дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Geschichte der NATO-Osterweiterung

    Die Geschichte der NATO-Osterweiterung

    30 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion ist ein alter „Krieg der Narrative”1 neu entfacht: Gab es in den 1990er Jahren ein Versprechen an die Sowjetunion beziehungsweise an Russland, dass sich die NATO nicht weiter Richtung Osten ausdehnt? Inmitten erneuter Spannungen durch einen massiven russischen Truppenaufmarsch an der Ostgrenze der Ukraine präsentierte Russlands Präsident Wladimir Putin im Dezember 2021 auf seiner alljährlichen Pressekonferenz weitreichende Forderungen an die USA und die NATO nach verbindlichen Sicherheitsgarantien. Kurz danach veröffentlichte die Regierung in Moskau Entwürfe für zwei Abkommen mit dem Ziel, eine weitere Öffnung der Atlantischen Allianz nach Osten sowie die Errichtung von US-Militärstützpunkten in früheren Sowjetrepubliken, die nicht der NATO angehören, zu verhindern. Auch müsse die NATO ihre Truppen auf die Positionen von 1997 zurückziehen und die USA müssten ihr Nukleararsenal aus Westeuropa entfernen. Die NATO und die USA hatten Ende Januar jeweils schriftlich auf die Forderungen Moskaus geantwortet, wobei sie klar machten, dass es in den großen Prinzipienfragen keinen Verhandlungsspielraum gibt. Zugleich boten sie jeweils weitere Gespräche an.

    Für die NATO (und die EU) gilt: Jeder Staat ist frei, seine Bündnisse selbst zu wählen. Wer mit wem verbündet ist, liegt in der souveränen Entscheidung einzelner Staaten. Das ist die Grundbedingung der europäischen Sicherheitsordnung. Die russische Absicht: ein Ausdünnen der US-amerikanischen Präsenz in Europa und eine Neuaufteilung des Kontinents in Einflusszonen. Dies weist die Allianz strikt zurück.

    Aus russischer Sicht liegt aber genau hier die Crux. Die europäische Sicherheitsordnung, wie sie sich seit 1992 herauskristallisiert und entwickelt hat, ist für den Kreml unter Putin nicht akzeptabel. Russland will einen cordon sanitaire, eine Pufferzone, zwischen sich und dem Westen schaffen.

    Der Kreml ist nicht nur der Ansicht, dass die NATO-Erweiterung eine Bedrohung für Russland darstellt – sondern auch, dass sie im Widerspruch zu westlichen Zusicherungen steht, die Russland beziehungsweise der sowjetischen Führung 1990 im Zuge der deutschen Einheitsdiplomatie und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gegeben wurden. Die NATO habe seit dem Kalten Krieg sein Land mit „fünf Erweiterungswellen“ ohne Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen „dreist betrogen“, behauptete Putin zuletzt im Dezember 2021. Zur Zeit der Krim-Annexion, im März 2014, sprach er gar vom „Verrat von 1990“ – der Westen habe Russland „viele Male belogen, Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen … Das ist [auch] bei der NATO-Osterweiterung passiert“. Sieben Jahre vorher, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, beklagte er: „Was wurde aus den Zusicherungen unserer westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes?“ 

    Putins Vorgänger Boris Jelzin nannte die NATO-Osterweiterung schon 1993 „illegal“ – und bezog sich dabei auf den 2+4 Vertrag von 1990. 1997 erklärte Außenminister Jewgeni Primakow, ehemaliger Gorbatschow-Berater und Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes, dass mehrere westliche Führer „Gorbatschow gesagt hätten, dass kein einziges Land, das den Warschauer Pakt verlässt, der NATO beitreten würde“.

    Haben die NATO-Partner eine verbindliche Zusage gemacht, auf eine Osterweiterung zu verzichten, um dann irgendwann eine klandestine Kehrtwende zu vollziehen? 

    Laut Jelzin und Putin gab es nach dem Fall der Berliner Mauer fixe Zusagen des Westens bezüglich einer territorialen Ein- oder Selbstbegrenzung der NATO. Der Kontext hierzu ergab sich aus dem Umstand, dass Deutsche und Sowjets im Zuge der deutschen Wiedervereinigung aushandeln mussten, was genau und in welchem Zeitraum mit den 380.000 Soldaten der Roten Armee, die in der (ehemaligen) DDR stationiert waren, geschehen würde, und wie die UdSSR die ihr vorbehaltenen (Alliierten-)Rechte aufgeben würde. Moskau stimmte schlussendlich sowohl dem Rückzug seiner Truppen zu als auch dem Ende seiner alliierten Kontrollrechte. Außerdem erlangte das vereinigte Deutschland seine volle Souveränität und konnte frei seine Bündniszugehörigkeit wählen: die nun größere Bonner Republik blieb Mitglied der NATO. 

    „Keinen Zoll ostwärts“: Was war gemeint?

    Laut Putin hatte Moskau in diesen Fragen nur nachgegeben, weil die NATO dem Kreml zugesichert habe, sich künftig „keinen Zoll ostwärts“ auszudehnen. Dieses Versprechen sei später immer wieder gebrochen worden. Dass der Westen damit durchkam, liege vor allem daran, dass es nie eine verbindliche Vereinbarung oder ein schriftliches Abkommen zu diesem Punkt gegeben hatte. 

    Dieser Teil der Erzählung, mit Bezug auf 1990, beruht jedoch sowohl auf einem Missverstehen der diplomatischen Prozesse auf verschiedenen Ebenen als auch auf der Missinterpretation des 2+4 Vertrags. 

    Bei der viel-zitierten „keinen Zoll ostwärts“-Aussage vom 9. Februar 1990 handelt es sich um eine Formel des US-Außenministers Baker, und nicht (wie mitunter kolportiert) des US-Präsidenten George H.W. Bush, dem die außenpolitische Richtlinienkompetenz und Entscheidungsgewalt letztlich unterlag. Baker benutzte jenen Wortlaut in einem frühen Stadium der Sondierungsgespräche mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, die bei der Lösungsfindung zur deutschen Frage in einer sich stetig verändernden europäischen Sicherheitsordnung helfen sollten. Hier ging es vor allem darum, der Sowjetunion die Angst vor einem sich vergrößernden Deutschland zu nehmen, indem man zusicherte, weder integrierte NATO-Kommandostrukturen auf das „Territorium der vormaligen DDR“ zu verlegen noch NATO-Truppenstationierungen dort vorzunehmen. 
    Da Bakers Formulierung „keinen Zoll ostwärts“ es allerdings verunmöglicht hätte, die Sicherheitsgarantien der NATO gemäß Artikel 5 auf Gesamtdeutschland anzuwenden, schlug Bush Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Brief am selbigen Tag vor, künftig von einem „speziellen Militärstatus“ für die DDR zu sprechen. Dieser Wortlaut wurde am 24./25. Februar 1990 von beiden bei ihrem Treffen in Camp David bestätigt und fand auch Eingang in den späteren 2+4 Vertrag. 

    Bei den Gesprächen im Februar 1990 ging es also nie um die Erweiterung der Mitgliedschaft der NATO, sondern einzig um die Ausdehnung der integrierten NATO-Verteidigungsstrukturen nach Ostdeutschland. Dabei ist auch zu bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt der Warschauer Pakt noch bestand und es somit gar keinen Anlass gab, sich mit der Sowjetunion über zukünftige NATO-Osterweiterungen auszutauschen oder sich gar auf mögliche territoriale Einschränkungen einzulassen.

    Bei aller Unsicherheit, wie die Sowjetunion mit der deutschen Frage umging, standen im Winter/Frühjahr 1990 natürlich auch andere europäischen Sicherheitsmodelle im Raum und hinter verschlossen Türen wurden vielerlei diplomatische Versuchsballons gegenüber Moskau gestartet, um die politischen roten Linien der sowjetischen Führungsriege in Erfahrung zu bringen. 

    So träumte nicht nur Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen europäischen Haus“, sondern unter anderem der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher schon lange von einer pan-europäischen, institutionalisierten KSZE-Option, die möglicherweise nun im Zuge des geopolitischen Umbruchs umgesetzt werden könnte. Dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand dagegen schwebte eine europäische Konföderation ohne die USA vor, die sich in konzentrischen Kreisen um die Kernstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) entwickeln würde. Von den sich überschlagenden Ereignissen überholt, wurden diese Optionen aber schon bald als unrealisierbar ad acta gelegt. Anders als ursprünglich angenommen, vollzog sich die deutsche Einheit, und im Zuge dessen die Lösung der Bündnisfrage, aber viel schneller. Damit lagen sie zeitlich vor – und nicht nach – allen anvisierten europäischen Integrationsprozessen. Die damaligen Protagonisten US-Präsident Bush, der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl gaben dabei die Richtung vor: Am 12. September 1990 unterzeichneten sie das Endergebnis ihres gemeinsam ausgearbeiteten und von allen Seiten getragenen Kompromisses im 2+4 Vertrag – „über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“. 

    Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und US-Präsident George Bush bei einem Gipfeltreffen in den USA, Juni 1990. / RIA Novosti archive / Yuryi Abramochkin / CC-BY-SA 3.0
    Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und US-Präsident George Bush bei einem Gipfeltreffen in den USA, Juni 1990. / RIA Novosti archive / Yuryi Abramochkin / CC-BY-SA 3.0

    Zusammengefasst: Der Vertrag ermöglichte schlicht, dass die NATO die Sicherheitsgarantie gemäß Artikel 5 auf die ehemaligen Gebiete der DDR ausdehnte. Die Zukunft Mittel- und Osteuropas blieb dabei unberücksichtigt.Damit erlangte das Bündnis zwar die Handlungsfähigkeit östlich der alten Trennlinie des Kalten Krieges. Doch lag diese in keinem neuen Mitgliedsstaat, sondern in einer einfach vergrößerten Bundesrepublik – und auch erst nach dem vollständigen sowjetischen Truppenabzug, der auf 1994 terminiert wurde. Des Weiteren wurden erhebliche Einschränkungen beim Einsatz ausländischer NATO-Truppen und Nuklearwaffen auf ostdeutschem Boden vereinbart. Als Gegenleistung für seine Kompromissbereitschaft hatte Kohl Gorbatschow in bilateralen Gesprächen ein Geldpaket von insgesamt rund 100 Milliarden DM angeboten: als Kredite, Wirtschaftshilfe und zur Finanzierung des Abzugs der Rotarmisten. 

    Der 2+4 Vertrag stellte also eine friedliche Übereinkunft aller Parteien zur Lösung der deutschen Frage dar. Im Kontext der großen politischen Veränderungen von Polen bis Bulgarien agierte Gorbatschow allerdings keineswegs blauäugig. Wie er schon im Mai 1990 erklärte, war er sich, was die mögliche „Absicht einer Reihe von Vertretern osteuropäischer Staaten“ betraf, „aus dem Warschauer Pakt auszutreten“ um „anschließend der NATO beizutreten“, völlig bewusst. Dennoch gehörten diese Entwicklungen damals noch einer Zukunft an, die noch nicht scharf umrissen war, und Gorbatschow selbst war zu diesem Zeitpunkt völlig auf sein politisches Überleben und auf das Lösen der vielen inner-sowjetischen Probleme fixiert.

    Entscheidend ist, dass der 2+4 Vertrag die NATO-Osterweiterungsfrage in keiner Form tangierte, auch nicht indirekt dadurch, dass dieser ein späteres Öffnen der Allianz nach Osten gar nicht ansprach oder gar ausdrücklich ausschloss.

    Der Wendepunkt: Auflösung des Warschauer Pakts 1991

    Der eigentliche Wendepunkt, der später dazu führte, dass sich die Beziehungen zwischen dem Kreml und dem Westen verschlechterten und jene Verschlechterung den „Krieg der Narrative“ heraufbeschwor, lag im Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 und in der vorausgegangenen Auflösung des Warschauer Pakts. Denn mit dem Verschwinden des Sowjetimperiums veränderten sich die sicherheitspolitischen Parameter in Europa grundsätzlich. Es entstand ein Sicherheitsvakuum im sogenannten „Zwischeneuropa“ – den Ex-Satellitenstaaten und Ex-Sowjetrepubliken zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. 

    Die Tragik der russischen Situation nach Ende des Kalten Krieges war weniger dem US-amerikanischen Triumphalismus oder dem Überleben der NATO im Zentrum der neuen Sicherheitsarchitektur in Europa geschuldet als Jelzins Scheitern bei der Demokratisierung Russlands, bei den Marktwirtschaftsreformen, bei der Einführung von Recht und Ordnung und beim Versuch, eine Partnerschaft mit den USA und der NATO aufzubauen. Tatsächlich hatten sich die USA und NATO seit dem Sommer 1990 dem Osten und der UdSSR konstruktiv zugewandt und ihnen über den neuen Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) „die Hand der Freundschaft“ ausgestreckt – ein Prozess der Annäherung, der auch nach plötzlicher sowjetischer Implosion 1991, mit allen neuen unabhängigen Staaten, inklusive Russlands, beibehalten wurde.   

    Mit dem Moment allerdings, mit dem Russland 1993 im politischen Chaos versank und revisionistische Stimmen anfingen, Gehör zu finden, begann die aktive Suche nach Sicherheit der Zwischeneuropäer, die nun immer dringlicher den Anschluss an die westlichen Institutionen suchten. Dieser Druck von außen auf die NATO war maßgeblich für die Entwicklungen und Entscheidungsfindung um den Osterweiterungsprozess in den 1990ern und 2000ern. Zwar haben viele der damaligen US-Politiker tatsächlich das Diktum vom „Ende der Geschichte“ beherzigt, für ein immanent betriebenes Expansionsbestreben der Allianz (mit dem Ziel der „Einkreisung“ Russlands) – so wie es heute in der russischen Propaganda dargestellt wird – gibt es aber keine Belege.

    „Geist des Vertrags“

    In jener innen- wie außenpolitischen Defensivlage Russlands begann Jelzin 1993, den 2+4 Vertrag als Verbot der NATO-Erweiterung östlich Deutschlands auszulegen – weil der Vertrag, wie er (und später Putin) betonte, explizit nur Bündnisaktivitäten auf ostdeutschem Gebiet erlaubte. Die Nichterwähnung Osteuropas zusammen mit den festgeschriebenen Beschränkungen in Bezug auf die ehemalige DDR wurden nun also post-hoc als eine implizite westliche Absage an die Osterweiterung interpretiert. Es sei der „Geist des Vertrags“, so schrieb Jelzin dem neuen US-Präsidenten Bill Clinton im September 1993, der „die Option, das NATO-Gebiet nach Osten auszudehnen“, ausschließe.

    Außenminister Jewgeni Primakow erklärte 1997, „die wahre rote Linie“ Moskaus sei, „wenn sich die Infrastruktur der NATO in Richtung Russland bewegt“. Dies sei „inakzeptabel“. Um Russland die bittere Pille ihrer Erweiterung nach Osteuropa zu versüßen, hat die NATO aber gleichzeitig mit dem Kreml die NATO-Russland-Grundakte ausgehandelt. Diese wurde am 27. Mai 1997 in Paris unterzeichnet – noch vor dem Madrider Erweiterungsgipfel. Auf Jelzins Forderung nach bindenden Beschränkungen für die Errichtung einer NATO-Sicherheitsinfrastruktur in neuen Mitgliedsstaaten ging Bill Clinton bei ihren bilateralen Vorgesprächen in Helsinki im März erst gar nicht ein. Und auch Jelzins Versuch, ein russisches Veto gegen eine zukünftige Expansionsrunde, gerade auch in die sowjetischen Ex-Republiken „insbesondere die Ukraine“, in das Abkommen einzubringen, scheiterte.  

    Dass Boris Jelzin, nach allem öffentlichen Einklang vor der Weltpresse, den Inhalt der NATO-Russland-Grundakte in seiner Radioansprache an das russische Volk am 30. Mai 1997 wohlwissentlich falsch beschrieb, nämlich als „Befestigung des Versprechens der NATO, keine Atomwaffen auf den Territorien ihrer neuen Mitgliedsländer zu stationieren – weder ihre Streitkräfte in der Nähe unserer Grenzen aufzubauen […] noch Vorbereitungen für eine relevante Infrastruktur zu treffen“ – das musste in Russland das Gefühl erwecken, einer wiederholten westlichen Täuschung erlegen zu sein. Diese wissentliche Falschaussage verstetigte sich seit Ende der 1990er Jahre zu einem zentralen Propagandamotiv russischer Staatsmedien. 

    Die historischen Akten in Ost und West jedoch beweisen, dass solche Narrative von gebrochenen Versprechen so nicht stimmen. 
     


    Zum Weiterlesen:
    Adomeit, Hannes, NATO-Osterweiterung: Gab es westliche Garantien?, Berlin: Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 3 (2018).
    Kramer, Mark, “The Myth of a No-NATO-Enlargement Pledge to Russia”, The Washington Quarterly 32, 2 (2009), S. 39-61.
    Radchenko, Sergey, “‘Nothing but Humiliation for Russia’: Moscow and NATO’s Eastern Enlargement, 1993-1995,” Journal of Strategic Studies 43, 6-7 (2020), S. 769-815
    Sarotte, Mary Elise, “Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to Bribe the Soviets Out and Move NATO, International Security 35, 1 (2010), S. 110-37.
    Shifrinson, Joshua R. Itzkowitz, “Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion”, International Security 40, 4 (2016),S. 7-44.
    Spohr, Kristina, “Precedent-setting or Precluded? The “NATO Enlargement Question” in the Triangular Bonn-Washington-Moscow Diplomacy of 1990–1991,” Journal of Cold War Studies 14, 4 (2012), S. 4-54
    Trachtenberg, Marc, “The United States and the NATO Non-extension Assurances of 1990: New Light on an Old Problem?”, International Security 45, 3 (2020), pp. 162-203
     

    1. Nünlist, Christian, Krieg der Narrative, in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Bd. 2/4 (2018), (abgerufen am 01.02.2022) ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

    Weitere Themen

    NATO-Russland Beziehungen

    Hinterhof-Diplomatie

    Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Die 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Gorbimanie – Gorbiphobie: Rezeption Gorbatschows in Russland

  • „Der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert“

    „Der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert“

    Mitte Dezember hatte Russland in einem Schreiben unter anderem ein Ende der Ausdehnung der NATO gefordert und auch einen Truppenabzug aus Ländern, die bis 1997 nicht Teil des Bündnisses waren. Ende vergangener Woche kamen die schriftlichen Antworten und fielen aus wie erwartet: Weder die NATO noch die USA können Russland die gewünschten Sicherheitsgarantien geben. 

    Unterdessen verlieh Putin im Telefonat mit dem französischen Präsidenten Macron den russischen Forderungen nochmal Nachdruck. Beide Länder erklärten sich zudem bereit, die Minsk II-Gespräche im Normandie-Format fortzusetzen. Der russische Außenminister Lawrow forderte ähnliche Garantien auch von der OSZE. Angesichts der hohen Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine, auch in Belarus und auf der Halbinsel Krim, die Russland 2014 angliederte, stockten einzelne NATO-Mitgliedsländer ihre Truppen in Osteuropa auf, auch US-Präsident Biden kündigte an, das US-Militärkontingent aufzustocken.

    Gleichzeitig warnte der ukrainische Präsident Selensky vor Panikmache und betonte, dass die Kriegsgefahr nicht größer sei als zuvor. Auch Nikolaj Patruschew, Chef des russischen Sicherheitsrats, sagte der Agentur Interfax zufolge: „Wir wollen keinen Krieg, wir brauchen ihn überhaupt nicht.“

    Und nun? Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Center, sieht im Interview mit Kommersant – das er noch vor den Antworten der USA und der NATO gab – zwei mögliche Szenarien: ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt.

    Für Dimitri Trenin gibt es zwei mögliche Szenarien – ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt / Foto © Gleb Schtschelkunow/Kommersant
    Für Dimitri Trenin gibt es zwei mögliche Szenarien – ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt / Foto © Gleb Schtschelkunow/Kommersant

    Jelena Tschernenko: Stehen wir kurz vor einem bewaffneten Konflikt?

    Dimitri Trenin: Wenn wir von einer kurzfristigen Perspektive sprechen, vom nächsten Monat, dann glaube ich nicht. Was die langfristige Perspektive angeht, hätte ich Fragen an beide Seiten.

    Die Frage an an den Westen wäre: Wird die Führung in Kiew, – seien es einzelne Abteilungen oder auch Akteure, die außerhalb ihrer Kontrolle stehen und mit Schattenfiguren zusammenarbeiten –, eine Provokation starten, um Russland in einen Krieg hineinzuziehen? Die Antwort auf diese Frage ist eher nein. Ein solches Szenario würde den Verantwortlichen in Kiew nicht sonderlich nützen. Denn eine solche Provokation kann nur mit einer Niederlage der ukrainischen Streitkräfte enden. 

    Alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht

    Das Ausmaß der Niederlage könnte für die Ukraine unterschiedlich stark ausfallen. Aber egal, wie hoch der Preis dieses Sieges für Russland wäre, er könnte den kolossalen Schlag nicht wettmachen, den eine Niederlage der Ukraine der Reputation der Biden-Regierung versetzen würde – vor allem innerhalb der USA. Nach Afghanistan zum zweiten Mal einen prominenten regionalen Verbündeten zu verlieren, wäre für sie gerade innenpolitisch äußerst gefährlich. Hinzu kommt der ganze NATO-Kontext und das amerikanische Renommee in der Welt. Denn auch Länder wie China oder der Iran verfolgen die Situation ganz genau.

    Mit anderen Worten, Sie halten das georgische Szenario für unwahrscheinlich?

    Ja, ich habe den Eindruck, dass die Amerikaner genügend Kontrolle über die ukrainische Regierung und die dortigen Akteure haben.

    Und welche Frage haben Sie an Russland?

    Ich glaube, alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht. Und hier gibt es in der Tat viele Fragen, denn wir können nicht wissen, was genau Wladimir Putin sich dabei denkt. Welchen Plan verfolgt er? Was ist seine Strategie? Welche Optionen sieht er? Das lässt sich von außen sehr schwer beurteilen.

    Wie könnte sich die Lage entwickeln?

    Die erste Option wäre wohl recht logisch: Man erklärt, dass wir nie wirklich mit alldem (der Nicht-Erweiterung der NATO und so weiter – Anm. Kommersant) gerechnet haben – wir sind ja nicht blöd, wir verstehen das völlig, aber wir mussten endlich aus der Sackgasse heraus, diesen ganzen westlichen politisch-diplomatischen und militärischen Klüngel aufmischen, vor allem in Washington, und wollten den Ernst unserer Absichten demonstrieren – und haben ja auch etwas erreicht. Erstens haben sie unsere Vorschläge nicht grundweg zurückgewiesen, sondern darauf reagiert, sie haben sich sogar bereit erklärt, unsere Vorschläge schriftlich zu beantworten, und das bedeutet de facto, dass sie unsere Sorgen und Forderungen ernst nehmen.

    Zweitens haben sie eingewilligt, über für uns wichtige Themen zu sprechen, die sie früher ignoriert haben. Zum Beispiel soll es Verhandlungen über ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen geben. Früher wollten sie überhaupt nichts davon wissen, jetzt wollen sie von sich aus darüber verhandeln. Außerdem sind sie jetzt bereit, über eine Einschränkung von Manövern in der Nähe unseres Staatsgebiets zu sprechen, all diese Marine- und Luftwaffenübungen, einschließlich der Simulation von Atomraketenstarts. Wir haben ihnen früher mehrfach gegenseitige Zurückhaltung auf diesem Gebiet angeboten, aber erst jetzt hören sie uns zu. Auch auf andere russische Initiativen gibt es eine Reaktion.

    Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen

    Die russischen Forderungen wurden so entschieden vorgebracht, um die westlichen Mächte, allen voran die USA, zu Sicherheitsgarantien zu bewegen, die für uns akzeptabel sind.

    Es war für uns nicht nur wichtig, die Situation an unseren westlichen Grenzen zu entspannen, sondern auch, den Westen dazu zu bringen, endlich mit uns über Fragen der europäischen Sicherheit zu sprechen.

    Das ist bereits durch die Tatsache geschehen, dass ein Dialog in Gang gekommen ist. Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen. Zwischen 1999 und 2021 hing diese Sicherheit vom Good oder Bad Will der USA ab, mit der NATO als ihrem Hauptinstrument. Jetzt verhandeln die USA und die NATO die europäische Sicherheit – genau wie in Zeiten von Jalta und Helsinki – mit Russland, und dadurch steht diese Sicherheit jetzt auf zwei Pfeilern statt auf einem.

    Kann man davon ausgehen, dass der Westen und vor allem die USA in diesem Szenario dazu bereit wären, erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie das Minsker Abkommen erfüllt?

    Das hoffe ich sehr, aber davon ausgehen würde ich nicht. Die Vereinbarungen von Minsk sind ein diplomatischer Sieg für Russland, der auf dem militärischen Sieg aufbaut, den die Rebellen und die sie unterstützenden Kräfte über die ukrainische Armee im Februar 2015 errungen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob die USA verstehen, dass der Schlüssel, die Situation um die Ukraine zu entspannen, in der Erfüllung des Minsker Abkommens liegt, aber genau so ist es.

    Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben

    Im Prinzip lassen sich die Vereinbarungen noch umsetzen. Man könnte den Donbass immer noch unter den darin formulierten Bedingungen in die Ukraine reintegrieren, wonach die Rechte der Bewohner dieser Regionen gewährleistet und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine in durch Russland anerkannten Grenzen bewahrt würden. Aber bisher sehe ich keine Bereitschaft Washingtons, Kiew dazu zu bringen, das Minsker Abkommen zu erfüllen.

    Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben. In den letzten Jahren zielt die Politik in Washington darauf ab, den Druck auf Russland zu erhöhen – und die Ukraine ist nur einer ihrer Hebel. Wenn ich die Strategie des Westens richtig verstehe, dann wird dieser Druck seinen Höhepunkt erreichen, wenn in Russland der Prozess des Machttransfers beginnt. In einer Konfrontation mit China brauchen die Amerikaner ein gefügigeres Russland. Aber das ist ein lang- und kein kurzfristiges Ziel.

    Okay, das ist die erste Variante – kräftig aufmischen und nehmen, was man kriegt.

    Ja, hier kann man sich in Erinnerung rufen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, und noch viele andere Argumente vorbringen, die für diese Variante sprechen.

    Die zweite Variante bedeutet, dass tatsächlich alles sehr ernst ist und wir uns bereits an einem Punkt befinden, an dem eine neue russische Politik die alte allmählich verdrängt. In meinem Buch New Balance of Power habe ich geschrieben, dass die russische Außenpolitik – sowohl unter Jelzin als auch unter Putin, einschließlich der Medwedew-Periode – auf den Schultern der Politik Gorbatschows steht. Es geht auf die eine oder andere Weise um eine Fortsetzung der Integration in die westliche Welt, um das Finden eines eigenen Platzes darin, um die Suche nach einem Gleichgewicht der Interessen in den Beziehungen zu den USA und anderen Ländern des Westens, wobei der Fokus auf der Zusammenarbeit liegt.

    Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches Projekt zu verwirklichen?

    Aber was, wenn dieser Kurs jetzt radikal revidiert wird? Und das betrifft nicht nur die Außenpolitik, sondern die Richtung, in die Russland sich insgesamt bewegt. Was, wenn wir die Periode hinter uns lassen, in der das wichtigste Ziel die Integration in eine geeinte Welt war, wenn auch zu eigenen Bedingungen? Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird, von dem Präsident Putin gesprochen hat, als er auf die Aussicht amerikanischer „Sanktionen aus der Hölle“ reagierte? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches (auch wirtschaftliches, gesellschaftliches und ideologisches) Projekt zu verwirklichen?

    Vielleicht ist man bereits dabei, ein gesondertes „russisches Projekt“ aufzubauen, das nicht mehr darauf abzielt, sich in eine Welt einzuordnen, in der der Westen wenn nicht die dominierende, so doch immer noch die führende Rolle spielt?

    Im Fall eines Bruchs mit dem Westen könnte Russland in weitaus engere Beziehungen mit bedeutenden nichteuropäischen Ländern treten, Bündnisse eingehen mit Ländern wie China, aber auch mit dem Iran und den Kontrahenten der USA in der westlichen Hemisphäre – Venezuela, Kuba und Nicaragua. In diesem Fall könnte Moskau anfangen, das zu tun, was man ihm im Westen gerne vorwirft.

    Sie sprechen von der Errichtung von Einflusszonen?

    Davon, und von dem Recht auf Gewaltanwendung, um unliebsame Regime zu beseitigen. Die USA haben zum Beispiel im Irak einen Diktator gestürzt. Sie haben dort zwar keine Massenvernichtungswaffen gefunden, aber im Großen und Ganzen ist man im Westen der Meinung, dass sie trotzdem etwas Gutes getan haben, weil der Diktator weg ist.

    Und jetzt stelle ich fest, dass die russischen Diplomaten, allen voran der Außenminister, immer öfter den Begriff „Regime“ verwenden, wenn sie von der ukrainischen Regierung sprechen. Ein Regime ist etwas Unrechtmäßiges. Wenigstens aus moralisch-ethischer Sicht. Und wenn die Regierung illegitim ist, warum dann nicht den gesunden Kräften helfen, sie zu stürzen?

    Russland könnte Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen

    Ich habe das Gefühl, dass Russland nach einem neuen Ankerpunkt für den postsowjetischen Raum sucht. Hier sind verschiedene Varianten denkbar, zum Beispiel, ein erweiterter Begriff des Unionsstaates durch den Einschluss neuer Gebiete. Nehmen wir an, die russische Regierung kommt zu dem Schluss, dass das Minsker Abkommen nicht realisiert werden kann, dann könnten sie die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen. Hypothetisch gesehen könnten sie auch Abchasien und Südossetien dieser Union anschließen.

    Das bezieht sich auf den Fall, dass Russland mit dem, was ihm nicht gefällt, bricht und nach dem Prinzip zu handeln beginnt: „Wenn es nicht im Guten geht, dann eben mit Gewalt.“ Die USA werden da nicht viel ausrichten können, in einen direkten Konflikt mit Russland werden sie nicht treten.

    Sie haben zwei sehr unterschiedliche Szenarien beschrieben. Wenn man eine Analogie zum Schach zieht, ist die erste Variante ein raffiniertes Spiel mit im Voraus durchdachten Zügen und einkalkulierten Risiken. Während bei der zweiten Variante einer der Spieler das Brett mitsamt den Figuren einfach vom Tisch schleudert.

    Ganz genau.

    Aber welches Szenario wird nun umgesetzt? 

    Das weiß ich nicht. Diese Frage kann in unserem Land nur einer beantworten. 
    Aber beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden. Im ersten Fall geht es um einen Verlust der Reputation – sowohl auf internationaler Ebene als auch innerhalb des Landes. Nimmt Russland von seinen Forderungen Abstand, die es als „absoluten Imperativ“ formuliert hat, dann kann man ihm vorwerfen, geblufft zu haben. Großmächte bluffen nicht. Wenn Russland blufft, verliert es an Status in der Welt. Aber selbst wenn ein Teil der Bevölkerung das negativ aufnimmt, ist das nicht besonders schlimm. Innerhalb des Landes ist die Staatsmacht stark genug. Es wäre eher Russlands internationaler Ruf, der darunter leiden würde, man würde es in Zukunft weniger ernst nehmen. Aber überleben kann man das. 

    Beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden

    Das zweite Szenario, das auf militärische Stärke setzt, bringt einen schwerwiegenden Bruch der Beziehungen mit sich, auch innerhalb des Landes. Es wischt die Hoffnungen eines kleinen, aber einflussreichen Teils der russischen Elite vom Tisch, der immer noch darauf wartet, dass sich das Verhältnis zum Westen endlich normalisiert. In seiner radikalen Version – wie es einige westliche Analysezentren beschreiben – würde dieses Szenario auch für breitere Bevölkerungsschichten Russlands zu einer Belastungsprobe werden. Die Rede ist vom Szenario einer „Besetzung der Ukraine“. 

    Sie meinen, wenn es nicht bei der Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk bleibt?

    Ja, wenn die russische Regierung zu dem Schluss kommt, dass die einzige Garantie dafür, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt und auf ihrem Territorium keine US-Raketen stationiert werden, in der unmittelbaren Kontrolle der Ukraine durch Russland besteht oder in der Installierung einer moskautreuen Regierung in Kiew. So oder so würde dieses Szenario ganz anders aussehen als die Krim, wo kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde. 

    Halten Sie dieses Szenario für auch nur irgendwie wahrscheinlich? 

    Eher nicht. Es brächte enorm viele negative Folgen mit sich, beträchtliche menschliche und finanzielle Verluste.

    Also ist es das Worst-Case-Szenario?

    Das kommt darauf an. Für die einen wäre es gut, für die anderen schlecht. Meiner Ansicht nach birgt es ein kolossales Risiko für Russland selbst. 

    Ihrem Buch nach zu schließen sehen Sie in der NATO-Osterweiterung keine so große Bedrohung für Russland. Verstehe ich Sie richtig?

    Für die militärische Balance und das „Gleichgewicht des Schreckens“ ist eine Ausweitung der NATO unter anderem auf die Ukraine keine Bedrohung. Wenn die USA ihre Raketen bei Charkow stationieren, verschaffen sie sich keinen signifikanten militärisch-strategischen Vorteil gegenüber der Russischen Föderation. 

    Aber was ist mit der verkürzten Flugzeit, mit den berühmten „fünf bis sieben Minuten bis Moskau“?

    Das widerspricht sich nicht. Denn was würde in dieser Situation passieren? Russland würde auf seinen U-Booten Hyperschallraketen stationieren, Zirkon zum Beispiel, und damit die US-Küste entlangfahren, womit es sich dieselbe Flugzeit bis zu den wichtigsten amerikanischen Zielen sichern würde. Das Gleichgewicht des Schreckens bliebe erhalten, nur eben auf höherem, gefährlicherem Niveau.

    Ich halte eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung

    Auch eine US-Einheit in Polen oder ein NATO-Bataillon im Baltikum können Russlands Sicherheit nicht ernsthaft bedrohen. Das Einzige, was Russland Probleme bereiten könnte, sind amerikanische Raketen-Abwehrsysteme in Rumänien und Polen. Alles andere ist nicht wirklich bedrohlich.  
    Insofern halte ich eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung.  

    Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Ein Land, das NATO-Mitglied wird, durchläuft eine tiefgreifende Umprogrammierung, die alle Bereiche des Lebens betrifft. Es passiert eine politische und ideologische Transformation. Solange die Ukraine nicht in der NATO ist, besteht immer noch die Möglichkeit, dass das Land als Ganzes oder teilweise beschließt, dass Dinge wie Slawentum, Russki Mir und so weiter doch wichtig sind, und die Beziehungen zu Russland können sich normalisieren, eine Annäherung ist möglich. Zumindest aus Moskaus Sicht bleibt diese Möglichkeit bestehen.  
    Aber wenn das Land der NATO beitritt, dann ist der Zug abgefahren. In diesem Sinn existiert also sehr wohl eine Bedrohung, bloß ist es keine militärische, sondern eine geopolitische und geokulturelle. 

    Übrigens haben der Oberbefehlshaber und die militärisch-politische Führung unseres Landes, wenn man den offiziellen Mitteilungen glauben will, hierzu ganz andere Vorstellungen, die unbedingt zu berücksichtigen sind. 

    Russland hat dem Westen im Fall einer Absage an seine Forderungen mit einer „militärischen Reaktion“ gedroht. Was kann, abgesehen von dem, was Sie schon erwähnt haben, damit gemeint sein? 

    Wenn das Prozedere der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sich so entwickelt wie in Abchasien, dann könnten dort russische Truppen stationiert werden, Militärstützpunkte. Aber ich glaube, der Großteil der kriegstechnischen Reaktion wird in der Stationierung von Waffensystemen an Orten bestehen, wo bisher keine sind.

    Zum Beispiel? 

    Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Russland, wenn es in militärischer Hinsicht in Europa unzufrieden wäre, zusätzliche Iskander-Raketen in Kaliningrad positionieren könnte. Die Oblast Kaliningrad galt als Aufmarschgebiet an vorderster Front, von dem aus Russland jedem Widersacher drohen könnte. Doch Kaliningrad ist physisch getrennt vom restlichen russischen Territorium, dort etwas hinzuliefern und die Verbindung aufrechtzuerhalten ist besonders in Zeiten einer Feindschaft mit dem Westen ziemlich schwierig. Es geht, aber es ist nicht einfach.

    Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China

    Viel einfacher ist es, etwas im freundlich gesinnten Belarus zu stationieren, auf dem Territorium eines Bündnispartners, wo es bisher keine russischen Stützpunkte und Raketen gibt, schon gar keine Atomraketen. Noch dazu, wo der belarussische Präsident …  

    … das von sich aus anbietet?

    Ja, er hat ein feines politisches Gespür und ist bereit, der Russischen Föderation zu einem unausgesprochenen, aber erahnbaren Preis diese Möglichkeit zu bieten. Das ist eine Option.  

    Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China, eine Koordination zwischen Moskau und Peking im militärischen Bereich, eine aktivere militärtechnische Kooperation zwischen beiden Ländern. Möglich ist im Hinblick auf militärische Fragen auch eine Annäherung an den Iran. Anlässlich der Krise rund um die Ukraine hat der russische Präsident auch mit den Staatsoberhäuptern Venezuelas und Kubas telefoniert. 

    Das heißt, Russland könnte den USA in einem potenziellen Konflikt mit China in die Quere kommen.  

    Ja, natürlich, auch das ist denkbar. Im Grunde wäre das die normale Vorgehensweise. Länder, die sich feindlich gegenüberstehen, so wie aktuell Russland und die USA, setzen sich gegenseitig unter Druck. So ist es nun mal. Nicht mit Überzeugung oder Argumenten, sondern mit Gewalt, wenn auch nicht unbedingt mit militärischer. Die Amerikaner haben, abgesehen von ihrem militärischen Potenzial, große finanz-ökonomische Macht und setzen diesen Hebel immer stärker gegen Russland ein. Russland hingegen ist vor allem in geopolitischer, energetischer, militärischer und kriegstechnischer Hinsicht stark. 

    Es gibt Mutmaßungen, Russland könnte Raketen in Venezuela und auf Kuba stationieren. 

    Wenn Moskau anfängt, die USA von Lateinamerika aus zu bedrängen, dann reagieren die USA in Europa, wo es eine ganze Reihe Länder gibt, die einer Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen auf ihren Gebieten bereitwillig zustimmen würden. Was würde das Russland bringen?

    Was ist passiert, dass Sie und ich plötzlich über solche aufwühlenden Szenarien sprechen? Was ist denn plötzlich los mit der Welt?

    Die Welt bewegt sich auf hochgefährlichen Wegen, aber wohin? Das kann ich nicht sagen. Die Geschichte zeigt uns sehr deutlich: Nach einem schweren Kampf – egal ob nach einem „heißen“ oder einem „kalten“ Krieg – bleibt eine Verliererseite zurück, die in ihrem Stolz verletzt ist und ihre Souveränität nicht aufgeben will. 

    Ich glaube dieser Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert

    Wenn diese Verliererseite nicht zu Bedingungen, die auch sie zufriedenstellen, in ein neues Sicherheitssystem eingebunden wird, dann erstarkt sie in 20 bis 30 Jahren wieder und fordert Respekt für ihre nationalen Interessen ein.    

    Und dieser Moment ist jetzt gekommen?

    Ja, ich glaube, der ist gekommen. 30 Jahre hat es gebraucht. Die Sieger des Kalten Krieges dachten erst, Russland habe seine frühere Bedeutsamkeit eingebüßt, und verloren ihr Interesse. Niemand wollte sich so recht mit der schwierigen Aufgabe seiner Integration in die westliche Welt befassen. 
    Zudem wäre für eine solche Integration die Zustimmung der westlichen Länder, vor allem der USA, zu einer maßgeblichen Beschränkung ihres eigenen Einflusses notwendig gewesen, dazu, Russland ein entscheidendes Stimmrecht zu gewähren. Die USA waren dazu nicht bereit. Sie teilen ihre Vormachtstellung und ihr entscheidendes Stimmrecht nicht einmal mit ihren nächsten Verbündeten. Das letzte Wort muss immer Washington haben.
    Zu den vom Westen vorgeschlagenen Bedingungen einer ungleichen Partnerschaft wollte Russland selbst nicht in die transatlantische Zone integriert werden. Was damals aber sowieso niemanden störte – die russische Wirtschaft war schwach, die demografische Entwicklung rückläufig, das politische System instabil, und man hielt noch ein paar mehr Zusammenbrüche für möglich. Daher musste man da auch …    

    … keine großen Umstände machen?

    Genau. Die Haltung gegenüber Russland hat sich nach der Krim und vor allem seit Beginn des Syrien-Einsatzes verändert. Sie erinnern sich, davor hatte US-Präsident Barack Obama Russland als „Regionalmacht“ bezeichnet. Aber dann haben alle gesehen, dass Russland sich nicht nur als Subjekt in internationalen Beziehungen erholt hat, sondern auch weit jenseits der eigenen Staatsgrenzen handeln kann.   

    Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu

    Doch sofort liefen die Handlungen Moskaus den Interessen des Westens zuwider, Russland wurde als Gegner wahrgenommen, den man bestrafen und mit Druck, vor allem mit Sanktionen, auf seinen Platz verweisen müsse. Entgegenkommen oder Zugeständnisse an Russland wurden als Besänftigung eines Aggressors gedeutet. Der Westen, der seine eigene Schwäche spürte, war insgesamt viel weniger bereit, Kompromisse zu schließen und sich mit anderen, sagen wir, konkurrierenden oder sogar feindlichen Regimen an einen Tisch zu setzen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Seit dem Zerfall der Sowjetunion verhandelt der Westen mit niemandem mehr auf Augenhöhe – nicht einmal mit China. 

    Man kann den Westen auch verstehen, er macht eine ziemlich schwierige Entwicklungsphase durch, und es geht ja tatsächlich um den Niedergang der westlichen Dominanz und langfristig seiner Führungsrolle in der Welt. Das ist für den Westen schwer. Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu. Eine gewisse Klarheit kann wahrscheinlich nach einem ernsthaften Kräftemessen in verschiedenen Regionen und in verschiedenen funktionellen Bereichen erzielt werden. Am Verhandlungstisch lässt sich das alles nicht lösen, aber dort kann man das erreichte Ergebnis dokumentieren und ausgestalten. So wird eine neue Weltordnung entstehen. 

    Weitere Themen

    Belarus bin ich!

    Hinterhof-Diplomatie

    Russland und der Krieg in Syrien

    Debattenschau № 71: Kampf um die Macht in Venezuela

    Die Krim – ist das Völkerrecht fit genug?

  • Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Die Sorge um die Sicherheit in Europa wächst, angesichts des russischen Säbelrasselns an der Grenze zur Ukraine: So haben einzelne NATO-Mitgliedstaaten wie Dänemark und Spanien erklärt, die Militärpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Demnach sollen etwa im Ostseeraum zusätzliche Schiffe und Kampfflugzeuge stationiert werden. Die USA und Großbritannien reduzieren mit Verweis auf die ungewisse Lage das Botschaftspersonal in der Ukraine, die EU und auch Deutschland dagegen belassen das Personal vor Ort. Der EU-Außenbeauftragte Borrell warnte davor, die Lage unnötig zu „dramatisieren“.

    Gefährlicher Bluff oder ernsthafte Bedrohung der europäischen Sicherheit: Wie groß ist die Gefahr, dass Russland die Ukraine angreift? Auch in Russland ist man sich darüber uneins. In unterschiedlichen Medien äußern sich dazu unter anderen der Lewada-Soziologe Denis Wolkow, Kreml-Berater Sergej Karaganow und Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa. dekoder hat eine Zusammenschau der drei unterschiedlichen Stimmen zusammengestellt.

    „Die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß“

    Im Interview mit Republic erläutert Lewada-Direktor Denis Wolkow neueste Umfrageergebnisse. Das renommierte Meinungsforschungszentrum Lewada fragte nicht nur danach, wie sehr die russische Bevölkerung die Sorge vor einem Krieg umtreibt, sondern auch, wen sie für den Konflikt verantwortlich macht.

    Original

    Im Alltag denken die Leute natürlich nicht ständig darüber nach, aber die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß. Im vergangenen Frühjahr erreichte sie einen Maximalwert: 62 Prozent der Befragten sagten, sie hätten Angst vor einem großen Krieg. Gegen Ende des Jahres ließ diese Angst ein wenig nach, im Dezember waren es noch 56 Prozent. Das ist auch viel, aber immerhin weniger. Vermutlich, weil wenigstens Gespräche begannen – zuerst zwischen Putin und Biden, dann auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsministerien.
    Von einem möglichen Konflikt mit den USA und der NATO spricht jetzt rund ein Viertel der Befragten, von einem Konflikt mit der Ukraine sprechen in verschiedenen Umfragen 35 bis 40 Prozent. Wobei die Verantwortung eher auf die andere Seite geschoben wird – nicht einmal auf die Ukraine, sondern auf den Westen, die USA. „Die haben ja angefangen“, was die Sache noch beängstigender macht, nach dem Motto: Wenn wir angefangen hätten, dann könnten wir ja aufhören. Aber es sind die anderen, und die machen vor nichts Halt.     

    Die Verantwortung wird eher auf die andere Seite geschoben – auf den Westen, die USA

    Auch wenn die Gesellschaft also Angst vor dem Krieg hat, ist sie wohl innerlich schon darauf vorbereitet. In den Fokusgruppen klingt das ungefähr so: „Wir werden gegen unseren Willen in einen Krieg hineingezogen.“

    „Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft“

    Das Massenblatt Argumenty i Fakty bringt ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Sergej Karaganow – Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Außenbeziehungen der HSE sowie Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik. Der Außenpolitik-Experte bezeichnet die NATO darin als „Krebsgeschwür und mahnt, dass sie kontrolliert werden müsse, andernfalls könne sie die Ukraine zum „Hauptmotor der antirussischen Politik in Europa“ machen. Gleichzeitig betont er, dass Russland kein Interesse daran habe, die Ukraine zu besetzen. 

    Original
     
    […] Die Ukraine ist ein Puffer. Mal trennt sie uns von potentiellen westlichen Aggressoren, mal wird sie dazu benutzt, um Druck auf uns auszuüben. Aktuell geht es in der Ukraine-Frage in erster Linie darum, dass sich kein feindliches Bündnis in diese Pufferzone ausbreitet. 
    […]
     

    aiF: Selbst wenn NATO-Truppen in der Ukraine wären, wäre das denn wirklich so gefährlich? Die baltischen Staaten sind schließlich seit fast 18 Jahren in der NATO – und bisher ist die Katastrophe ausgeblieben.
     
    Als die Länder Osteuropas, also Polen und die baltischen Staaten, der NATO beigetreten sind, sagte der Westen zu uns: Keine Sorge, das wird sie besänftigen, sie werden euch friedliche, gute Nachbarn sein. Doch das Gegenteil ist eingetreten – sie wurden nur noch wilder. Allein schon die Zugehörigkeit zu einem Bündnis, das auf Konfrontation setzt, stärkt die schlimmsten Elemente in Politik und Gesellschaft. Wir sehen, was im Baltikum passiert ist, wie dreist die Polen geworden sind, weil sie jetzt an vorderster Front der NATO stehen. Eine solche Ukraine können wir überhaupt nicht gebrauchen. Dort gibt es zwar viele prorussisch denkende Menschen, die uns geistig und kulturell nahestehen. Aber es gibt auch andere, dunkle Kräfte. Wollen wir, dass dieser Bodensatz an die Oberfläche gespült wird, dass die Ukraine, genau wie das Baltikum und Polen, zur treibenden Kraft einer russlandfeindlichen Politik in Europa wird? Ganz zu schweigen von den Waffen, die dort stationiert würden.

    Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen

    Aber wir sind keineswegs darauf aus, bis zum letzten Ukrainer um die Ukraine zu kämpfen, wir wollen dort sicher keinen Krieg führen. Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft. Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen. Eine Besetzung der Ukraine, davon bin ich überzeugt, gehört ganz sicher nicht in unseren Militärplan. Und sei es nur deshalb, weil die Besatzung eines Landes, das wirtschaftlich, moralisch und intellektuell kastriert ist, eines Landes mit desolater Infrastruktur und verbitterter Bevölkerung, das denkbar schlechteste Szenario ist. Das Schlimmste, was uns im Moment passieren kann, ist, dass die USA uns die Ukraine in dem Zustand schenken, den sie dort selbst geschaffen  haben.

    „Wir sind an einem Punkt, an dem Russland entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt“

    Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa sieht im Säbelrasseln Russlands eher einen Bluff, der auf die Instabilität des Systems verweist – und der aber gefährlich sei, da Russland sich damit in eine Position manövriert habe, aus der es nur schwer einen Ausweg gebe. 

    Original

    Was Putin macht, indem er den Westen in die Ecke drängt, – das zeugt davon, wie angreifbar das von ihm geschaffene System ist. Stärke zu demonstrieren, indem man einen „Feind vor den Toren“ zeichnet, gleicht einem Eingeständnis, keine anderen Ressourcen zu haben, und ist die Kehrseite einer Schwäche.

    Mit Russlands Säbelrasseln drängt es den Westen zu einer kollektiven Antwort. Länder, die noch nicht zur NATO gehören, sprechen jetzt von einem Beitritt – zum Beispiel Finnland und Schweden. Anfang 2021 dachte Biden über eine Reduktion des Atomwaffenpotenzials der USA nach. Das überlegt er sich jetzt zweimal.

    Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen

    Moskau lehrt den Westen, anhand von Ultimaten zu kommunizieren. Wir sagen zu ihnen: „Stoppt die NATO“, und sie zu uns: „Gebt die Krim zurück an die Ukraine, raus aus dem Donbass, raus aus Transnistrien, Abchasien und Südossetien; weg mit den Iskander-Raketen aus Kaliningrad.“ Es ist ein Tauziehen. Und die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit liegt nicht auf russischer Seite.
    Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen: Wie realitätsbewusst ist er und wie wahrscheinlich ist eine unangenehme Reaktion. Trump hat mit seinen Bluffs und Erpressungen die Führungsrolle der USA untergraben.
    […]
    Jetzt, wo Amerika Russland sagt: „Nein, Stopp!“, und Moskau Kompromisse ablehnt, ist eine Pause entstanden. Der Kreml wartet auf ein Gegenangebot seitens der USA und der NATO. Aber es ist doch schon alles gesagt! Die Pause braucht eher Präsident Putin, um einen Entschluss zu fassen. Wir sind an einem Punkt, wo Russland aus Rache für die Weigerung, sein Spiel zu spielen, entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt. Aber ein Rückzug ist immer beschämend, nicht wahr?

    Weitere Themen

    Gefährlicher Bluff

    Undiplomatische Diplomatie

    Hinterhof-Diplomatie

    „Wir haben einen hybriden Krieg“

  • Undiplomatische Diplomatie

    Undiplomatische Diplomatie

    Das russische Säbelrasseln an der Grenze zur Ukraine hat sich längst zu einer euro-atlantischen Sicherheitsfrage ausgewachsen. In den letzten Tagen hat US-Präsident Biden sowohl mit Russlands Präsident Putin wie auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky telefoniert. Von Russland forderte Biden Deeskalation, dem ukrainischen Präsidenten versicherte er, dass die USA im Fall eines russischen Angriffs der Ukraine „entschlossen“ reagieren würden. 
    Unterdessen drohte der Kreml im Fall von Sanktionen mit dem vollständigen Abbruch der Beziehungen. Moskau dementiert Angriffspläne und wirft vielmehr der NATO und der Ukraine Provokationen vor. In einem Mitte Dezember veröffentlichten Abkommensentwurf forderte Moskau, dass die NATO von einer Osterweiterung absehe, Waffen aus der Region abziehe und Manöver dort beende.

    Diese Forderungen Russlands analysiert Alexander Baunow, Chefredakteur von Carnegie, in einem Facebook-Post – und auch, wie mit solcher „undiplomatischen Diplomatie“ am besten umzugehen sei.

    1. Nicht nur großes Geld, sondern auch Diplomatie liebt die Stille. Das russische Außenministerium hat Washington per Internet ein Abkommen zur Unterzeichnung geschickt. Das ist ungewöhnlich.

    2. In diesem Abkommen sind nötige Zugeständnisse der Gegenseite aufgelistet, aber keine, die Russland einzugehen bereit wäre. Dabei liegt der Unterschied zwischen Diplomatie und militärischen Siegen gerade darin, dass alle Zugeständnisse machen.

    3. Bis auf wenige Ausnahmen braucht Diplomatie Zeit. Fristen setzt man nur dann, wenn man Taten folgen lassen möchte. Und enge Fristen mit harten Konditionen nur dann, wenn man es gleich doppelt möchte. Oder wenn man sicher ist, dass die gegnerische Seite keine Wahl hat. 

    Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens

    4. Neben den ungewöhnlich direkten und übertriebenen/unerfüllbaren Forderungen in dem von Moskau vorgelegten Entwurf, steht darin auch noch alles, womit Russland unzufrieden ist und was es ändern möchte.

    5. In den vergangenen Jahren versuchte Russland immer wieder, über einzelne Punkte der westlichen Politik zu verhandeln, die Moskau missfielen: NATO-Osterweiterung, Militärstützpunkte, Austritt aus dem ABM-Vertrag und demzufolge Stationierung einer Raketenabwehr in Osteuropa, Unterstützung von Regierungswechseln und so weiter. Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens und fordert, es als Ganzes zu ändern.

    6. Diese Forderungen sind für das Russland, das wir seit dem Ende der 1980er Jahre kennen, unmöglich, unerfüllbar, überhöht … Für ein Zeitalter der Konfrontation von Supermächten sind sie jedoch durchaus denkbar.

    7. Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln? Wladimir Putin verweist immer nachdrücklicher auf die Ergebnisse seiner Regierungszeit, der sogenannten Putinära, für die russische Geschichte. In dieser Gesamtschau ist nicht nur der Status Quo der Ukraine, sondern auch der auf der Weltbühne nicht hinnehmbar. 

    Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln?

    8. Wir stecken in einer globalen Perspektive fest, in der das postsowjetische Russland eines Gorbatschow und Jelzin als Norm gilt, Putins Russland hingegen als Abweichung, als Anomalie. Doch Putin ist schon länger an der Macht als Gorbatschow und Jelzin zusammen, und wird es (auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2024) vielleicht noch länger bleiben.

    9. Der schlichte Vergleich der historischen Zeiträume (sogar ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Modernisierung des Militärs und so weiter) erlaubt ihm, seine Regierungszeit als Norm und jene seiner Vorgänger als kurze Abweichung in der Geschichte Russlands zu betrachten, als eine Seite im Geschichtsbuch, die es möglichst schnell umzublättern gilt. 

    10. Innerhalb dieses Koordinatensystems sind die Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre nicht unumkehrbar. Neben den oben genannten Forderungen enthält der Entwurf für das Abkommen erstmals eine öffentliche Forderung der russischen Regierung, die gesamten Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre neu zu bewerten, nicht nur bestimmte Details.

    Revision der gegenwärtigen Ordnung

    11. Die neuesten Aktionen zielen darauf ab, der Welt mit allen Mitteln zu demonstrieren und ihr klarzumachen, dass Russland die gegenwärtige Weltordnung nicht als Norm betrachtet. Und ehe man es sich versieht, kann man dann – nach einigen Jahren nicht öffentlicher Gespräche, die ganz öffentlich mit überhöhten Forderungen eingeläutet wurden – zur Revision der gegenwärtigen Ordnung schreiten. Das wäre noch die glimpflichste Entwicklung der Ereignisse.  

    12. Das Abkommen, das man dem Westen zur Unterzeichnung vorlegt, wurde aufs Geratewohl erstellt. So eine Diplomatie ist nur zu bemühen, wenn man den diplomatischen Rahmen möglichst bald verlassen möchte, quasi: Wir haben es versucht, alle haben es gesehen (maximale Öffentlichkeit), wir haben die diplomatischen Mittel ausgeschöpft, nun schreiten wir zur Tat. Kampfhandlungen wären die härteste Fortsetzung dieser undiplomatischen Diplomatie. Der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow hat bereits erklärt, dass Russland mit der Reaktion des Westens auf seine Vorschläge unzufrieden sei.

    13. Dennoch könnte das alles auch eine Diplomatie in Zeiten einer neuen Direktheit darstellen, neuer Formen und kategorischer Gesten. Das Antwort-Repertoire des Westens ist nicht allzu groß. Es gibt die Wahl zwischen dem Furchtbaren für alle und dem wenig Überzeugenden. Beides möchte man nicht. Deshalb bemüht man sich, das von Russland in ungewohnter Manier begonnene Gespräch vorerst nicht durch eine harsche Antwort abbrechen zu lassen. Denn die harsche Antwort könnte genau das sein, worauf Russland aus ist.

    Weitere Themen

    Putin und der Weimar-Komplex

    Der Biden-Putin-Tango

    Gefährlicher Bluff

    Krieg im Osten der Ukraine

    In der Eskalations-Spirale

    Russland und Europa

  • Russlands Passportisierung des Donbas

    Russlands Passportisierung des Donbas

    Seit dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine im April 2014 war den meisten Analysten im Westen im Grunde klar, dass die Separatisten Unterstützung aus Russland bekommen: sowohl militärisch, finanziell als auch personell. Viele stellten auch die Frage, ob (und wann) Russland denn unverdeckt in diesen Krieg eingreifen werde. Spekulationen über eine mögliche direkte russische Militärintervention kamen auch im April 2021 wieder auf, als der für den Donbas* zuständige stellvertretende Leiter der Russischen Präsidialverwaltung Dimitri Kosak erklärte, Russland sei dazu bereit, seine Staatsbürger im Donbas vor einem „Völkermord“ zu schützen – ähnlich dem in Srebrenica 1995.

    Mit diesem Vorwand versuchte der Kreml unter anderem, seinen Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren: Die „militärische Spezialoperation“, so heißt der Krieg in der offiziellen Sprache des Kreml, diene dazu, einen „Genozid“ an russischen Bürgern zu verhindern.

    Tatsächlich besaßen schon im August 2021 schätzungsweise 530.000 Menschen in den sogenannten „Volksrepubliken“ einen russischen Pass. Sie bekamen ihn im Rahmen einer breit angelegten russischen Strategie der Passportisierung – einer Einbürgerung von Ukrainern in die Russische Föderation per Schnellverfahren. Eine ähnliche Strategie verfolgte der Kreml schon zuvor in Abchasien, Südossetien und Transnistrien.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Die russische Politik der Passportisierung in der Ostukraine begann im Jahr 2019. Damals erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, es sei eine „humanitäre“ Maßnahme, da die „Situation der Menschenrechte alle Grenzen überschreite“.1 Sowohl auf lokaler als auch auf geopolitischer Ebene hatte diese Politik von Anfang an ganz konkrete Auswirkungen. Sie stand nach Ansicht des Europäischen Rates im Widerspruch „zum Geist und zu den Zielen“2 der beiden Minsker Abkommen.

    Passportisierung kann als „in großem Maßstab betriebene extraterritoriale Einbürgerung“ definiert werden, also als ein Vorgehen, bei dem die Einwohnerinnen und Einwohner eines Staates en masse die Staatsbürgerschaft eines anderen Staates in einem beschleunigten Verfahren erhalten.3 Obwohl Russland nicht der einzige Staat ist, der Pässe an Bürgerinnen und Bürger anderer Länder verteilt, ist das russische Vorgehen aufgrund seiner geopolitischen Auswirkungen einzigartig: Es wirkt in Sezessionskonflikte in der direkten Nachbarschaft – dem sogenannten „nahen Ausland“ – hinein und gewährt Moskau einen weitreichenden Einfluss auf Personen, die in diese Konflikte verwickelt sind.4

    „In großem Maßstab betriebene extraterritoriale Einbürgerung“

    Die Praxis, Pässe in völkerrechtlich umstrittenen Gebieten zu verteilen, hat Russland schon Jahre zuvor etabliert und bereits bei langwierigen Sezessionskonflikten in anderen Regionen des postsowjetischen Raums angewendet, in denen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion De-facto-Staaten entstanden sind. Passportisierung bezieht sich also insbesondere auf solche politische Gebilde, die von den meisten Staaten der internationalen Gemeinschaft nicht als souveräne Staaten anerkannt sind, aber eine Sezession von ihrem Mutterstaat anstreben. Bemerkenswert ist der Fall Georgiens, wo Russland seit 2002 damit begonnen hatte, den Bewohnerinnen und Bewohnern der abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien die russische Staatsbürgerschaft zu gewähren und Reisepässe auszugeben.5 Schätzungen zufolge besaßen schon 2006 die meisten Einwohnerinnen und Einwohner dieser georgischen Gebiete, die Russland nach dem Krieg mit Georgien 2008 als unabhängige Staaten anerkannt hatte, russische Pässe.6 Schon damals rechtfertigte der russische Außenminister Sergej Lawrow die russische Militärintervention in Georgien als einen Akt der „Selbstverteidigung“ zum Schutz der dort lebenden russischen Staatsbürger7 nach dem internationalen Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P). Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien (Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia) wies dieses Argument jedoch als Rechtsmissbrauch zurück und erklärte, dass Russland Pässe in der Region verteilt hatte, um eine Rechtfertigung für eine militärische Intervention zu schaffen.8

    „Genozid verhindern“

    Die militärische Intervention und die anschließende Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens hatte der damalige russische Präsident Dimitri Medwedew 2008 mit einem Verweis auf angeblichen „Genozid“ gerechtfertigt.9 Als der für den Donbas zuständige stellvertretende Leiter der Russischen Präsidialverwaltung Dimitri Kosak im April 2021 erklärte, Russland sei dazu bereit, seine Staatsbürger im Donbas vor einem „Völkermord“ zu schützen und dabei auf das Massaker von Srebrenica verwies10, da bediente er sich im Grunde desselben Arguments.

    Was hat Russland von einer Passportisierung?

    Die Passportierung des Donbas bietet Russland ein Reservoir von Menschen, die bei Bedarf mobilisiert und nach Russland gelockt werden können, etwa um dem demografischen Wandel des Landes11 und dem Mangel an Arbeitskräften mit ethnisch affinen Migrantinnen und Migranten entgegenzuwirken. Die Menschen aus den „Volksrepubliken“ sind auch als mobilisierbare Stimmenreserve nützlich, um bei Wahlen und Referenden abzustimmen. Bei dem Verfassungsreferendum 2020 und der Dumawahl 2021 wurden russische Bürgerinnen und Bürger aus der „Volksrepublik Donezk“ und „Volksrepublik Lugansk“ mit Bussen zum Urnengang in die Region Rostow gebracht. Bei der Dumawahl wurden zudem inoffizielle elektronische Wahllokale auf dem Gebiet der „Volksrepubliken“ eröffnet. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich von der in Abchasien und Südossetien, wo die Wahllokale in den diplomatischen Vertretungen Russlands eingerichtet wurden. Bei der Dumawahl im September 2021 gab es in der gesamten Republik Moldau 30 Wahllokale, 27 davon lagen in Transnistrien – eine von Russland unterstützte abtrünnige Region, die völkerrechtlich zur Republik Moldau gehört. Die Regierung in Chișinău legte gegen dieses Vorgehen diplomatischen Protest ein.12

    Passportisierte russische Staatsbürgerinnen und -bürger aus dem Donbas durften bei der Dumawahl 2021 allerdings nur für Parteien, nicht aber für Direktkandidierende abstimmen. In Transnistrien, Südossetien und Abchasien wurde die passportisierte lokale Bevölkerung dabei Wahlkreisen in russischen Regionen zugeteilt, die mitunter tausende Kilometer entfernt sind.

    Welche Anreize setzt der Kreml?

    Die Staatsbürgerschaft per Schnellverfahren der Passportisierung bedeutet nicht automatisch Zugang zu denselben Sozialleistungen, die in Russland ansässigen Personen zustehen. Der Donbas unterscheidet sich hier ebenfalls von den anderen – von Russland unterstützten – De-facto Regimen: Abchasien und Südossetien etwa haben mit Russland Vereinbarungen über die Zahlung von Renten geschlossen, und in Transnistrien gibt es russische Zuschüsse auf lokal finanzierte Renten.

    Den passportisierten Menschen im Donbas bleibt der Zugang zu den meisten russischen staatlichen Dienstleistungen jedoch verwehrt, in diesem Sinne sind sie russische Staatsbürger mit eingeschränkten Bürgerrechten („diminished citizenship“).13 Da diese Territorien derzeit weder von Russland vollständig annektiert sind noch von der Ukraine reintegriert werden können, sind die Menschen durch den prekären Schwebezustand in den „Volksrepubliken“ grundsätzlich in ihren Rechten eingeschränkt. Es ist davon auszugehen, dass viele in der Passportisierung die Lösung dieses Problems sehen. Die Krux der Situation liegt darin, dass die russische Unterstützung der Separatisten seit 2014 die eigentliche Ursache dieses Problems ist, offiziell versucht Russland jedoch, sich als Problemlöser darzustellen: Noch vor Kriegsbeginn zeigte sich Russland bestrebt, die deutlich verminderten Rechte und Ansprüche der passportisierten Menschen im Donbas auszubauen – und setzte damit weitere Anreize, einen russischen Pass zu beantragen.

    Daneben kann auch die Möglichkeit international reisen zu können ein gewichtiger Grund sein, einen russischen Pass zu beantragen, denn die Ausweisdokumente von völkerrechtlich nicht anerkannten Territorien wie den „Volksrepubliken“, aber auch Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Bergkarabach, sind im Ausland nahezu wertlos. Da die im Schnellverfahren vergebenen russischen Pässe von der EU als ungültig gewertet werden, kommt es jedoch vor allem im Fall des Donbas darauf an, wie konsequent die Nichtanerkennung dieser „anderen“ russischen Pässe in der Praxis von der EU durchgesetzt wird.14

    Die ukrainische Antwort auf Passportisierung

    Die große Anzahl russischer Bürgerinnen und Bürger auf einem Gebiet, das international als ukrainisch anerkannt wird, verschaffte Moskau also schon vor dem Krieg ein starkes Druckmittel und bot damit ein enormes Druckpotential gegenüber Kyjiw.15

    Die Ukraine schaffte es im Grunde nie, eine konsequente Antwort auf die Passportisierung zu formulieren. Das Thema hat erst 2021 so richtig Eintritt in den politischen Diskurs gefunden, da die russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Donbas immer mehr an Bedeutung gewannen und die Spannungen durch den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze zunahmen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky hat die Passportisierung Ende 2021 als Bedrohung für die Ukraine und als eine Form der „Sklaverei“16 bezeichnet, die auch zu Wahlzwecken bei den russischen Parlamentswahlen zur Staatsduma genutzt würde. Selensky unterstreicht damit die ukrainische Position, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer im Donbas nicht aus freien Stücken, sondern unter Zwang eingebürgert wurden und dass Russland diese zynisch für eigene politische Zwecke ausnütze. Selensky lehnte jedoch immer wiederkehrende Vorschläge ab, den passportisierten Bewohnerinnen und Bewohnern des nicht-regierungskontrollierten Teils des Donbas die ukrainische Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Diese in den ukrainischen Medien heftig diskutierte und stark kritisierte Maßnahme wäre jedoch nicht nur verfassungswidrig, sondern würde letztendlich auch einer vollständigen Abspaltung des Donbas vom Rest der Ukraine Vorschub leisten. Bis zu dem Krieg hat das ukrainische Ministerium für Reintegration der zeitweise besetzen Gebiete dagegen stets auf eine Herangehensweise gesetzt, die darauf abzielte, einige von den separatistischen Behörden und Institutionen ausgestellten Dokumente de facto anzuerkennen, damit die Bewohnerinnen und Bewohnern der „Volksrepubliken“ weiterhin der Ukraine verbunden bleiben und Zugang zu staatlichen Dienstleistungen behalten.

    Zentrales Mittel russischer Außen- und Sicherheitspolitik

    Vor allem die Dauer und der Ausgang des Krieges werden darüber entscheiden, welches Schicksal den passportisierten Bewohnerinnen und Bewohnern des Donbas bevorsteht. Doch schon jetzt ist deutlich, dass die Passportisierung weiterhin ein zentrales Mittel russischer Außen- und Sicherheitspolitik bleiben wird. So unterzeichnete Putin am 25. Mai 2022 einen weiteren Präsidialerlass, der die Passportisierung auf die teilweise von Russland besetzten Oblaste Cherson und Saporischschja ausweitet.17 Kurz zuvor, am 11. Mai 2022 hatte der stellvertretende Leiter der Okkupationsverwaltung der Oblast Cherson Kirill Stremoussow erklärt, dass die Bewohner der Oblast Cherson bis Ende des Jahres „freiwillig“ einen russischen Pass bekommen können. Diese Erklärung ging mit der an Putin gerichteten Bitte einher, das besetzte Gebiet per Präsidialerlass in die Russische Föderation einzugliedern. Der Kreml-Sprecher Dimitri Peskow entgegnete darauf, die Entscheidung liege allein bei den Bewohnern der Oblast Cherson, denn auch 2014 habe die Krim per Referendum über die „Angliederung“ an Russland entschieden. Aus der Sicht des Kreml fördern russische Pässe eine Russifizierung und damit auch Zustimmung zur „Angliederung“ bei einem möglichen „Referendum“.

    Aktualisiert am 31.05.2022


    * Wie schreibt man ukrainische Ortsnamen auf Deutsch? Kyjiw oder Kiew? Luhansk oder Lugansk? Donbas oder Donbass? Das kommt darauf an, ob man den ukrainischen oder den russischen Namen bei der Übertragung ins Deutsche zugrunde legt. In dieser Gnose verwendet der Autor die ukrainischen Ortsnamen – das gilt auch für den Donbas. 


    Diese Gnose ist im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprojekts des Autors über Russlands Passportisierung des Donbas mit Fabian Burkhardt (IOS Regensburg), Cindy Wittke (IOS Regensburg) und Maryna Rabinovych (Universität Agder, Norwegen, und Kyiv School of Economics, Ukraine) entstanden.


    Weitere Themen

    Rund um den Kreml

    Krieg in der Ukraine – Hintergründe

    FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine

    Krieg im Osten der Ukraine

    Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

    Das System Putin

  • Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Mitte Juli hat Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht: Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern. Den Großteil der knapp 40.000 Zeichen widmet der Präsident der ukrainischen Geschichte. In einem Ritt vom Mittelalter bis zur Gegenwart argumentiert er, dass es eigentlich kein ukrainisches Volk gebe – vielmehr seien Russen, Ukrainer und Belarussen Teil einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“. 

    Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hätten einige wenige Nationalisten und ausländische Feinde Russlands eine ukrainische Nation konstruiert. Auch in der Gegenwart würden sie eine Front bilden, die Putin „Anti-Russland“ nennt. Diese Front habe einen „Bürgerkrieg“ im Osten des Landes angezettelt, dem schon über 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Russland habe aber „alles getan, um den Brudermord zu stoppen“, und schütze auch jetzt Millionen von Menschen in der Ukraine, die sich gegen den Kurs der ukrainischen „Zwangsassimilation“ stellen. Dieser aggressive Kurs gegen Russland ist laut Putin mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen vergleichbar, „ohne Übertreibung“.

    Nachdem der Aufsatz auf der Webseite des Kreml erschienen ist – auf Russisch und Ukrainisch – entlud sich im Internet massive Empörung: Verdrehung von Fakten, Geschichtsfälschung, Pseudowissenschaft, Manipulation, Ideologie – die Liste der Kritikpunkte ist lang. Auf Snob geht auch Konstantin Eggert auf die argumentativen Unzulänglichkeiten des Präsidenten ein. Die wichtigeren Fragen sind für den Journalisten aber die Fragen dahinter: Wie Putin zu solchen Erkenntnissen kommt, ob er selber daran glaubt und was er damit insgesamt bezweckt. 

    Wladimir Putins Artikel Über die Ukraine hat man in den sozialen Medien Wort für Wort auseinandergenommen. Der Mini-Enzyklopädie der Verdrehungen, Irrtümer und Fälschungen, die Dutzende von Menschen innerhalb kürzester Zeit erstellt haben, ist nichts hinzuzufügen. Allein Putins Hinweis auf die Zeitung Prawda als maßgebliche Quelle für die öffentliche Meinung in Karpatenrussland der 1940er Jahre ist schon bemerkenswert. Ich füge vielleicht noch meine persönlichen Eindrücke von einem Besuch in Kiew vor ein paar Wochen hinzu: Einer Stadt, die unter dem Joch einer nationalistischen Diktatur und „externen Kontrolle“ [Putin spricht von „Kontrolle durch die westlichen Staaten“ – dek] fast zusammenbricht, ähnelt es nicht die Spur.

    Warum dieser Text?

    Aus dem Artikel geht hervor, dass das von den ukrainischen Behörden eröffnete Strafverfahren gegen den prorussischen Politiker und Putin-Freund Medwedtschuk möglicherweise den Anstoß für den Text gegeben hatte. Eigentlich ist jedoch schon seit 2014 klar, dass es für das Regime Putins nichts Wichtigeres gibt als die ukrainische Frage.
    Auf dem Weg zu dieser Realität befand sich der Kreml mehrfach an einem Scheideweg, an dem die Geschichte einen anderen Lauf hätte nehmen können: zunächst Ende Februar 2014 bei der Entscheidung, GRU-Spezialkräfte auf die Krim zu entsenden, um das dortige Regionalparlament zu besetzen. Zuletzt am 17. Juli desselben Jahres, als im Fernsehen ein sichtlich erschütterter Putin erschien, nachdem am Himmel über dem Donbass das Passagierflugzeug MH17 der Malaysia Airlines mit fast 300 Passagieren an Bord von einer Buk-Rakete abgeschossen worden war. Putin sagte irgendetwas Unverständliches, das nicht in Erinnerung blieb. Dabei hätte er aber doch eingestehen können, dass im Donbass nicht irgendwelche freiwilligen Bergarbeiter mit Militäruniformen aus dem Army-Shop agierten, sondern russische Streitkräfte. Dass sie das Flugzeug aus Versehen abgeschossen hatten. Und dass Russland jeder Familie, die ihre Angehörigen verloren hatte, eine großzügige Entschädigung zahlen würde.

    „Dialog“ – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt

    Ich war sicher, dass die Regierung Barack Obamas, ganz zu schweigen von den Staatschefs der Europäischen Union, die stets darauf bedacht sind „Russland zu verstehen“, nach einer kurzen Phase der Empörung und der Verabschiedung eines neuen Sanktionspakets (wie viele hat es seitdem schon gegeben?) wie gewöhnlich erneut den „Dialog“ suchen würden – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt. 

    Aber Putin zog es vor, an der Mär vom „Donbass-Volk, das sich erhebt“ festzuhalten. Seitdem ist er eine Geisel der erlogenen offiziellen Version, nach der es nie einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gegeben hat. Bei dem Artikel handelt es sich um eine Art kanonische Version der Geschehnisse, eine allumfassende nachträgliche Erklärung, warum Putin schon immer Recht hatte. Denn er kämpfte gegen ein „Anti-Russland“. Dieses neue Mem, das auch von Alexander Dugin stammen könnte (vielleicht ist er der Autor), riecht schon von Weitem nach jenen „analytischen Berichten“ der russischen Geheimdienste mit ihrer seltsamen Mischung aus Messianimus (im Stile „Moskau – das Dritte Rom“), Krämergeist (man rechnete Putin aus, dass die Ukraine in den Jahren 1991–2013 angeblich 82 Milliarden Dollar durch russische Gaslieferungen eingespart habe) und Verschwörungstheorien.

    Messianismus, Krämergeist und Verschwörungstheorien

    Das ist das Erschreckendste. Schlimm genug, wenn solche schriftlichen Erzeugnisse aus der Feder irgendwelcher Genossen Majore stammen – schließlich sollen die Geheimdienste die Gesellschaft und den Staat doch vor realen Bedrohungen schützen. Aber ein Staatsoberhaupt, das in einer Welt aus Verschwörungsphantasien à la Umberto Eco lebt, das ist eine politische Katastrophe. Und zwar für alle Bürger Russlands, der Ukraine und Belarus‘.
    Denn im Grunde genommen ist der Artikel ein Freibrief, den Putin sich selbst ausgestellt hat, um in irgendeiner Form gegen eben jenes „Anti-Russland“ zu kämpfen, unter dem in erster Linie die derzeitige ukrainische politische Klasse, aber auch der kollektive Westen verstanden werden.
    Dieser Artikel ist eine schallende Ohrfeige für alle: für Russen, die bei der Europameisterschaft 2021 die ukrainische Mannschaft anfeuern und dabei aufrichtig glauben, dass „Ukrainer Idioten“ sind und die Krim „uns“ gehört. Für die russische Opposition, die bis auf wenige Ausnahmen versucht hat, auf zwei Stühlen zu sitzen: Putin zu bekämpfen, ohne die Themen der von ihm heraufbeschworenen Konflikte zu berühren – den Neoimperialismus und das Großmachtgebahren. Für die vielen, hauptsächlich europäischen Anhänger der Strategie, um jeden Preis „mit dem Kreml zu reden“. Und natürlich ist es ein „Signal“ für alle Mitglieder der Machtriege, bereit zu sein für neue Härtetests, neue Kriege und neue Sanktionen.

    Er denkt, er habe alle gewarnt

    Weder eine schnell voranschreitende Pandemie, noch demographische Probleme oder eine geringe Arbeitsproduktivität können Putin von seiner selbst auferlegten historischen Mission abbringen: dem Kampf gegen das in seiner Realität existierende „Anti-Russland“. Und wenn der Präsident morgen die Einstellung des Gastransits durch die Ukraine, die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk oder gar den Angriff auf Mariupol verkündet, müssen wir uns nicht wundern. Putin denkt, er habe alle vor allem gewarnt.

    Weitere Themen

    Vom Säbelrasseln zum Krieg?

    „Ich habe sie im Genick getroffen“

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Krieg im Osten der Ukraine

    Krym-Annexion

    Archipel Krim

  • NATO-Russland Beziehungen

    NATO-Russland Beziehungen

    Die Beziehungen der NATO zu Russland standen von Anfang an unter keinem guten Stern. Der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, brachte die Aufgabe der transatlantischen Militärallianz in den 1950er Jahren auf die kurze Formel: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa schien es zunächst, die NATO habe ihre Existenzberechtigung verloren. Allerdings zeigte sich bald, dass nach 1989 vor allem Polen und die baltischen Länder unter den Schutzschirm der NATO drängten. Zeitweise stand sogar eine russische NATO-Mitgliedschaft im Raum. Die frühen 1990er Jahre waren von schwierigen Diskussionen innerhalb der NATO geprägt, bei denen einerseits Beitrittswünsche osteuropäischer Staaten und andererseits russische Empfindlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Letztlich setzte sich die Linie des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton durch, der eine Osterweiterung der NATO befürwortete.

    Immer mehr nahmen beide Seiten in den folgenden Jahren einander als Bedrohung wahr. Wie ein Refrain zog sich die Klage über die NATO-Osterweiterung durch die Reden führender russischer Politiker. Der Kreml hatte die NATO-Osterweiterung schon in der nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 als „inakzeptabel“ bezeichnet und diese Formulierung 2015 noch einmal bekräftigt.

    Auf dem NATO-Gipfel im Juni 2021 sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das Verhältnis sei „auf dem tiefsten Punkt seit dem Kalten Krieg“. Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, wobei es um einen Stopp der NATO-Osterweiterung, um den Rückzug der USA aus Osteuropa und den Abzug von amerikanischen Nuklearwaffen aus Europa ging. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Bündnis beantragt.

    Die Frage der NATO-Osterweiterung stellte sich zunächst im Kontext der deutschen Einheit. Am 26. Januar 1990 fiel im Kreml in einem Geheimtreffen die Entscheidung für die Ermöglichung der Wiedervereinigung. Zunächst ging der Westen davon aus, dass weder die neuen Bundesländer noch andere osteuropäische Staaten Teil der NATO sein würden. 

    „Not one inch eastward“ – die Frage der NATO-Osterweiterung

    Auf einer Pressekonferenz am 2. Februar 1990 bekräftigten der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein US-Amtskollege James Baker diese Absicht. Allerdings revidierte James Baker schon eine Woche später seine Position und fragte Gorbatschow, ob er sich ein Gesamtdeutschland innerhalb der NATO vorstellen könne, wenn die NATO sich darüber hinaus „not one inch eastward“ bewegen würde. Hier stellte sich ein erstes Missverständnis ein: Bakers Aussage wurde von amerikanischer Seite als Verhandlungsposition und von russischer Seite als Zusicherung aufgefasst.1 

    Die Forschung ist sich einig, dass es bei den Verhandlungen über die deutsche Einheit nie schriftliche Zusagen gegenüber der sowjetischen Führung gegeben habe, dass sich die NATO nicht weiter ostwärts ausdehnen werde. Helmut Kohl musste zwischen dem amerikanischen Insistieren auf der NATO und der sowjetischen Vision einer europäischen Friedensordnung vermitteln. Der Bundeskanzler wusste auch ganz genau, dass die deutsche Wiedervereinigung weder in Frankreich noch in Großbritannien Begeisterungsstürme auslösen würde. Die amerikanische Regierung befürchtete zudem, dass Bonn einen separaten Deal mit Moskau abschließen und dabei die eigene NATO-Mitgliedschaft in die Verhandlungsmasse einbringen könnte. Deshalb bekräftigte James Baker bei einem Gespräch am 18. Mai 1990 in Moskau die amerikanische Forderung nach einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Gorbatschow erwiderte darauf ironisch, in einem solchen Fall würde auch die Sowjetunion ein NATO-Beitrittsgesuch stellen. Im endgültigen 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit ist die freie militärische Bündniswahl des vereinten Deutschland verbrieft. Letztlich wurde das Einverständnis des Kreml schlicht gekauft: Bonn und Moskau verständigten sich kurz vor der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags auf eine deutsche Zahlung von 15 Milliarden D-Mark für den Abzug der Roten Armee.2  Der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater Robert Gates brachte die Methode später unverfroren auf den Punkt: „to bribe the Soviets out“.3 

    Jelzin: Russischer NATO-Beitritt als Ziel

    Auch Gorbatschows Rivale Boris Jelzin versuchte das NATO-Dossier aktiv zu gestalten. Kurz vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion, am 20. Dezember 1991, weckte er hohe Erwartungen, als er einen russischen NATO-Beitritt zum „langfristigen politischen Ziel“ erhob. Diese Vision hielt sich erstaunlich lange: Noch im Jahr 2000 soll Putin Präsident Clinton gefragt haben, was er über diesen Plan denke. Die Administration Clinton hätte eine Aufnahme Russlands in die NATO unter der Bedingung unterstützt, falls es sich zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde.

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drangen zahlreiche osteuropäische Staaten auf eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis. Bezeichnend ist die Rede, die der tschechoslowakische Präsident Václav Havel im März 1991 im NATO-Hauptquartier in Brüssel hielt. Er wies darauf hin, dass er mit der offiziellen Botschaft aufgewachsen sei, die NATO stelle eine „Bastion des Imperialismus“ und die „Inkarnation des Teufels“ dar. Heute wisse er, dass die NATO auf demokratische Weise die Freiheit und die Werte der westlichen Zivilisation verteidige.4 

    „Partnership for Peace“

    Die NATO war sich allerdings uneinig. Im Sommer 1993 wurden in Washington intensive Diskussionen geführt. Das Pentagon war gegen eine NATO-Osterweiterung, das Weiße Haus dafür. Am Ende stand ein Kompromiss, in dem den osteuropäischen Ländern eine „Partnership for Peace“ angeboten wurde. Am 22. Oktober 1993 löste US-Außenminister Christopher Warren bei Jelzin eine enthusiastische Reaktion aus, als er das „Partnership for Peace“-Programm vorstellte. Allerdings hatte Jelzin den NATO-Vorschlag so verstanden, dass „Partnership for Peace“ nicht eine Vorbereitung, sondern ein Ersatz für eine NATO-Osterweiterung sei.5 Präsident Clinton präzisierte bereits im Januar 1994, dass der Beitritt der osteuropäischen NATO-Kandidaten nur eine „Frage des Wann und Wie“ sei. Eine entscheidende Rolle spielte in Washington, London und Paris der Jugoslawien-Krieg, der allen die Notwendigkeit eines starken Militärbündnisses in Europa klar vor Augen führte. Man wusste um Moskaus Empfindlichkeiten, war aber bereit, eine Abkühlung der Beziehungen in Kauf zu nehmen. Clinton bezeichnete Russland als „unglaubliches Chaos“: Der Kreml hatte gerade eine tiefe Verfassungskrise durchgestanden, in Tschetschenien kündigte sich ein separatistischer Krieg an, die Wirtschaft befand sich im freien Fall.  

    Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern

    In der Frage der NATO-Osterweiterung spielten auch Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern eine Rolle: Großbritannien blickte skeptisch auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, Frankreich hielt überhaupt vorsichtige Distanz zur NATO und Deutschland wollte seine östlichen Nachbarn nicht verärgern. Auf beiden Seiten des Atlantiks war man sich einig, dass das schwankende Russland „kostengünstig“ stabilisiert werden müsse.6 

    Die sicherheitspolitischen Vorstellungen des Kremls gingen in eine andere Richtung. Schon im Oktober 1993 machte der russische Präsident Jelzin seinem Unmut Luft und wies Präsident Clinton in einem Brief darauf hin, dass der „Geist“ des 2+4-Vertrags, der explizit eine Stationierung fremder NATO-Truppen in den neuen Bundesländern verbiete, gleichzeitig eine NATO-Osterweiterung ausschließe. 

    NATO-Russland-Grundakte

    Im Januar 1994 schlug Jelzin seinem Amtskollegen Clinton „eine Art Kartell zwischen USA, Europa und Russland“ vor, das die Weltsicherheit garantieren würde. Als eine mögliche Strategie schwebte ihm dabei eine Aufwertung der KSZE vor. Der Kreml fühlte sogar vor, ob für die Europäer ein Sicherheitssystem denkbar wäre, in dem die USA „nicht notwendigerweise“ vertreten sind. Russland kündigte an, in diesem Fall seine Streitkräfte zu reduzieren. Am Ende fiel die Entscheidung in einem kurzen Zeitfenster: Die NATO-Osterweiterung wurde nicht vor der russischen Präsidentschaftswahl im Juli 1996 publik gemacht, um Jelzins Bestätigung im Amt nicht zu gefährden. Umgekehrt wollte Clinton mit genau diesem Punkt seine eigene Wiederwahl im November 1996 stützen. Um Russland zu beschwichtigen, gab die NATO im Dezember 1996 ein Statement ab, dass die Allianz „keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund“ habe, Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren. 1997 unterzeichneten die NATO und Russland eine Grundakte zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens.7 Federführend war dabei der US-Vizeaußenminister Strobe Talbott, der sich eng mit dem NATO-Generalsekretär Javier Solana abstimmte. Allerdings gerieten dabei die europäischen Alliierten ins Hintertreffen. Solana versuchte die Situation zu entschärfen, indem er den amerikanischen Formulierungsvorschlag für die Grundakte als seinen eigenen ausgab. Allerdings merkte ein britischer Vertreter maliziös an, dass Solana wenigstens die Rechtschreibung anpassen müsse, wenn er seine transatlantischen Ghostwriter verbergen wolle.8

    1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis bei, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien. In der jüngsten Vergangenheit wurden noch Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) in die NATO aufgenommen. Georgien und der Ukraine wurde auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 zwar ein Beitritt versprochen, allerdings ohne jeglichen Zeitplan. Wegen der Kriege in Georgien (2008) und in der Ukraine (2014) ist die NATO-Mitgliedschaft dieser beiden Länder allerdings in weite Ferne gerückt. 

    Der NATO-Russland-Rat

    Wie in der NATO-Russland Grundakte angekündigt, wurde 2002 ein NATO-Russland Rat eingerichtet, der aber zu wenig substanziellen Erfolgen führte. Im Gegenteil: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 formulierte Präsident Putin in harschen Worten seine Enttäuschung über das angebliche Nichteinhalten westlicher Sicherheitsgarantien. Er verwies dabei auf ein Votum des NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner, der am 17. Mai 1990 bestätigt hatte, dass keine NATO-Truppen östlich der Grenzen Deutschlands eingesetzt würden.9 

    Nach der Annexion der Krim und dem verdeckten russischen Angriffskrieg in der Ostukraine trug die NATO im Jahr 2016 den Sicherheitsbedenken Polens und der baltischen Länder Rechnung, indem sie im Rahmen der „Enhanced Forward Presence“ je etwa 1000 Soldaten aus verschiedenen NATO-Mitgliedsländern auf Rotationsbasis in diesen vier Ländern einsetzte. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Bestimmungen der NATO-Russland Grundakte nicht verletzt werden. In diesem Abkommen wurde bekräftigt, es solle keine permanente Stationierung von ausländischen NATO-Truppen in den osteuropäischen Mitgliedstaaten geben. 

    Moskau schloss 2021 seine NATO-Vertretung in Brüssel. Das Militärbündnis betonte dennoch, offen für einen Austausch zu bleiben. Allerdings bleibt das Verhältnis höchst angespannt, auch weil die USA als NATO-Führungsmacht zuoberst auf der offiziellen russischen Liste „unfreundlicher“ Staaten standen.10

    Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, in denen es nicht nur einen Stopp der NATO-Osterweiterung forderte, sondern auch den militärischen Rückzug aus osteuropäischen Bündnisstaaten. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Militärbündnis beantragt. Dem voran ging nicht nur die russische Invasion in die Ukraine, sondern auch eine noch vor dem Angriffskrieg begonnene russische Politik der Nadelstiche mit gezielten Luftraum- und Hoheitsgewässerverletzungen der NATO-Staaten.

    Aktualisiert am 19.05.2022


    1. National Security Archive: NATO Expansion: What Gorbachev Heard ↩︎
    2. Lozo, Ignaz (2021): Gorbatschow: Der Weltveränderer, Darmstadt, S. 293-305 ↩︎
    3. Sarotte, Mary Elise (2010): Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to “Bribe the Soviets Out” and Move NATO In, in: International Security 35/ 2010, S. 110–137 ↩︎
    4. Schimmelfennig, Frank (2003): The EU, NATO and the Integration of Europe: Rules and Rhetoric. Cambridge, S. 232 ↩︎
    5. National Security Archive: NATO Expansion: What Yeltsin Heard ↩︎
    6. Liviu Horovitz, Liviu (2021): A “Great Prize,” But Not the Main Prize: British Internal Deliberations on Not-Losing Russia, 1993–1995, in Schmies, Oxana (Hrsg..): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 85-112, hier S. 92 ↩︎
    7. nato.int: Founding Act ↩︎
    8. Pifer, Steven (2021): The Clinton Administration and Reshaping Europe, in: Oxana Schmies (Hrsg.): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 113-142, hier S. 131 ↩︎
    9. kremlin.ru: Speech and the Following Discussion at the Munich Conference on Security Policy und nato.int: The Atlantic Alliance and European Security in the 1990s ↩︎
    10. publication.pravo.gov.ru: Rasporjaženie Pravitel’stva Rossijskoj Federazii ot 13.05.2021 № 1230-r ↩︎

    Weitere Themen

    Der Vertrag über den Offenen Himmel

    Schöne neue Welt?

    Die Honigdachs-Doktrin

    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

    Surkow: „Der langwährende Staat Putins“

    Historische Presseschau: Mauerfall 1989

    Die Fehler des Westens

  • Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland im Dezember 1999 unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen und Präsident Lukaschenko selbst ist heute vor dem Hintergrund der Niederschlagung der Proteste von 2020 und der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners in den bilateralen Beziehungen mit Russland. 

    Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 weder auf historische Erfahrungen als unabhängiger Staat zurückgreifen, noch verfolgte sie Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil: In der ersten Zeit wurden zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

    Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

    Russisch-Belarusischer Unionsstaat

    Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl aus seiner persönlichen Antipathie für Lukaschenko und seiner Haltung, Belarus nur als Junior-Partner zu sehen. 

    Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien. Das russische BIP ist im Vergleich zum belarusischen etwa 26 Mal größer (Stand 2021). Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine ab 2014 kam Belarus wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich für das Land in vielerlei Hinsicht als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet, deren genaue Inhalte aber lange (bis September 2021) nicht veröffentlicht wurden. Im Protestjahr 2020 hatten die Verhandlungen während und vor den belarusischen Präsidentschaftswahlen pausiert. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

    Seit 2021 erfolgte die Umsetzung der Roadmaps eher stockend. Das hat auch  mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ab Februar 2022 zu tun. Bislang sind erst sieben der 28 Roadmaps vollständig umgesetzt. Es sollen im Laufe des Jahres 2023 noch weitere Roadmaps hinzukommen. Dabei hat Russland begonnen, Belarus zunehmend unter Druck zu setzen, um Zugeständnisse hinsichtlich weitergehender Integrationsschritte zu erreichen. Aus Sicht der belarusischen Exil-Opposition könnte es dadurch in letzter Konsequenz zu einem Verlust der staatlichen Souveränität für Belarus kommen. Vor allem das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung, in dem es um die Verwaltung zahlreicher Steuern, wie etwa der Mehrwertsteuer geht, birgt für Lukaschenko das Risiko, über wirtschaftspolitische Entscheidungen im eigenen Land die Kontrolle zu verlieren. Im Rahmen der Logik dieses Vertrages würde als nächstes die Schaffung einer gemeinsamen Steuerbehörde sowie eines einheitlichen integrierten Verwaltungssystems folgen.1

    Insgesamt sind die belarusisch-russischen Beziehungen seit 2022 sehr vom Krieg gegen die Ukraine und der militärischen Kooperation zwischen Russland und Belarus geprägt: Belarus wird aufgrund seiner militärischen Unterstützung Russlands international eine Mitschuld an den Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben, was zur Verhängung weiterer wirtschaftlicher Sanktionen geführt hat.2 Die Rolle von Belarus im Ukraine-Krieg wurde und wird viel diskutiert, insbesondere ob mit einem aktiven Kriegseintritt des Landes noch zu rechnen sei. Bislang ist das insbesondere aus innenpolitischen Gründen nicht erfolgt.

    Wirtschaftsbeziehungen

    Insgesamt leidet die belarusische Wirtschaft erheblich unter den Folgen des russischen Angriffskrieges sowie unter den verhängten Sanktionen. 2022 gab es in der Republik Belarus die schwerste Rezession seit den 1990er Jahren. Auch hat sich die Abwanderungstendenz belarusischer Unternehmen, insbesondere aus dem IT-Sektor, seit dem Krieg nochmal massiv verstärkt.3

    Dabei ist der GUS-Raum, vor allem Russland, seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 68 Prozent der belarusischen Exporte und Quelle von 62 Prozent der Importe4 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in den vergangenen Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, sodass auf Belarus horrende Kosten zukommen könnten. So hofft die belarusische Führung weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver. Obwohl in der Vergangenheit sowohl von der russischen als auch von der belarusischen Seite mehrfach öffentlich behauptet wurde, dass eine Lösung für dieses Problem gefunden sei, scheint es immer noch Unstimmigkeiten darüber zu geben.5Nichtsdestotrotz hat Minsk noch im Dezember 2022 einen für Belarus vorteilhaften Vertrag für einen Lieferzeitraum von drei Jahren für Öl und Gas abschließen können. Dennoch wird die belarusische Forderung nach gleichen Zugängen zu fossilen Energieträgern für alle Wirtschaftssubjekte des Unionsstaates nicht annähernd erfüllt.6 Daher bleibt es für Lukaschenko absolute Priorität, innerhalb des Unionsprogramms einen einheitlichen Markt für Öl und Erdgas sowie für weiterverarbeitete Produkte zu schaffen. Der Bezug dieser Rohstoffe zu Vorzugspreisen stellt nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle des belarusischen Haushalts dar und dient somit Lukaschenkos persönlichem Machterhalt.7 Er moniert daher weiterhin, dass im Gegensatz zu anderen Bereichen des Integrationsprozesses konkrete Vereinbarungen im Energie- und Transportsektor nach wie vor ausstehen.8

    Belarus spielte ehedem als Transitland für russische Rohstoffe nach Europa eine zentrale Rolle. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit vom Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Resultat, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent.  

    Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen beiden Ländern – insbesondere von Russland – auch häufig als ein politisches Druckmittel eingesetzt wurden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich der angestrebte Unionsstaat bisher vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

    Militärische Beziehungen

    Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

    Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus begann Minsk, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidschan, aus.

    Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die das letzte Mal im September 2021 abgehalten wurde – und erneut im Herbst 2023 stattfinden soll. Die größte jemals gemeinsam abgehaltene Übung gab es mit ca. 30.000 russischen Soldaten auf belarusischem Territorium im Februar 2022 im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine und diente als Vorwand für die Vorbereitung der Invasion.

    Danach wurden im Zuge des regionalen Truppenverbands mit Russland (der schon lange bestand, aber inaktiv war) kontinuierlich gemeinsame Militärmanöver abgehalten. Das schürte sowohl in der Ukraine als auch im Westen Angst davor, dass sich Belarus mit eigenen Soldaten am Krieg beteiligen könnte und dass Truppen erneut, diesmal gemeinsam, aus Norden vorrücken. Dazu ist es bisher nicht gekommen, auch weil Lukaschenko einen solchen Schritt weiterhin scheut. 

    Schritte hinsichtlich einer Integration der belarusischen Streitkräfte unter russisches Oberkommando nahmen indes in jüngster Zeit konkretere Formen an: So hat Russland nun Luftstreitkräfte dauerhaft in Belarus stationiert und das Kommando über die belarusischen Luftstreitkräfte sogar komplett übernommen. Diese Entwicklungen kulminierten im März 2023 in der Ankündigung, auf dem belarusischen Territorium taktische Nuklearwaffen aus Russland zu stationieren, wobei die Kontrolle über diese Waffen nicht an Belarus übertragen werden soll.

    Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

    Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, sowie die Unterstützung für Russland im Krieg gegen die Ukraine, manövrierte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders die beidseitigen Treffen von Lukaschenko und Putin seit 2020 haben verdeutlicht, dass diese Tendenz, trotz aller Emanzipationsversuche, sogar noch zugenommen hat. Damit konterkarierte der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen. Erst aus der Revolte der Söldner-Gruppe Wagner in Russland konnte Lukaschenko in jüngster Zeit wieder nennenswertes eigenes politisches Kapital schlagen, indem er sich als politischer Vermittler zwischen dem Kreml und Anführer Prigoshin einbrachte und Wladimir Putin dadurch einen persönlichen Dienst erwies. Denn: Die Abhängigkeit von Russland entspricht weder Lukaschenkos  Vorstellungen, noch spiegelt  es die Wünsche der Bevölkerung wider.

    In einer Umfrage des Belarusian Analytical Workroom vom Sommer 2023 optierten lediglich vier Prozent der Befragten für einen Beitritt der Republik Belarus zur Russischen Föderation. Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern als jeweils unabhängige Staaten in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit offenen Grenzen sowie ohne Zoll- und Visumsbeschränkungen (67 Prozent der Befragten) befürwortet. 13 Prozent wünschten sich eine intergouvernementale Union. 12 Prozent würden ein normales, nicht privilegiertes Verhältnis mit geschlossenen Grenzen, Zoll- und Visumsbeschränkungen bevorzugen. Gefragt nach ihrem bevorzugten militär-politischen Bündnis, gab eine Mehrheit von 45,3 Prozent der befragten Belarusen an, dass das Land gar keiner Allianz angehören solle. 34,2 Prozent hielten an einer Mitgliedschaft in der OVKS fest. Der NATO beitreten würden lediglich 3,2 Prozent. 2,7 Prozent waren der Auffassung, dass Belarus Mitglied beider Bündnisse sein könne und 12,7 Prozent blieben in dieser Frage unentschieden. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ist die belarusische Gesellschaft gespalten. Mehrheitlich dagegen sind die Befragten aber, dass das belarusische Territorium sowie die militärische Infrastruktur von Russland dafür genutzt werden solle. 50,2 Prozent sprachen sich dagegen aus, 30,7 Prozent dafür, während 15,9 Prozent die Frage als schwierig zu beantworten einschätzten.

    Ungeachtet aller Zahlen: Belarus ist und bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Gesellschaft ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. So wurde etwa bei den landesweiten Protesten 2020 in den Losungen und den verkündeten Protestforderungen eine klare geopolitische Positionierung vermieden

    Zugleich wird die Führung in Minsk weiter anstreben, seine wirtschaftlichen und rüstungspolitischen Aktivitäten soweit wie möglich zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von Russland nicht noch zu verstärken. Da aber ca. 45 Prozent der belarusischen Wirtschaftskraft von westlichen Sanktionen beeinträchtigt sind, können derartige Bemühungen vor allem durch Handel und Kooperation mit nicht-westlichen Staaten erreicht werden.9 Dies erklärt auch die jüngsten außenpolitischen Vorstöße, wie es sie zum Beispiel mit der Bewerbung um einen Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gab.10

    aktualisiert am 07.08.2023


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    Weitere Themen

    Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    „Wir haben absolut nichts gegen Russland“

    Einigkeit der Uneinigen

    Im Schienenkrieg gegen Putin

    „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Die ostslawischen Sprachen

  • Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Wird der Kreml das schwächer werdende Lukaschenko-Regime stabilisieren, oder eher auf einen neuen Kandidaten seines Vertrauens setzen? Ist es denkbar, dass Moskau in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine? Was sind überhaupt Russlands Interessen in Belarus, und was denken die Menschen übereinander? Ein Bystro von Astrid Sahm in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    3. 1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?


     

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    Der Kreml ist wie viele andere Akteure von den aktuellen Entwicklungen in Belarus überrascht worden. Ein Sieg Alexander Lukaschenkos bei der Präsidentschaftswahl am 9. August galt in Moskau stets als sicher. Dementsprechend gratulierte Wladimir Putin Lukaschenko bereits einen Tag später zu seiner Wiederwahl. Auf die wachsende gesellschaftliche Protestbewegung und das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten reagierte der Kreml zunächst zurückhaltend. Dies änderte sich erst am vergangenen Wochenende. Hierfür gibt es zwei Gründe: 1. Lukaschenko zeigte sich nicht in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen; 2. Moskau sieht seine geopolitischen Ansprüche seit der Verlautbarung von Vermittlungsangeboten aus Lettland, Litauen und Polen bedroht. Der Kreml verwahrt sich daher gegen jegliche Einmischung durch die EU oder die USA in Belarus. Nur wenn seine geopolitischen Interessen gewahrt blieben und kein innenpolitischer Fallout droht, könnte der Kreml einem Machtwechsel in Belarus zustimmen. Ein vorsichtiger Hinweis auf eine Kompromisssuche ist, dass Russlands Außenminister Lawrow am 19. August die belarussischen Wahlen als „nicht ideal“ bezeichnete und die Bereitschaft der Staatsführung zum Dialog mit ihren Bürgern hervorhob.


    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    Dies sehe ich anders. In Moskau ist man schon lange unzufrieden mit der Politik des belarussischen Präsidenten. Alexander Lukaschenko wollte sich bei den diesjährigen Wahlen als Garant der belarussischen Souveränität präsentieren. Bereits während der Covid-19-Pandemie, auf welche die Staatsführungen beider Länder ganz unterschiedlich reagierten, äußerte sich Lukaschenko kritisch über russische Einmischungsversuche. Auch im Wahlkampf gab es etliche russlandkritische Äußerungen. Der Höhepunkt war die offensichtlich inszenierte Verhaftung von 33 Söldnern der russischen Sicherheitsfirma Wagner in einem Sanatorium bei Minsk. Allerdings schloss Lukaschenko den Kreml explizit aus dem Vorwurf aus, russische Akteure würden versuchen, die Lage in Belarus zu destabilisieren. Der Kreml hielt sich daher mit Kommentaren zurück. 
    Die Annahme war, dass Lukaschenko aus der Präsidentschaftswahl so geschwächt hervorgehen würde, dass er gezwungen wäre, die russischen Integrationspläne zu akzeptieren. Stattdessen sieht sich der Kreml nun mit dem Risiko konfrontiert, die Kontrolle über Belarus zu verlieren. Hält sich Lukaschenkо an der Macht, kann er Moskau zwar nicht länger mit einer Westwende drohen. Allerdings dürfte dies antirussische Stimmungen in der belarussischen Gesellschaft stärken. 
    Im Falle eines Machttransfers ist unsicher, ob der Kreml einen Kandidaten seines Vertrauens lancieren kann. Zudem würde nach innen das Scheitern seiner bisherigen Belarus-Politik offensichtlich, da erneut eine „Revolution“ in der Nachbarschaft nicht verhindert werden konnte. Moskau steht daher vor einem Dilemma.


    3.1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    Der Vertrag sieht unter anderem eine gemeinsame Verfassung, Währung, Zollbehörde, ein gemeinsames Gericht und einen Rechnungshof vor. Vor dem Hintergrund der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion hatte die bilaterale Integration jedoch in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Erst Ende 2018 wurden die Pläne zum Aufbau des Unionsstaats überraschenderweise vom Kreml wieder aus der Schublade geholt. Im Laufe des Jahres 2019 verhandelten beide Seiten über 30 Integrationsfahrpläne. Besonders umstritten war die Roadmap Nr. 31, die die Gründung von supranationalen Organen vorsah. Aus diesem Grund wurde die für Dezember 2019 geplante Unterzeichnung des Integrationspakets verschoben. Allgemein wird angenommen, dass dem Kreml an der Bildung supranationaler Organe vor allem deshalb gelegen war, um eine Option für eine Führungsrolle Putins über 2024 hinaus zu haben. Diese Notwendigkeit ist nun entfallen mit der russischen Verfassungsänderung, die unter anderem eine Aufhebung der Amtszeitbegrenzung für Wladimir Putin vorsieht. Ein Integrationserfolg mit Belarus hätte zudem keinen derartigen Effekt für Putins Popularität wie die Krim-Annexion, die ein nationalpatriotisches Stimmungshoch auslöste. 


    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    Die meisten Russen haben ein positives Bild von Belarus und hegen keine Zweifel an den engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dies gilt auch für den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, den einer Umfrage vom Juli 2020 zufolge immerhin noch 52 Prozent der Befragten positiv bewerteten. Es gibt keine relevanten belastenden Ereignisse in der Vergangenheit, die konfliktfördernd wirken könnten, und in Belarus befinden sich keine Orte, die von besonderer mythischer Bedeutung für das nationale Selbstverständnis Russlands sind. Und so wird ein Zusammenschluss beider Staaten mit einer gemeinsamen Staatsführung nur von einer Minderheit gewünscht. Allerdings würden eine eventuelle Westwende von Belarus und ein Austritt des Landes aus den bestehenden Integrationsformaten mit Russland äußerst negativ wahrgenommen werden. Insgesamt sind die politischen Entwicklungen in beiden Ländern eng miteinander verwoben. Dies gilt auch für die politische Opposition. So berichteten der YouTube-Kanal von Alexej Nawalny und der unabhängige Fernsehkanal Doshd stundenlang über die Ereignisse in Belarus. Auch die Demonstranten in Chabarowsk brachten ihre Solidarität mit der belarussischen Protestbewegung zum Ausdruck. Insgesamt fragen sich in Russland viele Menschen, ob sie in Belarus derzeit die mögliche Entwicklung des eigenen Lands bei den Präsidentschaftswahlen 2024 beobachten können.    


    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    Die engen Beziehungen beider Länder stehen auch in Belarus nicht zur Disposition. Allerdings ist die Unterstützung der Belarussen für eine enge politische Integration beider Staaten in den vergangenen Jahren deutlich rückläufig. Dem belarussischen Soziologen Andrej Wardomatzki zufolge ist die Unterstützung für die Union von Belarus und Russland im Laufe des Jahres 2019 von 60,4 auf 40,4 Prozent gesunken. Anfang 2020 befürworteten nur 12,8 Prozent einen gemeinsamen Staat, während sich eine deutliche Mehrheit (74,6 Prozent) für freundschaftliche Beziehungen von zwei unabhängigen Staaten mit offenen Grenzen, das heißt ohne Visa- und Zollschranken, aussprach. 
    Die aktuelle Protestbewegung konzentriert sich ausschließlich auf innenpolitische Fragen. Sie ist in erster Linie gegen Präsident Lukaschenko gerichtet, der infolge seiner Verharmlosung der Covid-19-Pandemie einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat. Ihre zentrale Forderung ist die Umsetzung des Rechts auf freie und faire Wahlen. Der vereinigte Wahlkampfstab der Alternativkandidatin Swetlana Tichanowskaja betont in seinen öffentlichen Statements zudem stets, dass sie keine grundsätzliche Änderung des außenpolitischen Kurses von Belarus und gleichermaßen gute Beziehungen zu allen Nachbarländern anstreben. Hierzu steht auch die Verwendung der Weiß-Rot-Weißen Flagge durch die Opposition nicht im Widerspruch.    


    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?

    Eine offene Intervention wäre für Russland mit hohen Kosten verbunden. So müsste der Kreml dann auch die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung von Belarus übernehmen, was angesichts der wirtschaftlichen Stagnation in Russland eine hohe Belastung wäre. Zudem müsste der Kreml in diesem Falle mit Widerstand aus der belarussischen Gesellschaft sowie mit neuen westlichen Sanktionen rechnen. Damit würde er sich international weiter isolieren. Wahrscheinlicher sind daher verdeckte Versuche der Einflussnahme. Damit könnten unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. So hat die belarussische Liberal-Demokratische Partei am 18. August zur Bildung eines Koordinationskomitees der „Volkspatriotischen Bewegung“ aufgerufen. Diese ist offensichtlich als Gegenbewegung zu den aktuellen Protesten gedacht und soll diese neutralisieren helfen. Hinter den Kulissen dürfte der Kreml nach geeigneten Personen und Wegen suchen, um einen geordneten Machttransfer im eigenen Sinne zu gewährleisten. Mit seinen jüngsten öffentlichen Äußerungen über die akute Gefahr einer westlichen Einmischung in Belarus und dem Vorwurf an den Koordinationsrat der Opposition, antirussische Ziele zu verfolgen, setzt Alexander Lukaschenko den Kreml allerdings unter Handlungsdruck. Eine weitere Eskalation, die zu einer direkten Intervention Russlands führt, kann daher nicht ausgeschlossen werden.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autorin: Astrid Sahm
    Veröffentlicht am 21.08.2020

    Weitere Themen

    Belarus 2020 – Russland 2024?

    „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    Der Crowdsourcing-Protest

    Weiß-Rot-Weiß ist der Protest

    10 Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird

    Der Wandel ist weiblich