Die wahren Lehren aus 75 Jahren Kriegsende – unter diesem Titel ist dieser Tage ein umfangreicher Gastbeitrag im National Interest erschienen, einem konservativen US-Fachmagazin für internationale Beziehungen. Der Autor: Wladimir Putin. Ein Artikel, der schon seit längerer Zeit angekündigt war und eigentlich schon zum Tag des Sieges erscheinen sollte.
Die wohl größte Resonanz erfuhr der Artikel in Russland selbst: Historiker Alexej Miller schätzt in einem Interview auf Colta, dass Putins Text – verfasst in einer „Atmosphäre der Erinnerungskriege“ – eine „Bereitschaft zu einem respektvollen Dialog über komplizierte Fragen der Vergangenheit“ ausdrückt.
Für Kritik sorgte unter anderem die Darstellung, wonach die „Inkorporation“ der baltischen Staaten in die Sowjetunion 1939 „in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Normen und den Staatsgesetzen jener Zeit“ geschehen sei. Historiker Ivan Kurilla schreibt dazu auf Znak: „[…] das erinnert gleich an die jüngste Geschichte der Krim. […] Es wäre ehrlicher gewesen, gleich zu schreiben, dass die Annexion des Baltikums nicht dem System des Völkerrechts, sondern den nationalen Interessen der UdSSR entsprach.“
Der Soziologe Grigori Judin sieht in The New TimesParallelen zwischen Putins Blick auf Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und auf Russland nach dem Kalten Krieg.
In Putins Artikel über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs (wo neben offenkundigem Unsinn und verantwortungslosen Ausfälligkeiten übrigens auch völlig vernünftige Sachen drinstehen) sticht eine Auslassung besonders hervor. Mehrfach werden dort die Schuldigen der Katastrophe benannt: England, Frankreich, Polen, Wlassow, Bandera, Lenin und so weiter und so fort, verklausuliert sogar Stalins UdSSR.
Doch wer fast nicht genannt ist: Deutschland und der gesamte nazifaschistische Block.
Putins zwischenkriegsdeutsche Position
Das ließe sich natürlich so verstehen, dass Deutschlands Schuld offensichtlich ist; zu den Nazis gibt es keine Fragen, zu klären ist, warum man Deutschland derart wüten ließ. Doch das will Putin nicht sagen. Er nimmt von Anfang an eine [zwischenkriegs-]deutsche Position ein, eine Theorie, wonach der Zweite Weltkrieg vorbestimmt war durch die unehrlichen und erniedrigenden Bedingungen des Versailler Friedens nach dem Ersten Weltkrieg. An dieser Theorie ist natürlich beträchtlich viel Wahres. Jedoch ist Putin kein unbeteiligter Historiker, sondern der Präsident eines Landes, in dem Millionen ihr Leben gelassen haben, weil Deutschland sich entschlossen hatte, sich für die Kränkung und Erniedrigung an ganz Europa zu rächen.
Es ist durchaus verständlich, dass Putin mit den Augen Deutschlands auf die Zwischenkriegszeit schauen möchte: wegen des Weimar-Komplexes, des Empfindens von „Russlands“ „Niederlage“ im Kalten Krieg als Erniedrigung, die Rache fordert. Über die Parallelen zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland ist genug gesagt und geschrieben worden. Nun fügt Putin dem noch eine hinzu: Man hat Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ungerecht erniedrigt, hat sich den Völkerbund untertan gemacht und die Nazis bekommen, „die geschickt mit den Gefühlen der Menschen arbeiteten“ und versprachen, „dem Land die einstige Stärke zurückzubringen“. Und nun hat man Russland nach dem Kalten Krieg erniedrigt, sich die UN untertan gemacht und es ist „bestens bekannt, wie das endete“ beim letzten Mal.
Putin unterscheidet sich von der gesamten intellektuellen Tradition Europas
Putin ist natürlich kein Nazi und hat kein Mitgefühl mit Hitler. Dennoch erscheint ihm das Auftauchen der Nationalsozialisten an der Macht und die Faschisierung der deutschen Gesellschaft als natürlich, vorhersehbar und nicht sehr interessant. Die Ursachen des Zweiten Weltkriegs müssen in der Architektur der globalen Politik gesucht werden: „Die deutsche Aggression gegenüber Polen war Ergebnis einer Vielzahl von Tendenzen und Faktoren der Weltpolitik jener Zeit.“
Und darin unterscheidet sich Putin natürlich radikal von der gesamten intellektuellen Tradition Europas, die sich nach dem Krieg der Frage verschrieb, wie Derartiges mit Deutschland geschehen konnte. Es gibt meterweise Fachliteratur darüber, wie die präsidiale Weimarer Republik mutierte. Doch für Putin ist mit Deutschland überhaupt nichts ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfters geben. Die Frage ist, wie die internationalen Beziehungen zu gestalten sind, damit derartige Folgen vermieden werden können.
Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik
Vermutlich wird ihn deswegen in Europa auch niemand hören: All die 75 Jahre waren die Europäer damit beschäftigt, ihre politischen Systeme so zu regulieren, dass sie das Erwachen eines inneren Monsters verhindern (ob erfolgreich oder nicht, ist eine andere Frage), um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Putin interessiert das alles nicht: Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik: Wenn es auf der Straße Krawalle gibt, muss ausländisches Geld dahinterstecken, wenn Faschisten an die Macht kommen, muss eine Kränkung der Nation dahinterstecken.
Russlands neuer Verteidigungsminister Andrej Beloussow ist ein prominentes Beispiel dafür, wie die technokratische Elite Russlands über Systembrüche hinweg ihr Sozialkapital an die nächsten Generationen weitergibt. Beloussows Vater Rem Alexandrowitsch (1926–2008) schloss 1950 die Diplomaten-Kaderschmiede MGIMO ab, arbeitete danach an dem planwirtschaftlichen Lenkungssystem mit und an Reformen zu Effizienzsteigerungen sowjetischer Unternehmen. Später wurde er Wissenschaftler der auf Staatsverwaltung spezialisierten Akademie für Gesellschaftswissenschaften.
Damit war die spätere Karriere seines Sohnes Andrej, geboren am 17. März 1959, gewissermaßen vorgezeichnet: Zunächst besuchte er die elitäre Zweite Mathematik- und Physikschule in Moskau.1 Danach studierte und promovierte er an der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Staatlichen Universität. Schon sein früher Bildungsweg weist auf ein prägendes biografisches Merkmal von Beloussow hin: Einerseits profitierte er vom sozialen Milieu seiner Moskauer Nomenklatura-Akademikerfamilie. Andererseits helfen persönliche Beziehungen wenig beim Lösen mathematischer Probleme – ohne Talent und Disziplin hätte er diese Abschlüsse wohl nicht geschafft. Insofern ist die Dichotomie zwischen Kompetenz und Loyalität,2 auf die Wissenschaftler häufig in Bezug auf Putins Personalpolitik verweisen, holzschnittartig: Beloussow hat Regimetreue und Etatismus geradezu mit der Muttermilch eingesogen und sicher auch von Patronage profitiert. Allerdings war es gerade seine Fachexpertise und oft treffgenaue Wirtschaftsprognosen, die seinen Aufstieg beförderten.3
Nomenklatura-Putinismus
Zwischen 1990 und 2006 war Beloussow wissenschaftlicher Mitarbeiter und später Leiter des Labors des Instituts für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften. Schon Ende der 1990er Jahre war er Wirtschaftsberater der Regierungen Primakow und Stepaschin, mit der Gründung seines eigenen Think Tanks ZMAKP nahm er vermehrt auch an der Ausarbeitung richtungsweisender Planungsdokumente teil, wie der unter der Leitung von German Gref entworfenen Strategie-2010, dessen Vize er 2006 im Wirtschaftsministerium wurde. Zwischen 2008 und 2012 war Beloussow Abteilungsleiter für Wirtschaft und Finanzen im Apparat des Premierministers Wladimir Putin, zu dessen wichtigstem Wirtschaftsberater er zwischen 2013 und 2020 in der Präsidialverwaltung aufstieg.
Kein eigenes Team, aber ein weitreichendes Elitennetzwerk
Beloussow wird nachgesagt, dass er kein eigenes Team habe. Und in der Tat: Alle Posten, die er bisher im Staat bekleidete, waren entweder beratender oder koordinierender Natur. Dadurch hatte er keinen großen Stab oder gar eine eigene Behörde unter sich. Ebenso gehört er keinem der Clans an, denen Personen aus dem innersten Zirkel Putins vorstehen. Beloussows Mandat hängt allein von Putins Gunst und Vertrauen ab. Gleichzeitig hat sich Beloussow über die Jahrzehnte ein weit verzweigtes Beziehungsnetzwerk aufgebaut, das viele Schlüsselakteure in der Elite und in Staatsunternehmen umfasst.
Beloussow gilt auch wegen seiner fehlenden Clan-Affiliation als wenig korrupt. Es fehlen Hinweise auf die üblichen Attribute von hochrangigen Staatsdienern wie Luxus-Penthäuser, weitläufige, mit Villen bestückte Grundstücke in teuren Gegenden oder die informelle Kontrolle über Anteile an Unternehmen. Sehr ausgeprägt in Beloussows Umgebung ist allerdings der Nepotismus: Sein Sohn Pawel gründete nach dem Abschluss der Moskauer Technischen Bauman-Universität zusammen mit seiner Frau 2015 das Beratungsunternehmen Claire & Clarté, das unter anderem das Ministerium für Industrie und Handel, Rostec, Roskosmos und Rosatom als Kunden hat. Anfangs waren die Auftragssummen noch gering. Im Jahr 2023 jedoch stieg der Umsatz auf knapp 600 Millionen Rubel, was vor allem auf das Rüstungsunternehmen Rostec zurückzuführen ist.4
Diese Auftragnehmer gehören zum direkten Einflussbereich Beloussows. Aufgebaut hat er sich diesen Wirkungskreis als Wirtschaftsberater von Putin und Vizepremier. Rostec-Chef Sergej Tschemesow soll etwa sowohl gute Beziehungen zu Putin pflegen wie auch zu Beloussow, für Rosatom und Roskosmos saß Beloussow sogar im Aufsichtsrat. Daneben war er Vorstandsmitglied von Rosneft und der Russischen Eisenbahn RShD.
Diese Posten boten tiefe Einblicke in staatlich kontrollierte Unternehmen, mit Rosatom und Roskosmos waren dies auch Schlüsselunternehmen der Rüstungsindustrie. Zwischen 2014 und 2020 war Beloussow Mitglied der Kommission für Rüstungsindustrie beim Präsidenten und ab 2022 koordinierte er als Vizepremier das militärische Drohnenprogramm. Gleichzeitig war er als Präsidentenberater einer der informellen Kuratoren der Söldnertruppe Wagner und pflegte enge persönliche Kontakte zu Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin.5 Beloussow kannte somit die Rüstungsindustrie schon lange vor seinem Wechsel ins Verteidigungsministerium sehr gut.
Rüstungsindustrie und atomare Orthodoxie
Neben seinen weitreichenden Kontakten in die höchsten Staatsebenen und Schlüsselindustrien gibt es einen weiteren Bereich, der eine besondere Rolle in Beloussows Lebenswelt spielt: die Orthodoxie. Beloussow ließ sich 2007 im Alter von 47 Jahren taufen, seither gibt er sich als tiefgläubig orthodox.6 Der russisch-orthodoxe Glaube geht bei ihm über das Private hinaus und markiert die Zugehörigkeit zu Netzwerken, die weit in die Staatsverwaltung, Sicherheitsbehörden und Wirtschaft hineinreichen. Derzeit sind die sogenannte „Athos-Bruderschaft“ und die „Diwejewo-Bruderschaft“7 die bedeutendsten dieser informellen Netzwerke. Zu den Athos-Brüdern, die nach dem im nordöstlichen Griechenland gelegenen Berg Athos und der gleichnamigen Mönchsrepublik benannt ist, werden unter anderem die Rotenberg-Brüder, Wladimir Jakunin, Sergej Tschemesow und Igor Setschin zugerechnet. Nachdem Pilgerfahrten in das NATO-Mitgliedsland Griechenland immer schwieriger wurden, wuchs die Bedeutung des Klosters in Diwejewo, zu deren „Bruderschaft“ Beloussow gehört.8
Der heutige Pilgerkomplex Arsamas-Diwejewo-Sarow ist nicht nur für die Russisch-Orthodoxe Kirche aufgrund des Heiligen Serafim von Sarow von größter spiritueller Bedeutung. Im Sarow-Kloster war zu Sowjetzeiten das Designbüro KB-11 ansässig, das eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der sowjetischen Atombombe spielte. Und auch heute noch ist das Allrussische Forschungsinstitut für Experimentalphysik in Sarow (früher Arzamas-16) Kernbestandteil des russischen Atomprogramms.
Der Aufstieg von Diwejewo begann, als Sergej Kirijenko 2005 zum Rosatom-Chef wurde und das Unternehmen zum Hauptsponsor für die Restaurierung der örtlichen Kirchen machte. Neben Kirijenko und Beloussow zählen auch die Kowaltschuk-Brüder, Premier Mischustin, Vizepremier Tschernyschenko, oder etwa auch der Regisseur Nikita Michalkow zu den Gönnern von Diwejewo. Die Bedeutung der „Diwejewo-Bruderschaft“ liegt also gerade in der Verquickung der Russisch-Orthodoxen Kirche mit der atomaren Rüstungsindustrie. Dieses Phänomen bezeichnete der Militärexperte Dmitry Adamsky als „Russlands nukleare Orthodoxie“9.
Wirtschaftspolitik und Kriegswirtschaft
Die Ernennung Beloussows zum Verteidigungsminister hatte niemand vorhergesehen. Eine der plausibelsten Theorien ist, dass er die vorhandenen Ressourcen angesichts des massiv gestiegenen Militärhaushalts effizienter nutzen soll. Gleichzeitig wird seine Aufgabe sein, die zivile und militärische Integration der Rüstungsproduktion voranzutreiben. Und zwar nicht nur als Mittel, um den Krieg zu gewinnen und Russland langfristig den Status einer militärischen Großmacht zu sichern. Sondern auch, um mithilfe der staatlichen Rüstungsausgaben das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.10 Die Berliner Soziologieprofessorin Katharina Bluhm ordnete Beloussow in der Zeit vor der Vollinvasion als jemanden ein, der ausgiebige staatliche Kontrolle über die Wirtschaft befürwortet.11 Das Bild von Beloussow als derschawnik vertreten auch ehemalige Mitstreiter, die ihn in den 1990er Jahren im Zuge eines intellektuellen Diskussionsklubs über Außenpolitik kennenlernten: Er sei schon damals ein Etatist gewesen, der für einen starken Staat in der Wirtschaftspolitik und außenpolitisch für Russlands Positionierung als Großmacht eintrat.
Im Gegensatz zu vielen anderen Anhängern des Dirigismus in Russland teile Beloussow laut Bluhm jedoch nicht „die Agenda der illiberalen Konservativen“. Anders als der von Schoigu abgelöste langjährige Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, setzte er sich beispielsweise nicht dafür ein, zur Mobilisierungswirtschaft überzugehen. Beloussow steht vielmehr dem sogenannten „militärischen Keynesianismus“ nah. Diese Art der makroökonomischen Politik will die Gesamtnachfrage in der Wirtschaft durch höhere Militärausgaben erhöhen, um mit der so gesteigerten zivilen und militärischen Binnennachfrage das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.12
Einige Weggefährten beschreiben Beloussow als „progressiven sowjetischen Ökonomen“,13 der die Sowjetunion viel lieber reformiert als kollabiert gesehen hätte. Beloussow selbst äußerte sich jedoch noch im Dezember 2021 ablehnend gegenüber Spekulationen, Russland würde zur ökonomischen Planungsbehörde Gosplan zurückkehren: „In der Sowjetunion war der Gosplan nur die Spitze des Eisbergs. Es war eine sehr verzweigte, schwere, riesige Maschine, die extrem ineffizient arbeitete. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde Gosplan heute wieder einführen wollen“14, sagte der Sohn eines ehemaligen Gosplan-Mitarbeiters 2021 im Interview mit Forbes.
Ähnlich negativ äußerte er sich nach Beginn der Vollinvasion im Juni 2022 über die Perspektive, Russland in eine Mobilisierungswirtschaft zu transformieren.15 Für die Entwicklung Russlands bevorzugt Beloussow stattdessen eine Methode, die er „situatives Reagieren“ nennt, also kurzfristige Anpassungen und Veränderungen aufgrund von akuten Problemen. Dieses „situative Reagieren“ sei Beloussow zufolge wenig risikobehaftet und würde größere gesellschaftliche Unterstützung genießen, weil es wenig soziale Verwerfungen nach sich ziehe. Vor diesem Hintergrund erklärt sich sein Rezept, das Wirtschaftswachstum durch Binnennachfrage und höhere Staatsausgaben fürs Militär anzukurbeln und dabei günstige Kreditzinsen zu gewährleisten, da es gesellschaftlich wenig disruptiv ist. Mit diesem Zugang will Beloussow größtmögliche technologische Souveränität und die sogenannten nationalen Entwicklungsziele erreichen.
Diese hatte Putin in seinem Mai-Ukas 2012 den föderalen und regionalen Exekutiven vorgeschrieben. Seither beschäftigte Beloussow sich damit, diese Ziele zu messen und zu kontrollieren, was ihm das Image eines Buchhalters eingebracht hat. Allerdings bleibt die Umsetzung der nationalen Ziele trotz zunehmender Zentralisierung höchst mangelhaft. Zum einen liegt das an schwachen staatlichen Institutionen, zum anderen verleiten derartige quantitative Indikatoren Behörden dazu, diese zu fälschen, um dem Kreml Loyalität zu signalisieren.16
Technologische Souveränität als Grundlage der „Staat-Zivilisation“ Russland
Als Verteidigungsminister ist Beloussow neben dem Präsidenten und dem Generalstabschef eine der drei Personen, die im Besitz eines Atomkoffers sind. Im Gegensatz zu seinen früheren Posten im Staat wurde er plötzlich zu einem der zentralen Entscheidungsträger der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Dennoch ist Beloussow keineswegs ein unbedarfter Neuling auf diesem Gebiet, er bringt ein ausgeprägtes Weltbild mit ins neue Amt. So soll er etwa als einziger hochrangiger Wirtschaftsexperte aus dem Umfeld Putins die Annexion der Krim befürwortet haben und versicherte Putin, dass die russische Wirtschaft den Sanktionsschock gut abfedern könne.17 Seine Grundüberzeugung ist deswegen auch, dass Russlands Lage sich „kardinal“ und „langfristig“ aufgrund von tektonischen Verschiebungen in der Weltpolitik verändert, was entsprechende Anpassungen vonnöten macht. Russland versteht er dabei nicht als Nationalstaat, sondern als eine „Staat-Zivilisation“ (gosudarstwo-ziwilisazija)18, also eine eigene Zivilisation mit einer eigenen Subjektivität und einem eigenen kulturellen Code. Dabei sieht er Russland keineswegs in absoluter Gegnerschaft zu Europa, sondern als Hüterin der gemeinsamen traditionellen, konservativen Werte, von denen sich der Westen immer weiter verabschiede. Die Grundvoraussetzung einer Zivilisation mit eigener Sinnhaftigkeit sieht Beloussow in der Souveränität, die nur wenige Staaten wie die USA, China, Indien und auch Russland besitzen. Nur Souveränität könne ein Überleben in der multipolaren Welt garantieren. Beloussow war eine der treibenden Kräfte hinter der nationalen Strategie zur Erreichung der technologischen Souveränität bis 2030, die die Regierung am 25. Mai 2023 verabschiedete. Nur durch Souveränität können Beloussow zufolge Russlands nationale Entwicklungsziele erreicht werden.
Wie wirkmächtig dieses Konzept und somit auch Beloussows Denkweise ist, lässt sich auch daran erkennen, dass Souveränität in Bezug auf Wirtschaft, Finanzen, Kader und Technologie ein zentraler Begriff in Putins Ansprachen an die Nation der Jahre 2023 und 2024 war. In Beloussows Weltsicht ist die Wende Russlands nach Osten und Süden nur konsequent und auch keineswegs eine neue Idee. Sein Vater Rem war schon in den 1970er und 1980er Jahren als Wirtschaftsberater in Südostasien unterwegs. Juri Jarjomenko, einer seiner wichtigsten Mentoren in der Sowjetzeit, zitierte häufig die konfuzianische Weisheit: „Ein wahrer Mann hat nur zwei Aufgaben: die Natur zu beobachten und dem Staat zu dienen.“19 Im Amt des Verteidigungsministers wird Beloussow wenig Zeit für die Natur haben. Aber er wird dem Staat dienen, obwohl dieser einen Angriffskrieg führt – oder vielleicht gerade deswegen. Bei seiner ersten öffentlichen Rede als Verteidigungsminister sagte Beloussow, er verpflichte sich, all seine Kräfte anzustrengen und gar seine Gesundheit und, falls notwendig, sein Leben zu opfern, um seine neue Aufgabe zu erfüllen.
Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.
Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.
Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick.
Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.
Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.
Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1
Eskalation
Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.
In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.
Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7
Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10
Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11
Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13
Verhandlungen
Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.
Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur Lösung des Konflikts beitragen sollten.
Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14
Entwicklung seit Minsk II
Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.
Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18
Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück.
Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23
Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine↩︎
Sergej Medwedew ist eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers in Russland, was Fragen der neuesten russischen Geschichte und der internationalen Politik angeht. Er ist Professor an der Moskauer Higher School of Economics und bringt sich regelmäßig in die öffentliche Debatte ein, schreibt für das unabhängige Wirtschaftsblatt Vedomosti, das russische Forbes und andere Portale.
Hier setzt er sich mit dem Umgang Russlands im Fall MH17 und den Einsätzen in Syrien auseinander. Er sieht in Russland eine außenpolitische Strategie aus den Spättagen der Sowjetunion wiederauferstehen, in der sich für ihn auf spezifische Weise Schwäche und Drohgebärden mischen. Diese These macht er in einem engagierten Meinungsstück stark, das am Dienstag – unmittelbar nach der jüngsten diplomatischen Verwerfung zwischen der russischen Führung und den USA – auf slon.ru erschienen ist.
Die vergangene Woche brachte in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen einen neuen Point of no Return, wie man so sagt. Zum einen wurde der Bericht der Untersuchungsgruppe zu MH17 veröffentlicht, der besagt, dass das Flugzeug von einer BUK-Rakete getroffen wurde, die aus Russland geliefert und vom Territorium der Separatisten aus abgefeuert wurde. Zum anderen haben die westlichen Staaten Russland und seine Verbündeten für den barbarischen Bombenangriff auf ein Krankenhaus im syrischen Aleppo in die Verantwortung genommen: Laut dem französischen Außenministerium kommen diese Angriffe einem Kriegsverbrechen gleich, die New York Times schreibt in einem ungewöhnlich scharfen Editorial, Putin verwandle Russland „in eine Outlaw Nation“, und die Kritiker des Regimes sprechen von neuem davon, ein Prozess in Den Haag sei unvermeidlich, und im Kreml herrsche bereits Panik.
An dieser Stelle sollte man nun wohl darüber schreiben, dass dem Westen etwas klargeworden ist. Darüber, dass die Maschine der westlichen Rechtsprechung zwar langsam arbeitet, dafür aber zuverlässig. Man könnte das Flugzeugattentat der libyschen Geheimdienste über dem schottischen Lockerbie in Erinnerung rufen. Damals brauchte es elf Jahre, bis Gaddafi die Verdächtigen auslieferte, und 15, bis die Familien der Opfer Entschädigungszahlungen erhielten. Aber all das würde der Sache nicht gerecht: Die Analogie mit der Regionalmacht Libyen funktioniert nicht. Die derzeitigen Enthüllungen rufen das Gefühl eines Déjà-vu hervor: Ähnliche Points of no Return hat es in den vergangenen drei Jahren schon eine ganze Menge gegeben, und jedes Mal haben Russland und der Westen gleich darauf eine neue rote Linie überschritten und ihre Rutschpartie auf der nie endenwollenden schiefen Ebene fortgesetzt, sich gegenseitig beschuldigend und aufeinander einhackend, als wären sie mit einer unsichtbaren Kette aneinandergefesselt.
Im 21. Jahrhundert ist die hauptsächliche Exportware Russlands nicht Öl oder Gas, sondern Angst
Nein, es wird weder ein Nürnberger noch ein Den Haager Tribunal geben, noch irgendein anderes. Eher schon erwarten Russland vieljährige Untersuchungen, Schuldsprüche in Abwesenheit und Verpflichtungen zu Entschädigungen in Millionenhöhe, die Russland, versteht sich, nicht anerkennen wird. Das wird eine neue Runde von Sanktionen zur Folge haben, Blockaden russischer Auslandsvermögen mit den dazugehörigen Skandalen und Rechtsstreitigkeiten, die sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinziehen werden. Wozu also Parallelen ziehen zu Lockerbie. Sinnvoller ist es, sich an die Tragödie mit der koreanischen Boeing zu erinnern, die von einem sowjetischen Abfangjäger am 1. September 1983 über der Insel Sachalin abgeschossen wurde – bis heute gibt es keine endgültige Klarheit in diesem Fall, die Schuldigen sind nicht benannt, und das Land, das das Flugzeug vom Himmel geholt hat, gibt es nicht mehr.
Mit anderen Worten: Katastrophale Konsequenzen werden Russland wohl nicht erwarten. Eher sogar im Gegenteil: Die jüngsten Beschuldigungen des Westens fügen sich in die langfristige Strategie des Kreml ein, das Bild eines unvorhersehbaren und gefährlichen Akteurs zu erwecken, der die globalen Regeln bricht und den alle zu fürchten haben. Offensichtlich waren weder der Abschuss der Malaysischen Boeing noch die Bombardierungen ziviler Objekte in Syrien bewusste Handlungen seitens Russland, doch entspringen sie jener Hochrisikosphäre, die Moskau auf postsowjetischem Gebiet und im Nahen Osten erschaffen hat, und sind zwangsläufige Folgeerscheinungen des seltsamenhybriden Krieges, den Russland in der ganzen Welt führt.
Die gestrige Verfügung Putins ist die jüngste Handlung in diesem Krieg. In ihr wird angeordnet, die internationalen Vereinbarungen mit den USA über die Aufbereitung von Plutonium auszusetzen, zugleich wird eine Gesetzesvorlage in die Duma eingebracht mit ganz offensichtlich unerfüllbaren Forderungen an die USA: Das Magnitzki-Gesetz sei aufzuheben, ebenso alle Sanktionen gegen Russland. Für die durch die Sanktionen entstandenen Verluste müssten Kompensationen gezahlt werden, und in allen Ländern der NATO, die dem Bündnis nach 2000 beigetreten sind, sollten die USA ihre Streitkräfte und ihre militärische Infrastruktur reduzieren. Das Abkommen über die Plutonium-Aufbereitungen hatte der Sache nach sowieso nicht funktioniert, aber Russland erweckt den Anschein, dass es seinen Einsatz im geopolitischen Spiel erhöht. Es gibt zu verstehen, dass es bereit ist, den Westen atomar zu erpressen (siehe der „radioaktive Staub“ aus den Schauermärchen Dimitri Kisseljows) und die gesamte Struktur von Vereinbarungen über die atomare Abrüstung zu demontieren.
Export von Angst
Der hybride Krieg des Kreml – das ist eine Politik von Schwäche und Arglist des Informationszeitalters. Da Russland nicht die notwendigen militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Ressourcen besitzt, um in der Ukraine oder in Syrien zu gewinnen, führt es Einzeloperationen zur Destabilisierung der Lage in diesen beiden Ländern durch und provoziert eine Konfrontation mit dem Westen. Allerdings wendet es diese dann in letzter Minute ab und startet eine umfangreiche Desinformations- und Propagandakampagne mit dem Ziel, das Bild der Vorgänge zu verzerren und die Position des Westens zu verwischen, die bereits an sich nicht präzise definiert und unentschlossen ist. Das Ziel des hybriden Krieges ist es, Unvorhersehbarkeit, Chaos und Angst zu erzeugen, und dadurch eine instabile Umgebung zu schaffen. In der lässt es sich weitaus leichter bluffen, wenn man schlechte Karten auf der Hand hat.
Russlands Angst-Vorräte liegen gespeichert in den Schichten der russischen Geschichte, in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, in den alltäglichen Beziehungen zwischen Bürger und Staat
Im Grunde genommen ist im 21. Jahrhundert die hauptsächliche Exportware Russlands nicht Öl oder Gas, sondern Angst. Der Preis für die beiden ersten wird im Laufe der Zeit fallen, derjenige der zweiten hingegen steigen. In der Risikogesellschaft, von der die wichtigsten Philosophen und Soziologen unserer Zeit schreiben, von Ulrich Beck bis Anthony Giddens, gewinnen diejenigen, die es schaffen, Angst hervorzubringen und aus ihr Kapital zu schlagen, indem sie sie in eine politische und wirtschaftliche Ressource verwandeln. Auf diesem Feld ist Russland ein Big Player und ein wichtiger Rohstofflieferant: Seine Angst-Vorräte liegen gespeichert in den Schichten der russischen Geschichte, in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, in den alltäglichen Beziehungen zwischen Bürger und Staat.
Das System der internationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts – das sich beginnend mit dem 11. September 2001 herausgebildet hat (in Russland sogar ein wenig eher, vom September 1999 an, den Bombenexplosionen in Wohnhäusern in Buinaksk, Moskau und Wolgodonsk und den „Sprengstoff-Übungen“ des FSB in Rjasan) – folgt den Szenarien von Thomas Hobbes, der eine Anarchie der zwischenstaatlichen Beziehungen und einen Krieg „aller gegen alle“ vorhergesagt hat, und nicht dem von Immanuel Kant, der für Europa auf der Suche war nach einem „ewigen Frieden“. Das Russland Putins ist ein Produzent und Nutznießer dieser Hobbesschen Welt, denn in ihr ist Russlands Hauptressource gefragt: die Angst, und Russlands wichtigste Dienstleistung: der Sicherheitsdienst. Das ist eine klassische Strategie der Schutzgeld-Erpressung: Es wird auf symbolische Art und Weise eine Bedrohung konstruiert, und dann eine Kryscha gegen sie angeboten, zu einem Preis, der schon nicht mehr symbolisch ist.
Das Schlüsselwort hier lautet: Schwäche. Nachdem Russland erst den Kalten Krieg und dann den auf ihn folgenden Frieden verloren hat, den Megaprofit aus dem Ölverkauf wie die Reste seiner Reputation verspielend, ist es nicht dazu in der Lage, globale Probleme konstruktiv zu lösen. Es zieht stattdessen vor, sie zu verschlimmern. Russland nimmt keine Flüchtlinge aus der Dritten Welt bei sich auf, um sie zu integrieren, sondern es lenkt ihren Strom über die Grenzübergänge in Finnland und Norwegen nach Westeuropa, es nutzt sie als ein Instrument im hybriden Krieg, um so die Migrationskrise in Europa zu verschärfen und eine Negativstimmung Migranten gegenüber hervorzurufen. Es löst nicht die humanitären und politischen Probleme Syriens, sondern mischt sich in den bestehenden Konflikt mit egoistischen geopolitischen Zielen ein und bringt ihn so auf eine neue Ebene. Es steuert nichts zur internationalen Untersuchung der Katastrophe des Flugs MH17 bei, sondern bringt diese aus dem Tritt, indem es ständig neue, einander widersprechende Versionen präsentiert. Es arbeitet mit der WADA und den internationalen Sportverbänden nicht zusammen, um so der Doping-Epidemie im Sport Herr zu werden, sondern versucht die WADA zu diskreditieren und zu beseitigen, dadurch, dass immer neue Informationen ins Gespräch gebracht werden, und, wie vermutet wird, auch durch Hacker-Attacken.
Das ist eine klassische Strategie der Schutzgeld-Erpressung: Es wird auf symbolische Art und Weise eine Bedrohung konstruiert, und dann eine Kryscha gegen sie angeboten
Und dabei muss man sagen, dass diese Strategie Russlands bisher gar nicht schlecht funktioniert. Mit gemeinsamen Bemühungen haben das Verteidigungsministerium, das Außenministerium, Russia Today und verschiedene Strumtruppen der „Volksdiplomatie“ – von Fussballfans bis zu Motorrad-Trupps und Internet-Trollen, die das westliche Netz überschwemmen – den Export an Angst und Unvorhersagbarkeit maximal gefördert, bei minimalen Kosten.
Der Westen bildet sich heute schon ein, an jeder Ecke eine russische Bedrohung zu sehen – in den Truppenbewegungen Assads und in den Provokationen von Donezker Separatisten, in jedweder Computerattacke (vom Einbruch in die Server der Demokratischen Partei der USA bis zur Attacke auf die Server von Yahoo, an der, wie die Internet-Firma selbst meint, russische Regierungsstellen beteiligt waren), in den unidentifizierbaren U-Booten in der Ostsee, in den turbulenten Vorfällen mit Migranten in europäischen Städten, in der Finanzierung von Donald Trump und Marine Le Pen. Es ist derzeit gar nicht wichtig, in welchem Maße Moskau mit jeder dieser Episoden etwas zu tun hat, ob es sich um geplante Aktionen handelte oder ob einzelne patriotisch gestimmte Bürger selbst aktiv geworden sind: Russland hat einen schillernden Raum der Unbestimmtheit geschaffen, in dem seine Rolle dämonisiert und, aller Wahrscheinlichkeit nach, überzeichnet wird – aber genau das ist es offenbar, worauf Putin es angelegt hat.
Das globale Schreckgespenst
Die Kosten dieser Produktion von Angst sind minimal: Die Ausgaben für die russischen Luftschläge in Syrien belaufen sich nach den Schätzungen von RBC auf weniger als eine Milliarde US-Dollar nach aktuellem Kurs – das ist Kleingeld für russische Verhältnisse, das ist die Hälfte des Stadions Zenith auf der Kreuzinsel [in St. Petersburg – dek] oder fünf Kilometer der [für den Auto- und Bahnverkehr bei den olympischen Winterspielen 2014 gebauten – dek] Trasse Sotschi-Krasnaja Poljana. Wie Präsident Putin es so vielsagend ausgedrückt hat: „Wir können da recht lange unsere Übungen durchführen, ohne unserem Haushalt einen wesentlichen Schaden beizufügen.“ Nehmen wir noch das Budget hinzu für die internationale Nachrichtenagentur Rossija sewodnja, die Arbeit mit der russischen Diaspora und mit Politikern wie Schröder oder Berlusconi sowie die Unterstützung rechtspopulistischer und separatistischer Parteien, die einen politischen Krim-Tourismus auf die Beine gestellt haben, so kommt immer noch eine vergleichsweise geringe Summe dabei heraus. Nichts im Vergleich mit den ruinösen Investitionen in die Infrastruktur der Angst während des Kalten Krieges.
Auf der anderen Seite verfügt der Westen heute sehr viel weniger als vor 30 Jahren über den zum Widerstand notwendigen Willen und die Organisation dazu. Die lange Friedensperiode hat ihn geschwächt, die Epoche des Postmodernismus und des Postheroischen haben ihn demoralisiert. Der Westen ist passiv, uneins mit sich und aufs Wirtschaftliche fokussiert, und Russland nutzt erfolgreich diese Schwäche seines Opponenten. Mit minimalen Mitteln wurde der Archetyp der russischen Bedrohung wieder zum Leben erweckt. Er war im westlichen Unterbewusstsein seit den Zeiten Gorbatschows schon fast in Schlaf gefallen, aber jetzt erhebt er sich wieder zu voller Größe, wie ein ausgehungert herumirrender Bär im Frühjahr. Und es ist kein Zufall, dass die russischen Fussball-Fans, die Vorfront von Putins hybridem Krieg, riesige Transparente auf ihren Reisen mitschleppen mit einem zähnefletschenden Bär, und dass die Hacker-Truppe, die den WADA-Server geknackt hat, sich Fancy Bear nennt – ihr Logo zeigt einen Bären in der Maske von anonymous. Die Symbol-Ökonomie aus der Zeit des Kalten Krieges ist nach 30 Jahren in ihre Ausgangsposition zurückgekehrt: Für die Russen ist Obama an allem Schuld, die Amerikaner suchen nach der russischen Bedrohung noch unter ihrem Bett.
Russland hat einen schillernden Raum der Unbestimmtheit geschaffen, in dem seine Rolle dämonisiert und, aller Wahrscheinlichkeit nach, überzeichnet wird
Übrigens hat der Westen es nicht eilig damit, sich eine Lebensversicherung und Schutzleistungen beim „Sicherheitsdienst Russland“ zu besorgen. Damit die Strategie eines erpresserischen Banditen aufgeht, muss er es schaffen, dem Kaufmann seinen „Schutz“ aufzuzwingen. Der Westen aber drängt nicht allzu sehr auf Verhandlungen über eine „neue Sicherheitsstruktur“ und sieht in Putin keinen neuen Stalin nach dem Vorbild von 1945, mit dem man sich an den Kartentisch setzen muss, um die Welt in Einflusssphären aufzuteilen. Deshalb wäre es noch zutreffender, Russland nicht mit einem mafiösen Erpresser zu vergleichen, sondern mit einem Rüpel „aus dem Viertel“, einem Gopnik. Wie es ein Internet-Witz sagt: Russland hat sich von den Knien erhoben, um sich gleich darauf wieder auf die Fersen hinzuhocken [das ist der bei den Gopniki beliebte slavic squat – dek].
Ein solcher Gopnik hält ein ganzes Viertel in Schach, ohne reale Kraft zu besitzen, er manipuliert die gesetzestreue Bevölkerung mithilfe wohldosierter Drohungen. In seinem Arsenal hat er eine Reihe kleiner Rituale (einen Schwachen verprügeln, jemandem ein Mobiltelefon abpressen, die Polizei provozieren, das Messer zücken, das Hemd vor der Brust zerreißen), um seiner Umgebung zu demonstrieren, dass er dazu bereit ist, Gesetz und Konvention zu brechen. Doch vor äußeren Kräften und organisiertem Widerstand gibt der Gopnik sofort klein bei, wofür es allerdings nötig ist, dass solche zur Verfügung stehen. Im derzeitigen System der internationalen Beziehungen – Obama geht und Europa ist durch den Brexit geschwächt – gibt es solche Kräfte nicht.
Russland hat sich in ein Schreckgespenst globalen Ausmasses verwandelt, und vergleichen sollte man es nicht mit Libyen oder Nordkorea, sondern mit der Sowjetunion der frühen 1980er Jahre
Wie also weiter? Erst einmal hat es den Anschein, dass das Ziel der hybriden Kriege erreicht ist: Man hört Russland wieder zu, und man fürchtet es wieder. Aber diese Furcht gleicht der vor dem Iran oder vor Nordkorea, die schon einige Jahrzehnte lang die Rolle der globalen Bösewichte spielen.
In den Klub der weltweit führenden Nationen, in dem es bis 2014 einen rechtmäßigen Platz hatte, ist Russland nicht eigentlich zurückgekehrt, eher hat es sich in ein Schreckgespenst globalen Ausmaßes verwandelt, und vergleichen sollte man es nicht mit Libyen oder Nordkorea, sondern mit der Sowjetunion der frühen 1980er Jahre. Ganz genauso hatte diese damals alle Ressourcen und allen Respekt verspielt und alle Verbündeten verloren. Ohne Kraft, globale Probleme zu lösen, betrieb sie eine desaströse Außenpolitik, vom Wettrüsten bis zum Afghanistan-Krieg. Ihre weltweiten Ansprüche und ihre Träume von verlorener Größe – äußerlich aufgedonnert, aber innen hohl – waren lachhaft, und so verwandelte sich die Sowjetunion in einen Gefechtskopf, vollgestopft mit Schutt, in ein Denkmal ihrer selbst. Man glaubte, es sei für immer und ewig standfest – bis es plötzlich, in einem einzigen Augenblick, zusammenstürzte. „Es war für ewig, bis es denn vorbei war“ – so heißt es in einem aktuellen Buch von Alexei Yurchak zum Zerfall der UdSSR. Das Ende derartiger Projekte kommt immer unerwartet, es hat immer etwas Läppisches, und aufhalten lässt es sich nie.
Russki Mir (dt.„Russische Welt“) ist ursprünglich ein Kulturkonzept, das in seiner ideologisierten Form auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt wird. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg, der jeweils am 9. Mai in großen Paraden und darüber hinaus in zahlreichen Produkten der Populärkultur inszeniert wird. Die Russische Welt umfasst ihrem Anspruch nach alle Gebiete, in denen die russische Kultur präsent ist.1
Die Anfänge der Russischen Welt gehen mindestens zehn Jahre zurück. Präsident Putin definierte das Konzept programmatisch bei einem Treffen mit Kulturschaffenden im Jahr 2006: „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch leben, in Russland oder außerhalb. Verwenden Sie diesen Ausdruck so oft wie möglich – Russische Welt.“2 Putin erklärte das Jahr 2007 offiziell zum „Jahr der russischen Sprache“ und verwies dabei auf die Wichtigkeit des Russischen als eines verbindenden Elements zwischen den Bürgern der Russischen Föderation und den „Landsleuten“ im nahen Ausland. Neben der Sprache wurden aber auch eklektisch einzelne Elemente aus den Werken von Philosophen wie Wladimir Solowjow, Nikolaj Berdjajew oder Iwan Iljin zur Begründung der Ideologie der Russischen Welt herangezogen. Inhaltlich ist die Ideologie der Russischen Welt weitgehend konturlos und unbestimmt. Immer wieder werden eigene „geistig-moralische Werte“ beschworen, die sich angeblich grundlegend von den Idealen eines als feindlich wahrgenommenen Westens unterscheiden.3
Vom kulturellen Projekt zur Ideologie
Aus einem zunächst nur kulturellen Projekt wurde aber bald eine politische Ideologie, die zur Rechtfertigung der russischen Intervention in Georgien (2008) und der Angliederung der Krim (2014) eingesetzt wurde. Die Militäraktion in Südossetien wurde vom damaligen Präsidenten Medwedew mit dem Schutz der „Landsleute“ begründet (die meisten Südosseten verfügen über russische Pässe). Wladimir Putin verkündete bereits am Nationalfeiertag 2013, dass „die Russische Welt nicht auf dem Prinzip ethnischer Exklusivität“ beruhe, sondern offen für alle sei, die „sich selbst als Teil Russlands und Russland als ihre Heimat“ betrachteten.4 Ein Jahr später hob der Präsident hervor, Russland habe auf der Krim bewiesen, dass es seine „Landsleute“ beschützen und „Wahrheit und Gerechtigkeit“ verteidigen könne.5
Auch in den ostukrainischen Kriegsgebieten zeigt der Begriff der Russischen Welt seine Wirkmächtigkeit: In der Präambel der Verfassung der Donezker Volksrepublik wird er gleich vier Mal erwähnt.6
In der nationalen Sicherheitsstrategie, die am 31. Dezember 2015 in Kraft trat, taucht das Konzept der Russischen Welt zwar nicht explizit auf, es gibt aber ein ganzes Kapitel, das sich der Kultur widmet. Artikel 81 hält explizit fest, dass die russische Sprache folgende Aufgaben erfülle: Sicherung der staatlichen Einheit des Landes, Kommunikation zwischen den einzelnen Nationen der Russischen Föderation, Integration im postsowjetischen Raum sowie Kulturleben der Landsleute im Ausland.7
Die Stiftung Russki Mir
Parallel zur politischen Instrumentalisierung des Kulturprojekts erfolgte eine Institutionalisierung der Russischen Welt. Seit 2007 existiert eine staatliche Stiftung mit dem Namen Russki Mir, die im Jahr 2015 aufgrund der Wirtschaftskrise allerdings nur etwa 60 Prozent der vorgesehenen 750 Millionen Rubel [etwa 10,5 Millionen Euro] erhielt.8 Auf ihrer Website legt die Stiftung offen, dass ihr Ziel in der „Förderung der Verbreitung objektiver Information über Russland, über die russischen Landsleute und Schaffung einer Russland wohlgesonnenen öffentlichen Meinung“ bestehe.9
Die Stiftung Russki Mir ist hauptsächlich im kulturpolitischen Bereich tätig. An ausgewählten ausländischen Universitäten werden Russische Zentren eingerichtet, die Sprachunterricht und Bibliotheksdienste anbieten.10 Bereits die hochkarätige Zusammensetzung des Stiftungsbeirats zeigt, welche Wichtigkeit dieser Organisation beigemessen wird: Aus dem Kabinett sind der Bildungsminister, der Kulturminister und der Außenminister vertreten.
Der Vorsitzende der Stiftung Russki Mir, Wjatscheslaw Nikonow, befindet sich ganz auf der Linie der patriotischen Staatsideologie. Die Ukraine hält er für einen „failed state“, der über „keine Regierung, keine Armee, keine Wirtschaft, keine innere Einheit, keine Demokratie und keine Ideologie“ verfüge.11 Russland sei demgegenüber eine starke Nation, die auf bedeutende historische Errungenschaften zurückblicken könne.
Nikonow beschreibt die russische Geschichte als fortwährende Expansion – von der sibirischen Landnahme über die Kolonisierung Amerikas bis zur Eroberung des Kosmos.12 In solchen Verlautbarungen zeigt sich auch der Unterschied zu ähnlichen Institutionen anderer Länder wie etwa der Goethe-Institute.
Die Reichweite des ideologischen Konzepts der Russischen Welt ist allerdings beschränkt. In einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Dezember 2014 in Russland stellte sich heraus, dass 71 Prozent der Befragten noch nie von Russki Mir gehört hatten.13
Über die vergangenen Monate ist es in den Medien stiller geworden um den Osten der Ukraine, auch, weil seit Oktober 2015 der russische Einsatz in Syrien ins Zentrum des internationalen Interesses getreten ist. Das russische Internetportal SLON veröffentlicht nun einen Text, der die derzeitigen Zustände in der selbstproklamierten Donezker Volksrepublik aus erster Hand schildert.
Doch zuvor eine kurze Chronik der Ereignisse: Im November 2013 begannen die Proteste gegen die Regierung Janukowitsch in der Ukraine, im Februar 2014 zerfiel die alte politische Führung. Im März folgte die russische Annexion der Krim, im April besetzten prorussische Demonstranten Verwaltungsgebäude in mehreren Gebieten der Ostukraine und riefen die Volksrepublik von Donezk, später die von Lugansk aus. Mithilfe der Armee versuchte die ukrainische Führung die Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Während die militärischen Konflikte andauerten, wurden im September 2014 und im Februar 2015 die beiden Minsker Abkommen ausgehandelt, ab September 2015 auch der Waffenstillstand in groben Zügen umgesetzt, wenngleich weiterhin vereinzelte Kampfhandlungen stattfinden. Genauere Informationen und Hintergründe zu diesen Themen bieten unsere Texte zur Annexion der Krim, zum Krieg im Osten der Ukraine und zur selbstproklamierten Donezker Volksrepublik DNR.
SLON leitet seinen aktuellen Beitrag folgendermaßen ein:
„Der Autor dieses Texts, ein in Donezk lebender und arbeitender Journalist, bat uns darum, seinen Namen in der Veröffentlichung nicht zu nennen. Obwohl es in diesem Artikel so gut wie nicht um Politik geht, sondern lediglich um den Alltag in der durch Separatisten von der Ukraine abgetrennten Region, könnten beim sogenannten Ministerium für Staatssicherheit (MGB) der Donezker Volksrepublik (DNR) Fragen aufkommen. Zumal es in der DNR in jüngster Zeit vermehrt zu Festnahmen von Aktivisten und Ehrenamtlichen gekommen.
‚Donezk ist ein Keller, aber hier wird hin und wieder gefeiert, geheiratet, kommen Kinder zur Welt. Menschen sind seltsame Wesen, sie überleben immer‘, bemerkt der Autor. Was von außen betrachtet wie dunkelste Vorzeit wirkt, empfindet man unter kriegsähnlichen Bedingungen irgendwann als Normalität – sowieso ist der Begriff der Normalität im postsowjetischen Raum durch Revolutionen, Kriege, Totalitarismus und den Schock des Übergangs zur Marktwirtschaft ja stark ins Wanken gekommen. Nicht von ungefähr meinen die in diesem Artikel beschriebenen Pensionäre, sie wären ‚wieder in der UdSSR gelandet‘.“
Die Frage: „Gibt es Leben in Donezk?“ ist merkwürdig und verrät einen sofort als Ortsfremden, einen, der nicht mit den hiesigen Realien vertraut ist. Leben gibt es immer, wo noch Menschen leben. Sogar in Stalingrad im Dezember 1942 oder in Berlin wie im April 1945. Warum dann nicht auch im jetzt verhältnismäßig friedlichen Donezk, in dem laut verschiedenen Schätzungen circa 600.000 Menschen leben, oder im gesamten von der DNR kontrollierten Gebiet, in dem 700.000 Menschen ihre Rente in Rubel erhalten und insgesamt fast zwei Millionen leben.
Diese Menschen müssen Tag für Tag irgendwas essen, irgendwo arbeiten, zur Schule und zum Arzt gehen, heiraten, und manchmal sterben sie auch an ganz friedlichen Krankheiten. Und dann werden auch sie feierlich auf Friedhöfen in Särgen verschiedener Preis- und Qualitätsklassen beigesetzt und mit Trauerfeiern verabschiedet. Alles wie im 530 Kilometer entfernten Woronesch, bloß ein bisschen komplizierter.
Zunächst einmal: Die Stadt ist tadellos sauber, die kommunalen Dienste arbeiten einwandfrei. Ebenso regelmäßig und ohne Störungen funktioniert der gesamte öffentliche Verkehr. Eine Fahrt mit dem Trolleybus oder der Tram kostet anderthalb Rubel (wobei der Preis für den Trolleybus allerdings gerade auf drei Rubel erhöht wurde), die Fahrscheine sind farbig bedruckt, das Design ändert sich praktisch jeden Monat. In den Bussen gibt es keine Fahrscheine, die Fahrt kostet drei Rubel.
Der Krieg ist nicht mehr zu spüren. Besonders, wenn man ihn nicht spüren will. Bewaffnete Menschen sieht man seit den radikalen Säuberungsaktionen gegen die hiesigen Kosaken im April letzten Jahres so gut wie keine auf den Straßen, betrunkene Volksmilizen erst recht nicht. Schüsse sind zu hören, aber die hier lebenden Menschen unterscheiden zwischen Beschuss und Anflug. Jede Rentnerin im Trolleybus kann bei weit entfernten Schießgeräuschen großkalibriger Maschinengewehre sagen: das ist am Flughafen, oder: das sind Übungen auf dem Schießplatz in Durnaja Balka.
Und dann ist da natürlich noch die Sperrzeit. Von 23:00 Uhr bis 5:00 Uhr früh. Sie wird streng eingehalten – nach 22:00 Uhr ist es schwer, ein Taxi zu bestellen, besonders in der Innenstadt. Die Taxifahrer sind auch nur Menschen, auch sie müssen rechtzeitig zu Hause sein, und die meisten Patrouillen sind im Zentrum unterwegs.
Naja, und aus verständlichen Gründen gibt es weder einen Flughafen noch Eisenbahnverbindungen.
Die Bevölkerung
Wie viele Menschen leben in Donezk? Ein endloses Thema, heute genauso wie vor dem Krieg. Früher lag die Stadt knapp unterhalb der Millionengrenze. Eine zuverlässige aktuelle Statistik gibt es nicht. Der vom Oberhaupt der DNR Alexander Sachartschenko ernannte Bürgermeister Igor Martynow (ehemals Direktor eines Parks für Kultur und Erholung) behauptete eine Zeitlang, gemessen an der Menge des hergestellten Brotes würden in Donezk etwa 600.000 Menschen leben, und ließ, wie zuvor die gewählten Bürgermeister, wöchentliche Geburtsstatistiken drucken. Die Statistiken zeigten, dass die Geburtenrate um die Hälfte oder gar ein Drittel gesunken war.
Laut einer ukrainischen Statistik haben 1,7 Millionen Menschen „einzelne Regionen“ der Gebiete Lugansk (Anfang 2014 bewohnt von 2,2 Millionen Menschen) und Donezk (Anfang 2014: 4,3 Millionen) verlassen und sich in anderen Gegenden der Ukraine angesiedelt. Fast 1 Million Menschen sind nach Russland ausgereist und etwa 400.000 nach Belarus. Besonders unter der Ausreise von Unternehmern, Professoren, Ärzten und Ingenieuren hat die Stadt zu leiden. Unter den Gebildeten und gut Situierten lag der Anteil der Ausgewanderten sicher bei über 50 Prozent. Nach fast zwei Jahren des Exils haben viele von ihnen in Lwiw, Kiew oder Dnipropetrowsk Fuß gefasst und nicht vor, in die geschundene Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren.
In Donezk selbst jedoch sind Unterhaltungen darüber, wie sehr sich die Stadt zum Besseren gewandelt habe und wie viele Menschen zurückkehren würden, zum Volkssport und geworden und gelten als Zeichen, „dass es bald Frieden geben wird”. Beurteilt wird das zum Beispiel an der Menge von Autos auf den Straßen. Teure Autos gibt es im Vergleich zum Vorjahr wesentlich mehr. Manchmal bilden sich sogar Staus.
Die Stadt
Am meisten haben in Donezk die Außenbezirke gelitten, die an Kampfschauplätze grenzen – die Umgebung des Flughafens, die Vororte Peski, Marjinka. Man kann durchaus mal eben eine Spritztour in die halbverlassenen und beschädigten Viertel des Kiewski Rajon unterhalb der Putilowski-Brücke unternehmen und nach einer kurzen Exkursion in zehn Minuten wieder am Puschkin-Boulevard sein, dem Ballungszentrum der besten (regulär arbeitenden) Restaurants der Stadt. In den betroffenen Bezirken sind vor allem kaputte Fenster und ausgebrannte Buden und Verkaufspavillons zu sehen.
Überall sind die Schulen und Kindergärten geöffnet. Schon im August und September des vergangenen Jahres waren mit zwei humanitären Konvois 1000 Tonnen neuer russischer Schulbücher gekommen. Ukrainische Geographie und Geschichte wurde verboten, jetzt ist das erste Thema nach der Heimaterdkunde die Waldtundra. Zu Beginn des Jahres wurde zusätzlich das Fach Staatsbürgerliche Erziehung zum Donbass-Bürger eingeführt. Für alle, von der ersten bis zur elften Klasse. Der Kurs ist in drei Abschnitte unterteilt: Donbass – mein Heimatland, Selbsterziehung zum Bürger der Donezker Volksrepublik, Donbass und Russki Mir. Um im Stundenplan Platz zu machen, hat man die Ukrainisch-Stunden reduziert und das Fach Ethik abgeschafft. Außerdem ist das Essen in den Kindergärten und Schulen seit dem 1. Januar kostenfrei. Eine extrem wichtige Erleichterung.
Es gibt Kinderfeste, Pionierhäuser, Arbeitskreise und Tanzschulen. Adressen von zurückgekehrten Yogalehrern kursieren wie früher die Valuta. Schwimmbäder und Sportclubs sind wieder in Betrieb. Die Theater geöffnet. Alle sind bemüht, den Krieg nicht zu bemerken und alle möglichen „genauen Angaben“ über einen baldigen Frieden aufzuschnappen.
Stromausfälle gibt es in Donezk und Makejewka so gut wie keine. Nur in der direkten Einschlagzone kommt es manchmal dazu, wenn eine Stromtrasse getroffen wird – in der sogenannten grauen Zone (ein neutraler Streifen zwischen den Kriegsparteien, der nach dem Abzug der Waffen von der Demarkationslinie entstanden ist, wie im Minsker Abkommen vereinbart).
Bis zuletzt wurden sogar, anders als in der Ukraine, die Tarife für kommunale Dienstleistungen nicht erhöht. Wobei die Preise nach dem auf eins zu zwei festgesetzten Wechselkurs von Griwna zu Rubel berechnet und fixiert sind.
Probleme gab es mit der Heizung und dem Benzin. Benzin wird aus Russland eingeführt, doch das Jahr 2015 stand ganz im Zeichen der Benzinkrisen. Mal gab es schlicht keinen, mal lag der Preis für einen Liter 95er bei 57 Rubel [0,70 Euro; zum Vergleich: in Moskau kostet der Liter circa 40 Rubel]. Benzin und Gas kamen über Briefkastenunternehmen des Oligarchen Sergej Kurtschenko in die DNR, der als Janukowitschs Brieftasche gilt. Die intransparenten Versorgungswege führten zu einer Reihe von Konflikten und organisierten Demonstrationen gegen ukrainische Oligarchen in Donezk, woraufhin in den Gasleitungen schlagartig der Druck abfiel. Heute ist die Wärmeversorgung stabil.
Geld und Lebensmittel
Die Gespräche der Menschen, die in der Stadt geblieben sind, drehen sich heute weniger um Politik als vielmehr ums Geld. Ärzte und Lehrer bekommen erst seit letztem Sommer regelmäßig Gehalt. Damals wurde der Wechselkurs von Rubel zu Griwna per Befehl auf zwei zu eins festgelegt (auf dem freien Markt liegt der Kurs bei drei zu eins). Die Gehälter rechnete man einfach um, indem man die ukrainischen mit zwei multiplizierte und in Rubel auszahlte. Lehrer und Ärzte hatten zuvor um die 4000 Griwna [im Juli 2015 etwa 170 Euro] verdient, jetzt bekommen sie im Monat also alle etwa 7000 bis 8000 Rubel [85 bis 100 Euro]. Dieses Gehalt gilt als gut. Etwa genauso viel verdienen zum Beispiel Mitarbeiter von lokalen Fernsehsendern. Für einen Job in einem Unternehmen mit einem Gehalt von 5000 Rubel [62 Euro]stehen die Leute Schlange. Aber es gibt auch nicht gerade viele funktionierende Unternehmen.
Einige wenige Fabriken und Bergwerke sind in Betrieb, deren Prozessketten mit der Ukraine verbunden sind. Das sind Fabriken von Rinat Achmetow und Zechen, die Kohle an die Ukraine liefern. Ich hatte Gelegenheit, mit Mitarbeitern des Potschenkow-Bergwerks in Makejewka zu sprechen. Die dortigen Grubenarbeiter bekommen ihr Gehalt regelmäßig in Griwna auf ukrainische Konten gezahlt – im Durchschnitt etwa 10.000 [circa 340 Euro]. Nach hiesigem Maßstab sind sie reich. Ähnlich sieht es im Sassjadko-Bergwerk aus. Aber das sind einzelne Glückspilze.
Ansonsten ist eine Deindustrialisierung im Gange. In Sneshnoje wurde eine bekannte Fabrik stillgelegt, die Schaufeln für Hubschrauberturbinen herstellte, in Donezk steht das Topas-Werk still, das früher das Funkmess-Überwachungssytem Koltschuga produzierte, in Makejewka ruht das Eisenhüttenwerk, stillgelegte Fördertürme werden zu Metallschrott verarbeitet.
Die Preise für Lebensmittel sind in der DNR niedriger als auf der Krim, aber höher als im benachbarten ukrainischen Mariupol, an das die nicht anerkannte Republik unmittelbar grenzt. Urteilen Sie selbst: Schweinefleisch kostet 250 bis 320 Rubel [3 bis 4 Euro], fetter Speck 300 bis 320 Rubel [3,70 bis 4 Euro], tiefgefrorenes Hühnerfleisch 120 Rubel [1,50 Euro], Reis 60 Rubel [0,75 Euro] das Kilo. Das sind Lebensmittel, die nicht für jeden zugänglich sind. Wozu jeder Zugang hat, sind die humanitären Hilfspakete. Das Vorhandensein eines Autos oder eines Mannes, der von Montag bis Freitag zum Beispiel im besagten Mariupol Arbeit gefunden hat, ist ein bedeutender Vorteil. Viele Familien leben ausschließlich von ukrainischen Lebensmitteln, und von Sonntag auf Montag sowie freitags sind die Schlangen entlang der Blockposten für Ausreise aus oder Einreise nach Donezk besonders lang. Benzinkosten werden mithilfe des Internets gespart. Sehr beliebt ist die Seite BlaBlaCar, Mitfahrer bezahlen 150 bis 200 Griwna [5 bis 7 Euro] pro Kopf.
In den letzten Monaten wurde es sehr beliebt, die Rolle Russlands bei der Sicherstellung des Lebens der Republik hervorzukehren. Früher sprach man in Donezk nur ungern über die „Kuratoren aus dem Kreml“ und darüber, woher die Rubel in der DNR kommen. Doch als im Herbst vorübergehend der Minsker Friedensprozess in Gang kam, als mit harten Maßnahmen ein zweimonatiger beidseitiger Waffenstillstand durchgesetzt wurde, machte sich gewisse Ratlosigkeit breit: „Lassen die uns etwa im Stich?!“ Wenn jetzt weiter über „russische Experten“, russische Armeeangehörige oder russisches Geld geredet wird, dann ist das daher auch ein Anzeichen dafür, dass Russland nicht vor hat, die Republiken aufzugeben.
Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, welcher Anteil des hiesigen Haushalts durch eingeführte Rubel abgedeckt wird. Laut Nachforschungen deutscher Journalisten handelt es sich um circa 80 Millionen Euro pro Monat, die Russland als Hilfe bereitstelle. Das ergibt knapp eine Milliarde Euro im Jahr.
Humanitäre Hilfe
Noch ein Vorteil im Rennen ums Überleben ist die Möglichkeit, humanitäre Hilfspakete zu erhalten. Am weitesten verbreitet und am magersten sind die aus dem Fonds Wir helfen, der dem ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow gehört. Sein Fonds ist der größte Abnehmer von Nahrungsmitteln aus der Ukraine. Pro Monat werden circa 20.000 Tonnen Nahrungsmittel nach Donezk und Makejewka gebracht (nur dort läuft die Ausgabe der Hilfsgüter). Freiwillige Helfer sortieren in der Donbass Arena Monatsrationen in Tüten mit Firmenaufdruck, versehen sie mit „Nicht zum Verkauf“-Aufklebern. Die Freiwilligen arbeiten ehrenamtlich, bekommen dafür aber üppigere Lebensmittelrationen.
Fette humanitäre Hilfe kommt aus Israel und Russland. Die israelische kommt über die Sochnut, die Jewish Agency for Israel und steht jedem zu, der jüdische Wurzeln nachweisen kann. Hier bilden sich ebenfalls stattliche Schlangen, auch Damen in Nerzpelzen sind zu sehen – in Donezk ist es keine Schande, humanitäre Hilfe zu bekommen. Die Tüten aus Russland und Israel sind besser bestückt und enthalten Fleischkonserven.
Mit der Hilfe aus Russland ist es komplizierter. Die berühmten weißen Konvois helfen eher auf staatlicher Ebene – mit Lebensmitteln für Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, mit Benzin für Fahrzeuge der Ambulanz, Polizei und des Katastrophenschutzministeriums sowie mit Baumaterial und Schulbüchern. Dass Hilfsgüter in Tüten ausgegeben werden, kommt eher selten vor. Ich kenne persönlich nur zwei Familien, die von sozialen Einrichtungen russische Hilfspakete erhalten. In einem Fall handelt es sich um die Familie eines Volksmilizen, sie sind Aussiedler aus Slawjansk, in dem anderen um eine alleinerziehende Mutter mit vielen Kindern.
Am wohlhabendsten, wenn man das so sagen kann, sind in der DNR die Rentner. Darunter finden sich – kein Scherz – einige, die nichts dagegen hätten, wenn so ein Krieg ohne Geschützfeuer noch eine Weile andauern würde. Überhaupt ist alles wie zu Sowjetzeiten: Es gibt keine erkennbare soziale Ausdifferenzierung, und die Kinder und Enkel suchen die Nähe der Alten – denn die haben Geld. Die allermeisten Pensionäre erhalten ukrainische Renten. Die Mittel aus dem Rentenfonds der DNR werden dafür diskret „Hilfe aus Russland“ genannt. Die Summe ist für alle gleich: um die 2500 Rubel im Monat.
1220 Griwna [circa 40 Euro] im Monat bekam früher, in der Ukraine, eine alte Dame aus einer der Siedlungen in Makejewka, mit der ich einmal ausführlich über das Leben debattierte. Die Unterscheidung in Reich und Arm verläuft jetzt entlang ganz anderer Grenzen. „Bei uns im Haus wohnt ein ehemaliger Grubenarbeiter“, erzählte sie. „Der bekommt 4000 Griwna [circa 135 Euro] ukrainische Rente. Dazu die Hilfe aus Russland. Und dann bekommt ja auch noch seine Frau Rente, so kommen sie zu zweit auf 20.000 Rubel [circa 245 Euro]. Solche Leute eben. Essen sogar Fleisch.“
Ukrainische Renten bekommen die Menschen, indem sie sich im benachbarten Mariupol oder Pawlograd als temporäre Aussiedler registrieren lassen – selbst oder mit Hilfe einer der zahlreichen Firmen, die sich dem Thema „Rententourismus“ widmen. Neben Rentnerfahrten in die Ukraine gibt es auch das sogenannte Karten-Business, das heißt, jemand fährt mit zwei Dutzend Kreditkarten auf die ukrainische Seite und hebt am Bankautomaten gegen eine gewisse Provision die Renten ab.
Auch Geschichten im Geiste von Gogols Toten Seelen gibt es: Weil die DNR von allen elektronischen Registern abgekoppelt ist, fließt weiterhin Geld auf die Rentenkonten, auch wenn der Inhaber bereits verstorben ist.
Die medizinische Situation ist schwierig. Viele Ärzte sind schlicht ausgewandert. Was noch existiert und funktioniert sind das Zentrum für Brandverletzungen, die regionale Unfallchirurgie und die neuro- und herzchirurgischen Zentren der Kalinin-Klinik. Das ist im Moment der einzige Ort im ganzen Donbass, an dem noch Herzoperationen durchgeführt werden. Vor dem Krieg gab es vier solcher Abteilungen – eine in Lugansk, zwei in Donezk und eine in Mariupol.
Die medizinische Versorgung in der DNR ist ausdrücklich kostenlos. Medikamente kommen aus Russland. Es gab einen Fall, da wurde das Forschungslabor der medizinischen Hochschule, das beste in der ganzen Region, von bewaffneten Leuten geschlossen, nachdem man für eine Kontrolluntersuchung Geld genommen hatte. Wo das Labor das Geld für die Chemikalien hernehmen soll, das ist seine eigene Sache.
Business
Man soll nicht glauben, dass es in schwierigen Zeiten allen schlecht geht. In Donezk gibt es eine Menge Menschen, die sich ziemlich gut eingerichtet haben.
In erster Linie gehören dazu die Volksmilizen. Sie sind jetzt alle unter Vertrag und bekommen Gehalt. Im Schnitt 14.000 Rubel [170 Euro]. Dazu kommen Uniform, Verpflegung im Verband und manchmal Lebensmittelhilfen für die Familien. Dabei ist der „große“ Krieg seit einem Jahr vorbei – seit Debalzewo.
Es gibt auch lokale Unternehmer. Die Geschäfte drehen sich hier vor allem um die Geldflüsse in Rubel. Erfolgreich läuft der Einzelhandel mit Lebensmitteln. Die nationalisierte Supermarktkette ATB ist der Kette „Supermarkt der Republik Nr. 1“(Perwy respublikanski supermarkt) gewichen.
Kleine Läden finden Wege, Waren aus der Ukraine einzuführen. Leute, die häufig über die Grenze müssen, bringen im Kofferaum Fleisch, Milchprodukte, Kosmetik, Unterwäsche und Haushaltschemie mit. Fast alles davon ist Mangelware.
Es gibt viele Bargeldservice-Firmen. Für das Abheben von ukrainischen Karten streichen sie mitunter bis zu 30 Prozent ein. Der Prozentsatz für russische Konten ist bedeutend kleiner: Mit einer Karte der Sberbank kostet das Abheben sechs Prozent, bei größeren Summen ab 10.000 Rubel verringert sich der Kommissionssatz auf fünf Prozent.
In meinem Lieblingscafé Gastropub am Prospekt Mira wurde letzte Woche eigens für mich das Licht angemacht. Ich war tagsüber der einzige Gast. Aber die Restaurants auf dem Puschkin-Boulevard sind in der Regel gut besucht. Es gibt jetzt auch viel Werbung mit Flyern, die werden einem packenweise ins Autofenster gereicht. Beworben wird alles Mögliche: Saunen, Massage- und Friseursalons, Tätowierstudios, Ankauf von Gebrauchtwagen mit ukrainischer Registrierung, KFZ-Werkstätten.
Die ukrainischen Multiplex-Kino-Ketten sind in Donezk nicht in Betrieb, aber alte Kinotheater haben geöffnet – hierher schaffen es russische Uraufführungen und sogar ukrainisch synchronisierte Weltpremieren. Bei Letzteren sind sogar die Plakate in ukrainischer Sprache bedruckt.
Das Echo des Krieges: Dienstleistungen wie die Rücksetzung von IMEI-Codes auf Handys zwecks Abhörverhinderung (300 Rubel [3,70 Euro] auf dem Markt für Radiotechnik) oder die Herstellung von exklusiven Schall- und Mündungsfeuerdämpfernfür Kalaschnikow-Maschinengewehre durch in Fabriken angestellte Dreher.
Das Leben in Donezk pulsiert den ganzen Tag und verhallt gegen 19:00 Uhr, um in der Nacht vollkommen stillzustehen. Die Menschen leben allen Widrigkeiten zum Trotz und vermeiden es, über schlechte Nachrichten zu sprechen. Für schlechte Nachrichten kommt man unter Umständen ins Ministerium für Staatssicherheit.
Wollte man es auf eine Formel bringen: Angst, Geldlosigkeit und die Hoffnung, dass die Kanonen stumm bleiben – das ist es, was das Leben in Donezk aktuell ausmacht.
Als Krym-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krym in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krym ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.
Nur wenige Tage nach dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch als Resultat der Proteste auf dem Maidan setzten auf der Krym mehrere richtungsweisende Ereignisse ein: Am 27. Februar besetzten bewaffnete Personen, die sich als „Selbstverteidigungskräfte der russischsprachigen Bevölkerung der Krym“ bezeichneten, das Parlament sowie das Regierungsgebäude der Autonomen Republik Krym in Simferopol. Parallel okkupierten russische Spezialeinheiten, die aufgrund ihrer fehlenden Hoheitszeichen in der Ukraine sarkastisch als grüne Männchen bezeichnet wurden, ukrainische Verwaltungs- und Militärstandorte sowie sämtliche Verkehrswege der Halbinsel. Moskau leugnete dies zunächst vehement, später brüstete sich Putin jedoch damit, dass reguläre russische Soldaten im Einsatz gewesen sind.1
In einer höchst umstrittenen Sondersitzung des Parlaments der Autonomen Republik, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, wurde Sergej Axjonow, Vorsitzender der Splitterpartei Russische Einheit, zum Ministerpräsidenten der Krym ernannt. Zeitgleich stimmte das Parlament der Abhaltung eines Referendums über die Unabhängigkeit der Krym zu. Igor Girkin, ein russischer FSB-Offizier, der später unter dem Kampfnamen Strelkow (dt. „Schütze“) als Separatistenführer im Donbas in Erscheinung trat und nicht nur maßgeblich an den ersten bewaffneten Kampfhandlungen des dortigen Krieges beteiligt war, sondern auch an der Okkupation der Krym, räumte Monate später ein, dass die Abgeordneten von der Volksmiliz zur Abstimmung getrieben wurden.2
Das Referendum wurde nach mehrfacher Vorverlegung am 16. März 2014 abgehalten. Knapp 97 Prozent der Abstimmenden sollen sich bei einer angeblichen Wahlbeteiligung von rund 83 Prozent für den auf den Stimmzetteln als „Wiedervereinigung“ bezeichneten Beitritt der Krym zur Russischen Föderation ausgesprochen haben. Das Krym-Parlament hatte zuvor bereits für eine Unabhängigkeitserklärung der Krym gestimmt. Die offizielle Aufnahme der Krym in die Russische Föderation erfolgte wenige Tage später. Das Referendum sowie sämtliche von Parlament und Regierung der Krym beschlossene Maßnahmen zur Herauslösung der Krym stehen im eindeutigen Widerspruch zum Staats- und Verfassungsrecht der Ukraine und wurden von Kyjiw nicht anerkannt.3
Auch die internationale Staatengemeinschaft erkennt die Eingliederung der Krym in die Russische Föderation nicht an und sieht in ihr eine Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine sowie mehrerer internationaler Verpflichtungen durch Russland.4 Die EU, die USA sowie weitere Staaten reagierten mit Sanktionen gegen Russland. Moskau betrachtet indes unter Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Eingliederung der Krym als rechtmäßig. Abgesehen von der Illegalität des Referendums nach ukrainischer Gesetzgebung und unabhängig von der völkerrechtlich umstrittenen Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein Recht auf Sezession umfasst, ist das Referendum jedoch auch deshalb als nichtig zu werten, weil erst die völkerrechtswidrige militärische Intervention, das heißt die Anwendung von Gewalt, das Referendum ermöglichte.
Umstritten ist, welche Zustimmung eine Sezession in der Bevölkerung der Krym tatsächlich genossen hat. Politische Kräfte, die eine Loslösung der Krym von der Ukraine anstrebten, waren in den letzten Jahren marginalisiert. Der Historiker Jan Zofka verweist allerdings auch darauf, dass das russische Militär in einer politisch feindlichen Umgebung nicht derart ungestört hätte agieren können. Die Russland-Orientierung breiter Teile der Krym-Bevölkerung, Institutionen der Autonomie und Überreste der Unabhängigkeitsbewegung der 1990er Jahre sieht er als begünstigende Faktoren der Annexion als Folge der militärischen Intervention.5 Die massive russische Propaganda im Zuge der Ereignisse auf dem Maidan hat zudem Ängste und Unsicherheit bei Teilen der Bevölkerung der Krym geschürt. In Opposition zur Angliederung an Russland stehen indes große Teile der etwa 300.000 Krymtataren, die das Referendum boykottierten.6