagt, sie habe keine Angst vor Waffen und sei bereit, noch heute für ihr Heimatland in den Krieg zu ziehen, doch sie sei noch nicht alt genug. Lera ist dreizehn…“ 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Besonders charakteristisch ist der in der Propaganda konstruierte Kontrast zwischen von „der EU, den USA und den Nazis“ ins Unheil gestürzten Kindern in den [russisch – dek] besetzten Gebieten der Ukraine und den glücklichen Kindern in Belarus, denen Batka eine glückliche und unbeschwerte Kindheit beschere. In verschiedenen Sendungen wird die Verbringung von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Belarus als Abenteuer beschrieben, von Zauberern organisiert, die sie mit einem schönen Zug ins Märchenland bringen. Hier ist es ruhig, es gibt leckeres Essen und es wird gefeiert.  

    „Wir sind ein Volk“ 

    Belarussische Medien berichten außerdem häufig über Veranstaltungen, bei denen Kinder aus der Besatzung die russische Ideologie der „Dreieinigkeit der Völker“, der „russischen Welt“ und des „Unionsstaates“ verbreiten. 

    So sangen beispielsweise Kinder aus Horliwka nach der Neujahrsshow im Palast der Republik in Minsk, wahrscheinlich auf Anregung des Organisators Pawlo Tschulochin: „Wir sind eine Familie. Zusammen sind wir eine Rus‘ – Horliwka und Belarus!“ Oft werden ukrainische Kinder auch in Propagandaveranstaltungen gezeigt, in denen sie als „russisch“ und die besetzten Gebiete als „neue Regionen Russlands“ bezeichnet werden. Auch Alexej Talaj nennt in einem Video diese Gebiete einen Teil der Russischen Föderation und ein Mädchen aus der besetzten Region Donezk ein „russisches Mädchen“. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Im Video von einer Aufführung im belarussischen Kinderferienlager „Dubrawa“ verkündet gar der Kulturberater des russischen Botschafters, Sergej Afonin, ukrainischen Kindern aus den besetzten Gebieten seine ideologische Agenda: „Wenn die russischen Jungs erst das heilige Land im Donbas befreien, haben die Kinder schönste Aussichten auf ein Leben in den gelobten Ländern Russland und Belarus.“ 

    Für die Kinder werden außerdem Ausflüge zu „Orten des Ruhmes“ organisiert und diese Veranstaltungen aktiv in den Medien verbreitet. So wurden Kinder mit Behinderungen aus Donezk Teil einer Propagandakampagne der Alexej-Talaj-Stiftung zum Großen Vaterländischen Krieg und machten einen Ausflug zum „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Das Programm für Kinder aus Dokutschajewsk und Mariupol umfasste einen Besuch der Festung Brest

    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. / Video © Youtube-Kanal news.by

    „Niemanden kümmern die Interessen der Kinder“ 

    Onysija Synjuk, Rechtsanalystin am ZMINA-Menschenrechtszentrum, betont, dass sich niemand um die Interessen der Kinder kümmert, wenn ukrainische Kinder in Belarus so zu Propagandazwecken benutzt werden: „Niemand kümmert sich darum, dass solche Beiträge sowohl Sicherheits- als auch Datenschutzaspekte ignorieren, indem sie persönliche Informationen über die Kinder preisgeben. Außerdem werden die Kinder durch gewisse Fragen retraumatisiert.“ Die Expertin nimmt weiter an, dass die militarisierten und indoktrinierten Kinder aus den besetzten Gebieten später dazu benutzt werden, ihre Altersgenossen zu beeinflussen. 

    Weitere Themen

    „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

    Geburt und Tod der Russischen Welt

    Video #33: Putin zählt Ukrainer und Belarussen zur „großen russischen Nation“

    Kriegsferien in Mariupol

    Schulen im Untergrund

    Extra-Strafen auf der Krym

  • Tote Seelen vor Gericht

    Wenn russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine getötet werden, steht ihren Familien eine Entschädigung von umgerechnet 150.000 Euro zu. Und den Kommandeuren ihrer Einheit – neuer Truppennachschub. Der russische Staat aber will solche Zahlungen, Soldatenersatz und besonders verräterisch negative Statistiken vermeiden. Also kursiert innerhalb der russischen Armee eine inoffizielle Order, besonders schwer Verwundete und Getötete lieber auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen. Dann kann der Tod nicht bewiesen werden und ein Verschollener ist kein Gefallener – und am Ende billiger. 

    Werden Ersatzansprüche geltend gemacht, muss ein Gericht entscheiden, ob – ohne Leiche – ausreichend Hinweise auf den Tod eines Soldaten vorliegen. Das russische Onlinemedium Verstka hat sich angeschaut, wie viele solche Anträge auf Anerkennung getöteter Militärangehöriger bei russischen Gerichten eingehen: seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fast 3.000, zwei Drittel davon 2024. Die Gerichtsunterlagen zeigen auch, dass in der Hälfte der Fälle nicht die Familien den Antrag stellten, sondern die Kommandeure der Militäreinheiten – damit jene „toten Seelen“ auf dem Papier durch neue Kämpfer ersetzt werden können. 

    Verstka hat dafür aus 21.600 Fällen an russischen Bezirks- und Garnisonsgerichten, in denen Russen als tot oder verschollen anerkannt wurden, diejenigen Fälle seit Ende Februar 2022 herausgesucht, in denen eine militärische Einheit, das Verteidigungsministerium oder ein Militärstaatsanwalt beteiligt war. Von diesen 2.847 Fällen konnte die Redaktion die Urteile im Wortlaut zu fast 200 Fällen recherchieren. Dieser Datensatz verrät auch, welche Einheiten am häufigsten in diesen Verfahren figurieren – und offenbar die größten Verluste haben. 

    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka
    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka

    Seit März 2022 sind bei den Bezirks- und Garnisionsgerichten (Militärgerichte der ersten Instanz – dek) in Russland und der annektierten Krym mindestens 2.847 Klagen eingegangen, die das Ziel haben, Militärangehörige, deren sterbliche Überreste noch auf dem Schlachtfeld liegen, für tot oder verschollen zu erklären. Während 2022 nur vereinzelt solche Anträge eingingen, waren es ab Sommer 2023 monatlich bereits mehrere Dutzend.  

    2024 ging es, statistisch gesehen, schon bei jedem vierten Antrag auf amtliche Anerkennung als tot oder verschollen um Militärangehörige. Zwischen Juni und August 2024 registrierten die russischen Gerichte bereits über 1.300 Eingänge. Davon allein im August die bislang höchste Anzahl – mindestens 554. Rund drei Viertel der in diesem Sommer gestellten Anträge befinden sich noch in Bearbeitung, in 196 Fällen wurde der Klage bereits stattgegeben. 

    Spitzenreiter unter den Truppeneinheiten, aus denen solche Anträge eingehen, ist die Einheit Nr. 22179 in Nowotscherkassk (Oblast Rostow) mit insgesamt 221 Fällen. Hier ist eine Schtorm-Z–Einheit angesiedelt.  

    Andere Stützpunkte, die besonders häufig in den Verfahren zu gefallenen oder vermissten Militärangehörigen auftauchen, sind die Einheit Nr. 12721 in Klinzy (Oblast Brjansk) mit 119 Anträgen, Nr. 61899 in Moskau (mit 99), Nr. 06705 aus der Region Transbaikalien (mit 96) und eine weitere in Klinzy (Nr. 91704). 

    Wieso muss man für tote Soldaten vor Gericht ziehen? 

    Die russische Armee schafft es nicht, alle gefallenen Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen. Das bringt sowohl für die Angehörigen wie für die Einheiten Probleme mit sich: Ohne Leichnam stellen die russischen Behörden keine Sterbeurkunde aus, und ohne juristisch bestätigten Tod gibt es keine Entschädigung. Zudem kann der Armeeangehörige nicht aus der Personalliste gestrichen werden. 

    Gibt es keinen Leichnam, kann ein Gericht einen Militärangehörigen erst für tot erklären, wenn es mindestens sechs Monate lang keine Nachricht von ihm gab. Verstka konnte allerdings keinen einzigen Fall finden, bei dem ein Soldat allein auf dieser Grundlage für tot erklärt wurde. In der Regel müssen Angehörige oder Vertreter der Einheiten für das Gerichtsverfahren Zeugenaussagen von Kameraden einholen, die den Tod des Betreffenden mitangesehen haben. 

    In den von Verstka recherchierten Fällen haben die Gerichte, wenn es keine Zeugen gab, die betreffenden Armeeangehörigen als verschollen [anstatt als tot – dek] eingestuft. Bei diesem Status kann man kaum mit einem „Sarggeld“ rechnen. Es kann aber beispielsweise Halbwaisenrente für die Kinder beantragt werden. In den zweieinhalb Jahren Krieg wird das Recht, einen gefallenen Armeeangehörigen als tot oder verschollen anerkennen zu lassen, sowohl von deren Familien wie auch von Kommandeuren aktiv genutzt. 

    „Wenn man die Leichen holen will,  
    kommen sofort Granaten geflogen“ 

    Einen Teil der Gefallenen lässt die russische Armee nicht bergen, wenn das betreffende Kampfgebiet von den ukrainischen Streitkräften beschossen wird. So erklärte im Mai 2024 ein Kämpfer der ehemaligen Gruppe Wagner, der vor einem Gericht in Saransk als Zeuge zum Tod eines Kameraden vernommen wurde: „Wenn man die Leichen holen will, kommen sofort Granaten geflogen, und dann sterben die Nächsten.“ Oder aus der schriftlichen Erklärung eines Feldwebels der Einheit Nr. 09332 vom Februar 2024 beim Bezirksgericht Adler: „Aufgrund des schwierigen Geländes und des dichten Feuers der überlegenen Kräfte des Feindes, erschien eine Bergung des Leichnams nicht möglich.“ Er habe gesehen, wie ein Gefreiter aus seiner Einheit „tot umfiel“, nachdem er am Kopf getroffen wurde.  

    In anderen Fällen gibt es nichts zu bergen, weil der Leichnam verbrannt ist oder vollständig vernichtet wurde. So stellte im Frühjahr 2024 ein Gericht in Stawropol zum Tod eines Schtorm-Z-Kämpfers fest: „Im Zuge der Kampfhandlungen verbrannte der Körper des Sohnes der Antragstellerin restlos unter direkter Einwirkung eines Explosivgeschosses, das von den Streitkräften der Ukraine abgefeuert wurde.“ 

    Es kommt auch vor, dass jemand einfach verschwindet und unklar ist, ob er gefallen ist oder nicht. So war es z. B. mit Major Lenar Karimow, der zehn Jahre in der Armeeeinheit Nr. 09332 im nordkaukasischen Adygeja gedient hatte und dann Kommandeur einer Funk- und Radarbatterie der Besatzungstruppen war. Im Zuge der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Cherson im Herbst 2022 musste Karimow mit seiner Einheit fliehen und ist seitdem spurlos verschwunden. Die Suche der Kameraden nach seinem Leichnam blieb vergebens. Niemand hat gesehen, was mit ihm geschah, seit anderthalb Jahren gibt es keinerlei Lebenszeichen. Der Kommandeur der Einheit zog vor Gericht, um Karimow für verschollen erklären zu lassen und ihn daraufhin aus der Personalliste streichen zu können.

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Warum schießen die Zahlen 2024 in die Höhe? 

    Die drastische Zunahme der Anträge, um Militärangehörige als gefallen oder verschollen anerkennen zu lassen, geht nicht nur auf den Wunsch von Angehörigen zurück, sondern oft auch auf das aktive Vorgehen der Einheiten. 

    Für die Kommandeure ist es wichtig, dass bei ihnen keine „toten Seelen“ gelistet sind. Sie können einen gefallenen Soldaten, der nicht geborgen wurde, nicht einfach streichen. Und solange jemand auf der Personalliste steht, kann er nicht „entlassen“, also aus dem Soldverzeichnis gestrichen und durch einen anderen ersetzt werden.  

    So erklärten im August 2024 Vertreter der Einheit Nr. 57367 vor dem Bezirksgericht Ussurijsk, dass sie den Unterfeldwebel mit Rufnamen „Deimos“, dessen Leichnam nicht geborgen werden konnte, aus der Liste streichen wollen, weil „die Einsatzfähigkeit der Einheiten in erster Linie von einer vollen Mannschaftsstärke abhängt“. Der Feldwebel war bereits im Oktober 2022 bei den Kämpfen um das Dorf Wolodymyriwka (Oblast Donezk) getötet worden. Seither, so die Annahme der Armee, liegt sein Leichnam auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Ein Kamerad des Feldwebels sagt vor Gericht aus, er habe einen Schrei gehört: „Deimos 200!“, und zwar wenige Minuten, nachdem die ukrainischen Streitkräfte das Feuer auf ihre Stellungen eröffnet hatten. Der Kommandeur der Kompanie habe den Befehl gegeben, den Toten zurückzulassen und sich zurückzuziehen. 

    Unseren Berechnungen zufolge wurden zwischen Januar und August 2024 insgesamt mindestens 2.303 Anträge gestellt, Militärangehörige als gefallen oder vermisst einzustufen. Die eine Hälfte wurde von Truppenstützpunkten gestellt, die andere von den Familien der Getöteten, entweder selbständig oder mit Unterstützung der Militärstaatsanwaltschaft. 

    „Wenn ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist,  
    kann man Aufstockung beantragen“ 

    Allein 70 Anträge sind 2024 von der Einheit Nr. 29297 eingegangen. Im September 2023 hatte der Telegram-Kanal Mobilisazija eine Videobotschaft veröffentlicht, die angeblich von Soldaten des 1008. Regiments jener Einheit aufgenommen wurde. Die uniformierten Männer berichteten von Regelverstößen und „kolossalen Verlusten“. Trotz allem habe die Einheit als einsatzfähig gegolten. 

    „Damit unsere Personallücken aufgefüllt werden können, muss aus den Unterlagen die Notwendigkeit dafür hervorgehen“, erklärt ein Vertragssoldat eines Bergungstrupps gegenüber Verstka; seine Leute sind für Suche und Abtransport von Verletzten und Getöteten zuständig. „Wenn etwa ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist, kann man eine Aufstockung beantragen. Bei Tschassiw Jar haben wir bis zu 60 Prozent verloren, aber die Leichname fehlen, wir können sie einfach nicht bergen. Wir versuchen, wenigstens die Dienstmarken zu holen, aber auch das ist nicht realistisch. Daher gibt es so viele Vermisste. Keiner mag es, so viele Vermisste nach oben zu melden, dafür kommen dann alle dran. Deswegen haben wir dort einen Monat lang unterbesetzt in der Luft gehangen. Dann brachten sie uns die Strafversetzten und die Häftlinge. Mit denen werden die Lücken gestopft.“ 

    Viele „Sturmtruppen“ bleiben auf dem Schlachtfeld 

    Der Stützpunkt Nr. 06705, der seinen Standort in der Stadt Borsja (Region Transbaikalien) hat, stellte im Mai und Juni 87 Anträge, Militärangehörige für gefallen oder verschollen zu erklären. Dabei wird bei sämtlichen Anträgen vom Juni eine andere Garnison als „interessierte Partei“ genannt: Nr. 22179. Auf deren Grundlage wurde eine Schtorm-Z–Einheit gebildet, die aus ehemaligen Häftlingen und strafversetzten Soldaten besteht. „Da sind nur lahme Kämpfer, Alkis, Junkies, Deserteure. Wenn der Kommandeur was gegen dich hat, kann der dich einfach da reinstecken. Wenn du nicht gehorchst oder widersprichst – zack, bist du weg. Im Grunde ist das ein Strafbataillon, nichts als Fleischwolf“, erklärte der Offizier Andrej (Name geändert) im Frühjahr 2024 gegenüber Verstka. Dass bei der Antragstellung zwei verschiedene Stützpunkte genannt werden, erklärt sich dadurch, dass die Kämpfer von Schtorm Z aus unterschiedlichen Einheiten kamen, um befestigte Stellungen des Feindes zu stürmen. 

    Die Beschlüsse zu den Anträgen von 2024 sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber Verstka konnte 15 frühere Fälle ausfindig machen, die jene Einheit Nr. 22179 betrafen. Daraus geht hervor, dass Soldaten dieser Garnison an diversen Sturmangriffen beteiligt waren und zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedlichen Orten starben: zum Beispiel in Kämpfen bei Kyryliwka (Oblast Saporishshja), Awdijiwka, Oleksandriwka, Marjinka, Swjatohirsk, Dubowo-Wassyliwka (Oblast Donezk) und Bilohoriwka (Oblast Luhansk). 

    So wurde ein Gefreiter der 63. Schtorm-Z-Kompanie aus der Region Krasnojarsk seiner Mutter zufolge im April 2023 für den Armeedienst angeworben, als er auf Arbeitssuche war, und landete in der Einheit Nr. 22179. Er sollte einen Sold von monatlich 51.900 Rubel [ca. 500 Euro – dek] bekommen. Bereits im Mai 2023 stürmte er ukrainische Stellungen. Seit einem dieser Sturmangriffe ist er verschollen. Ein Kamerad erzählte dann den Angehörigen, er sei „in einem Sumpfgebiet gefallen“. Das Bezirksgericht Suchobusimskoje (Region Krasnojarsk) kam 2024 zu dem Schluss, dass er „bei der Erfüllung seiner Aufgaben im Zuge der militärischen Spezialoperation“ ums Leben gekommen war. 

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Wie die Familien vor Gericht ziehen 

    Familien, die ihre Angehörigen nicht beerdigen konnten, die die Hoffnung verloren haben, dass sie vielleicht doch noch am Leben sind, und die das „Sarggeld“ beantragen wollen, können sich zusammentun und gemeinsam vor Gericht ziehen. Im Sommer 2024 haben Verwandte von Angehörigen der Einheit Nr. 95383 gleich 54 Anträge eingereicht, um ihre Söhne als tot oder verschollen anerkennen zu lassen. Die Soldaten waren mutmaßlich während der Kämpfe um das Dorf Klischtschijiwka bei Bachmut ums Leben gekommen. 

    Im Frühjahr 2024 hatten die Familien dieser Soldaten eine Petition ins Leben gerufen, die bis dato von fast 300 Personen unterzeichnet wurde. Der Text besagt, die Familien hätten seit Juli 2023 nichts mehr von ihren Söhnen gehört. Damals hatten ukrainische Truppen russische Stellungen bei Klischtschijiwka angegriffen. Zuvor waren Einzelheiten zu den Kampfhandlungen bekanntgeworden: In einer Videobotschaft an den Präsidenten behaupten Angehörige der Soldaten, der Kommandeur habe diese „unter Todesdrohungen gezwungen, zu den Stellungen zurückzukehren, die mittlerweile vom Gegner eingenommen waren. Sie konnten nirgendwo in Deckung gehen und bekamen keinerlei Artillerieunterstützung.“ 

    Prozess für einen „Helden“ 

    Vor Gericht muss man selbst dann ziehen, wenn der Betreffende selbst Kommandeur war und nach Ansicht der russischen Armee Heldentaten vollbracht hat. So ging beispielsweise 2024 die Frau von Major Pawel Saran vor Gericht, der in der Einheit Nr. 21634 gedient hatte. 

    Der Major hatte das Kommando über ein Panzerregiment eines Sturmbataillons und fiel mutmaßlich am 5. Juni 2023 bei Kämpfen in der Nähe von Lewadne (Oblast Saporischschja). Nach offizieller Version hatte Saran seiner Einheit befohlen, die Verteidigungslinie zu halten, wofür er posthum mit dem Titel eines „Helden Russlands“ und der Medaille Solotaja Swesda (dt. Goldener Stern) ausgezeichnet wurde. Im Gerichtsbeschluss heißt es, der Major und neun weitere Militärangehörige hätten sich in einem Unterstand befunden, der von ukrainischen Panzereinheiten beschossen wurde. Durch den direkten Einschlag einer Granate kam es in dem Unterstand zur Explosion, wodurch alle zehn ums Leben kamen. Ihre Leichen konnten nicht geborgen werden.  

    Sarans Ehefrau, vertreten durch die Militärstaatsanwaltschaft, stellte daraufhin einen Antrag an das Bezirksgericht Ussurijsk, wo die Einheit ihres Mannes stationiert ist. Aufgrund von Zeugenaussagen kam das Gericht zu dem Schluss, dass Pawel Saran in der Nähe von Lewadne „in Ausübung seiner militärischen Dienstpflichten gefallen“ sei. 

    Familien gewinnen die Prozesse nicht immer beim ersten Versuch. 

    Es gelingt den Familien jedoch nicht immer beim ersten Versuch, das Gerichtsverfahren zu gewinnen. Viktoria Dikarjowa aus Polessk in der Oblast Kaliningrad erzählte Verstka bereits im Sommer 2023, ihr Mann, der als Freiwilliger in einer Reservisten-Einheit gedient hatte, sei vermutlich im August 2022 beim Sturm des Dorfes Wolodymyriwka (Oblast Donezk) gefallen. Wjatscheslaw Dikarjow hatte Frau und Tochter zurückgelassen, um – so Viktoria – im Krieg „ein paar Groschen zu verdienen“ und im Haus einen Gasanschluss legen zu können. Er war nur eine Woche an der Front. Von Kameraden hatte Viktoria gehört, dass ihrem Mann bei einem Angriff die Beine abgerissen wurden. Er konnte nicht gerettet und sein Leichnam wegen des starken Beschusses nicht geborgen werden. 

    Doch Viktoria verlor das Gerichtsverfahren, in dem ihr Mann für tot erklärt werden sollte. Der Kommandeur der Einheit Nr. 22179 (derselben, aus der sich auch eine berüchtigte Schtorm-Z–Einheit rekrutierte) teilte dem Bezirksgericht Polessk mit, er könne keine Informationen zum Schicksal von Dikarjow geben – jener sei nicht in den Personallisten seiner Garnison, sondern bei einer Freiwilligeneinheit registriert gewesen. Letztlich entschied die Richterin, dass es zu wenig Beweise für den Tod Dikarjows gebe. 

    „Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen.“ 

    Also klagte Viktoria ein zweites Mal, diesmal für den Verschollenen-Status. Und diesmal mit Erfolg. Ohne diese Entscheidung, sagte sie, hätte sie nicht einmal Waisenrente für ihre Tochter beantragen können. Mitte August 2024, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, will Viktoria aber doch noch einen zweiten Versuch unternehmen, ihn amtlich für tot erklären zu lassen. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird“, sagt sie. „Seit zwei Jahren kämpfe ich nun dafür. Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen. Sein Körper wurde immer noch nicht heimgeholt, wer weiß, ob das überhaupt je geschehen wird. Obwohl doch das Gebiet, in dem er gefallen ist, längst zu Russland gehört, sucht niemand nach ihm. Was kann ich jetzt noch tun? Ich kann jetzt nur noch auf dem Papier seinen Tod feststellen lassen und alle Zahlungen beantragen, die meiner Familie zustehen.“ 

    Weitere Themen

    Kanonenfutter: „Wenn sie sterben – umso besser“

    Mörder mit Tapferkeitsorden

    Putins Ökonomie des Todes

    Frachtgut Zinksarg: Unterwegs mit einem Leichenkurier

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Extra-Strafen auf der Krym

  • Extra-Strafen auf der Krym

    Extra-Strafen auf der Krym

    Die russischen Besatzungsbehörden auf der Krym haben seit 2022 schon mehr als 900 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee und fast 600 wegen „Verwendung extremistischer Symbole“ eröffnet. Wer sich gegen die russische Aggression ausspricht, Informationen über russische Kriegsverbrechen veröffentlicht oder einfach nur ukrainische Lieder hört, blau-gelbe Kleidung trägt oder Bilder in diesen Farben teilt, wird schnell juristisch und öffentlich verfolgt. Die Bevölkerung auf der Krym wird von Besatzungsbehörden und loyalen Medien aufgefordert, solche Personen zu denunzieren. Z-Blogger verbreiten Videos von Festnahmen und erzwungenen Entschuldigungen, die ihnen die russischen Sicherheitsbehörden zuspielen. 

    Laut Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym – ein Organ, das sich mit Vorgängen auf der annektierten Halbinsel beschäftigt – nimmt die Zahl der Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung“ zwar russlandweit ab – aber auf der besetzten Krym steigt sie. Im Mai 2023 hatte die NGO Krymski Prozes noch 350 Fälle vermeldet. Insgesamt dürfte die Dunkelziffer noch höher liegen. 

    Das ukrainische Onlinemedium Graty erläutert anhand zahlreicher Fallbeispiele allein im Juli 2024, wie die russischen Besatzer auf der annektierten Halbinsel mit Anzeigen und Denunziationen die Bevölkerung einschüchtern.  

    Prorussische Blogger und Besatzer-Polizei gegen „Tscherwona Kalyna“ 

    Am 6. Juli veröffentlichte der russischsprachige Telegram-Kanal Krymski Smersch (dt: Krym-Todesschwadron) Screenshots einer privaten Instagram-Seite: Die Bilder dort zeigten die ukrainische Nationalflagge und Menschen in blauer und gelber Kleidung, das ukrainische Wappen mit Dreizack und eine Armtätowierung mit der Aufschrift „Slawa Ukrajini“ sowie Männer, die Wladimir Putin und Dmitri Medwedew ähneln, in T-Shirts mit Dreizack und der Aufschrift „Putin, fick dich“. Zwei Stunden später teilte derselbe Kanal ein Video, in dem Spezialkräfte mit Sturmgewehren in ein Haus eindringen und einen jungen Mann festnehmen, ihn beschimpfen und zu Boden werfen. Außerdem wurde berichtet, dass ein 24-jähriger Einwohner von Bilohirsk (Kleinstadt im Südosten der Krym – dek), Kemal S. (aus ethischen und Sicherheitsgründen nennen wir nicht die vollständigen Namen der Beschuldigten – Graty), festgenommen und gegen ihn ein Ordnungswidrigkeitsverfahren nach zwei Artikeln eingeleitet worden sei –  wegen „geringfügigem Rowdytum“ und „Darstellung von Nazi-Symbolen oder Symbolen extremistischer Organisationen oder anderer Symbole, deren Propaganda oder öffentliche Zurschaustellung in der Russischen Föderation verboten ist“ (Artikel 20.1, Absatz 3 und Artikel 20.3, Absatz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation (GORF)). Am nächsten Tag folgte ein Video, das höchstwahrscheinlich von Sicherheitskräften zugespielt worden war und in welchem sich der Inhaftierte für die „Beleidigung des Präsidenten der Russischen Föderation“ entschuldigte. 

    Telegram-Video zeigt brutale Festnahme eines 63-Jährigen, der „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“. 

    Am 11. Juli zeigte ein Video auf Krymski Smersch die brutale Festnahme des 63-jährigen Refat I. verbunden mit dem Kommentar, dass dieser „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“. Es wird zwar nicht angegeben, wo die Ereignisse stattfanden und was genau man dem Festgenommenen vorwirft, jedoch wird gemeldet, dass der Mann sieben Tage in Haft genommen worden sei. Am 13. Juli folgt ein Video, in dem sich I. für die „Veröffentlichung verbotener Symbole“ entschuldigt.  

    Am 25. Juli veröffentlichte Krymski Smersch ein Video von einem Haus, in dem das ukrainische Kult-Volkslied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“ spielt, inklusive der Adresse im besetzten Sewastopol. Wenige Stunden später wurde auf demselben Kanal die mutmaßliche Festnahme eines 42-jährigen Bewohners vermeldet, beschuldigt der „Propaganda und öffentlichen Demonstration von Nazi-Symbolen “ (Art. 20.3 Abs 1 GORF). Russische Medien verbreiteten die Information, dass der Mann laut Beschluss des russisch kontrollierten Leninski-Bezirksgerichts von Sewastopol 15 Tage in Haft verbleiben müsse. Die Pressestelle des Gerichts meldete, das Verfahren sei am 26. Juli geprüft worden und der Beschluss ergangen, obwohl der Beschuldigte seine Schuld bestritt: „Das Gericht stellt fest, dass die männliche Person am 25. Juli 2024 in seiner Wohnung auf dem Balkon laut und deutlich Parolen ukrainischer nationalistischer Organisationen rief und die Hymne ukrainischer nationalistischer Organisationen hörte. Hierzu wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß Art. 20.3, Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation eröffnet,“ heißt es auf der Website des Gerichts. 

    In mindestens einem Fall, der im Juli im selben Telegram-Kanal veröffentlicht wurde, ging es nicht nur um Ordnungswidrigkeiten, sondern um strafrechtliche Verfolgung. Am 10. Juli schrieb Krymski Smersch, dass der FSB ein Verfahren wegen „öffentlicher Aufrufe zu extremistischen Aktivitäten“ (Art. 280, Abs. 2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (StGBRF)) gegen Tetjana B. aus Jalta eingeleitet habe, die Monate zuvor auf Telegram die russische Besatzungspolitik kritisiert hatte. Auch sie wurde damals gezwungen, sich per Video zu entschuldigen, das Krymski Smersch bereits im April dieses Jahres veröffentlichte. Darin wird behauptet: „Sie veröffentlichte Kommentare, in denen zu Gewaltaktionen gegen eine Gruppe von Menschen mit ausgewiesen russischer Nationalität aufgerufen wird.“ 

    Besatzer-Polizei von Sewastopol verbreitet Video mit „Entschuldigung“  
    eines 19-Jährigen, der sich „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte  
    und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“  
    geäußert haben soll. 

    Allein im Juli gab es mehr als ein Dutzend solcher Fälle. Manchmal berichten die Besatzungsbehörden auf der Krym über solche Ermittlungen aber auch selbst, ohne die Unterstützung ihrer loyalen Blogger. So veröffentlichte der Telegram-Kanal Polizija Sewastopol am 20. Juli ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 31-jährigen Mannes, der am Strand „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“ gerufen hatte. Aufnahmen des Vorfalls sind der „Entschuldigung“ im Video vorangestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass der Mann außerdem der „Darstellung von Nazi-Symbolen“ beschuldigt wird und das von Russland kontrollierte Leninski-Bezirksgericht von Sewastopol ihn für 12 Tage in Haft genommen hat.  

    Vier Tage zuvor, am 16. Juli, hatte ebenfalls die Besatzer-Polizei von Sewastopol ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 19-Jährigen, der sich in Kommentaren in sozialen Netzwerken „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“ geäußert haben soll. Gegen ihn sei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ (Art. 20.3.3, Abs. 1 GORF) am Nachimowski-Bezirksgericht Sewastopol eingeleitet worden.  

    Am 17. Juli folgte ein weiterer Beitrag über die Fahndung nach einem 41-jährigen Einwohner Sewastopols wegen desselben Artikels der „Diskreditierung“. Dieses Mal aber ohne Entschuldigungsvideo, sondern lediglich mit der Ergänzung, dass der Beschuldigte „gestanden habe“. 

    Mehr Verfahren auf der Krym, in Russland weniger 

    Nach Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym bearbeiteten die Besatzungsgerichte auf der Halbinsel bis 23. Juli dieses Jahres schon 913 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ (Art 20.3.3 GORF). In 811 Fällen erließen die Gerichte eine Anordnung zur Verhängung einer Strafe oder fügten sie zu einem anderen Ermittlungsfall nach weiteren Artikeln hinzu und erließen einen gemeinsamen Beschluss. 18 Verfahren wurden bei Erscheinen dieses Artikels noch geprüft, der Rest wurde aus verfahrenstechnischen Gründen ausgesetzt oder zur Überarbeitung zurücküberwiesen. 

    Ein FSB-Offizier eskortiert einen Gefangenen, der Informationen über militärische Einrichtungen und die Krym-Brücke an den ukrainischen Geheimdienst weitergegeben haben soll. 27. September 2024 © Russian Federal Security Service, TASS Publication / IMAGO

    Die Gesamtzahl solcher Verfahren nehme, so die ukrainische Krym-Vertretung gegenüber Graty, in Russland seit der vollumfänglichen Invasion tendenziell ab, da es weniger Antikriegsbekundungen gäbe, während sie auf der besetzten Krym zunähmen: „2022 machten Fälle auf der Krym in der allgemeinen Gerichtsstatistik 4,4 Prozent aus, 2023 bereits 13,3 Prozent. Zur gleichen Zeit tauchten in der allgemeinen russischen Gerichtsstatistik im Jahr 2023 44 Prozent weniger Fälle auf als 2022, während auf der Krym für 2023 70,6 Prozent mehr Fälle registriert wurden als im Jahr 2022. Noch deutlicher zeigt es die Statistik über verhängte Bußgelder für die Krym: 2022 machten die nach Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation verfolgten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik aus, im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent.“ 

    2022 stellten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik,  
    im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent. 

    Diesen Daten zufolge werden in der Regel Bußgelder als Strafe verhängt, wobei die Praxis von Gericht zu Gericht unterschiedlich ist. So betrage die Geldbuße am städtischen Gericht von Armjansk in der Regel etwa 30.000 Rubel (ca. 300 Euro – dek), während Geldbußen an anderen Gerichten bis zu 40 oder 50.000 Rubel betragen können. Laut Vertretung des Präsdenten in der Autonomen Republik Krym verhängte jenes Gericht von Armjansk zum Beispiel im März dieses Jahres eine Geldstrafe von 30.000 Rubel gegen einen Mann, der „einen Post mit einer Straßenbahn und der Aufschrift ‘Russen, geht (vulgäre Sprache) ’ veröffentlichte“. Im April wurde eine Frau zu einer Geldstrafe in gleicher Höhe verurteilt, weil sie in Telegram „öffentliche Handlungen begangen hat, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“. Konkret: Likes für Fotos mit den Aufschriften „Ruhm den Streitkräften der Ukraine“, „Cherson ist Ukraine“, „Kostohrysowe ist Ukraine“, „Nowa Kachowka ist Ukraine“ sowie ein zustimmender Kommentar. 

    Ein bedeutender Teil solcher Verfahren wird, so beobachten es die Analysten, während der sogenannten Filtration an den Kontrollpunkten zwischen dem von Russland besetzten Teil der südlichen Regionen der Ukraine und der Krym eingeleitet. Hier werden die Handys und sozialen Netzwerke der Menschen durchforstet. Hiernach eingeleitete Verfahren werden dann in der Regel vor den Gerichten von Armjansk oder Dschankoj verhandelt.  

    Die Vertretung des Präsidenten der Ukraine auf der Krym weiß auch von mindestens acht Strafverfahren, die an den Besatzungsgerichten auf der Halbinsel verhandelt wurden: zwei nach dem Artikel über die „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation sowie befugtes Handeln der Behörden“ (Art. 207.3 StGBRF) und sechs wegen „öffentlicher Handlungen, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“ (Art. 280.3 StGBRF), auch bekannt als „wiederholte Diskreditierung“. 

    Doppelte Verfahren 

    Ein Beispiel ist die strafrechtliche Verfolgung von Andrij Biloserow, einem ehemaligen Lehrer der Technischen Schule in Bilohirsk: Im Dezember 2022 stellte ihn ein von Russland kontrolliertes Gericht in Simferopol für einen Post auf VKontakte über den russischen Beschuss von Zivilisten in Donezk und anderen ukrainischen Städten für zwei Monate unter Hausarrest. Da Biloserow aber schonmal von Besatzungsgerichten wegen „Diskreditierung“ mit Ordnungswidrigkeiten dafür belangt worden war, dass er seinen Schülern das Lied „Bayraktar“ vorgespielt habe, wurde der Post als Wiederholungstat eingestuft und ein Strafverfahren eingeleitet. 

    In einigen Fällen erstellten die russischen Sicherheitskräfte auch gleich zwei Ordnungswidrigkeitsverfahren gleichzeitig: sowohl wegen „Diskreditierung“ als auch wegen „Darstellung von Nazi- oder extremistischen Symbolen“ (Artikel 20.3 GORF). Laut der Krym-Vertretung wurden seit der russischen Besetzung der Krym insgesamt 681 solcher Fälle dokumentiert, Tendenz steigend: vier im Jahr 2014, sechs im Jahr 2015, 19 im Jahr 2016, 25 im Jahr 2017, 23 im Jahr 2018, 47 im Jahr 2019, 32 im Jahr 2020, 46 im Jahr 2021, 103 im Jahr 2022, 167 im Jahr 2023 und 138 bislang im Jahr 2024. 

    Moskau bestimmt, was verboten ist 

    Auch die Menschenrechtsorganisation Krymski Prozes verzeichnete einen Anstieg von Ordnungswidrigkeitsstrafen wegen sogenannter „Nazi-Symbole“ und „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ gegen Menschen auf der besetzten Krym. Am 18. Januar hatte das russische Justizministerium eine Liste veröffentlicht, die Organisationen sowie ihre Symbole und Attribute verbietet, die angeblich gegen Artikel 6 Absatz 6 des russischen Gesetzes „Über die Aufrechterhaltung des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg von 1941-1945“ verstoßen. Als solche „Nazi-Organisationen“ stufte das Justizministerium unter anderem die Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN), die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die Ukrainische Revolutionäre Volksarmee (UNRA) sowie die Ukrainische Volksselbstverteidigung (UNS) ein. Verboten wurden außerdem der Gruß „Slawa Ukrajini“, mehrere Versionen des Dreizacks, das OUN-Emblem und die schwarz-rote Flagge. 

    Zeichnung hatte nur eines mit Bataillons-Emblem gemeinsam — das Tamga , das in Russland nicht verboten ist. 

    Laut den Analysten wird von den Besatzungsgerichten auf der Krym besonders häufig der Wortlaut „Symbole extremistischer Organisationen“ sowie „andere verbotene Symbole“ verwendet, welche jedoch nirgends konkretisiert sind. „Ein offensichtlicher Fall ist hier das Verfahren gegen den unabhängigen Anwalt Olexii Ladin, dem vorgeworfen wurde, ‘andere verbotene Symbole’ gezeigt zu haben, nämlich das Wappen des nach Noman Tschelebidshikhan benannten Freiwilligenbataillons der Krymtataren, das 2022 als terroristische Organisation eingestuft wurde. In seiner Entscheidung bezieht sich das Gericht auf die Schlussfolgerungen eines namentlich nicht genannten Spezialisten, der feststellte, dass die Symbolik in Form des kleinen Wappens der Ukraine mit der Überlagerung des Bildes des Krymtatarischen Emblems von den ‘Kämpfern’ dieser Gruppe während der Anti-Terror-Operation in der Südostukraine, bei der Blockade der Krym und der speziellen Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine verwendet wurde“, heißt es in der Studie von Krymski Prozes über die Verfolgung pro-ukrainischer Einstellungen unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Extremismus und Nationalsozialismus vom 24. Juni 2024. 

    Tatsächlich hatte Ladin auf Facebook eine Zeichnung eines Schülers veröffentlich, die nur eines mit dem Bataillons-Emblem gemeinsam hat — das Tamga (Wappensymbol der Krymtataren – dek), das in Russland nicht verboten ist. 

    Härtere Strafen in veröffentlichten Fällen 

    In der erwähnten Studie stellen Analysten von Krymski Prozes fest, dass in Fällen, wo die Festnahme in propagandistischen Medien verbreitet wurde, das Gericht später häufig härtere Strafen nach mehreren Artikeln verhängt. „Dies führt als zusätzliches Argument zu der Schlussfolgerung, dass das Gericht nur ein abhängiges Instrument ist, das die repressive Politik gegen pro-ukrainische Bürger in den besetzten Gebieten der Krym legitimiert“, heißt es in dem Bericht.  

    Nach Angaben von Krymski Prozes erschienen die ersten „Entschuldigungsvideos“ wegen pro-ukrainischer Einstellungen bereits im August 2022. Aktivisten der Organisation bezeichnen diese außergerichtliche Praxis als zusätzliche Strafmaßnahme zur eigentlichen Ordnungswidrigkeit. Diese Praxis ziele besonders auf der annektierten Krym auf die Einschüchterung der Bevölkerung unter der Besatzung ab und zwinge sie dazu, ihre pro-ukrainischen Einstellungen zu verbergen.  

    „Strafmaßnahmen können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort umfassen“ 

    „Ein häufig festgestellter Trend ist eine ganze Reihe zusätzlicher Strafmaßnahmen. Diese können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort sowie die Verbreitung von Videos in sozialen Netzwerken und kontrollierten Medien umfassen, bei denen die Festgenommenen zu Handlungen gezwungen werden, die die Menschenwürde verletzen“, erklärt die Organisation gegenüber Graty. „Oft werden die Bewohner der besetzten Gebiete zu einer Entschuldigung für ihre Überzeugungen vor laufender Kamera gezwungen, manchmal gehen die Sicherheitskräfte in der Demütigung noch viel weiter: Sie ziehen den Gefangenen russische Militäruniformen an, verlangen, die russische Hymne zu singen und ihre Unterstützung für die russische Militäraggression, Putins Politik oder anderes zu verkünden.“  

    Nach Angaben von Aktivisten wurden diese Veröffentlichungen meist durch den prorussischen Blogger Alexander Talipow initiiert, der mit dem bereits erwähnten Telegram-Kanal Krymski Smersch in Verbindung steht. Dessen Infos werden oft von anderen Kanälen und unter der Besatzung tätigen prorussischen Medien aufgegriffen.  

    Wer sind Alexander Talipow und sein „Genosse Major“? 

    Alexander Talipow ist ein ehemaliger Grenzsoldat aus Sudak, prorussischer Aktivist und Blogger auf der besetzten Krym. Er war Gründer der Telegram-Kanäle TalipoV, Online Z und Krymski Smersch (benannt nach dem sowjetischen Geheimdienstnetzwerk „Tod den Spionen“, das während des Zweiten Weltkriegs tätig war – Graty). Auf diesen Kanälen veröffentlicht er persönliche Daten und Kontakte von Menschen, die die Ukraine unterstützen, eine Antikriegsposition einnehmen oder die Besatzungsmacht kritisieren, verbunden mit Aufrufen an die Abonnenten, jene online zu belästigen oder mit Kontaktaufnahme durch den „Genossen Major“ zu drohen.  

    Talipow verbreitet Propagandabotschaften und anti-ukrainische Memes und postet in Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften Videos mit erzwungenen „Entschuldigungen“. Er war auch ein wichtiger Zeuge im Prozess gegen Bohdan Sisa, einen Künstler und Performer von der Krym, der im Juni letzten Jahres zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er bei einer Aktion gegen die russische Aggression ein Gebäude der Besatzungsverwaltung mit blauer und gelber Farbe begossen und dann in Brand gesteckt hatte. 

    „Krymski Smersch in Russland als zivilgesellschaftliche Organisation registriert“ 

    Für seine Tätigkeit erhielt Talipow verschiedene Auszeichnungen und Dankesurkunden von den russischen Besatzungsbehörden auf der Krym. Er sammelt auch Geld, um die russische Besatzungsarmee im Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Am 11. Juli 2024 wurde Krymski Smersch als zivilgesellschaftliche Organisation in Russland registriert. 

    Aufgrund all dieser Aktivitäten eröffnete die ukrainische Staatsanwaltschaft der Autonomen Republik Krym im Jahr 2022 ein Verfahren wegen Anstiftung zu ethnischer Feindseligkeit und Hass in Verbindung mit Bedrohungen (Art. 161, Abs. 2 StGBUKR) sowie ein weiteres im Jahr 2023 aufgrund des Verdachts der Unterstützung des Aggressorstaates (Art. 111.2, Abs. 1 StGBUKR). Talipow behauptet, die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden hätten bereits mindestens vier Verfahren gegen ihn eingeleitet. 

    Am 12. Juli 2023 meldete Talipow einen Anschlagsversuch auf ihn: Jemand habe im Hof seines Hauses in Feodossija ein Moped in die Luft gesprengt. Am 15. Juli 2024 wurde bekannt, dass die Besatzungsbehörden auf der Krym ein Verfahren gegen zwei Personen wegen der Organisation eines Attentats auf Talipow, mutmaßlich im Auftrag der ukrainischen Geheimdienste, eingeleitet haben. 

    Weitere Themen

    Krim. Sommer

    Krim-Quiz

    Archipel Krim

  • Die vergiftete Desna

    Die Umweltzerstörung ist eine der weniger beachteten Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine, so sehr sich ukrainische Vertreter und internationale Unterstützer auch bemühen, Hinweise und Belege für einen Ökozid zusammenzutragen.  

    Fehlgeleitete oder von der Flugabwehr abgeschossene Raketen verursachen Waldbrände. Schützengräben durchziehen ganze Landstriche, je näher man der über 1.200 Kilometer langen Front kommt. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023 trocknete Stauseen aus und veränderte Flussläufe. Explodierende Minen führen zu Feld- und Steppenbränden. Alle Kämpfe verunreinigen Luft, Boden und Grundwasser, besonders wenn der Beschuss Industrieanlagen trifft. Die Kriegsfolgen für die Umwelt sind vielfältig, die Zuordnung von Verantwortlichen oder gar juristischer Schuld schwierig.  

    Jüngstes Beispiel ist die Verschmutzung zweier Flüsse im Grenzgebiet der Ukraine und Russlands. Diese Gegend hat die Kursk-Offensive der ukrainischen Armee seit Sommer 2024 zu einem neuen, intensiv umkämpften Kriegsschauplatz gemacht. Gerade dort entdeckten Anwohner und Behörden im August tonnenweise tote Fische und Chemikalien im Flusswasser – zunächst im Seim, dann in der Desna. Da Letztere im Norden von Kyjiw in den Dnipro fließt, galt im September gar die Trinkwasserversorgung der Hauptstadt als gefährdet. Spekulationen über den Auslöser reichen von absichtlicher Vergiftung durch Russland bis zu Austritt von Giftstoffen durch Beschuss einer Fabrik in Flussnähe. 

    Reporter des Onlinemediums Frontliner sind darum die Desna von Kowtschyn im Norden der Region Tschernihiw gen Süden abgefahren und haben sich ein Bild vom Ausmaß der Verschmutzung und den örtlichen Auswirkungen gemacht.  

    Eine Anwohnerin im Dorf Ladynka, Oblast Tschernihiw, schaut auf den verschmutzten Fluss Desna, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Eine Anwohnerin im Dorf Ladynka, Oblast Tschernihiw, schaut auf den verschmutzten Fluss Desna, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Die Wasserqualität der Desna verbessert sich, der Fluss wird sauberer. Das berichtet im September die Dorfverwaltung in Kulykiwka (Region Tschernihiw). Wie das nationale Umweltministerium bestätigt, verlangsamt sich die Verschmutzung. Belüftungsanlagen sind (zur Wasserreinigung – dek) in Betrieb genommen. Das Schwimmen und Angeln in der Desna ist dennoch weiterhin verboten.  

    Am 28. August 2024 ereignete sich infolge der Verschmutzung des Flusses Seim eine Umweltkatastrophe. Ausgangspunkt war die Oblast Kursk in der Russischen Föderation, die Quelle der Verschmutzung eine Zuckerraffinerie in Tjotkino, aus der mehr als 5.000 Tonnen Erzeugnisse der Rohstoffverarbeitung ins Wasser gelangt sind, sagt der Direktor des Instituts für Hydrobiologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Serhij Afanasjew. Nach Angaben der staatlichen Umweltinspektion erstreckte sich die Verschmutzung der Desna über eine Strecke von 242 Kilometern.   

    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna im Dorf Awdijiwka, Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna im Dorf Awdijiwka, Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Die Einwohner der Regionen Sumy und Tschernihiw waren besonders von der Freisetzung giftiger Substanzen betroffen. Die Gemeinderatsvorsitzende Julija Posternak aus Kulykiwka berichtet:  

    „Es war furchtbar. Die Desna fließt durch unsere Gemeinde und bestimmt das Leben der Menschen hier. Wir haben sofort alle über die Gefahr informiert, und das Schwimmen sowie das Trinken von Wasser aus dem Fluss verboten. Fünf Tage nach der Verschmutzung begann das Fischsterben. Am schlimmsten war es zehn Tage nach der Verschmutzung: Der Gestank war so stark, dass man keine zehn Meter an den Fluss herantreten konnte. Jetzt ist die Situation besser und das Wasser sauberer.“ 

    Auch Iwan Mychailowytsch, ein Angler aus dem Dorf Kowtschyn, berichtet, was er so noch nie erlebt habe: 

    „Der Gestank war unerträglich. Es roch wie in der Kanalisation. Das ist nicht normal“, erzählt der Anwohner. 

    Iwan Mychailowytsch kommt vom Fischen in einem der Seen bei Kowtschyn in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Iwan Mychailowytsch kommt vom Fischen in einem der Seen bei Kowtschyn in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Seitdem regeneriert sich die Desna schrittweise, wie Olena Kramarenko, stellvertretende Ministerin für Umweltschutz und natürliche Ressourcen der Ukraine, einschätzt: 

    „Am Übergang des Seim in die Ukraine, dort wo die Verschmutzung zuerst festgestellt wurde, hat der Gehalt an gelöstem Sauerstoff im Wasser die Norm von vier Milligramm pro Kubikdezimeter erreicht. Ein Fischsterben wird nicht mehr beobachtet. In der Desna ist die Verschmutzung zurückgegangen. Sie wird punktuell erfasst und ist unterschiedlich stark. In der Oblast Tschernihiw gibt es drei Belüftungsanlagen. In der Oblast Kyjiw werden zusätzliche Belüftungssysteme installiert“, sagt Olena Kramarenko. 

    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Allerdings sei es noch zu früh, das Wasser sicher für den Haushaltsbedarf zu nutzen. Schwimmen und Angeln in der Desna bleiben komplett verboten. Laut Serhij Afanasjew vom Hydrobiologie-Institut werden die Ökosysteme der Flüsse Seim und Desna zwei bis drei Jahre brauchen, um sich zu erholen.  

    Die durch Russlands Krieg verursachte Umweltkatastrophe betrifft womöglich auch nicht nur die Bewohner der Regionen Sumy und Tschernihiw, sondern kann auch die Qualität des Trinkwassers in der Hauptstadt beeinträchtigen. Die Stadtverwaltung Kyjiw bereitet sich auf das Worst-Case-Szenario vor und legt Vorräte an sauberem Trinkwasser an.

    „Achtung! Aufgrund von nachgewiesenen Giftstoffen ist das Baden, Angeln und die Wasserentnahme für Nutztiere aus dem Fluss Desna verboten“, Aushang im Dorf Awdijiwka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    „Achtung! Aufgrund von nachgewiesenen Giftstoffen ist das Baden, Angeln und die Wasserentnahme für Nutztiere aus dem Fluss Desna verboten“, Aushang im Dorf Awdijiwka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Auch langfristige Vorhersagen darüber, wie sich die Verschmutzung des Flusses Seim auf das Ökosystem der Ukraine auswirken wird, sind noch kaum möglich. Nach Angaben des amtierenden Leiters der staatlichen Umweltinspektion, Ihor Subowytsch, wurden infolge der Verschmutzung aus Russland bereits 31.000 tote Fische geborgen. Die Desna könne sich zwar selbst regenerieren, doch bislang entsprächen die physikalischen und chemischen Parameter des Wassers nicht der Norm. Die ukrainische Agentur für Wasserressourcen und die Umweltinspektion setzen ihre verstärkte Krisenüberwachung des Wasserzustands fort. 

    Anfang Oktober erklärt das Umweltschutz-Ministerium, dass schon an neun Orten Belüftungsanlagen in Betrieb seien, um weitere Vergiftung der Desna zu verhindern: sechs in der Oblast Tschernihiw und drei in der Oblast Kyjiw. Das Wasser wird dabei künstlich mit Sauerstoff gesättigt, was den Prozess der Selbstreinigung des Flusses unterstützt. Bislang sei für Kyjiw und Umgebung keine Verschlechterung der Wasserqualität für die Verbraucher festzustellen.  

    Die Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    In der Oblast Tschernihiw ist das Fischen an der Desna nach wie vor verboten, auch wenn das Massensterben der Fische aufgehört hat. Umweltschützer nehmen weiterhin Wasserproben und untersuchen diese auf mögliche giftige Substanzen, um die Bevölkerung im Falle einer erneuten Kontamination rechtzeitig über die Gefahren der Trinkwasserentnahme aus der Desna zu informieren. 

    Weitere Themen

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Kriegsferien in Mariupol

    Die Hexen von Butscha

    Moos und Öl

    Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

    Graues Land Kusbass

  • Bilder vom Krieg #23

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Sitara Ambrosio 

    Die Veranstaltung CMYK in Kyjiw bringt traditionelle ukrainische Musik und Rave-Kultur zusammen / Foto © Sitara Ambrosio
    Beim Pride Hub in Charkiw im September 2024 zeigen Masha Kovaliova, 28, und Darka Batinska, 25, offen ihre Liebe zueinander / Foto © Sitara Ambrosio

     

    dekoder: Sie haben gerade zwei Monate in Kyjiw verbracht, was ist der Fokus Ihrer Arbeit in der Ukraine? 

    Sitara Ambrosio:  Zusammen mit meiner ukrainischen Kollegin Yana Radchenko arbeite ich an einer großen Recherche über Kriegsverbrechen an queeren Menschen in der Ukraine. Das Projekt wird vom Journalisten-Netzwerk N-Ost unterstützt. Gleichzeitig interessiere ich mich auch grundsätzlich für queeres Leben in der Ukraine und dafür, was sich durch den Krieg verändert hat.  

    Sind queere Menschen denn besonderes Ziel von Kriegsverbrechen?  

    Aktuell gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass die russischen Truppen eine Anordnung oder einen Befehl haben, nach LGBT*Q-Personen zu suchen. Aber man muss wohl davon ausgehen, dass man als queere Person einer besonderen Gefahr ausgesetzt ist, Opfer von Folter zu werden, wenn russische Truppen eine Stadt besetzt halten. Beispiele dafür kennen wir etwas aus Cherson. Dort dokumentieren wir aktuell Fälle, bei denen Betroffene aufgrund ihrer Sexualität Misshandlungen erlebt haben. Daran sollte man auch denken, wenn man davon spricht, Teile der Ukraine an Russland abzutreten um des Friedens willen: Menschen, die schwul, lesbisch oder transsexuell sind, könnten dort dann nicht mehr leben.  

    Eines Ihrer Bilder zeigt einen Rave in Kyjiw. Was ist die Geschichte dazu?  

    Seit anderthalb Jahren gibt es in Kyjiw eine spannende Veranstaltungsreihe: Sie verbindet traditionelle ukrainische Musik und elektronische Musik. Bei diesem Rave gab es ein DJ-Pult, aber es wurde auch auf traditionellen Instrumenten gespielt. Es ist spannend zu sehen, wie die junge Generation, die so sehr darum kämpft, den Fortschritt in der Ukraine voranzubringen, gleichzeitig an Traditionen anknüpft und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht. An diesem Abend waren auch viele queere Menschen da. Sie feiern und halten dabei ihre Traditionen hoch. Traditionen aufleben zu lassen und ein fortschrittliches Verständnis von Geschlechterrollen zu leben, muss kein Widerspruch sein. 

    Kann man das denn auf die ganze Ukraine übertragen? 

    Man muss schon ehrlich sagen, dass es in der ukrainischen Gesellschaft noch sehr festgeschriebene Geschlechterrollen gibt. Es kann für queere Menschen in der Ukraine auch durchaus gefährlich sein. Sie sind immer wieder Angriffen ausgesetzt. Die Ehe für alle ist in der Ukraine auch noch nicht legal. Das hat im Krieg gravierende Auswirkungen: Einerseits kämpfen ja auch queere Personen an der Front. Aber wenn eine von ihnen fällt, dann hat der Partner oder die Partnerin nicht dieselben Rechte wie Verheiratete. Etwa wenn es darum geht, über den Körper zu verfügen und eine Beerdigung zu organisieren. 

    Auf dem zweiten Bild sehen wir Teilnehmerinnen eine Pride-Veranstaltung in Charkiw. Die Fassade im Hintergrund trägt Spuren von Geschossen. Ein Pride mitten im Krieg, wie passt das zusammen? 

    Charkiw ist seit Beginn des Krieges unter Beschuss. Diese Spuren sind Einschlagstellen von Schrapnells. Also wenn irgendwo in der Nähe eine Rakete oder eine Drohne niedergeht, dann werden diese Trümmerteile von der Wucht der Explosion durch die Straßen geschleudert. Tatsächlich sehen die meisten Häuser in der Stadt inzwischen so aus. In diesem Gebäude ist das Büro von Charkiw Pride untergebracht. Es bietet einen doppelten Schutz: Einmal ist ein hinterer Raum als Luftschutzkeller ausgewiesen, bei dem die Menschen bei Alarm Zuflucht finden können. Und zum anderen lassen sich die zwei Türen des Büros doppelt verriegeln, um Schutz vor einem queerfeindlichen Angriff zu bieten. 

    Eine Loslösung von Russland, wo der Staat offen homophob auftritt, bedeutet also noch nicht automatisch eine liberalere Gesellschaft? 

    Dieses Land steht gerade auf dem Prüfstand. Eine junge Demokratie wird angegriffen und soll unter den Bedingungen eines Krieges beweisen, wie es weiter geht mit demokratischen Werten und Menschenrechten. Immerhin werden queere Veranstaltungen in der Regel sehr gut von den Behörden geschützt. Dieses Foto ist während des Pride Wochenendes entstanden. Da haben hintereinander drei unterschiedliche Veranstaltungen stattgefunden. Alle mussten von der Polizei geschützt werden. Ohne geht es nicht, weil es immer wieder zu Angriffen durch homophobe rechte Gruppen kommt. Auch die Kyjiw Pride wurde angegriffen. Soweit ich das mitbekommen habe, sind die Behörden aber mittlerweile sehr zugänglich. Die Kommunikation mit der Polizei und mit den Sicherheitskräften ist sehr gut. Das war nicht immer so. Unter den Bedingungen eines Krieges für eine offenere Gesellschaft zu kämpfen, ist extrem schwierig. 

     

    Fotografie: Sitara Thalia Ambrosio  
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 14.10.2024 

    Weitere Themen

    Bilder vom Krieg #20

    Bilder vom Krieg #21

    Hass im Donbas

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Kriegsferien in Mariupol

    Bilder vom Krieg #22

  • Die Hexen von Butscha

    Die Hexen von Butscha

    In der Kyjiwer Vorstadt Butscha hat sich die erste Freiwilligen-Flugabwehreinheit der Ukraine gegründet, in der nur Frauen dienen: Einerseits, weil es mit dem anhaltenden Krieg immer mehr an Männern mangelt. Andererseits, weil eigene Erfahrungen und Verluste durch den russischen Aggressor seit dem brutalen Massaker an der Zivilbevölkerung im Frühjahr 2022 diese Frauen zur Landesverteidigung motiviert. 

    Wenn der Arbeitstag als Ärztin oder Lehrerin endet, Kinder und Familie versorgt sind, dann kommen diese Frauen zum Militärtraining und schieben Bereitschaftsdienste bei der lokalen Flugabwehr: Nähern sich russische Drohnen oder Raketen vom Nordwesten der Hauptstadt, stehen die „Hexen von Butscha“ bereit, um die todbringenden Geschosse unschädlich zu machen. Ihre Vorgesetzten im Verteidigungsstab sind weiterhin Männer. Einer von denen sagt: „In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer.“ 

    Ein Reporter-Team des ukrainischen Onlinemediums Frontliner hat die erste Flugabwehr-Frauentruppe bei Militärübungen besucht und stellt einige der Kämpferinnen vor. 

    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Eine zierliche Frau reinigt ein Maschinengewehr und gießt Wasser hinein. Sie erzählt: „Meine Aufgabe ist es, das Maschinengewehr mit Wasser zu füllen, es zu zerlegen und zusammenzubauen, das Wasser abzugießen und die Waffe in Kampfstellung zu bringen.“ Wie ein Maschinengewehr funktioniert, hat sie gelernt, als sie sich der Einheit „Hexen von Butscha“ anschloss, die den Himmel über der Region Kyjiw vor russischen Drohnen und Raketen schützt. 

    Die Gemeinde von Butscha beschloss aufgrund der demografischen Situation in der Stadt, die ersten mobilen Flugabwehrtrupps in der Ukraine zu bilden, die ausschließlich aus Frauen bestehen. Während der Besatzung von Butscha wurden fast alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die die Stadt nicht verlassen konnten, umgebracht. Insgesamt wurden in der Stadt mehr als 600 Menschen getötet und zu Tode gefoltert. Die Russen erschossen in Butscha ganze Familien. Nach der Befreiung gingen viele Männer der Stadt an die Front. Der lokale Freiwilligenverband brauchte dann eine Fraueneinheit. 

    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Zu den „Hexen von Butscha” gehören Frauen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlicher Bildung, aus verschiedenen Berufen und mit unterschiedlicher Lebenserfahrung. Doch jede hier sei eine Kämpferin, sagt der Stabschef mit Kampfnamen „Weles“ vom Freiwilligenverband Butscha: 

    „Männer sind stärker und eher bereit zu vehementem, aggressivem Handeln. Frauen dagegen sind reflektierter, organisierter und verantwortungsbewusster. Unsere ukrainischen Frauen sind Kosakinnen, sie sind vielen Orks überlegen. In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer“, so „Weles“. „Ein Kämpfer zu sein, bedeutet, mehr als Mann oder Frau zu sein. Dann ist man ein Mensch, der Verantwortung für sich selbst, für das Land und für die Menschen übernimmt, die er verteidigt.“ 

    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Die Frauen gehen alle drei Tage in den Kampfeinsatz, dadurch können sie den Dienst mit ihrem zivilen Leben verbinden. Manche der „Hexen von Butscha” erziehen neben ihren Einsätzen zum Schutz des Luftraums noch zwei oder drei Kinder und arbeiten Vollzeit. Die Einwohner von Butscha statten den Freiwilligenverband mit Ausrüstung und Waffen aus. Geld bekommen die Kämpferinnen jedoch nicht, denn sie tun ihren Dienst bei der Flugabwehr als Freiwillige. 

    Die zwei unzertrennlichen Freundinnen „Mala” und „Forsash” sind gemeinsam der mobilen Flugabwehrtruppe beigetreten. Gemeinsam trainieren sie nun, Sturm- und Maschinengewehre zu reinigen, zu laden, damit zu schießen und in Abschnitten zu patrouillieren. Neben ihrem Dienst bei den „Hexen von Butscha” arbeiten sie in einem Krankenhaus. 

    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Mala“, 26 Jahre  

    „Mala“ [ukr. die Kleine] ist Maschinengewehrschützin und lernt schnell den Umgang mit der Waffe. Es ist ein Maschinengewehr aus dem Jahr 1944, noch aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Sie nennt es liebevoll „Maximka“. Obwohl es aus dem letzten Jahrhundert stamme und ein vormodernes Wasserkühlsystem habe, schieße es gut, wenn es richtig gewartet werde, meint sie. 

     „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Mala“ trainiert seit einem Monat bei den „Hexen von Butscha”. Als der Freiwilligenverband die Rekrutierung von Frauen zur Flugabwehr ankündigte, schloss sie sich ihm sofort an. „Ich wollte schon länger dienen, denn in meiner Familie sind viele bei der Armee, aber ich kann nicht zu den Streitkräften gehen, weil ich als Ärztin in einem Krankenhaus arbeite“, sagt sie. 

    Eine zusätzliche Motivation, sich der mobilen Flugabwehrgruppe anzuschließen, war die schwere Verletzung ihres Freundes, der im Serebrjanka-Wald durch eine Mine sein Bein verlor. Ihr Freund bestärkte ihre Entscheidung, sich freiwillig zu melden, und plant auch selbst, nach der Rehabilitation seinen Dienst bei „Asow” fortzusetzen. 

    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Forsash”, 27 Jahre  

    Mit „Mala” im Team arbeitet „Forsash”. Sie dient als Ladeschützin und Fahrerin. Bei einem Luftangriff muss sie schnell das Maschinengewehr laden und in Gefechtsstellung bringen. Ihren Kampfnamen (ukrainischer Titel des Films „Fast & Furious” – dek) gab ihr der Waffenmeister, als er das erste Mal mit ihr als Fahrerin unterwegs war. 

    „Forsash“ meint, dass Schnelligkeit für die mobilen Flugabwehrtrupps essentiell sei, da die Shahed-Drohnen sehr schnell fliegen (etwa 200 Stundenkilometer – dek). Nur wenn man die Position rechtzeitig erreicht, kann man sie abschießen. 

    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Forsash“ kam vor einem Monat zu der Flugabwehreinheit, um ihre Angehörigen zu schützen. „Niemand möchte, dass seine Wohnung von einer Rakete getroffen wird. Ich habe hier meine Brüder, Schwestern, Freunde, Pateneltern und Patenkinder in Butscha“, sagt sie. Sie mag es, etwas Nützliches zu tun und freut sich, dass sie ihren Dienst im Freiwilligenverband mit ihrer Arbeit als Anästhesistin auf der Intensivstation im Krankenhaus von Irpin verbinden kann. 

    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Sowohl „Mala” als auch „Forsash” arbeiteten während der Kämpfe um Butscha und unter russischer Besatzung weiter in der medizinischen Einrichtung. Nun sind sie froh, dass sie ihren Militärdienst mit ihrem Beruf verbinden können. Es sei zwar anstrengend, im Krankenhaus und in der Territorialverteidigung Schichten zu absolvieren. Dennoch sagen die Frauen, dass sie sich daran gewöhnt hätten und mit diesen Schwierigkeiten fertig würden. 

    „Tajana”, 41 Jahre  

    Während der Kämpfe um Butscha verlor „Tajana” ihren Mann, der seinen Beruf als Journalist aufgegeben und sich am ersten Tag der Invasion als Freiwilliger der Territorialverteidigung angeschlossen hatte. Ihre Mutter starb aufgrund der ständigen Stressbelastung durch die Kämpfe und auch ihr Schwager kam ums Leben. Während der Besatzung von Butscha wurde ihr Haus und auch das ihrer Eltern zerstört, sodass sie selbst ohne Dach über dem Kopf zurückblieb. Nach dem Tod ihrer Liebsten wollte „Tajana” sich den ukrainischen Streitkräften anschließen, was man ihr jedoch wegen ihrer Traumatisierung zunächst verwehrte.

    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Heute trainiert „Tajana” bei den „Hexen von Butscha” und arbeitet außerdem als Prüferin beim Wasserversorgungsunternehmen. Auch sie sagt, dass es schwierig sei, die Arbeit, ihren Dienst im Freiwilligenverband und die Erziehung ihrer 14-jährigen Tochter unter einen Hut zu bringen. Das Schwierigste sei jedoch nicht die körperliche Erschöpfung, sondern das Unverständnis vieler Menschen: „Nachdem ich mich hierzu entschied, sagten mir Leute: ,Hast du sie noch alle’, ‚Du hast Kinder‘, ‚Warum hast du das gemacht‘, ‚Dein Hauptberuf ist wichtiger, als den Staat zu schützen‘. In solchen Momenten wende ich mich ab und gehe, denn der Schutz unseres Staates ist für mich das Wichtigste, was wir haben.”  

    „Sie verstehen nicht, dass es ohne Sicherheit auch ihren Beruf nicht mehr gibt”,  sagt „Tajana” mit Tränen in den Augen. „Wenn es keine Ukraine mehr gibt, gibt es keine Arbeit, kein Leben, einfach nichts. Nur dank uns Freiwilligen, den Helfern und den Frauen und Männern an der Front, haben sie Arbeit, können schlafen und ihr Leben weiterleben.“ 

    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Für „Tajana” war die Entscheidung, sich dem mobilen Flugabwehrtrupp anzuschließen, durch ihren persönlichen Schmerz bestimmt. Sie sagt, das Training bei den „Hexen von Butscha” habe ihr nach dem Tod ihres Mannes gutgetan. Nun habe sie das Gefühl, endlich wieder zu leben. 

    „Cherry”, 51 Jahre  

    „Cherry” ist durch Zufall bei den „Hexen von Butscha” gelandet. Eigentlich fuhr sie ihre Freundin zu einem Gespräch mit dem Kommandeur und beschloss dann kurzerhand, selbst dem Freiwilligenverband beizutreten. 

    Jetzt dient sie in der Einheit als operative Einsatzleiterin, fährt auf dem Territorium Patrouille und meldet Gefahren. Gleichzeitig arbeitet „Cherry” als Mathematik- und Informatiklehrerin und hat drei Kinder. Sie sagt, dass es schwierig werde, wenn im September die Schule beginne, doch sie möchte etwas zur Gemeinschaft beitragen. 

    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Trotz der körperlichen Herausforderungen genießt „Cherry” ihre Zeit bei den „Hexen von Butscha”. Sie sagt: „Jede hier ist sie selbst, man unterstützt und hilft sich gegenseitig.“ Jeder Ukrainer sollte seinem Land größtmöglichen Nutzen bringen. „Wenn jeder das Land wirklich liebt und schätzt und nicht so tut, als gehe ihn all dies nichts an, wenn jeder ein echter Patriot ist, dann werden wir auf jeden Fall gewinnen. Man darf einander nicht hängen lassen, sondern muss sich nach eigenen Kräften so gut wie möglich unterstützen“, so „Cherry”.  

    Sie ist froh, dass ihre Familie und Freunde ihre Entscheidung für die Territorialverteidigung unterstützen, und glaubt, dass auch ihre Schüler stolz auf sie sein werden. 

    „Kalypso“, 31, Kommandeurin der „Hexen von Butscha” 

    „Kalypso” kam als erste Frau zum Freiwilligenverband in Butscha. Mit ihr begann die Gründung der Fraueneinheit. Deshalb wurde sie zur Kommandeurin ernannt. 

    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Als die vollumfängliche Invasion begann, brachte sie ihre Mutter an einen sicheren Ort und griff selbst zur Waffe. Zunächst arbeitete „Kalypso” in einer schnellen Eingreiftruppe, welche die Gegend patrouillierte und Bombenschutzkeller kontrollierte, um sicherzustellen, dass sie während der Luftalarme nicht verschlossen waren. Außerdem beteiligte sie sich an der Bekämpfung von Saboteuren. Jetzt bildet sie neue Freiwillige aus, um den Himmel über der Region Kyjiw zu schützen. 

    Vor dem Krieg leitete Kalypso die Serviceabteilung einer Ladenkette, die Türen verkauft und arbeitete als Restaurantmanagerin. „Jetzt habe ich keine Zeit mehr für das zivile Leben und widme mich ganz meiner Arbeit im Freiwilligenverband. Es wäre toll, wenn in der ganzen Ukraine Frauen ihre Familien schützen könnten. Wir arbeiten im Team. Jede einzelne ist für die anderen da“, erzählt sie. 

    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Kalypso” ermutigt andere Frauen, sich den „Hexen von Butscha” anzuschließen. Sie sagt: „Wir haben zwar Waffen, aber nicht genügend Hände, um sie zu bedienen, also suchen wir ständig nach Freiwilligen. Viele Männer haben Angst, dass sie zur Armee eingezogen werden, wenn sie sich beim Freiwilligenverband melden, also rekrutieren wir Frauen.“ 

    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Laut Stabschef „Weles“ machen Frauen bereits mehr als die Hälfte im gesamten Freiwilligenverband von Butscha aus. Ihre Zahl ist jedoch nicht ausreichend, weshalb die Rekrutierung fortgesetzt wird, um die „Hexen von Butscha” aufzustocken. 

    „Weles” ist stolz auf die Frauen, die sich dem mobilen Flugabwehrtrupp angeschlossen haben: „Dank ihnen können die meisten Menschen in Kyjiw und unsere Bewohner in Butscha friedlich in ihren Häusern schlafen und reagieren oft nicht einmal mehr auf Luftalarm.“ 

    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Weitere Themen

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Das Massaker von Butscha

    Entfesselte Gewalt als Norm

    Kampf zurück ins Leben

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Bilder vom Krieg #22

  • Schulen im Untergrund

    Die russischen Besatzungsbehörden setzen an ukrainischen Schulen in den okkupierten Gebieten zunehmend eigene Lehrinhalte durch: Ukrainisch als Unterrichtssprache stirbt, auf dem Programm stehen vermehrt Militarisierung und anti-ukrainische Propaganda. Es gibt zahlreiche Meldungen über Drohungen, Haft und Folter an Lehrpersonen und Lernenden, die sich geweigert hatten, die oktroyierten Änderungen umzusetzen. 

    Laut Schätzungen vom April 2023 leben rund eine Million ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter in den von Russland besetzten Gebieten. Die Russifizierung des ukrainischen Bildungssystems verstößt unter anderem gegen ihr Recht auf Bildung. Etwa 62.400 Kinder nehmen laut ukrainischem Bildungsministerium weiterhin am Online-Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teil. Sie begeben sich in unmittelbare Gefahr und müssen zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. iStories fragt, wie Kinder aus Nowa Kachowka und Melitopol weiterhin an ukrainischen Schulen lernen.

     Foto / Collage: istories
    Foto / Collage: istories

    In den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine gibt es 901 Schulen. Ein Teil davon wurde geschlossen, in anderen geht der Unterricht mit Lehrbüchern aus Russland weiter. Es gibt aber auch Schulen, in denen weiterhin nach den Standards des ukrainischen Bildungssystems unterrichtet wird, und zwar online.  

    Diese Schulen zu besuchen, wenn man sich in den besetzten Gebieten befindet, ist gefährlich. Deshalb verstecken die Eltern die USB-Sticks mit den Hausaufgaben und Lehrmaterialien und ziehen sogar aus der Stadt aufs Land, um den Kontrollen zu entgehen. 

    Wie sich für Kinder in den besetzten Gebieten seit 2022 das Schulwesen verändert hat, berichten die Direktorin eines Lyzeums in Nowa Kachowka und eine Lehrerin eines landwirtschaftlichen Lyzeums in Melitopol. 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht.“ 

    Iryna Dubas begann ihre Karriere als Lehrerin für Grundschulklassen und leitet jetzt das Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka. Als sie noch stellvertretende Direktorin des Lyzeums war, machte sie ein Volontariat in den USA, um die dortigen Methoden kennenzulernen. Sie war beeindruckt, dass die Kinder in amerikanischen Schulen selbst entscheiden, was sie lernen, und dass die Lehrkräfte ihnen wie auf Augenhöhe begegnen. Als Direktorin veränderte sie den Bildungsansatz in ihrer Schule. Sie begann mit der Inneneinrichtung: Die Gänge wurden neu gestrichen, es wurden Blumentöpfe aufgestellt, in den Klassenräumen bekamen die Schüler Einzeltische, damit jeder seinen persönlichen Bereich hat. 

    „Die Reinigungsfrauen haben sich heftig beschwert: ‚[Iryna] Petrowna, die Kinder haben alle Spiegel beschmiert!‘ und ‚Petrowna, die Kinder haben die Blumentöpfe umgeworfen!‘ Ich habe da immer ruhig reagiert: ‚Das ist normal. Das heißt nur, dass die Spiegel geputzt und die Pflanzen in Ordnung gebracht werden müssen. Wir werden das so lange machen, bis sich die Schüler dran gewöhnt haben.‘ Ein paar Monate später hat niemand mehr die Blumen angerührt oder etwas auf die Spiegel geschrieben.“ 

    Die wichtigste Veränderung war der Umgang mit den Schülern: „Ich wollte, dass die Kinder fröhlich sind, dass sie zu Hause erzählen, was sie gelernt haben und wie sehr ihnen das gefallen hat. Ich habe die Lehrerinnen eindringlich gebeten, mit den Kindern tolerant und diplomatisch umzugehen, sie wie gleichberechtigt zu behandeln, und ihnen mehr Freiheiten zu lassen. Den Lehrern der älteren Generation missfiel das, ein Teil von ihnen ging. Dafür waren die Kinder glücklicher.“ 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Anna But. Sie hat im Landwirtschaftlichen Lyzeum Melitopol Biologie, Deutsch und politische Bildung unterrichtet: 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht. Ich kann tausend Mal etwas aus dem Lehrbuch wiederholen, aber wenn die Kinder keinen Spaß am Unterricht haben, ist das nichts wert. Deswegen bin ich im Biologieunterricht mit den Kindern an den See neben dem Lyzeum gegangen, damit sie sich selbst alles ansehen können, anfassen können, begreifen können. Und bei der politischen Bildung sind wir ins Stadtzentrum gegangen, wo eine riesige Flagge hing. Ich fragte die Kinder, welche Emotionen das bei ihnen auslöst, und erzählte von meinen eigenen Gefühlen.“ 

    „Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘ “  

    Vom Beginn des großangelegten Krieges erfuhr Anna praktisch von den Schülern. Sie traf morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Nachbarn, der sagte, dass die russische Armee den Flugplatz von Melitopol bombardiert. Anna glaubte ihm nicht, dachte nur, der Mann habe wieder mal einen über den Durst getrunken. Sie ging in ihre Klasse, schrieb auf Deutsch das Datum ‚24. Februar‘ und hörte Lärm aus dem schuleigenen Internat: ‚Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘. Ich geh zum Fernseher und sehe, dass es überall in der Ukraine brennt, überall gibt es Luftangriffe; die Sprecher reden von einer großangelegten Invasion.“ Die Direktorin stellte auf Online-Unterricht um, damit Schüler und Lehrer nicht ins Gebäude des Lyzeums kommen müssen. Am 26. Februar wurde Melitopol von der russischen Armee besetzt. 

    Ab dem 28. Februar ging sie zusammen mit ihrer Tochter, mit Kollegen, Schülern und anderen Bewohnern der Stadt jeden Tag zu den Protesten. Als das Militär begann, Aktivisten gefangen zu nehmen, und es nicht mehr möglich war, in Massen zu protestieren, verteilte Anna in der Stadt Flugblätter und Bändchen in den Farben der ukrainischen Flagge. Sie versuchte auch, ihre Schüler zu unterstützen: „Jetzt war ich nicht mehr Lehrerin, sondern Psychologin. Wir trafen uns mit den Schülern und ihren Eltern bei mir zuhause oder am See in der Nähe des Lyzeums. Ich sagte, alles werde gut, man müsse sich nur zusammenreißen und durchhalten. Mit denjenigen, denen die Flucht gelungen war, telefonierte ich. Ich habe den Schülern gut zugeredet, dass sie jetzt ruhig bleiben und auf sich aufpassen sollen.“ 

    Anna und ihre Tochter protestierten jedoch weiter. Sie machten keinen Hehl aus ihrer proukrainischen Haltung und berichteten in den sozialen Netzen, was in Melitopol vor sich geht. Nach einer Weile bekamen die Frauen Drohungen. Sogar Bekannte schrieben ihnen: ‚Schmort in der Hölle, ihr ukrainischen Schlampen.“ Zu jener Zeit wurden bereits proukrainische Aktivisten entführt, umgebracht und durch die „Keller“ geschickt. Als sie befürchten mussten, denunziert zu werden, verließen die beiden im April 2022 Melitopol. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    Iryna Dubas blieb bis zum August 2022 in Nowa Kachowka. Sie war am 24. Februar gerade in einem Krankenhaus bei Kyjiw gewesen, als ihr Stellvertreter anrief und sagte, in der Stadt gebe es Explosionen und die Kinder seien zusammen mit ihren Eltern zur Schule gekommen. Iryna ordnete an, alle aufzunehmen: In der Schule gab es einen großen Kellerraum, in dem man vor den Angriffen Schutz suchen konnte. 

    Am nächsten Tag wurde in der Schule der Unterricht offiziell eingestellt; der Keller fungierte aber weiter als Luftschutzraum. Iryna beschloss, in die Oblast Cherson zurückzukehren. „Ich musste stark sein. Mein Stellvertreter war in Panik, die Eltern riefen an, und ich sollte allen mit fröhlicher Stimme sagen, dass alles gut wird.“ 

    Die Oblast Cherson war bereits besetzt. Iryna konnte erst am 14. März nach Nowa Kachowka zurückkehren, als eine Überquerung des Dnipro möglich wurde. Zusammen mit den anderen Lehrerinnen ging sie täglich in die Schule. Sie machten mit dem Unterricht weiter, allerdings online. 

    Im April veranstaltete Wladimir Leontjew, das von den Besatzungsbehörden eingesetzte „Stadtoberhaupt“, eine Sitzung. Er versammelte die Direktoren aller Schulen und Kindergärten von Nowa Kachowka. Dort versprach er hohe Gehälter und erklärte, Bildung für die Kinder sei wichtiger als jeder Konflikt. Der Unterricht müsse jetzt aber in russischer Sprache erfolgen, und mit Lehrbüchern aus Russland. 

    Iryna lehnte das sofort entschieden ab. Im Juli, als sie die Schule auf das neue Schuljahr vorbereitete, kamen Vertreter der neuen, prorussischen Verwaltung zu ihr, begleitet von bewaffneten Männern. 

    „Das war [Wjatscheslaw] Resnikow, der ehemalige Direktor der Schule Nr. 10. Den hatten die Besatzer zum Leiter der Bildungsverwaltung ernannt. Mit ihm war Sorjana Us gekommen, die sogenannte Pressesprecherin des ‚Gauleiters‘ und dann drei Typen mit Maschinenpistolen, arme Bengel, die kaum so groß waren wie ihre Knarren. 

    Sorjana und Wjatscheslaw setzten sich, die mit den MPs bauten sich hinter mir auf. Resnikow fing an: ‚Sie sollten mitmachen, Iryna Petrowna. Bei Ihnen läuft alles so gut, sie sind so fortschrittlich. Unsere [die Russen] haben schon fast Mykolajiw und Odessa eingenommen, das ist halt so. Wir sind für die Bildung zuständig. Wenn Sie nicht wollen, werden das andere Direktoren machen.‘ Er gab mir zwei Wochen Bedenkzeit. Für mich war da gar nicht dran zu denken. Ich wollte auf keinen Fall dieses Russland; ich glaubte an den Sieg und war bereit, meine Schule bis zum Letzten zu verteidigen.“ 

    Den Sommer über sammelte das Lyzeum neue Schüler und bereitete den Online-Unterricht auf Ukrainisch vor. Dann wurde die Schule durchsucht und am 18. August wurde Iryna gefangengenommen. 

    Auf der Polizeiwache wurde sie in die „Zelle“ gebracht; in einen Raum wo früher die Passstelle war. Es gab auch andere Gefangene: die Direktorin des Lyzeums Nr. 2 in Nowa Kachowka, Oksana Jakubowa, und ehemalige Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung. Die Frauen hatten praktisch nichts zu essen und zu trinken. Ein altes Dreiliterglas diente als Toilette. Aus Gesundheitsgründen musste Iryna täglich Spritzen bekommen. Jakubowa half ihr dabei. 

    Jeden Tag wurde Iryna zu „Gesprächen“ mit einem Mitarbeiter des FSB geführt, der Umar genannt wurde. Seinen wirklichen Namen kennt Iryna nicht: 

    „Er fragte mich, ob ich nun endlich bereit sei, die Schule ins russische Bildungssystem zu überführen. Er drohte mir, sagte, dass ich 15 Jahre kriege, wenn ich in Russland ukrainische Bildung verbreite. Er beschuldigte mich, Artillerieziele auszuspionieren, und dass meinetwegen ein Dorf beschossen wurde. Mich haben sie zwar nicht angerührt, aber die anderen Frauen wurden mit Strom gefoltert; mir sagten sie, ich wäre als Nächste dran“, erinnert sich Iryna. 

    Am 23. August, am fünften Tag ihrer Gefangenschaft, holte Umar sie wieder zum Verhör: Sie solle alle Geräte (Fernseher, Tablets und Laptops) einsammeln und Lilija Grischagina übergeben, damit diese zum neuen Schuljahr das Lyzeum Nr. 1 aufmachen könne. Erst dann wurde Iryna freigelassen. Sie floh nach Kyjiw. 

    „Nach all dem wandte ich mich an eine Psychotherapeutin und Psychiaterin, weil es Dinge gibt, die ich nur einem fremden Menschen erzählen kann, der sie dann tief in sich vergräbt. Ich dachte, die Zeit würde den Schmerz lindern, aber der will nicht verschwinden“, erklärt Iryna. 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    „Es wird immer schwieriger, sich zu verstecken“ 

    Am 26. August, ihrem ersten Tag in Kyjiw, brach Iryna in Tränen aus – zum ersten Mal seit Beginn des großangelegten Krieges. Am Abend legte sie sich Teebeutel auf die geschwollenen Augen, nahm Baldrian und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen machte sie sich sofort wieder daran, ihr Lyzeum aufzubauen. 

    Sie erkundigte sich, wer von den Lehrkräften mitmachen will, fand neue Mitarbeiter, teilte Klassenlehrerinnen ein und kontaktierte die Eltern der Schüler. „Ich konnte meine Schule nicht im Stich lassen. Ich hatte das Gefühl: Ich habe Gefangenschaft und Besatzung überstanden, also schaffe ich alles auf der Welt“, sagt Iryna. 

    Bis zum 1. September 2022 hatte Irynas Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka 647 Schüler für den Online-Unterricht beisammen, von denen sich ein Großteil im Ausland oder unter Besatzung befand. Vor der Vollinvasion waren hier 637 Schüler zur Schule gegangen. 

    Fernunterricht hatte man schon während der Corona-Pandemie eingeübt, doch neue Herausforderungen kamen hinzu. Aus Sicherheitsgründen unterrichteten an diesem Lyzeum ausschließlich Lehrende, die sich auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet oder im Ausland aufhielten.  

    Die Familien in den besetzten Gebieten mussten lernen, für sich und ihre Kinder ein sicheres Lernumfeld zu schaffen, um nicht von russischen Sicherheitskräften entdeckt und verfolgt zu werden. Dafür zogen viele von der Stadt aufs Land, wo es praktisch keine Militärs und keine Hausdurchsuchungen gab.  

    Auch das Landwirtschaftliche Lyzeum von Melitopol setzte seinen Betrieb online fort, ebenfalls mit Schülern, die unter der Besatzung lebten. Zu persönlichen Treffen kamen die Lehrkräfte in Saporischschja zusammen. 

    Im Schulgebäude in Melitopol wird der Unterricht fortgesetzt, allerdings nach russischen Lehrbüchern. Bücher in ukrainischer Sprache sollen die russischen Soldaten gar zusammen mit der ukrainischen Flagge auf dem Schulhof verbrannt haben. Die Traktoren und LKW für das Fahrtraining der Schüler nahmen sie einfach mit. Vier von den in Melitopol verbliebenen Mitarbeitern des Lyzeums kooperieren jetzt mit dem Besatzungsregime. Der Rest nahm Abschied.  

    Wie genau das Lyzeum jetzt funktioniert, weiß Anna nicht. Bekannte berichten aber, dass man das „kaum Unterricht nennen“ könne. Der Sportlehrer Alexander Sidorow unterrichte plötzlich vier andere Fächer, darunter Geografie und Wirtschaftskunde. 

    Annas Bekannte erzählen, dass in Melitopol überall Georgsbänder und Schriftzüge hängen: „Russland ist der Heimathafen“, „Melitopol ist Russland“. „Tausende Bewohner von Melitopol sind entsetzt über diese Propaganda. Das Schlimmste ist, wir Erwachsenen wissen ja, dass das Agitation ist, wenn auch nicht alle das verstehen. Aber die Kinder durchschauen das nicht, und keiner ist da, der es ihnen erklärt. Es gibt Jugendliche, die schon in T-Shirts und Kappen mit dem russischen Wappen rumlaufen“, erzählt Anna, was sie von Bekannten gehört hat. „Aber das macht mir keine Angst. Sie können ja nichts dafür, dass ihre Eltern sie nicht weggebracht haben. Ich habe Kinder und Jugendliche sehr gern, und wenn wir zurückkommen, wird dieses Zeug wieder verschwinden. Weil wir Lehrer alles tun werden, damit die Kinder die Ukraine wieder lieben. Wir werden an ihre Herzen appellieren und sie öffnen.“ 

    In Melitopol ist der Besuch einer russischen Schule Pflicht [wie überall in den russisch besetzten Gebieten – dek]. Anna sagt, die meisten Lehrerinnen, die sie kennt, hätten sich aus dem Bildungsbereich verabschiedet: Der Unterricht sei zu einer Propagandaveranstaltung geworden, und sie hätten keine Lust, die Kinder russische Trikoloren malen zu lassen. Anna sind Fälle bekannt, wo bewaffnete Soldaten zu den Familien kommen und mit vorgehaltener MP verlangen, dass sie ihre Kinder in eine russische Schule schicken.  

    Trotz aller Risiken gibt es in Melitopol immer noch Eltern, die ihre Kinder in ukrainische Online-Schulen schicken. Meist haben die Kinder dort abends Unterricht, weil sie tagsüber in eine russische Schule müssen. Um sich vor den Razzien der Soldaten zu schützen, gehen die Eltern während der Schulstunden für alle Fälle mit ihren Kindern in eine andere Wohnung. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    „Es erfordert großen Heldenmut, unter der Besatzung weiterhin eine ukrainische Schule zu besuchen“, sagt Anna. „In Melitopol verraten sich die Leute gegenseitig. Jeden Moment kann dich ein Nachbar denunzieren, weil er gehört hat, dass du ukrainisch sprichst“. 

    Sich zu verstecken, wird immer schwieriger: Telefongespräche werden abgehört, auf der Straße können Eltern mit ihren Kindern jederzeit durchsucht werden, dann werden auch die Handys kontrolliert. Die Sticks mit dem Unterrichtsmaterial versteckt man in den hintersten Winkeln der Wohnungen.  

    „Die Kinder ergrauen unter der Besatzung. Das ist keine Übertreibung. Sie können einfach nicht wissen, wann das alles ein Ende haben wird.“ (Anna But, Lehrerin)  

    Deswegen haben die Kinder nach und nach aufgehört, am Unterricht [unseres Online-Lyzeums] teilzunehmen, wir mussten ganze Jahrgänge schließen. Am Ende des letzten Schuljahres [2023/24] hatten wir fast keine Schüler mehr.“ 

    Für 2024/25 hat das Landwirtschaftliche Online-Lyzeum gar nicht mehr genug Anmeldungen. „Diese Schule ist mein Leben, das ist für mich mehr, als meine Arbeit zu verlieren.“ Anna zufolge haben es nicht alle ihre Kollegen geschafft, bis zum Beginn des neuen Schuljahres an anderen Bildungseinrichtungen unterzukommen.  

    „Die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben“ 

    Wie Melitopol steht auch Nowa Kachowka unter Besatzung. Schulen gibt es dort aber so gut wie keine. Die von Russland eingesetzten Behörden haben Iryna zufolge den Schulbetrieb noch nicht in Gang gebracht. „2023 wurde in Nowa Kachowka nur die Schule Nr. 10 aufgemacht, und das nur online. Einige Eltern wurden genötigt, ihre Kinder dort anzumelden; dafür bekamen sie ein Lebensmittelpaket und zweitausend Rubel. Aber keiner kontrolliert, ob die Kinder dort am Unterricht teilnehmen.“ 

    Genau wie in Melitopol müssen Eltern es sorgfältig geheimhalten, wenn ihre Kinder online eine ukrainische Schule besuchen. Trotzdem hatte das Online-Lyzeum Nr. 3, das Iryna leitet, im Schuljahr 2023/24 ganze 568 Schüler und Schülerinnen. Zwei der fünf Absolventen mit Auszeichnung haben das ganze Jahr unter Besatzung verbracht. Zu ihrem Abschluss konnten sie in ukrainisch kontrolliertes Gebiet ausreisen (Details zur Strecke können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden), um von Iryna ihre Zeugnisse und Medaillen entgegenzunehmen und sich an ukrainischen Hochschulen zu bewerben. 

    Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im Krieg hat Dubas ihre Einstellung zur Schulbildung beibehalten: Oberste Priorität haben das Wohlbefinden und die Sicherheit der Kinder. „Seit der Befreiung von Cherson [am 1. November 2022] steht Nowa Kachowka unter ständigem Beschuss, sehr oft gibt es keinen Strom und kein Internet. Daher findet der Unterricht für die Kinder dann statt, wenn es wieder eine Verbindung gibt.“ 

    Das Thema Krieg vermeiden die Lehrenden während des Unterrichts. Sie erinnern nur an die Sicherheitsvorkehrungen: Sie bitten die Schüler in den besetzten Gebieten, auf der Suche nach Handyempfang, um die Hausaufgaben abzugeben, nicht auf Bäume zu klettern. So was ist nämlich schon vorgekommen. „Wenn ein Schüler seinen Test nicht besteht, ist das kein Drama. Wir wollen in Zeiten wie diesen die Kinder und Eltern nicht unter Druck setzen. 

    Ich schalte mich immer wieder zu den Online-Sitzungen dazu, um die Kinder zu sehen und einfach zu sagen ‚Passt auf euch auf‘. Die Kinder brauchen jetzt besondere Unterstützung, sowohl jene, die unter Besatzung leben, wie auch jene, die auf ukrainisch kontrolliertem Territorium immer wieder Beschuss erleben, und auch die, die fern von zuhause im Ausland sind. 

    Die Schüler sind ganz versessen auf den Unterricht. Sie wollen möglichst viel Zeit mit ihren Schulfreunden verbringen, wenigstens auf dem Bildschirm. Deswegen bieten die Klassenlehrerinnen auch Freistunden an, in denen die Kinder sich einfach unterhalten, und organisieren Feste für sie, um ihnen das zu geben, was der Krieg ihnen genommen hat: Spaß und Freude.“  

    Iryna steht auch den Lehrenden zur Seite, sie versucht nicht nur, Gehaltsaufbesserungen für sie herauszuschlagen, sondern kümmert sich auch um deren psychische Gesundheit: 

    „Eine Lehrerin muss ausgeglichen, gut gelaunt und für ihre Sache engagiert in den Unterricht gehen. Lernen muss für die Kinder interessant sein. Nach den Stunden können die Lehrkräfte so viel weinen und Angst haben, wie sie wollen, aber die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben. Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Unterricht bekommt jede Lehrerin meine Unterstützung, ich rufe mindestens einmal im Monat jede einzelne an.“ 

    „Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist?“ 

    Für das neue Schuljahr 2024/25 hat das Lyzeum in Nowa Kachowka mehr Anmeldungen als vor dem großangelegten Krieg, nämlich 685. Viele der Schüler leben auf besetztem Gebiet [Iryna möchte keine Zahlen nennen, um die Familien nicht zu gefährden – Anm. d. Red.]: 

    „Die Lehrerinnen, die früher in Nowa Kachowka unterrichteten, haben unsere Schule ganzen Klassen empfohlen. Hinzu kommen die Erstklässler. Wir haben auf der Website und in sozialen Medien Werbung gemacht, ich habe alle Kindergärten der Stadt abtelefoniert, und die Eltern haben mir still und heimlich die Unterlagen geschickt. 

    Dieses Jahr werden wir als Experiment in der achten Klasse Finanzwissen einführen. Die Kinder haben sich dieses Fach selbst ausgesucht, dazu gab es am Ende des letzten Schuljahres eine Umfrage“, erzählt die Direktorin von den Plänen. 

    Anna But ist seit 1. September Dolmetscherin und Betreuerin der Hochschulgruppen an der Fachhochschule Melitopol, die zur Taurischen Staatlichen Universität in Simferopol gehört. Unterrichtet wird online, und die Lehrenden treffen sich wie die des Landwirtschaftlichen Lyzeums in Saporischschja. Auch in dieser Fachhochschule gibt es Studierende aus dem besetzten Melitopol.  

    Außerdem engagiert sich Anna weiterhin als Freiwillige. Seit 2014 knüpft sie Tarnnetze für die Armee. Solange sie in den besetzten Gebieten war, hat sie diese Tätigkeit unterbrochen. Für ihr ehrenamtliches Engagement und die Proteste in Melitopol hat ihr der Präsident der Ukraine die Auszeichnung „Nationale Legende der Ukraine“ verliehen: 

    Foto / president.gov.ua
    Foto / president.gov.ua

    „Es war schon die ganze Zeit so: Den halben Tag hab ich unterrichtet, die zweite Hälfte zusammen mit den Kindern Netze geknüpft. Das [die Unterstützung der Front] hat jetzt oberste Priorität. Wenn wir der Armee nicht helfen, dann wird es auch keine Bildung mehr geben. Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist? Danach werden wir Neuerungen beim Unterricht vornehmen.“ 

    Ehemalige Schüler von Anna und Iryna, unter anderem die, die 2021 ihren Abschluss gemacht haben, verteidigen jetzt die Ukraine. Manche von ihnen sind jetzt in russischer Kriegsgefangenschaft. 

    Weitere Themen

    Krieg in der Ukraine – Hintergründe

    „Du krepierst hier und keiner kriegt es mit“

    Hass im Donbas

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Kriegsferien in Mariupol

    Bilder vom Krieg #22

  • Bilder vom Krieg #22

    Bilder vom Krieg #22

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Daniel Rosenthal

    An der Marineakademie in Odessa bereiten sich 800 junge Menschen auf ein neues akademisches Jahr vor. Sie hoffen, nach dem Ende des Krieges und der Aufhebung der Seeblockade im Hafen oder in der Schifffahrt arbeiten können. Der 16-jährige Konstantin Lutsenko probiert schüchtern den Matrosenanzug an, den alle Studenten im Theatersaal der Universität tragen. Als er nach seinen Träumen gefragt wird, leuchten seine Augen. „Ich werde eine Ausbildung zum Skipper auf dem großen Meer machen“, sagt er. „Ich möchte die Welt sehen.“ / Foto © Daniel Rosenthal

     

    Ukrainische Soldaten erhalten eine Laser-Therapie in einem Sanatorium an einem geheimen Ort in der Provinz Charkiw. Sie absolvieren zwei Wochen lang ein spezielles Reha­bili­tat­ions­pro­gramm. Dann sollen sie ausgeruht in den Krieg zurückkehren. / Foto © Daniel Rosenthal 

     

    dekoder: Sie haben zwei Fotos von Ihren Reisen in der Ukraine ausgewählt: Das erste zeigt einen Jugendlichen beim Eintritt in die Marine­akademie in Odessa. Was sieht man auf dem zweiten?  

    Daniel Rosenthal: Das ist eine Szene aus einem Sanatorium. Die ukrainischen Soldaten können sich dort zwei Wochen lang erholen, bevor sie wieder zurück in den Einsatz müssen. Sie bekommen Lasertherapie und Atemtherapie und inhalieren Salz­lösung und Lavendel­duft. Dort traf ich den Bären. Das ist der Mann, der seine Hand ans Gesicht hält. Seinen Codenamen bekam er wegen seiner bärigen Statur. Er ist Maschinen­gewehr­schütze und hat bei Wuhledar gekämpft. Anderthalb Jahre war er fast kontinuierlich an der Front.  

    Und jetzt darf er sich 14 Tage in einem Sanatorium davon erholen? 

    Ich traf den Bären auf einer Bank im Park, als er eine Zigarette rauchte. Er sagte: „Es ist so still hier. Diese Stille!“ Die Stille und das Vogel­gezwitscher, das hat ihn fertig gemacht. Später hat er das erklärt: Es war immer still, bevor die Russen angegriffen haben. Stille bedeutete für ihn immer Gefahr. Und jetzt ist er in diesem Sanatorium, nach anderthalb Jahren hinter dem Maschinengewehr, und muss mit der Stille dort klarkommen. Er erzählte dann noch, dass seine Familie, die er andert­halb Jahre nicht gesehen hat, ihn besuchen kommt. Und man hat gemerkt, dass er sich natürlich einerseits freuen will, aber anderer­seits total am Ende ist und eigentlich gar nicht mehr kann. Dieser Kontrast zwischen dieser Statur und diesem Wesen, das total am Ende war, das fand ich sehr berührend.  

    Wie soll diesen Männern während zwei Wochen in einem Sana­torium geholfen werden?  

    Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Sanatorium atmet einerseits noch den Geist der Sowjetunion, mit Bädern und Anwendungen. Zusätzlich gibt es aber auch Gesprächs­therapie und Yoga zum Beispiel. Das war natürlich ein un­glaub­liches Bild, diesen Bären und seine Kammeraden in der Yoga­stunde zu beobachten. Sie haben sich alle Mühe gegeben, es wirkte fast komisch, wenn die Umstände nicht so tragisch wären. 

    Und nach den zwei Wochen Yoga und Therapie geht es wieder zurück an die Front? 

    Danach geht es wieder in den Einsatz, ja. Das läuft so, dass der Kommandant einer Einheit Leute auswählt, von denen er glaubt, dass die eine Auszeit nötig haben. Ob die von sich aus das Bedürfnis haben, Yoga zu machen, lässt sich schwer sagen. Die leiden alle unter einer schweren post­trauma­tischen Belastungs­störung und wissen selbst gar nicht, was sie eigentlich wollen und brauchen. Wenn man sie fragt, sagen alle, sie wollen sofort zurück zu ihren Kameraden. Das scheint eine typische Reaktion von Menschen in solchen Situationen zu sein: Sie haben ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Kameraden im Stich lassen. Von einer Heilung sind die nach zwei Wochen natürlich weit entfernt. 

    Ihr zweites Bild zeigt den Anfang einer Karriere als Soldat. Was ist die Geschichte hinter diesem Foto?  

    Das stammt aus einer Reportage aus der Hafenstadt Odessa. Zu Beginn des Studien­jahres werden 800 junge Kadetten an der Marine­akademie auf­ge­nommen. Die Leiterin der Kleiderkammer gibt Uniformen an die Erst­semester aus. Viele träumen davon, die Meere zu befahren und die weite Welt zu sehen. In der Realität ist das Schwarze Meer weitgehend durch russische Kriegsschiffe blockiert. Diesen Clash zwischen Traum und Wirklichkeit fand ich inte­res­sant.  

    Sie fotografieren seit vielen Jahren in Kriegs- und Krisengebieten. Wie gehen Sie selbst mit den belastenden Er­lebnissen um?  

    Ich halte meine Aufenthalte an der Front oder in der wirklichen Gefahren­zone relativ kurz. Erst recht, seit ich Kinder habe. Aber natürlich wirken die Ereig­nisse nach. Oft kommen die Gefühle hoch, wenn ich wieder zuhause bin und die Bilder bearbeite und um mich herum geht das normale Alltags­leben weiter. Seit ich Vater bin, kann ich die Ver­zweif­lung der ukrainischen Eltern noch einmal ganz anders nach­empfinden. Ich glaube, das muss dich wirklich fertig machen, wenn du nicht in der Lage bist, dein Kind zu beschützen. 

     

    Fotografie: Daniel Rosenthal 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 27.09.2024 

    Weitere Themen

    Bilder vom Krieg #20

    Bilder vom Krieg #21

    Kampf zurück ins Leben

    Hass im Donbas

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Kriegsferien in Mariupol