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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #26

    Bilder vom Krieg #26

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Oksana Nevmerzhitska

    In den Treppenaufgang einer Ruine hat jemand die Parole „Die Ukraine über alles“ gesprüht. Eine Explosion hat die Wand des Hauses rechts weggerissen. Die Fotografin gab der Serie den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“ / Fotos © Oksana Nevmerzhitska 

    dekoder: Man traut sich fast nicht, das zu sagen, aber das sind schöne Bilder. Sie zeigen Krieg und Zerstörung. Gleichzeitig sind sie farbenfroh und haben fast eine friedliche Ausstrahlung: Man fühlt sich eingeladen in diese Wohnungen, der Himmel strahlt blau. Wie sind diese Aufnahmen entstanden? 

    Oksana Nevmerzhitska: Ich hatte eigentlich gar nicht geplant, vom Krieg zerstörte Gebäude zu fotografieren. Ich bin keine Kriegsfotografin und arbeite nicht dokumentarisch. Außerdem sind schon so viele Bilder von Zerstörung und Ruinen aus diesem Krieg um die Welt gegangen. Mir schien, dass zu diesem Thema bereits alles gezeigt wurde und alles gesagt ist. Aber dieses Haus hat mich auf besondere Weise berührt. Es steht etwa 60 Kilometer außerhalb von Kyjiw in Borodjanka. Dort sind in den ersten Wochen des Krieges fürchterliche Dinge geschehen. Der Stadtteil, in dem das Haus steht, wurde völlig zerstört. Ich kenne das Gebäude gut, weil ich seit 20 Jahren immer wieder daran vorbeifahre, wenn ich meine Eltern besuche. Seit das Haus eine Ruine ist, lässt es mir keine Ruhe. Jedes Mal, wenn wir daran vorbeikamen, hat sich mir innerlich alles verkrampft. An einem schönen Sommertag im August 2023 habe ich schließlich meinen Mann gebeten anzuhalten. Meine Familie hat im Auto gewartet und ich bin losgezogen und habe diese Bilder gemacht. 

     

    Die Serie trägt den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“. Was wollten Sie damit ausdrücken? 

    Es sind keine dokumentarischen Bilder, eher eine Reflexion. Mein Ziel war es nicht, dem Publikum ein weiteres zerstörtes Haus zu zeigen, sondern etwas von meinen Gefühlen auszudrücken, von der Angst und der Verunsicherung mit der wir in der Ukraine seit fast drei Jahren leben. Das internationale Publikum ist müde von den Bildern der Zerstörung. Wir alle sind müde. Man möchte sich am liebsten abwenden und das alles nicht mehr sehen. Deswegen wollte ich weg von diesen düsteren Bildern und etwas zeigen, wo man sich nicht so schnell abwenden kann. Da sind frohe Farben, ein strahlender Himmel – und erst auf den zweiten Blick erkennt man die Tragödie. Dieser Kontrast zwischen Schönheit und Schrecken zwingt zum Nachdenken. 

     

    Sie sprachen davon, dass sie der Anblick dieses Hauses so aufgewühlt hat. Warum? 

    Dieses Haus ist einerseits groß und gleichzeitig wirkt es wie ein Puppenhaus. Eine Explosion hat die Außenwand weggerissen, man blickt in das Intimste, den privaten Lebensraum der Menschen. Das ist für mich die schlimmste Erfahrung in diesem Krieg: 

    Ein Haus bedeutet Schutz. Mein Zuhause war immer auch meine Festung, in die ich mich zurückziehen konnte. Unsere Wohnung ist Teil unserer Innenwelt, hier kann ich nackt und verletzlich sein. Der Krieg hat diese Gewissheit zerstört. Wir mussten erleben, dass diese Festung fragil ist, und das macht Angst. Ich kann mich nirgends mehr sicher fühlen. Jederzeit kann jemand in meinen intimsten Rückzugsraum eindringen, mit schmutzigen Fingern in meinen Sachen wühlen. Das hat viele Parallelen zu der sexuellen Gewalt, die die russischen Angreifer ja auch häufig ausüben. Dieses Bild verkörpert für mich all diese Gefühle: Etwas, das mir lange unerschütterlich schien, ist plötzlich ganz zerbrechlich. 

     

    Die Möbel stehen noch immer an ihrem Platz. Es wirkt fast so, als könnten die Bewohner jeden Moment nach Hause kommen…  

    Als ich das Bild aufgenommen habe, stand das Haus bereits seit anderthalb Jahren so da. Und heute, fast drei Jahre nach Kriegsbeginn, sieht es fast noch genauso aus. Die Stühle, die Zeitschriften im Regal. Es hat geregnet, geschneit und gestürmt. Der Krieg dauert an, aber hier wirkt es, als wäre die Zeit angehalten. So habe ich das auch in den ersten anderthalb Jahren nach Kriegsbeginn empfunden: Als wäre das Leben eingefroren, als wäre ich in einem Vakuum gefangen. Du bewältigst deinen Alltag, du lächelst, aber du hast keine Vorstellung davon, wie es weitergehen soll.  

     

    Das zweite Bild zeigt das Treppenhaus eines zerstörten Gebäudes in der Nähe. Jemand hat „Ukrajina ponad use!“ an die Wand gesprüht – „Die Ukraine über alles!“ – und daneben das Kürzel der ukrainischen Streitkräfte „WSU“. Ist diese Parole in einer Ruine ironisch zu verstehen? 

    Für mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Graffito erst nach der Zerstörung des Gebäudes entstanden ist. Für mich ist diese Parole wie ein Aufschrei: Ihr werdet uns nicht brechen! Ihr könnt unsere Häuser zerstören, ihr könnt unseren Alltag zur Hölle machen. Aber unseren Selbstbehauptungswillen und unsere Identität werdet ihr uns nicht nehmen. „Die Ukraine über alles“, das heißt, es gibt etwas, das wichtiger ist als materielle Dinge. 

     

    Wie reagieren Ihre Landsleute auf diese Bilder? 

    Sie wecken auch bei Ihnen widersprüchliche Gefühle. Das war ja auch meine Absicht.  Meine Absicht war nicht, den Krieg zu ästhetisieren. Ich wollte ihn so zeigen, dass die Leute hinsehen. Dieses Nebeneinander von Schrecken und Schönem ist Teil unseres Alltags. In unseren Familien erleben wir schreckliche Tragödien, aber wir feiern auch Kindergeburtstage. Nachts fallen die Bomben, aber am nächsten Morgen um 7 habe ich Yoga. Manchmal komme ich aus dem Luftschutzkeller und gehe erstmal auf die Matte, bevor ich mich nochmal hinlege. Das ist unser täglicher Surrealismus: Heute früh um 6 mussten wir in den Luftschutzkeller, weil Raketen im Anflug waren. Ich habe die Kinder geweckt und wir sind losgelaufen. Es war dunkel, es war kalt, auf der Straße lag Schneematsch, und meine Tochter lachte und rief: „Schnee, Schnee!“. Wir laufen in den Luftschutzraum, und meine Tochter freut sich über den ersten Schnee.  

     

    Die Ruinen, die Sonne und auf der Wiese blühen Blumen. Bomben fallen und Kinder freuen sich über den ersten Schnee – das passt alles nicht zusammen. 

    Aber so sieht unsere Realität aus. Du bekommst eine Warnung: Es sind wieder Flugzeuge aufgestiegen, in 20 Minuten werden ihre Raketen in Kyjiw sein. Und während du mit der einen Hand Kaffee kochst, lädst du mit der anderen noch schnell einen Film bei Netflix runter, damit ihr euch die Zeit im Luftschutzraum vertreiben könnt, denn 20 Minuten hast du ja noch. Du hast Angst, und gleichzeitig handelst du routiniert. Zu den Eigenschaften, die ich am meisten an meinen Landsleuten schätze, gehört der Humor. Wir Ukrainer lachen viel, selbst wenn wir Angst haben müssen. Es kommt vor, dass der Luftalarm versagt. Neulich wurden wir von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen. Es war keine Zeit mehr, sich anzuziehen, alle sind wie sie waren in den Luftschutzraum gerannt: im Nachthemd, im Schlafanzug, mit zwei unterschiedlichen Hausschuhen. Und als wir da einer nach dem anderen in diesem Aufzug eintrafen, meinte jemand, ob wir denn zu einer Pyjama-Party verabredet waren, und alle lachten. Die emotionale Belastung ist enorm, aber der Humor hilft manchmal, den Druck rauszunehmen und mental zu überleben. 

     

    Wie kann man das jemandem vermitteln, der das nicht selbst erlebt hat? 

    Das ist sehr schwer. Einerseits verstehe ich, dass die Menschen in Europa den Krieg in der Ukraine verdrängen. Das ist eine normale Reaktion. Es gibt so viele gewaltsame Konflikte auf der Welt, wir können uns nicht alles zu Herzen nehmen. Deswegen will ich den Betrachter einfangen, bevor er sich wieder abgewandt hat von so einem schrecklichen Bild. Weil er das schon kennt, weil er es nicht sehen will, weil er nichts tun will und auch nicht will, dass das an ihm nagt. Ich hoffe, dass er schon in dieses einladende Gebäude eingetreten ist, bevor er merkt, dass es hier um Krieg geht. Dass er nicht mehr weglaufen kann. 

     

    Arbeiten der Fotografin Oksana Nevmerzhytska (geb. 1984) wurden unter anderem auf Ausstellungen in Frankreich, Schweden, Israel und den USA gezeigt und bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet. Ihre Bilder erschienen unter anderem im renommierten British Journal of Photography. Sie lebt mir ihrer Familie in Kyjiw. 

    Foto © Oksana Nevmerzhitska

     

     

     

    Fotos: Oksana Nevmerzhitska, aus der Serie „They will no longer drink tea there“ 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 17.12.2024 

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    Marija Berlinska ist eine der bekanntesten Armee-Freiwilligen der Ukraine. 2014 absolvierte sie erste Luftaufklärungskurse in einem Freiwilligenbataillon, der gegen die von Russland gesteuerten Kräfte im Osten der Ukraine kämpfte. Seitdem engagiert sie sich in mehreren mitbegründeten Projekten für die Technologisierung der ukrainischen Armee. Ob NGO Zentr pidtrymky aeroroswidky (Zentrum für Luftaufklärungsunterstützung), Initiativen wie Narodny FPV (Volks-FPV) und Victory Drones oder die Stiftung Dignitas Fund – all diese Projekte bilden Militärangehörige und Zivilisten in Bau, Wartung und Umgang mit Drohnen aus.  

    Berlinska ist die „Mutter der ukrainischen Luftaufklärung“, so der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy im Porträt. Sie berät staatliche und militärische Entscheider ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteure. Ihre Prognosen und Ratschläge werden im Hinterland oft als zu pessimistisch kritisiert, stoßen an der Front jedoch häufig auf große Zustimmung. 

    Berlinska schreibt regelmäßig Beiträge für die Ukrajinska Prawda, im Interview mit Chefredakteurin Sewhil Mussajewa spricht sie über ihr jüngstes Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky und die aktuell so schmerzhaften wie umstrittenen ukrainischen Themen: drängende Reformen im Verteidigungssektor, notwendige Verbesserungen bei der Mobilisierung sowie Worst-Case-Szenario und realistische Maßnahmen zu dessen Vermeidung. 

    Marija Berlinska im Interview mit Ukrajinska Prawda

    Ukrajinska Prawda: Wir haben schon verschiedene Phasen dieses Krieges durchlaufen. Zu Beginn der Invasion begeisterter Widerstand, später die Befreiung der Regionen Charkiw und Cherson, dann die erfolglose Gegenoffensive. Danach kam, was Walerii Salushny, der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, als Pattsituation und Sackgasse bezeichnete. In welchem Stadium des Krieges befinden wir uns deiner Meinung nach jetzt? 

    Marija Berlinska: Wir befinden uns an einem Punkt, an dem die Russen in der Offensive und dabei erfolgreich sind. Sie werden die Offensive fortsetzen, das ist logisch. Doch wir kämpfen nicht nur gegen die versammelte Rüstungsindustrie Russlands, sondern auch Chinas, Nordkoreas, des Iran, Belarus’ und vieler anderer offener oder verdeckter Verbündeter. 

    Unter anderem beliefern leider auch westliche Länder die Russen mit Komponenten für Drohnen, Raketen, Flugzeuge und andere Rüstungsgüter. 

    Wir befinden uns also an einem Punkt, an dem der Feind aus seinen Fehlern gelernt, sich neu aufgestellt und beschlossen hat, nun aufs Ganze zu gehen. 

    Ja, auf DeepState können wir das offensichtliche Vorrücken der Russen sehen. Gleichzeitig haben wir erwartet, dass die Russen Pokrowsk schon im September 2024 umzingeln und einnehmen würden. Jetzt haben wir November und sie stehen immer noch einige Kilometer vor Pokrowsk. Zwar rücken sie weiter vor, aber in einem sehr langsamen Tempo. 

    Ich würde das Ganze aus einer weiteren Perspektive betrachten. Heute sehen wir es als Norm an, dass es die Ukraine gibt: mit funktionierendem Bankensystem, dass wir Kaffee trinken gehen können und der Verkehr funktioniert – also die Staatlichkeit und damit grundlegende wirtschaftliche, kulturelle und politische Prozesse. Doch in Wirklichkeit ist das ein Wunder. Nur gewöhnen sich Menschen sehr schnell an gute Dinge. 

    Die Tatsache, dass Pokrowsk noch nicht eingenommen wurde, ist auf keinen anderen Faktor zurückzuführen als auf das Heldentum der Ukrainer. Sie kämpfen um jedes Waldstück und jeden Meter. Freiwillige Helfer setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um Geld für Drohnen zu sammeln. Und unter vielen miesen Kommandeuren gibt es immer noch anständige Leute, die bis zum Schluss bei ihren Einheiten bleiben, sterben und verwundet werden, aber um jeden Meter kämpfen. 

    Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11. 

    Nur so ist zu erklären, dass Pokrowsk im November 2024 immer noch uns gehört. Angesichts des dichten Artilleriefeuers, der Luftangriffe, der Tausenden von Gleitbomben, die auf uns fallen, und der ständigen taktischen Verbesserungen der Russen, ist das ein Wunder. 

    Die Russen zögern nicht, von uns zu lernen, sie übernehmen unsere besten Praktiken und verbreiten sie bei sich, auch in der Technologie. 

    Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem der Feind beschlossen hat, aufs Ganze zu gehen. Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11.  

    Also nach dem Grad der Erschöpfung? 

    Ja, nach der Erschöpfung. Wir hängen mehr und mehr in den Seilen und sie haben ihre Kriegsmaschinerie gerade erst in Gang gesetzt. Das heißt, sie spüren ihre katastrophalen Verluste noch nicht. 

    Die Kremlführung weiß, dass eine Niederlage oder das Ausbleiben sichtbarer Ergebnisse für sie nicht nur den politischen, sondern auch den realen Tod bedeutet. Das könnte einen Aufstand in Russland geben. Deshalb lassen sie nicht locker und werden so viele Ressourcen wie nötig in dieses Kriegsfeuer werfen, nonstop. 

    Ihre angestrebten Ziele beschränken sich nicht auf die Besetzung der Region Donezk und die vollständige Kontrolle über den Donbas, richtig? 

    Wir reden hier nicht über rein administrative Grenzen. Wenn es ihnen gelingt, die Region Saporishshja im Ganzen zu besetzen, werden sie dafür kämpfen und sie einnehmen. Wenn es ihnen gelingt, Richtung Dnipro vorzustoßen, werden sie gegen Dnipro ziehen. 

    Ich habe festgestellt, dass die Ukrainer oft der Illusion unterliegen, es reiche aus, Putin etwas zu geben, ein Opfer zu bringen, und er werde aufhören. Aber Russland versteht nur Gewalt, das weiß ich sicher. Ich weiß ebenso, dass Russland sich genau so viel nehmen wird, wie wir ihm geben. Und wenn es die Ressourcen hat, bis nach Lwiw zu marschieren, wird es bis nach Lwiw ziehen. 

    Deshalb habe ich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es sehr wichtig ist, wie der Feind zu denken. Der Feind denkt wie ein Verrückter. 

    Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde?  Ja, das kann es durchaus. 

    Ich war erstaunt über die Zahlen vom September 2024: Russland hat 200 ballistische Raketen aus Nordkorea erhalten und gegen unsere Städte eingesetzt. Gleichzeitig war die Zahl der Raketen, die wir in dieser Zeit von allen unseren Partnern erhalten haben, geringer. Was können wir in diesem Fall nicht nur Russland, sondern auch seinen Verbündeten entgegensetzen? 

    Erstens müssen wir die Realität akzeptieren und dürfen uns nicht einlullen lassen. Zweitens müssen wir uns das Worst-Case-Szenario klarmachen. 

    Welches ist das für Marija Berlinska im November 2024? 

    Das Worst-Case-Szenario ist, dass wir uns nach und nach zu einem der Hauptschlachtfelder in einem Dritten Weltkrieg zwischen der „Achse des Bösen“ und den demokratischen Ländern entwickeln, was sich bereits abzeichnet. So werden wir zu einem großen Trainingsgelände. 

    Das Worst-Case-Szenario ist auch, wenn einerseits die Länder der „Achse des Guten“ nicht rechtzeitig aufwachen und erkennen, dass sie so schnell und so viel wie möglich Ressourcen und vielleicht sogar eigene Soldaten bereitstellen müssen. 

    Andererseits werden wir ohne Einigkeit und Konsens bei uns selbst Kampfgeist und Moral verlieren. Dann verlieren wir die Kontrolle über die Armee und damit allmählich unsere Staatlichkeit als solche. 

    Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde? Ja, das kann es durchaus. Und nicht nur die linke Dnipro-Seite. 

    In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass unsere Partner in den europäischen Ländern alles tun wollen, um den Krieg einzufrieren. Was lässt diese Menschen erkennen, dass das auch eine Bedrohung für sie darstellt? 

    Siehst du, das Verbrechen ist gut organisiert und wir sind es nicht. 

    Die Terroristen und Wahnsinnigen haben sich zusammengetan, doch die westliche Welt ist leider sehr gespalten und begreift nicht, welche existenzielle Bedrohung dies für das eigene Koordinatensystem und seine Spielregeln bedeutet. Die Länder der so genannten Achse des Bösen versuchen, ihre eigene Weltsicht hierauf zu übertragen. 

    Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören. 

    Du warst bei einem vertraulichen Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky. Außerdem kommunizierst du mit der Militärführung und den Leitern einiger wichtiger Ministerien, die für unsere Verteidigungsfähigkeit verantwortlich sind. Verstehen diese Menschen dort die Gefahr? 

    Ich habe festgestellt, dass man zuhören möchte und einige Ideen akzeptiert. Ich habe auch festgestellt, dass es leider viele Prozesse gibt, die manuell gemanagt werden, selbst auf der strategischen Ebene. Was mir noch aufgefallen ist? Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören. 

    Ich sage mal so, ich habe es in all den zehn Jahren als meine Pflicht angesehen, immer wieder das gleiche Mantra zu wiederholen: Drohnen werden den Verlauf dieses Krieges bestimmen, Technologie wird den Verlauf dieses Krieges bestimmen. Wir müssen die Bevölkerung vorbereiten, Leute ausbilden und die Philosophie des gesamten Krieges neu begründen. Wir müssen aufhören daran zu glauben, dass es uns schon nicht betreffen wird oder wir einen leichteren Weg haben. 

    Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft. 

    Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass jeder in der Lage sein muss, Technologie zu produzieren und anzuwenden, um sich und sein Volk zu schützen. Dann geht kein Mensch mehr nach vorn, um aufzuklären, sondern es fliegt eine Drohne, oder Bodendrohnen sorgen für Deckungsfeuer, Minenverlegung und -räumung, Logistik usw. 

    Ein Team von Freiwilligen und ich sind bereit, diese Aufgabe zu übernehmen und dafür zu sorgen, dass mindestens 10-20.000 Menschen in jeder Region wissen, wie man Boden- und Flugroboter steuert und die Betriebsprogramme versteht, wie man mit ihnen kommuniziert und kämpft. 

    Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist. 

    Ich habe ja bereits über das Worst-Case-Szenario gesprochen, nun wollen wir uns dem Best-Case-Szenario zuwenden. Auch wenn es ein sakrales Mantra umstößt, müssen wir die Wahrheit sagen: dass das nicht mehr die Grenzen von 1991 sein werden. Das können wir vergessen. Wir geben kein Land auf, nicht die Krim und nicht den Donbas. Doch wir müssen aufhören, in der Öffentlichkeit zu diskutieren, dass wir sie in einem Jahr wieder haben werden. Das könnte im besten Fall – mit der richtigen und umfassenden Vorbereitung – in Jahren geschehen. 

    Im Moment besteht das beste Szenario darin, eine aktive Verteidigung zu führen. Das bedeutet, einen 30-40 Kilometer breiten Streifen, vermint mit mehreren und befestigten Verteidigungslinien entlang der gesamten Frontlinie zu bauen. Man kann hier vom Feind lernen, der teils eine sieben-, acht-, manchmal zehnfach gestaffelte Verteidigung hat. Dort muss investiert werden. 

    Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist, aus den Panzerfabriken, den Reparaturwerken, den Forschungs- und Entwicklungszentren. Dort müssen wird zuschlagen und diese Ressourcen zerstören. 

    Wir brauchen wirklich ein eigenes Raketenprogramm, doch wir beginnen erst, uns dem zu nähern. 

    Das ganze Land muss bereit sein, einen Sprintmarathon zu laufen. 

    Und drittens muss das ganze Land, die ganze Bevölkerung, endgültig auf die Geschichte eines langen Krieges, eines Sprintmarathons, eingestimmt werden und darauf, dass jeder bereit sein muss, ihn zu laufen. Kinder sollten bereits ab der 5. oder 6. Klasse Programmieren, Robotik und die Grundlagen der militärischen Kommunikation lernen. 

    Nicht, dass ich möchte, dass unsere Kinder in den Krieg ziehen, sondern weil der Krieg 2014 begonnen hat und diejenigen, die damals 12-14 Jahre alt waren, jetzt kämpfen und nicht darauf vorbereitet waren. 

    Wenn man mit den Militärs an der Front spricht, beklagen alle, dass es zu wenig Leute gibt, zu wenig Infanterie. Was kann man gegen den katastrophalen Personalmangel tun? 

    Man könnte zumindest drei konkrete Schritte unternehmen: Erstens, die Versetzungen innerhalb der Armee vereinfachen. Damit könnten einige unzufriedenen Leute Dampf ablassen und gleichzeitig würde die Armee etwas Menschlichkeit gegenüber den eigenen Soldaten zeigen. 

    Es ist wirklich absurd, dass Menschen, die gekommen sind, um die Freiheit zu verteidigen, sich in der Sklaverei wiederfinden. 

    Man muss es jedoch vernünftig machen, denn wir wollen nicht, dass auf einmal eine ganze Brigade zu einer anderen wechselt und wir dann, wie man uns im Generalstab erklärte, ein Loch in der Front haben. 

    Wenn jedoch alle plötzlich einen Kommandeur verlassen, liegt dies wohl am Kommandeur. Das wäre vielleicht ein Signal, ihn auszutauschen. 

    Ich würde die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen. 

    Der zweite Punkt ist die vertikale Versetzung. Wenn eine Person in der Führungsebene einer Einheit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben versagt, sollten wir auf jeden Fall ihre Rolle überdenken. 

    Es kann nicht sein, dass jemand in einer hohen Position nur befördert werden kann. Ich denke, es wäre fair zu sagen: Wer seine Aufgaben nicht erfüllt, geht nach unten und kann Zugführer oder einfacher Infanterist werden. 

    Drittens würde ich die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen. Wir müssen den Menschen eine Pause gönnen, denn die Lasten des Krieges werden die ganze Zeit von denselben Menschen getragen. Deshalb würde ich allen zumindest alle drei-vier Monate ein paar Wochen oder sogar einen Monat Urlaub gönnen. 

    Wenn man es richtig und systematisch durchdenkt, die Front nicht ausdünnt und die ganze Sache digitalisiert und dabei die Reihenfolge der Prioritäten beachtet, ist das absolut realistisch. 

    Dann gibt keine Selbstmorde, keine Scheidungen und nicht einen solch hohen Prozentsatz von Deserteuren. Dann haben die Menschen die Möglichkeit, ihre Kinder zu umarmen, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, ins Kino oder zum Arzt zu gehen. 

    Ist die Führung bereit, solche Entscheidungen zu treffen? 

    Wie man ein ineffizientes Managementsystem verändert? Was ich jetzt sage, klingt für einige wahrscheinlich nach Astrophysik oder wirrem Gerede: Ich behandle Menschen wie Roboter. Das ist meine Berufskrankheit der letzten zehn Jahre. 

    Ich glaube, dass die einzige Möglichkeit, Ressourcen effektiv zu nutzen, darin besteht, sie zu digitalisieren. Jeder von uns hat seine eigenen taktischen und technischen Eigenschaften. Du hast zum Beispiel die Eigenschaft, ein großes Team von Journalisten zu führen. Doch gibt es auch etwas, was du nicht kannst. Magst du zum Beispiel Excel-Tabellen? 

    Ich hasse sie. 

    Siehst du. Wenn man dir das aufbürdet, würdest du das nicht schaffen. 

    Wir haben gute Ingenieure, die schlechte Mörserschützen sind, oder gute Fahrer und Mechaniker, die schlechte Scharfschützen abgeben. Mit anderen Worten, wir setzen Menschen für den falschen Zweck ein. Denn wir kennen ihre Eigenschaften nicht. 

    Wenn man den Menschen als Roboter betrachtet, hat jeder von uns seine eigenen Spezifikationen: Mit einem Staubsaugerroboter pflügt man kein Feld, oder? Und mit einem Bewässerungsroboter kocht man keinen Borschtsch.  

    Da geht um das Humankapital. 

    Aber wie können wir es am besten nutzen? Zunächst jeden Roboter beschreiben. Wir bewerten doch auch Pizzalieferanten, Uber-Fahrer oder einen Coffeeshop. Big Data lügt nie. Wenn du ein Café mit einer Bewertung von 4,9 bei 6000 Bewertungen siehst, ist der Kaffee dort wahrscheinlich wirklich gut. So ist es hier auch. 

    Nur so kann man vernünftige Entscheidungen treffen – nicht getrieben von Emotionen oder weil man irgendwo Beziehungen hat, weil man mal zusammen auf einer Hochzeit gefeiert hat. 

    Anfang September veröffentlichte die Ukrajinska Prawda euren Artikel „Ministerium des Chaos“. Hat sich seitdem etwas verändert? Wie würdest Du das Verteidigungsministerium heute beschreiben? 

    Wahrscheinlich als das „Ministerium des letzten Versuchs“ (lächelt). 

    Was für Personen braucht es da deiner Meinung nach? 

    Wir brauchen jetzt geniale Leute. Die gibt es nur sehr wenige. Ich für meinen Teil gehöre nicht dazu. 

    Ich würde mich deshalb auf Logik, technische Eigenschaften und frühere Leistungen stützen und nicht von Emotionen leiten lassen, nicht von irgendwelchen Bekanntschaften, einem guten Eindruck oder der Fähigkeit zu schmeicheln und der Führung Komplimente zu machen oder sich verbiegen zu können. Das ist alles Unsinn. Ich glaube, dass solche Leute ihren Vorgesetzten einen schlechten Dienst erweisen. 

    Aber du verstehst doch, dass die derzeitige Regierung und Verwaltung nach dem Loyalitätsprinzip aufgebaut sind und das wird sich wohl kaum ändern. 

    Also ich hatte diese eine Gelegenheit, mit dem Präsidenten zu sprechen. Und ich habe ihm ganz aufrichtig und ehrlich gesagt, was ich denke. Im Grunde sage ich das schon seit zehn Jahren jedem, mit dem ich rede. Abgeordneten, Ministern und Leitern von Rüstungsunternehmen habe ich immer die Dinge gesagt, die ich für richtig halte. 

    Ich brauche nichts, ich bin nach Beginn der großen Invasion hierher zurückgekommen. Seit 2018 habe ich in Amerika gelebt, arbeitete in einer guten Führungsposition, alles war gut – ganz klassisch: Familie, Haus, viele Reisen – alles war in Ordnung. 

    Deshalb habe ich dem Präsidenten die Wahrheit gesagt. Als ich die Gelegenheit hatte, es ihm ins Gesicht zu sagen, sagte ich: „Wenn wir ertrinken, ertrinken wir alle.“ Woraufhin er mir sagte, dass er hier leben wolle. 

    Bist du zum Beispiel bereit, für das Verteidigungsministerium zu arbeiten? 

    Ich bin nicht bereit – nicht weil ich eine weiße Weste tragen möchte oder Angst vor Verantwortung habe. Ich bin nicht bereit, weil ich glaube, dass ich dort, wo ich gerade bin, effektiv bin: Unser Team bei Victory Drones und Dignitas tut sehr viel, um dem Verteidigungs- und Sicherheitssektor dabei zu helfen, einige wirklich gute Veränderungen voranzubringen. Einiges davon können wir hier noch nicht sagen. Aber so Gott will, wird die Zeit kommen, in der wir erzählen können, wie viel sich im Rahmen der positiven Reformen verändert hat. 

    Wie viele Drohnen werden derzeit im Programm Narodny FPV gebaut? 

    Etwa tausend Drohnen werden übergeben. Das ist nicht sehr viel, aber viel wichtiger ist, dass wir die Blockade in den Köpfen der Menschen beseitigt haben. 

    Lasst uns intelligent kämpfen. Dann werden wir diesen Kampf David gegen Goliath gewinnen. 

     

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    Es war eine dieser im Krieg so seltenen guten Nachrichten: Beim Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine am 18. Oktober ist unter den 95 aus russischer Kriegsgefangenschaft befreiten Ukrainern auch der Menschenrechtler und Journalist Maxym Butkewytsch.  

    Butkewytsch, geboren 1977, trat zum ersten Mal, damals als Siebtklässler, während der sogenannten „Revolution auf Granit“ 1990 öffentlich für eine unabhängige Ukraine auf. Später wurde er Journalist und Menschenrechtsaktivist mit Überzeugungen zwischen christlichen Werten, Anarchismus und Pazifismus.  

    Im Zuge des Euromaidan, der folgenden russischen Annexion der Krym und dem von Russland forcierten Krieg im Osten der Ukraine baute Butkewytsch mit Kollegen das unabhängige Radio Hromadske und das Menschenrechtszentrum mit Medienplattform Zmina auf. Er engagierte sich besonders für Binnenvertriebene und -Flüchtlinge in der Ukraine. 

    Als Russland im Februar 2022 die Ukraine mit seinem vollumfänglichen Angriffskrieg überzieht, meldet sich Butkewytsch freiwillig zum Militär. Im Juni 2022 gerät er in der Oblast Luhansk in russische Kriegsgefangenschaft. Dort wird er im März 2023 von einem russischen Besatzungsgericht zu 13 Jahren Haft verurteilt, weil er in Sewerodonezk mit einer Panzerfaust auf ein Wohngebäude geschossen haben soll. Seine Einheit war zu diesem Zeitpunkt nicht dort, wie Kameraden und Angehörige von Butkewytsch betonen.  

    Mit Butkewytschs Freilassung im Oktober ist zum ersten Mal ein in Russland verurteilter ukrainischer Militärangehöriger ausgetauscht worden. Erstmals kann jemand direkt vom Ablauf und den Bedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft und Gerichtsverfahren im Krieg berichten. Kurz nach seiner Ankunft in Kyjiw gibt Butkewytsch mehrere Interviews: Dieses Gespräch mit seinen Kolleginnen von Hromadske Radio ist das allererste, nach gerade mal fünf Tagen in Freiheit.  

    Dieses Interview ist ein Anfang, über das Erlebte zu sprechen. Denn mit der Befreiung beginnt ein komplizierter Verarbeitungsprozess. Das Befragen ehemaliger Kriegsgefangener ist – und das zeigt auch die YouTube-Aufzeichnung des Interviews – schwierig, will man Retraumatisierung vermeiden. Die ukrainische Medien-NGO Instytut massowoji informaziji (dt. Institut für Masseninformationen, IMI) hat dazu Tipps einer ehemaligen Kriegsgefangenen veröffentlicht. Das Wichtigste: Der befragte Mensch bestimmt den Ablauf. 

    Maxym Butkewytsch kurz nach seiner Freilassung in Kyjiw, Foto © Ruslana Krawtschenko/Hromadske Radio
    Maxym Butkewytsch kurz nach seiner Freilassung in Kyjiw, Foto © Ruslana Krawtschenko/Hromadske Radio

    Hromadske Radio: Wie geht es dir? 

    Maksym Butkewytsch: Mir geht es wunderbar. So gut ist es mir in den letzten zwei Jahren und vier Monaten nicht gegangen. Wahrscheinlich sogar in den letzten zweieinhalb Jahren nicht. Wahrscheinlich bin ich glücklich. Ich erlebe etwas, das die Menschen Glück nennen. Generell und in vielen kleinen Momenten über den Tag verteilt – wenn ich Dinge sehe, die ich kannte und vergessen hatte, wenn ich Menschen treffe, die mir nah sind und mit denen ich jetzt reden kann, den einen oder anderen sogar sehen. Das ist wunderbar. Natürlich hat das alles auch seine Schattenseiten.   

     

    Unsere Zuschauer wissen ja, wie lange du festgehalten wurdest. Aus den ersten Videos und Informationen aus der Strafanstalt haben wir geschlossen, dass dein Zustand nicht sehr gut war, sich mit der Zeit aber besserte. Erzähle ein bisschen darüber. 

    Ich denke, eines der ersten Videos war aus dem Untersuchungsgefängnis Luhansk. Die Soldaten stehen aufgereiht an einer Wand. Es heißt, wir seien in Hirske und Solote gefangengenommen worden. Das war eine PR-Aktion. Dafür haben sie die erstbesten Kriegsgefangenen genommen. Darunter waren natürlich Leute, die an diesen Orten gefangengenommen wurden. Wir aber wurden woanders gefangengenommen.  

    Selbst bei so unwichtigen Dingen, bei denen es keinen Sinn macht zu lügen, gab es keine Wahrheit.  

    Was meinen Gesundheitszustand betrifft – ich hatte Probleme, allem voran mit einer Verletzung, die mir am zweiten Tag nach der Gefangennahme zugefügt wurde. Das war auf dem Weg nach Luhansk. 

    Die Verletzung stammte von einem Holzknüppel, mit dem ich geschlagen wurde, ich weiß nicht mehr wie oft, aber ich denke, ziemlich oft. Mein Arm war daraufhin für einige Zeit teilweise bewegungslos. Zum Glück heilte es irgendwie. Ich befürchtete einen Bruch, aber es war keiner. Ob davon etwas geblieben ist, werden wir bald erfahren, es sind Untersuchungen geplant. 

     

    Es gab noch ein Video, in dem ihr zur sogenannten Luhansker Beauftragten für Menschenrechte gebracht wurdet und angeblich Verwandte anrufen durftet. Damals kam ich für mich zu dem Schluss, dass sie sich auf ihre Weise noch immer mit euch beschäftigten, obwohl seit der Gefangennahme schon etwa ein halbes Jahr vergangen war. 

    In den ersten Wochen war es natürlich am intensivsten, da wurden wir von Personen aus verschiedenen Strukturen befragt. Man konnte nur raten, welche Strukturen das waren, denn selbstverständlich hatte niemand die „dumme“ Angewohnheit sich vorzustellen. Dann war da noch die eher formale Prozedur des Ministeriums für Staatssicherheit der sogenannten Volksrepublik Luhansk. Danach kehrte für einige Zeit Ruhe ein. 

    Später, im September 2022, wurde ein sogenanntes Strafverfahren gegen mich eingeleitet. Das war eine Woche vor dem Treffen mit der „Beauftragten für Menschenrechte“ der „Volksrepublik Luhansk“. Dieses Treffen war eine Überraschung für uns. Denn sie kam mit einem Mitarbeiter der UNO-Menschenrechtskommission. Danach beschäftigte man sich aufgrund des Strafverfahrens mit mir. 

     

    Du bist einer der ersten Ausgetauschten, den die Russen in einem Fake-Prozess verurteilten, aber schließlich zum Austausch freigaben. Und das, obwohl in den ukrainischen Menschenrechtskreisen im letzten Jahr große Unsicherheit und Zweifel darüber bestanden, ob die Russen verurteilte Kriegsgefangene herausgeben würden. Erzähl bitte, ob zwischen verurteilten und nicht verurteilten Gefangenen unterschieden wurde, wie ihr behandelt wurdet und wozu das alles war. 

    Wir hatten Informationen darüber, dass im letzten oder in den beiden letzten Austauschen Verurteilte gewesen waren, aber wir konnten das nicht überprüfen. Informationen kommen zwar zu den Gefangenen, aber oft spät und unvollständig. Viele Männer waren besorgt, dass keine verurteilten Kriegsgefangenen ausgetauscht würden. Zumindest in der Oblast Luhansk. Darin waren wir uns sicher. Weil in der Oblast Luhansk unseres Wissens alle verurteilten Kriegsgefangenen in derselben Strafkolonie festgehalten wurden. Dort war auch ich – in der früheren Strafkolonie Nr. 19, jetzt Strafkolonie Nr. 2 des Föderalen Strafvollzugdienstes Russlands in der „Volksrepublik Luhansk“. 

    Wir Verurteilte befanden uns dort gemeinsam mit anderen, die nach dem [russischem – dek] Strafrecht verurteilt worden sind. Es ist eine Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen für sogenannte „Erstsitzer“, für solche also, die zum ersten Mal im Freiheitsentzug sind. Andere Kriegsgefangene gab es dort nicht. Sie befinden sich in anderen Strafkolonien der Oblast Luhansk, die sich durch ihre Haftbedingungen unterscheiden.  

    Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet.

    Ich könnte nicht sagen, dass es eine spürbare Unterscheidung zwischen verurteilten Kriegsgefangenen und „normalen“ Verurteilten gab, jedenfalls meistens nicht. Obwohl es für Kriegsgefangene natürlich zusätzliche Beschränkungen gab. 

    Sie waren zu bestimmten Arbeiten nicht zugelassen, und noch andere Dinge. Aber es war nicht belastend. Im Großen und Ganzen war der Unterschied zwischen der Strafkolonie, in der wir uns aufhielten, und dem Untersuchungsgefängnis, wo wir zuvor noch als Kriegsgefangene gewesen waren, sehr groß. Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet

    Wir waren gemeinsam mit anderen Verurteilten untergebracht. In denselben Baracken und denselben Blocks. Wir gingen zu derselben Arbeit, aber nicht zu allen Arbeiten waren Kriegsgefangene zugelassen. Wir aßen in derselben Kantine. 

     

    Arbeit – meinst du damit, dass man euch zwang zu arbeiten?  

    Genau. Eine andere Sache ist, dass nicht alle dazu gezwungen wurden und nicht jeder zu allen Arbeiten. Als meine verurteilten Kameraden und ich vor mehr als einem Jahr dorthin gebracht wurden, teilte man uns inoffiziell mit, dass das Arbeiten verpflichtend sei. Und dass eine Verweigerung bestraft würde.  

     

    Aus manchen Strafkolonien hört man, dass die Gefangenen dort russische Militäruniformen nähen. 

    Ich habe von Strafkolonien gehört, in denen genäht wird. Ob Uniformen, habe ich nicht gefragt. Aber das waren Strafkolonien in Russland. In der Oblast Luhansk werden Kriegsgefangene hauptsächlich für Wartungsarbeiten und Arbeiten zur Aufrechterhaltung des täglichen Lebens im Wohnbereich eingesetzt. Aufräumen, Lasten transportieren, Bordsteine streichen, Reparaturarbeiten. Im Industriegebiet arbeiten natürlich kaum Kriegsgefangene. Meistens gab es dort aber auch kaum Arbeit. Die Industriezone ist sehr klein, von ihr ist fast nichts übrig. Sie wurde in den zehn Jahren davor ziemlich heruntergewirtschaftet. 

     

    Du bist Armeeangehöriger und nun ehemaliger Kriegsgefangener, darüber hinaus bist du Menschrechtsaktivist. Als du den Russen in die Hände fielst, hattest du eine Ahnung, was weiter passieren würde – weil du ja an Menschenrechtsaktivitäten zum Schutz und zur Befreiung von ukrainischen Häftlingen teilgenommen hattest? 

    Ich hatte vage Erwartungen, die sich nicht bewahrheiteten. Allem voran muss ich sagen, dass ich überhaupt nicht erwartete, in Gefangenschaft zu geraten. Dieser Gedanke tauchte nur als eine der Varianten auf, wie es weitergehen könnte, aber niemand stellte sich darauf ein, niemand war bereit dafür. Das waren hauptsächlich Leute, die 2022 in Gefangenschaft gerieten. Sie hatten sich darauf vorbereitet, 300er [verwundet – dek] oder 200er zu werden.  

    Als wir bereits in Gefangenschaft waren, hatten wir entweder die allerschlimmsten Erwartungen, die nichts mit dem internationalen humanitären Völkerrecht gemein hatten, oder solche, die sich zumindest irgendwie mit dem humanitären Völkerrecht und der Genfer Konvention in Zusammenhang bringen ließen … Ein Lager für Kriegsgefangene … Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist. Alles war ganz anders. Und ich kam erst nach einiger Zeit dahinter, dass man uns in einem Untersuchungsgefängnis festhielt. 

    Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist.

    Später wurde uns klar, worin sich der Umgang mit den Menschen, die dort einsaßen, weil sie eines Verbrechens beschuldigt wurden, unterschied. Und er unterschied sich deutlich. Besonders 2022. Und ganz besonders bis Anfang Oktober 2022. Danach kam „offiziell“ Russland, was gewisse Änderungen mit sich brachte … Kam „offiziell“, weil Russland von dort in den Jahren zuvor ja nie weggegangen war. Aber es wurden einige Praktiken geändert, damit sie nicht allzu skandalös waren. Manche blieben gleich, mache wurden geändert. Um ehrlich zu sein, erwartete ich kein Strafverfahren. Dieser Teil war eine Überraschung für mich. 

     

    Wurde der Prozess gegen dich begonnen, weil du Menschenrechtsaktivist bist? 

    Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, dass das der eigentliche Grund war.  Denn die meisten, fast alle Kriegsgefangenen, die in der Oblast Luhansk in solchen „Verfahren“ verurteilt wurden, wurden nach ein und demselben Schema verurteilt. Es waren absolut typische Strafverfahren. 

    Aber ich war der Erste, der verurteilt wurde, vielleicht auch der Erste, gegen den ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Das könnte damit zusammenhängen, dass ich Menschenrechtsaktivist bin, denn bei den Verhören wurde natürlich – neben den Kampfhandlungen und meiner Einheit – besonderes Augenmerk darauf gelegt, was ich in meinem früheren Leben und im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit gemacht habe.  

    Vielleicht ist das tatsächlich der Hauptgrund dafür, dass ich der Erste war … Unter den verurteilten Kriegsgefangenen waren Menschen unterschiedlicher geografischer Herkunft, unterschiedlichen militärischen Rangs, mit verschiedenen militärischen Funktionen sowie Berufen im zivilen Leben. Es war ein Querschnitt durch die ukrainische Armee, wirklich sehr unterschiedliche Menschen.  

    Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts. 

    Und wir versuchten in den Strafverfahren, in den Details im Umgang mit uns und der Unterbringung in den Zellen, ein System zu finden. Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts. Manchmal hatten wir den Eindruck, ein Zufallsgenerator sei am Werk: „Wen sollen wir heute zum Kriegsverbrecher machen?“ 

    Noch dazu war offensichtlich, dass sie im August und Anfang September 2022, als die sogenannten „Untersuchungen“ zu meinem Strafverfahren durchgeführt wurden, große Eile hatten. Sie wollten so viele Menschen wie möglich nach diesem Schema verurteilen. Womit das zusammenhing, weiß ich nicht, aber vielleicht mit dem Zeitpunkt der formalen Annexion der „Volksrepublik Luhansk“ durch Russland. 

    Aber sie schafften es nicht. Deshalb kam es zu einer Pause von mehreren Monaten. Und danach hatten sie von manchen Formularen bereits die russische Version ausgefüllt. Zuvor waren es die Formulare der „Volksrepublik Luhansk“ gewesen, obwohl das Verfahren die ganze Zeit vom Russischen Ermittlungskomitee geleitet wurde. Verurteilt wurde ich bereits „im Namen der Russischen Föderation“. 

     

    Ich habe eine Frage zu jenen, die zurückgeblieben sind. Alle Kriegsgefangenen, die freikommen, reden immer von denen, die zurückgeblieben sind – sicher hast auch du eine Liste jener im Kopf, die noch dort sind. Aber ich frage dich im Zusammenhang damit, was du weiter tun wirst. Du hast einige Optionen, inwieweit könnten die Menschenrechte zum jetzigen Zeitpunkt eine Option sein? 

    Was meine weiteren Optionen betrifft, vermeide ich derzeit noch, eine mehr oder weniger endgültige Entscheidung zu treffen. Denn Optionen habe ich zum Glück einige. Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit „uns“ meine ich die Ukraine. 

    Ich versuche, mir Möglichkeiten offen zu halten, einfach um zuerst verstehen zu können, was sich in den zweieinhalb Jahren verändert hat. Ich brauche genug Informationen. Aber ja, die Menschenrechte sind eine dieser Optionen. Wahrscheinlich die führende. Die Menschenrechte sind mein Leben. Sie sind ein Teil dessen, was den Kern meines Lebens ausmacht. 

    Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit ‚uns‘ meine ich die Ukraine. 

    Aber in welcher Form das stattfinden wird, wird sich noch zeigen. Und natürlich wird mich das Thema jener, die ihre Heimat gegen ihren Willen verlassen mussten, immer begleiten. Das Thema Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Auch der Kampf gegen Diskriminierung und ungleiche Behandlung hat für mich an Relevanz gewonnen … das Thema der freien Meinungsäußerung und des freien Denkens hat neue Schattierungen angenommen, Dinge, die auch zuvor wichtig waren. 

    Mein Interesse für das Thema Strafvollzug wurde geweckt. Ich weiß jetzt einfach viel mehr darüber … 

    Aber natürlich sind unsere inhaftierten Kriegsgefangenen, sowohl die verurteilten als auch jene, die ohne Urteil festgehalten werden, mein Thema Nummer eins, der „Nagel“ in meinem Kopf. Und die Zivilisten, die festgehalten werden oder verurteilt wurden, weil sie auf irgendeine Weise gegen die Okkupation waren. Im Gefängnisjargon werden sie „Politische“ genannt. 

    Das sind menschliche Tragödien. Es gibt Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe. 

    Diese Menschen haben es sehr schwer, weil sie so viel riskiert haben und sich die Ängste, die sie dabei hatten, bewahrheiteten. Und viele fürchten, dass in der derzeitigen Situation, in der es viele Kriegsgefangene gibt, jemand vergessen werden könnte, und das wäre falsch. Schließlich gibt es Menschen, die gegen das Gesetz ihrer Freiheit beraubt werden. Ohne „gerichtliche Urteile“. Unter ihnen sind sogenannte prewentywnyky. Sie stehen unter präventivem Arrest, weil sie früher bei den ukrainischen Streitkräften gedient haben, bei der Polizei, in staatlichen Strukturen oder ähnlichem gearbeitet haben, davon gibt es viele. Ich habe sie in der Untersuchungshaft und im Gefängnis getroffen. Das sind menschliche Tragödien. Es gibt ganze Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe. 

    Die Atmosphäre trägt dazu bei, dass etwa bei Nachbarschaftskonflikten zur einfachsten „Lösung“ gegriffen und denunziert wird. Und sofort verschwinden die Probleme gemeinsam mit dem Nachbarn.  

    Aber vor allem sind unsere Kameraden und Kameradinnen Menschen, die von dort zurückgeholt, dort herausgeholt werden müssen. Ihre Würde steht unter ständigem Druck, immer, jeden einzelnen Tag. Das sind Druck und Bedrohungen, die man niemals vergisst. 

     

    Du hast gesagt, dass du in diesen fünf ersten Tagen in Freiheit versuchst zu verstehen, was sich verändert hat. Vielleicht hast du schon irgendetwas bemerkt. Zum Beispiel in Kyjiw, das du heute zum ersten Mal in all der Zeit gesehen hast. 

    Wir waren die meiste Zeit in einem Reha-Zentrum und halten uns auch weiterhin dort auf. Ich habe heute zum ersten Mal die Hauptstadt gesehen und auch meine Heimatstadt ganz kurz. Ich hatte heute nicht den Eindruck, wie andere oft sagen, durch eine „völlig unbesorgte Stadt zu fahren, die versucht zu verdrängen, dass Krieg ist“. Sagen wir so: Die Stadt ist fast friedlich, aber doch nicht ganz, ist fast ruhig, aber doch nicht ganz. 

    Aber das sind meine ersten Eindrücke, ich werde weiter sehen. Überhaupt nehme ich wahr, dass sich viel verändert hat, der Krieg ist alltäglich geworden, als „verstünde er sich von selbst“. Armeeuniformen, Militärfahrzeuge, verschiedene Besonderheiten, die es in Friedenszeiten nicht gab. Sie werden offensichtlich einfach als Teil der Landschaft wahrgenommen, was 2022 noch nicht der Fall war, damals war das noch eine Extremsituation.

     

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  • Atomtests

    Atomtests

    Mitte November hat Putin die russische Atomdoktrin verschärft, wenige Tage später hat Russland eine Mittelstreckenrakete gegen die ukrainische Großstadt Dnipro eingesetzt. Dies ist der vorläufige Schlusspunkt der nuklearen Eskalation, die Russland seit der Krim-Annexion 2014 vorantreibt. Schon 2016 bemerkte der russische Journalist Andrej Loschak, dass „kaum eine Ausgabe der Nachrichten heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands auskommt.“ Mit der Vollinvasion 2022 hat sich die Gangart nochmals verschärft, auch der Kreml droht seitdem zunehmend mit dem Einsatz des Atomkoffers: Der Westen solle bloß die „roten Linien“ nicht überschreiten. 

    Viele dieser Kreml-Linien wurden seitdem aber schon mehrfach überschritten: So hat die ukrainische Armee westliche Waffensysteme gegen Gebiete eingesetzt, die Russland als eigene beansprucht. Konsequenzen blieben aus, was mit dem inflationären Gebrauch von Drohungen zu einer „Immunität“ gegenüber der atomaren Abschreckung geführt hat, so eine Quelle von The Washington Post

    Vor diesem Hintergrund gibt es nun auch im Westen zahlreiche ernstzunehmende Stimmen, die vor weiterer Eskalation warnen. Eine atomare Apokalypse halten zwar auch sie für derzeit unwahrscheinlich, der Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine rücke durch die neue Wendung aber näher, so das Szenario. Der russische Journalist Michael Nacke hält davon nichts, auf YouTube argumentiert er Punkt für Punkt dagegen. 

    Graffiti mit Putin und Atompilz, 06.04.2024, Mitte, Berlin © IMAGO / Steinach

    Der Krieg dauert bald drei Jahre, und Russland hat keines seiner proklamierten Ziele erreicht. Dabei waren das nicht wenige Ziele, sie wechselten nur ständig: vom Sturz der Regierung in Kyjiw über die Errichtung eines loyalen Regimes bis hin zur Besetzung der gesamten Oblast Donezk. Russland hat vier ukrainische Oblaste zu seinem Eigentum erklärt: Cherson, Donezk, Luhansk und Saporishshja. Dabei hat es zu keinem Zeitpunkt auch nur eine dieser Regionen komplett kontrolliert. 

    Im Verlauf dieses Krieges wurde Wladimir Putin mehr als einmal gedemütigt. Die russische Armee galt einst als eine der stärksten der Welt, auch unter vielen westlichen Beobachtern und renommierten Medien. Aber mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion der Ukraine veränderte sich diese Sicht: Seitdem wurde die Professionalität der russischen Armee immer öfter in Zweifel gezogen. 

    Also hat Putin mehrmals zu nuklearen Drohgebärden gegriffen und damit unter anderem die US-Regierung unter Joe Biden unter Druck gesetzt. Putin bediente sich dabei verschiedener Methoden, beispielsweise ließ er Atomwaffen nach Belarus verlagern, und immer wieder behauptete er, ein Atomschlag stünde kurz bevor. Leider ist Biden auf diese Bluffs hereingefallen.  

    Zwei Faktoren für die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Schlags 

    Ich möchte behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Angriffs von genau zwei Faktoren abhängt, die eng zusammengehören: den Vorteilen, die Russland sich davon versprechen kann, und den Nachteilen, die es davontragen könnte. Alles andere spielt meiner Ansicht nach keine Rolle. 

    Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung.

    Derzeit hört man oft das Argument, Russland hätte seine Nukleardoktrin geändert und behalte sich von nun an das Recht vor, im Rahmen eines Präventivschlags Atomwaffen einzusetzen, wenn sein Territorium von einem Staat angegriffen wird, der mit einer Atommacht zusammenarbeitet. Dabei erlaubte bereits die alte Nukleardoktrin den Einsatz von Atomwaffen, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht wurde. Es bleibt also dabei, dass es lediglich darauf ankommt, was man als Bedrohung deklariert.  

    Aus formaler Sicht hat sich also nichts geändert. Aber selbst wenn es formale Beschränkungen gäbe, wären sie völlig bedeutungslos. Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung. Putin wird tun, was er will, unabhängig davon, was und wo etwas geschrieben steht. Es ergibt daher grundsätzlich keinen Sinn, Doktrinen, neue Gesetze oder ähnliches zu analysieren. 

    Rationaler Irrer mit Falschinformationen 

    Wenn sich aus formaler Sicht nichts geändert hat, so hat es doch wohl Veränderungen bei Handlungen gegeben? Der jüngste Angriff mit einer Interkontinentalrakete auf die Ukraine zeigt doch: „Schaut alle her, was wir können. Wir können eine Rakete abfeuern, die potenziell einen nuklearen Sprengsatz tragen könnte.“ Aber ist das etwa neu? Wussten wir noch nicht, dass Russland Raketen besitzt, die nukleare Sprengsätze tragen können? Russland ist nicht Nordkorea, daran hat niemand gezweifelt. Es ist bloß eine weitere russische Rakete – grausam genug, aber nichts, was uns wirklich einer nuklearen Eskalation näherbringt. 

    Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus!

    Warum denke ich, dass der Einsatz von Atomwaffen durch Putin im Moment ausgeschlossen ist? Weil ihm das keinerlei Vorteile bringen würde. An dieser Stelle hört man oft das Argument, Putin sei ein Wahnsinniger, der in die Enge getrieben wurde, und so weiter. Erstens stimmt das nicht; alle möglichen internationalen Medien, politischen Autoritäten und andere Persönlichkeiten schätzen Putins momentane Position besser ein als beispielsweise im Herbst 2022: Es gibt keine neue Mobilisierungswelle, die ukrainischen Truppen stecken in der Verteidigung fest und verlieren sogar Gebiete. Ja, in der Oblast Kursk kommt Russland nicht weiter, aber die Ukraine ebenfalls nicht. 

    Insgesamt steht Putin besser da als damals, als seine Soldaten aus der Oblast Charkiw geflohen sind und so viel Technik zurückgelassen haben, dass Russland zahlenmäßig kurz zum zweitgrößten Waffenlieferant der Ukraine aufstieg. Im Herbst 2022 hat sich Putin buchstäblich ein halbes Jahr lang versteckt, er sparte das Thema Krieg aus, sagte Presskonferenzen und den Direkten Draht ab. Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus! 

    Das zweite Argument, er sei wahnsinnig und ein blinder Fanatiker, dem alles zuzutrauen ist, halte ich ebenfalls für einen großen Irrtum. Meines Erachtens handelt Putin durchaus rational. Man wird mir widersprechen, sagen, er zerstöre gerade Russlands Vergangenheit und Zukunft, und es ist wirklich schwer vorstellbar, wie man das alles stoppen und wiederaufbauen soll. Natürlich zerstört er jetzt in diesem Moment auch Russlands Gegenwart, von der Wirtschaft bis hin zum physischen Verlust von etwa 200.000 Menschenleben und 400-500.000 Verwundeten. 

    Und trotzdem ist Putin nicht wahnsinnig. Er ist allenfalls größenwahnsinnig. Er lässt sich von völlig anderen Werten leiten. Er hat Komplexe, er will, dass man ihn respektiert und fürchtet. Er will Macht, und er will sie behalten und mehren. Deshalb handelt er aus seiner Position rational: Er wählt den schnellsten Weg von A nach B. Die Sache ist allerdings, dass er wie jeder andere totalitäre Leader ein großes Problem mit den Informationen hat, die ihm zugetragen werden: Putin verfügt nicht über ausreichend objektive Daten, weil er ein System um sich herum aufgebaut hat, in dem jeder, der schlechte Nachrichten bringt, sofort einen Kopf kürzer gemacht wird.  

    Genau aus diesem Grund hat er 2022 versucht, mit 180.000 Mann in die Ukraine einzumarschieren, Kyjiw einzunehmen und die Macht im Land an sich zu reißen. Damals haben ihm Medwetschuk und die Agenten des FSB weisgemacht, in der Ukraine stehe alles bereit, die russischen Soldaten würden mit Blumen erwartet und so weiter. Mit dieser Information und seinen Ambitionen ausgestattet, zählte Putin eins und eins zusammen und zog los. Der Westen ist schwach, dachte er sich, und die Ukraine wartet nur darauf, sich uns zu unterwerfen. Also marschieren wir kurz ein und fertig. Aus seiner Sicht war auch das keineswegs irrational. Es war eiskalte Berechnung, die allerdings von falschen Voraussetzungen ausging. 

    Vorteile? Nichts als Nachteile! 

    Kommen wir also zu den Vor- und Nachteilen eines Atomschlags. Stellen wir uns vor, morgen wirft Putin eine Atombombe über, sagen wir, einem Stützpunkt der ukrainischen Armee ab. Würde das die ukrainische Armee vernichten? Nein. Würde das die Ukraine so sehr schwächen, dass sie kapitulieren würde? Nein. Im Gegenteil: Die Ukrainer würden noch enger gegen den Feind zusammenrücken: Uneinigkeit tritt gerade dann auf, wenn die Bedrohung abzuebben scheint. Wenn sie jedoch ein Ausmaß erreicht, wie es 2022 der Fall war, als russische Truppen buchstäblich vor den Toren Kyjiws standen, wenn die Bedrohung also offensichtlich wird, steht die Ukraine zusammen, genau wie die westliche Welt. Wenn die Bedrohung nicht mehr ganz so akut ist, wenn zum Beispiel lange Zeit nicht mehr geschossen wurde, dann fängt das Gerede an: „Was soll das alles? Ist doch alles in Ordnung, wir leben doch“ und so weiter. Daher wird ein Atomschlag auf einzelne Einheiten nicht das gewünschte Ergebnis bringen. 

    Wir müssen aber auch einen Atomangriff auf Städte in Betracht ziehen. Selbst das würde Putin jedoch nicht plötzlich zum Sieg verhelfen. Die Geschichte der Menschheit kennt bisher zwei Beispiele hierfür, nämlich die Bomben auf Nagasaki und Hiroschima. Dennoch sind sich viele Experten einig, dass Japans Kapitulation keine direkte Folge dieser Schläge war. Als die Bomben fielen, war die japanische Armee bereits zerschlagen, und Japan nicht im Stande, den Krieg noch lange fortzuführen. Das kann man von der Ukraine nicht behaupten.  

    Ja, die Russen machen Landgewinne in Kurachowe, Pokrowsk, Donezk, Tschassiw Jar. Aber diese Gewinne gehen erstens mit gigantischen Verlusten einher, zweitens hat Russland nicht einmal in den vier Oblasten, die jetzt in die russische Verfassung eingeschrieben sind, eine Großstadt einnehmen können. Im Gegenteil, Russland kontrolliert weniger Großstädte als zu Beginn der großangelegten Invasion. Cherson, die einzige Metropole, die die Russen erobern konnten, haben sie wieder verloren. Es kann also keine Rede davon sein, dass die ukrainische Armee kurz vor dem Zusammenbruch steht. Ein Atomschlag auf ein dichtbesiedeltes Gebiet mit einer gigantischen Zahl von zivilen Opfern löst aus dieser Sicht also weder das Problem, noch bringt es Putin auch nur einem seiner gesetzten Ziele näher. 

    Was wäre, wenn? 

    Welche Probleme würden sich andererseits für Putin ergeben? Wir dürfen nicht vergessen: Für ihn ist die Unterstützung seiner Verbündeten entscheidend. Wenn das 2020 nicht so sehr ins Gewicht gefallen ist, sieht das jetzt, 2024, ganz anders aus. Wenn russische Medien unken, die Ukraine sei abhängig von westlichen Waffen, wirkt das lächerlich, denn Russland hängt selbst zu 70 Prozent von ausländischer Artilleriemunition ab: 60 Prozent kommen aus Nordkorea, zehn Prozent aus dem Iran. Zudem ist Russland, um seine Raketen zu produzieren, auf westliche Komponenten angewiesen, die es an den Sanktionen vorbei illegal einkauft. Und jetzt lässt Russland auch noch Nordkoreaner für sich kämpfen. Damit ist Putin von seinen Partnern nicht weniger abhängig als die Ukraine von ihren. 

    Viele von Putins Verbündeten, nicht zuletzt Handelspartner wie Indien, sind entschieden gegen den Einsatz von Atomwaffen. Und das ist ja auch klar, denn ein Präzedenzfall von welcher Seite auch immer wäre wie ein grünes Licht. Indien bereitet zum Beispiel Pakistan große Probleme. China ist ebenfalls grundsätzlich gegen jeden Einsatz von Atomwaffen, weil es die nukleare Abschreckung an sich außer Kraft setzt und ein Go für die Entwicklung von Atomwaffen und nukleare Aufrüstung bedeuten würde. Kein Land will das. Deshalb tritt China als Russlands Beschwichtiger auf: Als Russland sagte, es sei kurz davor, den Knopf zu drücken, da sagte China „stop“. Indiens Premier Modi sagte sogar ein Treffen ab, als Putin wieder mal öffentlich mit Atomwaffen drohte. Sollte Putin ernst machen, würden sich die allermeisten Partner von Russland abwenden, was wiederum Russland von Einnahmequellen und Produktionsmöglichkeiten abschneiden würde. Dabei ist der Import aus China für Russland ein lebenswichtiger Faktor. In diesem Sinne würde Russland mehr verlieren, als es gewinnen könnte. 

    Und dann sind da noch die Atommächte im Westen. Mit einem nuklearen Schlag würde Putin sich selbst zur Hauptzielscheibe machen. Viele westliche Politiker sowie der Großteil der Bevölkerung betrachten den Krieg heute immer noch als einen lokalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Deshalb hat er für viele nicht oberste Priorität – siehe zum Beispiel Donald Trump. Sollte Putin seine Drohungen allerdings wahrmachen, wäre Russland damit sofort Feind und Bedrohung Nr. 1, denn Putin verfügt über Raketen, die jeden europäischen Staat und jede beliebige Stadt in den USA erreichen können. Wenn die NATO in den Krieg eintritt, würde Russland umgehend am eigenen Leib erfahren, was es wirklich bedeutet zu kämpfen. 

    Die Risiken, die der Einsatz von Atomwaffen birgt, sind also ungleich höher als die potenziellen Vorteile. Das beantwortet auch die Frage, warum Putin diesen Schritt noch nicht gegangen ist. 

    Stellen Sie sich vor, Sie sind Putin … 

    Zum Abschluss noch ein einfaches Gedankenexperiment. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Wladimir Putin. Ja, ich weiß, das tut weh, aber dennoch. Sie haben also einen roten Knopf, und Sie glauben aufrichtig, dass ein Knopfdruck genügt, um den Krieg zu gewinnen. Die Ukraine kapituliert, der Westen stellt sofort seine Unterstützung ein und Sie gehen als Sieger aus dem Ganzen hervor. Achtung, Frage: Warum haben Sie ihn immer noch nicht gedrückt? Es ist doch ein Zauberknopf, der alle Probleme auf einen Schlag lösen könnte? Sie müssten sich nicht mit Mobilisierung unbeliebt machen, die Wirtschaft nicht in den Ruin treiben. Sie müssten keine personellen Engpässe ertragen, weil ein Teil der Bürger, der gerade am meisten in der Wirtschaft gebraucht würde, an der Front oder im Grab ist, und ein anderer großer Teil auf dem Weg dorthin.  

    Warum haben Sie den Knopf immer noch nicht gedrückt? Vielleicht, weil Sie nicht an seine magischen Kräfte glauben? Könnte es sein, dass sich Putin all dieser Risiken, die ich beschrieben habe, bewusst ist? Das ist der Punkt: Putin macht bloß einen auf dicke Hose und schafft es damit, dem Westen immer wieder Angst einzujagen. 

    Thema Trump 

    Und zum Thema Trump: Die Ukraine vor dessen Inauguration mit Atomwaffen anzugreifen, wäre völlig absurd. Trump sagt offen, dass er mit Putin reden will. Und Putin scheint nichts dagegen zu haben, wie verschiedene Quellen nahelegen. Die Situation durch einen Nuklearschlag zu eskalieren, kurz bevor Trump den Krieg beenden oder zumindest einfrieren will, käme einem Komplettausfall gleich. Zumindest würde Trump sich sehr genau überlegen, ob er die Situation nicht doch falsch einschätzt und er Putin nicht lieber mit Gewalt zum Frieden zwingt, als Gespräche mit ihm zu führen. Deshalb glaube ich, die Möglichkeit eines nuklearen Angriffs ist [mit Trumps Wiederwahl – dek] nicht gestiegen, sondern gesunken. Putin weiß, dass bald eine Regierung im Weißen Haus sitzen wird, die mit sich reden lässt, und ein Atomschlag seine Gesprächsposition beträchtlich schwächen würde. 

    Die nukleare Holzkeule über Sibirien  

    Diese Argumente sind kein Versuch, jemanden zu beruhigen: Wie auch immer Sie die atomare Bedrohung einschätzen, so wird sie für Sie bleiben. Ich bestehe nur darauf, dass sich der Grad der Bedrohung nicht verändert hat. Wenn Sie glauben, die Chance ist gleich Null, dann bleibt sie das auch. Wenn Sie von einer 100-prozentigen Wahrscheinlichkeit ausgegangen sind, dann ist sie immer noch da. Ich sage nur, es ist nichts geschehen, was das Risiko eines Atomkriegs erhöht hätte. Mehr noch – das kann es gar nicht, weil sich das Saldo der Vor- und Nachteile nicht verändert hat.  

    Ich denke, es könnte in diesem Krieg noch zu weiteren Versuchen kommen, den nuklearen Holzknüppel zu schwingen, zum Beispiel in Form von Atomtests in Russland selbst. Ich hoffe natürlich nicht, dass Simonjans Forderung, „eine Atombombe auf Sibirien zu schmeißen“, in die Tat umgesetzt wird, wofür auch immer sie Sibirien damit bestrafen wollte. Dass es zu Atomtests kommt, ist meines Erachtens aber nicht unwahrscheinlich, denn allzu viele Mittel stehen Wladimir Putin nicht mehr zur Verfügung, um die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. 

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    Ob freiwillig gemeldet oder eingezogen, ob Schweißer oder Student, Großstädter oder Dörfler – sie alle hat Russlands Krieg gegen die Ukraine an diesem Ort versammelt. Wo die Raucherpause das Highlight des Tages ist und die Einnahme von Neuroleptika Routine: die psychiatrische Abteilung der russischen Militärkrankenhäuser. Dort werden Soldaten mit diversen Diagnosen – von Schizophrenie bis PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) – monatelang behandelt, bis die Medizinische Kommission entscheidet: ausmustern oder weiter kämpfen? Keiner will wieder an die Front. Manche sagen, da gehen sie lieber ins Gefängnis oder bringen sich um. 

    Für das russische Onlinemedium Nowaja Wkladka, das sich auf Veränderungen im Alltag in den russischen Regionen seit dem Überfall auf die Ukraine spezialisiert, hat eine Autorin eine Woche als „Ehrenamtliche“ in solch einem russischen Militärhospital verbracht. Als Journalistin hätte sie keinen Zutritt bekommen.  

    Alle Namen wurden geändert, um die beschriebenen Personen nicht zu gefährden. 

    Im Eingangsraum, wo Passierscheine für Besucher ausgestellt werden, stehen zwei Männer und sieben Frauen. Eine darf nicht rein: Der Patient, den sie besuchen will, hat keinen Schein für sie beantragt. Die Frau schnappt wütend die Einkaufstüten vom Discounter, die vor ihr auf dem Boden stehen. 

    „Das ist doch Schikane!“, ruft sie mit tränenerstickter Stimme. 

    „Jetzt bloß nicht heulen“, sagt die Frau hinter ihr in der Schlange streng.  

    „Ich heul ja nicht.“ 

    Auf einmal knattert ein Maschinengewehr: Im Fernseher an der Wand läuft ein Kriegsfilm. 

     

    „Man will nur noch kämpfen“ 

    Das Krankenhaus versinkt im Grünen. Alle zwanzig Meter eine Bank, auf der Männer sitzen: Dem Einen fehlt ein Bein, dem Anderen ein Arm, der Dritte hat den Kopf einbandagiert. 

    Am Eingang zur Psychiatrie rauchen die Patienten. Wer keinen Stuhl mehr bekommt, hockt sich auf ein Schaumstoffpolster auf dem Bordstein. Der Spezialschlüssel für die Station steckt in der Kitteltasche der Krankenschwester, die daneben steht und aufpasst. 

    Ein langer, hell beleuchteter Korridor, schummrige Zimmer, in denen die Vorhänge zugezogen sind. Die meisten Patienten verbringen den ganzen Tag am Handy. Nachrichten über den Krieg lesen sie keine: „Es wird überall gelogen.“ Neben manchen Betten stehen Rollstühle und auf den Fensterbrettern Wasserflaschen. 

    Auf der Psychiatrie sind etwa 80 Menschen, die meisten aus niedrigeren Rängen bis hin zu Unteroffizieren: Feldwebel, Gefreite, Leutnants. Manche sind erst seit kurzem hier, andere schon seit dem Frühjahr, als draußen noch Schnee lag. 

    Die Patienten sind unterteilt in „verschärftes“ und „strenges Regime“. Erstere dürfen sich frei im Krankenhaus bewegen, Zweitere nur in Begleitung, damit sie sich und anderen nichts antun. Nach jedem Besuch kontrollieren die Schwestern die persönlichen Sachen der Patienten auf spitze und scharfe Gegenstände, Alkohol und Drogen. 

    Als Ehrenamtliche begleitet man die „Strengen“ zu den Ärzten. Die Männer müssen sich auch einer militärärztlichen Untersuchungskommission unterziehen, die feststellt, ob sie weiterhin diensttauglich sind oder nicht. 

    Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. 

    Im Flur ist es stickig, die Gesichter der herumlungernden Patienten glänzen verschwitzt. Viele tragen uniforme gestreifte Pyjamas mit Aufdruck „Russische Armee“. 

    Die Patienten beäugen mich finster. Ein großer, schlanker Kerl in Unterhemd und Jogginghosen bricht das Schweigen. Alexej – so sein Name – baut sich dicht vor mir auf und sieht mir von oben direkt ins Gesicht: 

    „Ich bin kerngesund. Aber für die Gesellschaft bin ich nicht normal, genau wie die Gesellschaft für mich. Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. Wenn ich hier rauskomme, wird die ganze Menschheit sterben.“ 

    Alexej hängt sich ein weißes Handtuch um den Hals und zieht mit einem unheimlichen Grinsen daran: „Der Stoff ist feeest.“  

    Er ist einer von den „Strengen“, und manchmal wirkt er wirklich wahnsinnig. Die meisten Patienten verhalten sich hingegen ziemlich normal: Sie reden mit mir, stellen Fragen, interessieren sich für das Leben „in Freiheit“. Sie alle sind auf Neuroleptika. 

    Ich bringe Alexej und ein paar andere Patienten zur schapka (dt. Mütze) – so nennen die Patienten hier die Elektroenzephalografie [EEG, da wird die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und grafisch dargestellt – dek]. Neben mir läuft schweigend Sergej, ein Mann Ende zwanzig aus einer Stadt an der Wolga. Im Krieg war er Späher. Während er auf die schapka wartet, spielt er auf seinem Handy Schach. 

    Ein junger Mann wird auf seinem Bett durch den Flur gerollt. Sein linkes Auge verdeckt eine Mullbinde, anstelle des rechten Arms hat er einen Stumpf. Auch der Rest seines schmalen, tätowierten Körpers ist einbandagiert. Er versucht, die verbliebene Hand zu einer Faust zu ballen, aber es geht nicht – im linken Ellbogen steckt ein Splitter. 

    Als Nächster ist Ruslan dran, ein großer, stämmiger Kerl aus einer Republik im Nordkaukasus. Er wurde im September 2022 eingezogen; in der Psychiatrie ist er gelandet, weil er nicht mehr schlafen konnte. Er ist 28 Jahre alt. 

    Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken,  
    und die anderen in Ruhe lassen.

    Auf die Frage, was sie gearbeitet haben, nennen alle Patienten sofort ihre Funktion im Krieg, als hätten sie kein Leben davor gehabt. „Leitender Chemiker“, antwortet Ruslan ohne Umschweife. „Chemiker“, erklärt er, seien die, die das Gelände von Minen befreien. „In Wirklichkeit war ich einfach im Sturmtrupp. Da hat dich keiner gefragt, wer oder was du bist. Man sagt dir stürmen, und du stürmst.“ 

    Ruslan sagt, nach so einem Sturm wolle man „immer nur noch immer weiterkämpfen“. Das zivile Leben sei ihm seitdem zu langweilig. 

    „Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken, und die anderen in Ruhe lassen.“   

    Ruslan sagt, er sei in den Krieg gezogen, weil er mobilisiert wurde und weil seine Brüder schon dort seien. 

     

    Verloren in der Zeit 

    „Fertigmachen zum Rauchen!“, ruft die Krankenschwester und schließt die Tür auf. 

    Alle strömen zum Ausgang, auch die, die erst vor fünf Minuten draußen waren. Ihre Gummilatschen quietschen auf dem Linoleum. Im Flur riecht es nach Desinfektionsmittel, die Lüftung rauscht leise. Ein Priester kommt uns entgegen: Er besucht die, die die Kommunion empfangen oder auch einfach nur reden wollen. 

    Pjotr Pawlowitsch geht nicht mit rauchen: Er liegt mit einer Kompresse am Kopf in seinem Zimmer. Es ist sehr heiß. Er muss zur schapka, hat aber keine Kraft. Die ganz Schwachen werden mit einem Krankenwagen zwischen den Gebäudetrakten hin und her gefahren. Der Krankenwagen ist sauber und ordentlich, wie frisch vom Werk. Vorne beim Fahrer läuft leise Musik. 

    Schleichende Demenz: Die Erinnerungen kommen nie wieder. 

    Wie er hier in der Klinik gelandet ist, weiß Pjotr Pawlowitsch nicht mehr. Vielleicht war es im Herbst. Oder Frühjahr. Er studiert aufmerksam mein Gesicht und sagt: „Wir haben uns schon mal irgendwo gesehen.“ Er hat blaue Augen und lächelt abwesend; ich schätze ihn auf ungefähr 60. Er wirkt desorientiert, beim Laufen muss er sich an den Wänden abstützen. Mehrfach sagt er besorgt, er habe seine Papiere nicht dabei. Als wir die Treppe hinaufgehen, hakt er sich vorsichtig bei mir unter. 

    Pjotr Pawlowitsch stammt aus einem Dorf in Zentralrussland. Bevor er sich freiwillig zum Krieg meldete, war er Schweißer. Abends finde ich sein Profil auf Odnoklassniki. Den Fotos nach war er passionierter Angler, der gern mit seinem Fang posierte. 

    „Wie sind Sie hier in unserer Gegend gelandet? Zugeteilt? Ein Verlobter?“, fragt Pjotr Pawlowitsch schelmisch. Ihm ist nicht bewusst, dass er Hunderte Kilometer von seinem Zuhause entfernt ist. Immerhin gibt er zu, dass er vergessen hat, welches Jahr wir haben. „2024“, erinnere ich ihn. 

    Entsetzter Blick. Er denkt, das sei ein Witz. 

    Später erzählt mir die Krankenschwester, dass Pjotr Pawlowitsch Alkoholiker ist. Er habe eine schleichende Demenz, seine Erinnerung werde vermutlich nie wiederkommen. 

    Während sie die Medikamente auf Plastikdöschen verteilt, schallen aus einem Zimmer Schüsse herüber: Ein Patient spielt Ballerspiele auf dem Notebook (die Patienten dürfen ihre Handys und Laptops auf die Station mitbringen). 

     

    „Weil ich bescheuert bin“ 

    „Strenges Regime, aber schwach“, sagt die Krankenschwester über den 55-jährigen Wladimir. Ausgeblichenes T-Shirt, strahlend blaue Augen, die nicht zu seinem abgestumpften, verlorenen Blick passen. Wladimir warnt mich vor, er sei nach einem Knalltrauma auf dem linken Ohr taub. 

    Vor dem Krieg war Wladimir Lastwagenfahrer im russischen Fernen Osten. Für eine mehrtägige Fahrt nach Jakutien bekam er um die 220.000 Rubel [umgerechnet ca. 2.080 Euro – dek]. Den Vertrag bei der Armee unterschrieb er 2023, nach eigener Aussage aus patriotischen Beweggründen. Im Krieg – wojnuschka, wie er verniedlichend sagt – war er Minenräumer. Wie eine Mine funktioniert, habe er bei YouTube gelernt: „Ich habe einfach nach ‚Minen entschärfen‘ gesucht.“ Im Trainingslager habe man ihnen lediglich Poster mit verschiedenen Granatenmarken gezeigt, bevor sie an die Front geschickt wurden. 

    In der Oblast Saporishshja, wo er im Einsatz war, hätten ihnen die Kommandeure verboten, mit Einheimischen zu sprechen. 

    „Ich habe am Anfang auch gedacht, dass da lauter Banderowzy sind. Dann hab ich welche näher kennengelernt – die sind genau wie wir, keine Banderowzy! Wir haben eine Weile ein Haus von den Leuten da gemietet. Na ja, was heißt gemietet, wir haben da einfach gewohnt. Der Nachbar hat uns Eier für 50 Rubel [ca. 50 Cent – dek] das Stück verkauft, brachte Grünzeug aus seinem Garten.“ 

    Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg.

    Wladimir erinnert sich, wie sie gleich in den ersten Tagen im freien Feld abgesetzt wurden. Die Kommandeure hätten ihnen befohlen, Erdbunker zu bauen, und sie einfach zurückgelassen. 

    „Wir hatten nicht einmal Spaten. Wir waren 20 Mann, jeder gab 5.000 [Rubel, ca. 50 Euro – dek] dazu, dann sind wir los, kauften einen Generator, eine Kettensäge, Schaufeln und fingen an zu graben.“ 

    Auf die Drohnen, erinnert sich Wladimir, zielten sie mit Maschinengewehren: „Drohnenabwehr hatten wir nicht, die kostet eine halbe Mille.“ Dann landete Wladimir in einem „Säufertrupp“. 

    „Sie soffen, ließen ihre Gewehre überall liegen, und ich sammelte sie ein und räumte sie auf. Die Magazine sind schwer, wenn du sie in die Taschen steckst, zieht es dir fast die Hosen aus. Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg. Einmal habe ich im Verteilungspunkt was getrunken, und plötzlich – Luftalarm. Ich steh da und merke, dass ich in diesem Zustand zu nichts in der Lage bin. Wer säuft, den knallen sie gleich ab. Seitdem lass ich die Finger davon.“ 

    Wladimir meint, dass der Krieg noch lange gehen wird: „Putin will sich so viel Land wie möglich abzwacken.“ Dass er den Vertrag unterschrieben hat, bereut er.  

    „Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit Mäusen unter der Erde leben würde, wäre ich nie in den Krieg gezogen. Ich wusste überhaupt nicht, wie das wird. Ich wusste nicht einmal, was sie mir zahlen.“ 

    „Warum sind Sie dann hin?“ 

    „Weil ich bescheuert bin.“ 

     

    Ruslan reist ab 

    Am nächsten Tag treffe ich im Flur Ruslan. Er hat eine Sonnenbrille auf. 

    „Wie sehe ich aus?“ 

    Ruslan wird heute entlassen. Er will zurück in seine Einheit und fragt mich, ob ich ihn zur Bushaltestelle begleite. Ich lehne ab. 

    Eine halbe Stunde später fragt er mich: 

    „Gibt es heute Flüge nach Mineralnyje Wody?“ 

    Ich schaue nach: Die Tickets kosten 30.000 Rubel [ca. 280 Euro – dek]. Ruslan seufzt. 

    „Kommen Sie mit?“ 

    Ich erzähle der Krankenschwester davon. Sie ist vehement dagegen:  

    „Auf gar keinen Fall! Er hat die Behandlung verweigert. Keiner weiß, in welchem Zustand er ist!“ 

    Als ich aus der Station komme, sitzt Ruslan auf einem Sitzpolster und raucht. Er erinnert sich nicht mehr an sein Angebot und verabschiedet sich ruhig. Ich sehe ihn nie wieder. 

     

    „Lieber in den Knast“ 

    Nur wenige Patienten der Psychiatrie wollen mit einem Priester sprechen, auch wenn es ihnen die Ehrenamtlichen regelmäßig anbieten. „Nach den Tabletten, die sie uns geben, prallt alles Heilige ab“, winkt einer der Männer ab, bittet aber dennoch um eine kleine Ikone des Heiligen Nikolaus von Myra. Ein anderer lacht: „Bei uns hier leben Dämonen.“ 

    Andrej dagegen – er stammt aus einer Kleinstadt im Ural – ist erst nach einem Gespräch mit einem Priester in den Krieg gezogen. Bevor er den Vertrag unterzeichnete, ging er in die Kirche, um Rat zu suchen: Soll er an die Front oder nicht? Der Priester sagte, man müsse „für seine Sache einstehen“ und das sei „eine gute Sache“. So reden viele Geistliche, meint Andrej. Wenn der Pater damals gesagt hätte, dass kämpfen nicht gut ist, hätte er Zweifel bekommen. Jetzt trägt Andrej die gestreifte Krankenhauskleidung, geht mit Krücken und hört Stimmen ukrainischer Spione, die „auf den Bäumen sitzen“. 

    In den Krankenakten, die wir Ehrenamtlichen manchmal von anderen Stationen holen sollen, stehen die militärische Spezialisierung und die Diagnose der Patienten: Granatenschütze, paranoide Schizophrenie; Sanitäter, psychopathische Schizophrenie. Heute begleite ich den 27-jährigen Pascha aus Kyjiw zum Urologen, er ist einer der „Strengen“. In seiner Akte steht: Posttraumatische Belastungsstörung. 

    „Ich bin Fernmelder, hab ich mir selbst beigebracht. Ich habe mich im Bataillon bis zum Chef des Fernmeldetrupps hochgedient. Mit 18 bin ich in die Donezker Volksrepublik (DNR) gezogen, um gegen Nazis zu kämpfen.“ 

    Paschas Verwandte leben in Kyjiw. „Meine Mutter und mein Stiefvater sind auf unserer Seite, die anderen für die ukropy. Mein Vater war früher bei der [ukrainischen] Staatssicherheit, wir reden nicht mehr miteinander. Er sagt: ‚Geh und verteidige deinen Putin.‘ Obwohl ich Putin doch gar nicht so toll finde. Ich kämpf natürlich nicht für ihn. Er hat so viel Leute auf dem Gewissen.“ 

    Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. 

    Ein Mann wird im Rollstuhl hereingeschoben. Ihm wurde vor kurzem ein Bein amputiert. Die Pflegerinnen diskutieren, wie sie ihn zum Ultraschall bringen sollen: „Sie haben ihm schon die Narkose gegeben, gleich ist er weg.“ Irgendwie wuchten sie ihn aufs Krankenbett. Der mit Mull verbundene Stumpf hängt in der Luft. 

    „Da wurde nichts genäht, einfach nur abgesägt“, erklärt der junge Mann. Mit einem Stöhnen legt er den Stumpf aufs Kissen: „Au, au, au, Scheiße, verdammt.“ 

    Pascha sitzt mit seinem Handy da, er scrollt durch TikTok. Nachrichten überspringt er: „Uninteressant.“ 2019 hatte er seinen Armeevertrag gekündigt, doch am 22. Februar 2022 lebte er in der DNR und wurde mobilisiert. „Vom Verteidigungsministerium gab es null Unterstützung. Meinen ganzen Lohn hab ich in diesen Scheißdienst gesteckt. Die Kommandeure hat das nicht interessiert“, erzählt Pascha. 

    Im Krieg bekam er Panikattacken: hatte ständig Angst, konnte kaum noch schlafen. Er erklärt sich seinen Zustand durch den Stress und „die permanente Erniedrigung durch Vorgesetzte“: 

    „Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. Seit drei Monaten schlucke ich Tabletten, die helfen kein bisschen. Ich liege richtig flach, voll depri. Ich kann mich kaum unterhalten, als ob mir das Hirn stehenbleibt, der Kopf schaltet sich ab. Ich kann mich schlecht konzentrieren. Ich komm mir vor wie ein Idiot. Manchmal würd ich am liebsten Tabletten fressen, damit’s ein Ende hat.“ 

    Paschas Frau lebt mit den beiden Kindern in Zentralrussland, in einer kreditfinanzierten Wohnung. Sie wünscht sich, dass Pascha entlassen wird. Er sagt, dass sei „nicht realistisch“: 

    „Entweder in den Knast oder wieder in den Krieg. Sollen sie mich doch einbuchten! Fünf Jahre, aber dafür überleb ich. Und wenn’s zehn sind, häng ich mich auf und aus. Da gibt’s keinen Ausweg außer Selbstmord. Ich habe versucht, diese Gedanken zu vertreiben, habe immer sofort ‘ne Tablette genommen, um mich zu beruhigen. Manchmal hab ich Aggressionen, das ist erst recht beschissen. Dann hab ich nur ein Ziel – töten. Und manchmal, da bin ich gut drauf, aber dann hab ich auf einmal Leichen vor Augen.“ 

    Pascha und ich kommen vom Urologen auf die Psychiatrie zurück. Alte, hohe Linden, Halbschatten. 

    „Hier lebt ein Eichhörnchen in den Baumkronen. Haben Sie’s gesehen?“, sage ich. 

    Zum ersten Mal seit anderthalb Stunden lächelt Pascha. Ich zeige ihm ein Foto, er betrachtet es lange, gerührt. Als wir ins Krankenhaus hineingehen, erlischt Paschas Gesicht wieder. 

     

    Witja will zu Mama 

    Am Morgen regnet es, die Raucher drängen sich unter dem Vordach zu einer dichten Traube. Ich gehe mit dem 33-jährigen Witja zum Augenarzt. Vorsichtig stellt er in Gummilatschen einen Fuß vor den anderen. Er hatte eine Kontusion, jetzt fühlen sich seine Beine steif an. Die Zähne sind schlecht, er redet undeutlich. 

    Witja ist vor einem halben Jahr freiwillig in den Krieg gezogen. Aus einem kleinen Dorf an der Wolga. Er sagt, er hatte dort ein gutes Leben. 2023 kamen zu Halloween verkleidete Kinder, und Witja gab ihnen Süßes. 

    Seine Arbeit in der Holzfabrik brachte ihm 60.000 Rubel im Monat ein. Nicht genug, um einen Kredit über 40.000 für die Sanierung des Hauses abzubezahlen. Also unterschrieb er den Vertrag beim Militär. Witjas Mutter ist bettlägerig. Als ihr Sohn in den Krieg zog, „bekam sie Löcher, die Haut löste sich auf.“ Keiner kümmert sich um sie, sagt Witja. Er bereut seine Entscheidung, will zurück zu seiner Mutter. 

    Ein Dutzend Wartende beim Augenarzt. Unter ihnen eine grauhaarige, hagere Dame von vielleicht 75 im Rollstuhl. Der Arzt kommt aus seinem Zimmer: 

    Spezialoperation, wer ist der Nächste?“ 

    „Und wann bin ich dran? Ich hab nicht mal gefrühstückt und warte immer noch“, sagt die Dame. 

    „Sie müssen warten. Wer war noch bei der Spezialoperation, kommen Sie!“ 

    Ein Mann mit Basecap und Unterhemd rollt in das Behandlungszimmer. Ihm fehlt der rechte Arm und das linke Bein. Als Nächster kommt Witja dran, der ein Bein nachzieht. 

     

    Über Leichen gehen 

    Kamil studierte in einer Regionalhauptstadt Tiermedizin. Ihm fehlte noch ein Jahr zum Abschluss. Im Sommer 2022 unterschrieb er bei der Armee. Seine Eltern waren dagegen. Die jüngeren Schwestern schenkten ihm zum Abschied Anhänger: ein Blümchen und ein Legomännchen. Er trägt sie als Armband. Kamil ist mit 26 der Älteste von fünf Geschwistern. 

    Kamil hat ein feines Gesicht, lange Wimpern. Zuerst sagt er, er sei in den Krieg gegangen um „zu helfen“. Dann meint er: Wenn er gutbezahlte Arbeit als Übersetzer gefunden hätte, wäre er wohl nicht gegangen. Er erzählt, dass er einige Jahre in Syrien, der Heimat seines Vaters, gelebt hat und gut arabisch spricht. Kamil hat paranoide Schizophrenie. 

    „Wäre nicht das Geld, wäre ich nicht gegangen. Aber wenn man ein paar Tausender dafür kriegt, dass man einer Oma über die Straße hilft – na klar“, lacht Kamil. Einen Teil des „Kriegsgeldes“ hat er im Fronturlaub verprasst, den Rest gab er seinen Eltern. 

    Kampferfahrung hatte Kamil keine, er hatte lediglich in Russland seinen Grundwehrdienst geleistet. Er sollte einen Zug kommandieren, eine eigene Untereinheit der Kompanie. Kamil hatte keine Ahnung, was das bedeutet, willigte aber ein. 

    Im November 2023 geriet er unter Beschuss und wurde durch Splitter schwer verletzt. Laufen und springen kann er nicht mehr, den Zeigefinger kann er nicht mehr bewegen. Vor kurzem rief ihn ein Kamerad von der Front an. Er sagte, er beneide alle, die Beine oder Arme verloren haben, denn die müssen nicht mehr kämpfen. 

    Kamil erzählt, dass er um neun Uhr morgens verwundet wurde. Den ganzen Tag lag er mit einem Maschinengewehrschützen in einem Nadelwald, sie schossen zurück auf die Ukrainer in 500 Metern Entfernung. Er erinnert sich, wie er „Lieder sang, Zigaretten rauchte“ und sah, wie „die Kugeln die Äste abknickten“. Neben seinen Kopf hatte er eine Granate gelegt. 

    „Ich dachte nicht, dass ich da lebend rauskomme.“ 

    Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht.

    Am Abend liefen die Männer übers Feld. Es kam ein „Vögelchen“ [eine Drohne – dek] geflogen und warf eine Granate ab. Der MG-Schütze wurde verwundet. Kamil gab ihm einen Klaps auf den Helm: Lauf weg! Als er allein war, gingen ihm Gebete durch den Kopf. Er schleppte sich zu seinen Leuten und wurde nach Rostow am Don gebracht. Ab da verloren ihn alle aus den Augen. Am dritten Tag rief ein Freund Kamils Eltern an: „Ihr Sohn ist gefallen.“ Die Mutter fiel im Supermarkt in Ohnmacht, der Vater schlachtete drei Hammel, als Qurban [arab. Opfergabe – dek] für den Verstorbenen. Zwei Tage später rief Kamil zu Hause an: „Ich bin noch am Leben.“ 

    „Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht. Einmal haben wir eine Stellung bezogen, und dort gehen die Gräben nur bis zur Hüfte und sind sehr klein. Was für eine Scheiße, warum haben die nicht weiter gegraben? Da sagt einer: Schau nach unten! Da sehen wir, dass wir über Leichen gehen. So viele, dass sie sich schon mit der Erde vermischt haben. Keiner hat sie geborgen. Die Leichen waren Russen.“ 

    Nach einem Moment des Schweigens fährt Kamil fort: „Ich habe in dem Krieg niemanden getötet.“ Auf die Frage, ob das für ihn wichtig sei, zuckt er mit den Schultern. Es sei schrecklich gewesen, als von den Vorgesetzten der Befehl kam: „Macht eure Leute zu 200ern“.  

    Kamil zufolge kam das so: Zwei aus der Kompanie hatten sich betrunken und ballerten herum. Die Kommandeure verprügelten die beiden einen ganzen Tag lang, bis ihre Gesichter ganz blau waren. Dann übergaben sie sie an Kamil, „ohne Schutzwesten, ohne Waffe, ohne alles.“ „Macht sie fertig“, hieß es, berichtet Kamil. 

    Ihm taten die Jungs leid; er besorgte ihnen irgendwie eine Uniform und schickte sie mit irgendeiner Aufgabe los. Einer fiel, einer überlebte. 

    Kamil möchte am liebsten nach Hause und sein Veterinärstudium abschließen. 

     

    „Das war’s Leute, ich bin raus.“ 

    Drei Krankenschwestern sitzen beim Tee und beschreiben ihre Arbeit. Die Mutter eines Patienten hat selbstgebackenen Kirschkuchen mitgebracht. 

    „Hier liegen solche Typen, schrecklich. Im Krankenhaus kann man auch alles kaufen: Drogen, Wodka, Nutten … Und so viele Löcher im Zaun! Wenn einer weglaufen will, kann man das nicht verhindern. Du gibst der Wache 500 Rubel, gehst raus, gibst dir die Kante und kommst zurück. Drogen- und Alkoholabhängige werden von der Gesundheitskommission als Kategorie D [untauglich – dek] eingestuft. Einige kehren nach dem Krankenhaus zum Stützpunkt zurück: Sie helfen den Sanitätern, hacken Holz … Waffen bekommen sie nicht mehr in die Hand. Die anderen kriegen Kategorie C [eingeschränkt tauglich – dek] – und zurück geht’s. Die sitzen hier sieben, acht Monate [suchen Vorwände, um nicht wieder in den Krieg zu müssen]: Der Popo juckt, ein Pickel auf der Nase … Dass einer vom Krieg nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, gibt es hier nicht. Die drehen ab, weil sie sich irgendeinen Chemiescheiß reinziehen, oder wenn sie vorher schon schizo waren. Gibt’s irgendeinen Stress, macht’s sofort klick.“ 

    Die Krankenschwestern erinnern sich aufgeregt, wie im Winter ein 20-jähriger Patient abhaute, ein Mobilisierter. 

    „Er ging vor die Tür eine rauchen und sagte: ‚Das war’s Leute, ich bin raus.‘ Und ist einfach übers Eis verduftet.“ 

    „Genau, in Sneakers durch den Zaun. Er hatte ein Taxi bestellt, das stand schon bereit." 

    Die Krankenschwestern sagen, der junge Mann sei nach Hause gefahren, dort dann „voll auf Drogen abgestürzt“ und habe sich nach drei Monaten im Schuppen erhängt. Seine Mutter kam danach ins Krankenhaus und holte seine Sachen und den Pass ab. 

    Die Krankenschwestern verstummen, kauen ihren Kuchen. Eine stellt ihre Tasse zur Seite und schaut mir fest in die Augen: „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg.“ 

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  • „Ich möchte meinem Sohn ein Vorbild sein“

    „Ich möchte meinem Sohn ein Vorbild sein“
    Schlange stehen in den Tod / Illustration © Verstka 

    In Moskau bekommen Vertragssoldaten fast zwei Millionen Rubel (etwa 18.300 Euro), wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben. Seit dem Sommer stehen im Butyrski-Rayon der Hauptstadt Männer im Alter von 18 bis 65 Schlange. Sie kommen aus ganz Russland, um sich zum Krieg zu melden. Frauen sind auch dabei.  

    Olessja Gerassimenko hat mit Mitarbeitern der Rekrutierungsstelle gesprochen und mit Dutzenden Männern und Frauen, die in den Krieg ziehen wollen. Wer sind diese Leute? Welche Motive haben sie? Und was könnte sie umstimmen? Ihre Eindrücke schildert sie in einer Reportage für das Portal Verstka

     

    Von der Metro-Station Timirjasewskaja sind es zehn Minuten Fußweg bis zu dem fünfstöckigen Gebäude in der Jablotschkow-Straße. Bei gutem Wetter kommt man unterwegs an einem Dutzend Ständen, Bannern, Litfaßsäulen und Autos mit Plakaten vorbei, die über den Dienst in der Armee informieren und kostenlose Ausrüstung versprechen. An jeder Kreuzung verteilen Promoter in Armeeuniform Flyer und werben für eine neue Arbeit: Krieg führen. Es gehen massenweise Studenten der Moskauer Staatlichen Juristischen Universität an ihnen vorbei. Die künftigen Juristen in farbenfrohen Blazern haben Pause zwischen den Vorlesungen. Den Plakaten mit der Zahl 5.200.000 schenken sie keine Beachtung (Diese Summe – umgerechnet etwa 47.600 Euro – wird jedem für das erste Jahr in der Armee versprochen, die einmalige Prämie von 1,9 Millionen bei Vertragsabschluss eingerechnet – dek). Vor dem Gebäude, in dem die Verträge mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen werden, vermischen sich Studenten und ältere Männer in khakifarbener Kleidung, Polizisten in Schutzwesten, Frauen und Kinder, die ihre Väter in den Krieg verabschieden. Die Studenten gehen an einem Polizei-Jeep vorbei und beachten die Menschenansammlung vor dem Gebäude gar nicht. 

    Vor der Türe stehen zwei Polizisten mit Maschinenpistolen. In zwei Glaskästen stehen Schaufensterpuppen in Militäruniform und ohne Gesichter. Ab neun Uhr morgens baut sich die Schlange auf: Als Erste kommen Leute aus entlegenen Regionen zur Rekrutierungsstelle, die mit dem Nachtzug nach Moskau gekommen sind. Drinnen sieht es hier aus wie in einem gewöhnlichen Moskauer Servicezentrum für Bürgerangelegenheiten. Wartenummern werden elektronisch aufgerufen. In den Tagen, als die Reporterin mit Wartenden sprach, waren bereits Nummern kurz vor hundert an der Reihe, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Jedes Mal, wenn sie mit Bewerbern sprach, war der Saal voll.

    Warteschlange vor dem Rekrutierungsbüro in Moskau / Fotos © Verstka

    Die langen Schlangen vor der Rekrutierungsstelle haben sich nach dem 6. August gebildet, als ukrainische Truppen auf das Territorium der Oblast Kursk vorstießen. „Jetzt haben wir 500 Leute am Tag, wir kommen kaum hinterher“, berichtete ein Psychologe der Rekrutierungsstelle im August. „Normalerweise waren die Kollegen im Chill-Modus, gingen abends um sechs nach Hause und hingen tagsüber entspannt im Park ab. Dann passierte Kursk, und jetzt kommen sie, der Zustrom reißt gar nicht mehr ab. Wir arbeiten jetzt bis zehn Uhr abends.“ 

    Dieser Ansturm wurde nicht allein durch einen Überschwang patriotischer Gefühle verursacht. Am 23. Juli – gleichsam in Vorahnung des ukrainischen Vorstoßes über die russische Grenze – hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin einen Erlass unterzeichnet, der jedem Vertragssoldaten, der an der städtischen Rekrutierungsstelle zum Kriegsdienst angenommen wird, 1,9 Millionen Rubel [etwa 17.500 Euro] in Aussicht stellt. Der Bürgermeister rechnete vor, dass unter Berücksichtigung des Solds sowie der Zuschläge aus Moskau und von föderaler Ebene die Summe der Zahlungen an einen Vertragssoldaten „im ersten Dienstjahr über 5,2 Millionen Rubel [etwa 47.800 Euro] betragen wird.“ 

    Seitdem strömen Männer aus allen Regionen Russlands nach Moskau. „Wir haben den Eindruck, dass ein Viertel Moskauer sind, alle anderen sind Auswärtige. Wenn du in Ufa lebst, kannst du natürlich auch dort einen Vertrag schließen. Aber da zahlt dir die Stadt nur 400.000 als Anwerbegeld. Du kannst dir aber auch ein Ticket kaufen, fliegst nach Moskau, holst dir zwei Mille ab und ziehst von hier aus in den Krieg.“ 

    „Wenn sie mich töten, sei’s drum“ 

    Solche Summen würde die überwiegende Mehrheit der Bewerber normalerweise nie auf ihrem Konto zu sehen bekommen.  Im Zusammenspiel mit der Entscheidung Putins, dass erstmals Leute bis zum Alter von 65 Jahren einen Vertrag abschließen können, führte das dazu, dass neben jungen Berufsschülern und Männern in Tarnuniform mit dem Aufnäher „Z“ und Medaillen für die Einnahme von Bachmut nun auch Hunderte Familienväter im Vorrenten- und Rentenalter in der Schlange stehen. Deren Kalkül liegt auf der Hand: „Ich habe mein Leben gelebt, jetzt kaufen wir eine Wohnung für unseren Sohn; wenn sie mich töten, sei’s drum.“ In den Schützengräben hocken jetzt immer mehr Männer über 50, erzählt ein Offizier der Luftlandetruppen, der bei Cherson an der Front kämpft, im Gespräch mit Verstka. Er bezeichnet die Lage hinsichtlich der neuen Vertragssoldaten als „traurig“. „Jetzt stehen wir hier zusammen mit Mobiks [Mobilisierten – dek], und rund 40 Prozent sind älter als 50. Bei den Neuen sind sogar drei Viertel alt. Das ist bedauerlich, aber man muss mit dem arbeiten, was man hat.“

    Die Freiwilligen fortgeschrittenen Alters kommen in der Regel mit ihren Familien zur Rekrutierungsstelle, begleitet von ihren Frauen und Kindern. Einem der Männer fiel während des Gesprächs mit Verstka ein fünfjähriges Kind auf, das mit einer Uniformmütze auf dem Kopf durch den Saal lief, die ihm einer der Wartenden gegeben hatte. Ein Nachbar zwinkerte dem Mann mit Rangabzeichen am Ärmel zu: „Da wächst unsere Ablösung heran.“ 

    „Gott steht auf der Seite Russlands“ lautet die Schlagzeile einer Sonderausgabe der Moskauer Abendzeitung Wetschernaja Moskwa, die im Rekrutierungsbüro ausliegt. Darin ist ein Plakat von 1942 abgedruckt: „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen“ / Fotos © Verstka 

    In der Eingangshalle der Rekrutierungsstelle steht ein Automat für Kaffee, Chips und Brause. An den Wänden hängen Plakate: „Je ausgedehnter die Grenzen, desto weiter weg der Feind“ und: „Der Sieg ist nur eine Frage der Zeit! Zögere nicht!“ In der Ecke liegen frische Zeitungen aus. Einer der Gesprächspartner schickte uns das Foto einer Ausgabe von Wetschernjaja Moskwa. Dort war ein Plakat von 1942 abgedruckt, mit einer Leiche unter den Füßen eines sowjetischen Soldaten und der Aufschrift „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen.“ 

    Im gleichen Saal steht ein Fernseher mit Playstation; man kann dort Atomic Heart spielen, ein Egoshooter des russischen Studios Mundfish. Manche Bewerber würden sich hier die Wartezeit vor dem Bildschirm verkürzen, berichtet unser Gesprächspartner.  

    Wer an der Reihe ist, geht nacheinander zum Arzt, zum Psychologen, zum Juristen, zu Vertretern des Militärs, zum Notar und zu Bankangestellten. Alle, die einen Vertrag unterschreiben wollen, werden pro forma bei Mosgas, Moslift oder einer anderen Einrichtung der kommunalen Wohnungswirtschaft angestellt. Der Redaktion liegen einige dieser Verträge vor. Sie werden abgeschlossen, damit die Vertragssoldaten die zusätzlichen „Moskauer“ Gelder bekommen. Das sind monatlich 50.000 Rubel zusätzlich zum Sold. Ein weiterer Grund für diese Verträge ist die Auszahlung der fast zwei Millionen Rubel von der Moskauer Stadtverwaltung. Diese Zahlungen würden zusammen mit dem Gehalt von Mosgas oder Moslift auf Konten bei der Sberbank, der VTB oder anderen russischen Banken überwiesen, erklärt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle.

    „Was die Kinder und deren Zukunft betrifft – für die wird alles gut“ 

    Den Aussagen angehender Vertragssoldaten nach zu schließen, gehen Patriotismus und Geldnot Hand in Hand. Und die Beamten sind bereit, diese Not auszunutzen. Während diese Reportage in Arbeit war, übertrumpfte der Gouverneur der Oblast Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, die Moskauer Anwerbegelder noch einmal: Er versprach jedem Bürger drei Millionen Rubel, wenn er bis zum 31. Dezember 2024 in einem der Belgoroder Wehrersatzämter einen Vertrag unterschreibt.

    „Die meisten, die hierherkommen, verdienen wenig“, räumt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle ein. „Aber wenn du sie nach ihren Motiven fragst, reden fast alle von patriotischen Gefühlen. Einige erwähnen Schulden. Natürlich sind alle überzeugt, dass sie überleben werden. Aber ganz und gar nicht an den Tod denken, das können sie auch nicht. Und natürlich sind sie nicht bereit, für 30.000 Rubel zu sterben. Die allermeisten haben Kinder, und ihnen ist klar, was das bedeutet. Wenn sie aus patriotischen Motiven den Tod in Kauf nehmen, dann wissen sie, dass damit wenigstens ihre Kinder ‚etwas davon haben‘“.

    Musterung, Notar, Bankverbindung – vor dem Einsatz an der Front steht die Bürokratie: Aufnahme aus der Moskauer Rekrutierungsstelle / Fotos © Verstka 

    Nahezu alle Frauen wüssten das; sie ließen ihre Männer aus diesem Grund bewusst in den Krieg ziehen, ist ein Mitarbeiter überzeugt. „Nun, für die Frauen ist das doch super. Sie sind der Ansicht, dass das für ihre Kinder und für deren Zukunft gut ist. Welche Perspektiven hättest du denn, wenn du in einem Möbelunternehmen für 30.000 (etwa 285 Euro – dek) arbeitest?“ 

    Ein weiteres Motiv sind die kostenlosen AGs in der Schule, zusätzliche Bildungsangebote, Kita- und Studienplätze, die der Staat Kindern von Kriegsteilnehmern verspricht. 

    „Diese Männer denken zum Beispiel viel an eine Hochschulbildung für ihre Kinder. Es gibt immer weniger kostenlose Studienplätze. Und sie wissen, dass sie niemals drei Kindern ein Studium finanzieren können. 

    „Und die Männer selbst haben meist keine Hochschulbildung?“ 

    „Die meisten nicht. Mein Eindruck ist, dass 80 Prozent eine Fachoberschule absolviert haben, 15 Prozent nur die neunte Klasse und fünf Prozent eine Hochschule. Einige davon kommen mit gleich drei Abschlüssen daher. Philosophie, Geschichte. Man kann sie schon an der Kleidung erkennen: Einige kommen in Tarnmontur, Funktionstextilien, bequeme Kleidung… Andere kommen im Blazer. Und du fragst die dann: ‚Was meinen Sie, wie viele Leute kommen im Anzug hierher?‘“ 

    „Jahrelang habe ich am Computer gezockt. Und hier fragen sie dich: Willst du ein neues Spiel spielen?“ 

    In den Gesprächen mit denen, die kämpfen wollen, wird ein weiterer Grund für diese Entscheidung genannt: Die Hoffnung, wenigstens einmal im Leben etwas zu erreichen. „Ein großer Teil der Motive hängt damit zusammen, dass sie keinen Erfolg hatten“, sagt einer der Sozialarbeiter des Zentrums. „Die Kriegserfahrung ist für sie eines der wenigen Ziele im Leben, die sie wirklich erreichen können. Sie sagen das auch offen: Ich bin 35, ein vollkommener Loser, das ist meine letzte Chance.“ 

    Der 30-jährige Dimitri hat ein privates Gymnasium besucht, aber sein Studium an der Technischen Universität lief nicht besonders. Drei Jahre hat er durchgehalten, dann ging er zur Armee. Nachdem er 2019 demobilisiert wurde, arbeitete er auf dem Bau, bei der Feuerwehr, als Kellner, Packer. „Man hatte mir früher schon vorgeschlagen, zur Armee zu gehen, aber ich wollte es lieber im zivilen Bereich versuchen. Dort hat es nicht geklappt. Es gab keine Stabilität. Es hat nicht funktioniert.“ 

    Ein Schuster Namens Iwan sagt, dass er der Heimat etwas zurückgeben will, dass Verwandte von ihm in Kursk leben, dass ihm aber auch das Geld nicht ungelegen kommt. „Gestern war der Abschied. Ich trinke nicht. Ich will Auszeichnungen. Damit mein Sohn sieht, dass ich mich nicht nur im Zivilleben abstrample… Ich will mich verwirklichen.“ 

    „Heldentaten wiegen mehr als Worte“ steht an der Wand der Moskauer Rekrutierungsstelle / Foto © Verstka 

    Der Bauarbeiter Gennadi hat wegen Diebstahls gesessen, dann fand er eine Freundin. „Wir bekamen ein Kind, aber es hat nicht funktioniert. Wir waren aber nicht verheiratet. Und weiter? Ich habe gesoffen und gearbeitet, habe nicht gesoffen und gearbeitet. Ich musste gehen und den Vertrag unterschreiben, damit ich ein besseres Leben beginnen kann. Mein Leben wird in Ordnung kommen. Ich hatte nie einen Wehrpass, konnte nie eine normale Arbeit finden.“ 

    Nikolai war Polier, Schweißer, Bauarbeiter im Hohen Norden: „Es hat mich umhergetrieben. Nirgendwo hat‘s richtig geklappt. Vielleicht kann ich mich hier verwirklichen.“ Der 20-jährige Denis hat „im Zivilleben alles ausprobiert, nichts klappt, vielleicht kommt bei der ‚Spezialoperation‘ was raus.“ 

    Psychologen bezeichnen dieses Problem als „soziales Losertum“, als „Sehnsucht nach irgendeinem Erfolg, die ihnen von einer patriarchalen Gesellschaft auferlegt wird“, als „Streben nach Selbstverwirklichung, wenn sämtliche anderen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg verschlossen sind“. „Für Leute, die in den sozialen Netzwerken leben, gibt es einen Leistungskult, und es scheint, dass der verdammt erfolgreich ist. Aber die harte Lebenswirklichkeit in Russland, ja in der Welt, sieht so aus, dass alles am Arsch ist. Und das ist irgendwie normal“, sinniert einer der Mitarbeiter. „Man kann alles in den Sand setzen, sich wegsaufen, hängenlassen, abkacken; Beziehung kaputt, keine Familie, Jahrelang auf der Couch verbracht, nur am PC gezockt. Und dann bieten sie dir ein neues Spiel an! Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass das nicht gut ausgeht. Aber es winken Geld, Ausbildung, Status, Respekt und Aufmerksamkeit durch die Gesellschaft. Dann leuchten die Augen.“

    „Frauen sind lebensfroher, positiver“

    Auch Frauen kommen, um im Krieg Karriere zu machen. „Die sind alle lebensfroher, positiver, über ihnen hängt nicht diese patriarchale Verpflichtung, was zu erreichen, ‚ein Kerl zu sein‘; es gibt keine Enttäuschung von der eigenen Rolle“, sagt einer der Sozialarbeiter. Frauen können einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen, wenn sie jünger als 45 sind. Pro Woche kommen 15 bis 20 Frauen zur Rekrutierungsstelle. Es seien nicht nur Medizinerinnen und Köchinnen, sondern auch Scharfschützinnen dabei, berichten Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle. „Eine Frau hat genauso das Recht, einen solchen Vertrag zu schließen, wie jeder Mann. Aber als was sie mit diesem Vertrag losgeschickt werden, ist Sache der Kommandeure. Als Köchin, Krankenschwester oder mit der Option, mit einem MG in den Wald zu ziehen.“ 

    Eine von ihnen, unverheiratet, jung, schön, sagt: „Dort werde ich jemanden für mich finden.“ Eine andere erzählte, dass ihr Mann im Krieg sei; Kinder hätten sie keine: „Ich will nicht zu Hause sitzen und auf ihn warten; mir geht’s schlecht, ich gehe auch hin.“ Eine dritte ist Sängerin und Tänzerin in einem Ensemble. Nachdem sie zu Auftritten nach Syrien und in die besetzten Gebiete gereist ist, hat sie beschlossen, lieber mit einem militärischen Rang patriotische Lieder zu singen, als in Zivil. Auch eine Mutter mit zwei kleinen Kindern hat sich in der Rekrutierungsstelle gemeldet, eines war drei, das andere war ein Jahr alt. Einer der Informanten, mit denen Verstka sprechen konnte, fragte sie: „Und die Kinder?“ „Denen geht’s gut“, entgegnete die Frau, „die bleiben bei ihrer Oma und bei ihrem Vater.“

    „In den Krieg zu ziehen heißt, das Richtige zu tun“ 

    Die Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle in der Timirjasewskaja–Straße berichten, dass fast jeder zweite Bewerber schon einmal in einer Strafkolonie gesessen hat, und zwar wegen der unterschiedlichsten Delikte: von Raub in den 1990er Jahren bis Drogenhandel in den 2020ern. Für viele von ihnen ist der Dienst und ein Rang in der Armee ein Weg, „Jugendsünden“ wieder gut zu machen. „Das Brandmal eines Straffälligen loszuwerden, ist ein sehr starkes Motiv“, sagt einer der Juristen in der Rekrutierungsstelle. „Sie sagen das ganz offen: ‚Ich will nicht, dass meine Haftzeit ein Problem für meine Kinder wird. Eine abgesessene Strafe wäre für sie scheiße, eine Löschung der Vorstrafe ist für sie super. Was wäre, wenn sie zur Polizei wollen?‘ Sie betrachten ihre frühere Tat als Fehler und wollen, dass ab jetzt alles richtig läuft. Und das Richtige ist dann, in den Krieg zu ziehen.“ 

    5,2 Millionen Rubel winken Vertragssoldaten im ersten Jahr. Auf dem Plakat am Ende des Saales steht in weißer Schrift: „Denke daran: Wo du bist, ist Russland“ / Fotos © Verstka 

    Im August kamen auch Leute, gegen die ein Ermittlungsverfahren lief, die noch nicht vor Gericht standen, für die es aber die Möglichkeit gab, in den Krieg zu ziehen, um nicht auf ein Urteil warten zu müssen. Eine davon war eine junge Frau, die erzählte, dass Polizisten sie mit einem Kilo Hasch festgenommen hätten. Ein Strafverfahren wurde eröffnet: „Ich wurde erwischt und musste verschwinden. Und ich habe Kredite laufen… Also bin ich gefahren.“ Trotz des laufenden Strafverfahrens wurden ihr alle Papiere ausgestellt und sie wurde in die Ukraine geschickt. 

    Offiziell möglich wurde ein solcher Weg im September 2024: Die Staatsduma verabschiedete zwei Gesetze über die Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung von Straffälligen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen und kämpfen. Jetzt können Beschuldigte in jeder Phase des Strafverfahrens an die Front gehen: direkt nach der Verhaftung, während der U-Haft, während der Gerichtsverhandlungen, und wenn jemand schon in der Strafkolonie ist. Es reicht ein Schuldeingeständnis. Schöner Nebeneffekt für die Polizei: Das steigert die Aufklärungsquote. Letztere ist bis heute das wichtigste Kriterium für die Arbeit von Strafverfolgern und Justiz. 

    „Sollen sie mich doch töten – was soll’s?“ 

    Michail war Schweißer. Vor drei Jahren hat er sich scheiden lassen, trotzdem hat er seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, mit seiner Exfrau besprochen. „Was sie gesagt hat? Ehrlich? Dass ich ein Scheißkerl bin. Aber mein Sohn ist jetzt eingezogen worden, sie wollten ihn gerade nach Belgorod schicken. Aber dann haben sie ihn aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Er muss operiert werden: Kiefernhöhlenentzündung. Seine Einheit ist schon los nach Belgorod. Ich will ihn schützen. Damit nicht die Wehrpflichtigen am Krieg teilnehmen müssen. Sonst… da passieren ja schlimme Sachen. Irgendeinen Beitrag werde ich schon leisten können. Schon drei meiner Kameraden sind gefallen, was soll ich da sagen… Ob der Krieg gerecht ist? Wie soll man überhaupt verstehen, ob ein Krieg gerecht sein kann? Seine Grenzen zu verteidigen, das ist natürlich… Aber warum wir über eine fremde Grenze rüber sind, ist auch nicht ganz…“ 

    Viktor ist Veteran des zweiten Tschetschenienkriegs. „Ich mach’s nicht wegen dem Geld. Meine Frau heult, weil ich denke, dass ich da hin muss. Nicht die Jungen sollen kämpfen. Es muss sein, und was soll ich zuhause sitzen, als älterer Mann. Wenn dort die Jungen kämpfen, von denen einige noch keine Frau gesehen haben…“ Drei Fragen später stellt sich heraus, dass Viktors Sohn sieben Monate im Krieg war, zurückkam und sich umgebracht hat. Er hat sich vor der Stadt erhängt und vorher noch seiner Frau die Koordinaten geschickt. Die blieb mit zwei Kindern zurück. Eines ist zehn Monate alt, das andere geht in die dritte Klasse. „Nun, ich hab‘ ihn beerdigt, einen Grabstein aufgestellt. Und jetzt geh‘ ich.“ 

    „Das Glück ist stets mit den Tapferen“ verspricht dieses Plakat / Foto © Verstka

    Jeder, der an die Front will, muss zehn Standardfragen beantworten: Welchen Bildungsstand er hat, wann er das letzte Mal getrunken hat, ob er Drogen nimmt, ob er mal beim Psychiater war, welche Tattoos er hat, was er über den Krieg denkt, warum er den Vertrag abschließen will. Das machen Mitarbeiter des Moskauer sozialpsychologischen Dienstes. Dort wurde 2024 stark gekürzt. Jetzt haben die Mitarbeiter, die früher Moskauern in Notlagen kostenlos geholfen haben, die Aufgabe, künftige Soldaten zu mustern. Einige der Vertragssoldaten haben Verstka erzählt, was sie geantwortet haben. 

    Sergej ist Maurer und neun Jahre zur Schule gegangen. „Warum ich den Vertrag schließe? Viele meiner Bekannten sind gegangen, und ich geh jetzt mit ihnen. Ob ich patriotische Gefühle habe? Nö, einfach viele Bekannte, und ich gehe mit, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Alkohol habe ich zuletzt gestern getrunken. Mir sind die Risiken bewusst, das ist mir alles bewusst. Ich lese buchstäblich jeden Tag über die Verluste. Was ich mache, wenn ich zurückkomme? Ich weiß ja nicht, ob ich zurückkomme oder nicht… nun, ich habe Kinder, Familie… Meine Frau hat nichts dagegen…“ 

    Wladimir ist 18. Wenn er den Vertrag erfüllt hat, will er Psychologe werden. „Meine Eltern sind seit meiner Kindheit, wie soll ich sagen, verantwortungslos. Sie haben uns ständig geschlagen. Um meine drei jüngeren Brüder habe ich mich gekümmert. Dann wurde ich meinen Eltern weggenommen und in ein Heim gesteckt, weil sie mich geschlagen haben. …Ich musste, wie soll ich sagen?, schneller erwachsen werden, nun, Verantwortung lernen. Nach der neunten Klasse habe ich ständig gearbeitet. In der Kantine, als Kurier, als Trainer in einer Paintball-Anlage… Ich will hinterher die 10. und 11. Klasse nachholen und an der Hochschule Psychologie studieren. Und weiter, nun, dann in dem Bereich weiterarbeiten. Damit ich was verändere, was besser mache. Ich weiß, dass ich getötet werden kann. Wenn ich falle, heißt das, also… Dann soll’s so sein, dass mein Weg dort zu Ende geht. Überhaupt habe ich, also, es gibt Pläne. Eine Bekannte aus dem Außenministerium hat gesagt, dass die Männer dort nicht hingehen, um zu sterben, sondern um zu siegen.“ 

    Wadim ist Geselle in einer Fabrik, verdient 50.000 Rubel im Monat (etwa 475 Euro – dek). „Ich gehe, damit ich finanziell über die Runden komme, nicht um Leute umzubringen. Ich hoffe, dass wir das in ein bis anderthalb Jahren hinkriegen und zurückkommen.“ 

    Nikolai hat drei Kinder, zwei, drei und fünf Jahre alt. „Mich hält hier nichts mehr“, sagt der dreifache Vater. „Ich muss da unbedingt hin. Mir ist völlig klar, dass ich dort sterben kann. Ein Freund ist schon da. Mich motiviert, dass es jetzt schon in Russland Kampfhandlungen gibt. Ich will, dass das schnell aufhört.“ 

    In der Nähe der Rekrutierungsstelle haben Bewerber ihr Gepäck abgestellt. Viele kommen von weit her, weil in Moskau die höchsten Prämien bezahlt werden / Foto © Verstka 

    Alexander ist Oberstleutnant der Reserve. Er hat 30 Jahre Militärdienst hinter sich, vom Fernen Osten bis nach Jaroslawl. „Ich will den Vertrag wegen der Kinder. Einer wird vier, die älteste ist 17. Meine Frau hat zuerst geschimpft, doch dann hab‘ ich mich durchgesetzt. Sie hat verstanden, dass es mir um die Kinder geht. Ob man den Krieg hätte vermeiden können? Natürlich. Wenn der Westen sich nicht eingemischt hätte, wenn sie unser Land nicht betrogen hätten, wenn sie unsere Kinder und unsere Nation nicht erniedrigt hätten, dann hätte man den Krieg natürlich vermeiden können. Ich denke, es ist richtig, dass wir für uns und unsere Kinder einstehen; das ist das Wichtigste. Der Krieg endet mit unserem Sieg. Ich denke, Odessa muss erobert werden, dann sehen wir weiter, wenn der liebe Gott uns beisteht.“ Wer genau auf welche Weise russische Kinder erniedrigt hat, erklärt der Oberstleutnant nicht. 

    Waleri hat 2016 schon einmal einen Vertrag als Soldat abgeschlossen. Danach arbeitete er auf dem Bau, dann fuhr er Taxi, dann war er wieder auf dem Bau. „Es gab einen Durchbruch in die Oblast Kursk, und ich beschloss hinzugehen. Ob ich wohl erfahren bin und mir das ganze Risiko wirklich bewusst ist? Ich bezweifle es. Wenn ich mir das gut überlegt hätte, wäre ich wohl nicht hier. 

    Aber mein größtes Problem ist ein finanzielles. Das mag einem vielleicht komisch vorkommen, aber ich liebe meine Heimat sehr. Ob ich meine, dass der Krieg gerecht ist? Na, ich weiß nicht, jetzt hat er schon begonnen… Meine Meinung ist, dass man den hätte vermeiden können, aber davon verstehen andere mehr als ich… Aber wenn es nun schon passiert ist, muss man bis zum Ende gehen, und das ist nicht abzusehen… Hauptsache zurückkommen.“ 

    Dmitri, der wegen drei verschiedenen Straftatbeständen verurteilt wurde, unter anderem wegen Flucht aus dem Arrest, ist mit seiner Frau nach Moskau gekommen. Die letzten fünf Jahre ist er für Yandex Taxi gefahren. „Warum ich so traurig bin? Ich bin alle. Bin lange nicht mehr in der großen Stadt gewesen. Und die Arbeit jeden Morgen, um vier aufstehen, bis drei oder fünf hinterm Steuer sitzen. Ich sag‘ meiner Frau immer, wie sehr ich das alles satt habe… Ich will wenigstens ein bisschen Veränderung. Wir haben uns hingesetzt und beschlossen, dass ich kämpfen gehe. Ich will den Mist wieder gut machen, den ich mit meinem Bruder gebaut habe. Der ist wegen einer Dummheit gestorben, sein Enkel ist für mich wie mein eigener. Von außen betrachtet, denke ich, dass der Enkel wenigstens stolz sein wird, dass sein Opa in den Krieg gezogen ist und sich verdient macht. Er ist für mich der einzige. Dem Enkel wird es besser gehen, wenn ich unsere ganze Vergangenheit wegwische. Mein Enkel macht Gott sei Dank Sport, der wollte hier auch an der Konsole zocken…“ 

    Sein eigenes Kind ist schon erwachsen, aber Dimitri hat keinen Kontakt zu ihm. 

    Andrej ist Militärangehöriger und erneuert seinen Vertrag, der in diesem Jahr auslief: Seine Brigade geht nach Syrien, aber er wartete auf einen Platz in der Einheit bei der „Spezialoperation“. „Ein Soldat lebt zu Friedenszeiten quasi ‚auf Pump‘. Und jetzt ist die Zeit, seine Pflicht dem Staat gegenüber zu erfüllen. Ist nicht alles so einfach – eine Hypothek aufnehmen und dann ein paar leichte Übungen mitmachen. Im Krieg entfalten sich die Menschen. Wenn sie versteckt schlechte Menschen waren, dann wird das dort sofort sichtbar. Das Alltagsleben verändert stärker als der Beschuss und das eigentliche Kriegsgeschehen. Erdunterstände, Schlamm, keine Gelegenheit, sich zu waschen. Am Kriegshandwerk gefällt mir das Kollektive, zusammen eine Sache und ein Ziel zu haben, das allen klar ist. Und nach dem Krieg gehe ich in Rente. Ich hab‘ immer davon geträumt, mir einen Brummi zu kaufen und Fernfahrer zu sein.“ 

    Wladimir ist Schweißer auf dem Bau und offensichtlich nicht mehr nüchtern. Er sagt aber, er habe nur Bier getrunken, und das gestern. Er sei gekommen den Vertrag zu unterschreiben, vor allem, um seinem Sohn ein Beispiel zu sein: „Er wird dieses Jahr 17; er soll wissen, dass man sich vor nichts zu fürchten braucht.“ Er ist sich der Risiken für Leib und Leben bewusst. Dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt, weiß er. Suizidgedanken hat er keine. 

    In der Nähe des Rekrutierungsbüros versammeln sich die Bewerber / Foto © Verstka 

    „Warum ich in den Krieg ziehe? Waren Sie schon mal in Belgorod? Dann können Sie das nicht verstehen. Ich will nicht, dass sie zu mir kommen. Ich will, dass der Krieg so schnell wie möglich zu Ende ist. Warum er begonnen hat? Einerseits: Wenn nicht wir, dann wären die hierhergekommen. Obwohl, ich weiß nicht, ob sie gekommen wären?…“ 

    Pawel hat 25 Jahre gedient, zuletzt in der Nationalgarde. Seit 2017 ist er in Rente. Er habe sich mit allen gestritten, weil er den „Verfall und den Schweinkram“ gesehen habe. „Alle meine Freunde sind jetzt bei der Spezialoperation. Sie rufen an, wenn sie Heimaturlaub haben, erzählen… Ich habe beschlossen, zu ihnen zu fahren. Was soll ich hier noch? Meine Frau schimpft, was ich da will… Aber meine Kumpel sind alle dort, was soll ich da hier rumsitzen?“ 

    Alexander ist Direktor eines holzverarbeitenden Unternehmens. Bei seinem Vater wurde Darmkrebs entdeckt und er will ihm helfen: „Uns fehlt das Geld für die Operation. In der neuen Krebsklinik sagen sie, das kostet zusammen mit der Reha 35 Millionen Rubel [etwa 320.000 Euro – dek]. Wir haben bereits eine Hypothek auf dem Haus. Also bin ich sofort hierhergefahren. Die Lage ist natürlich so la la. Ich habe eine Vollmacht geschrieben, damit werden sie klarkommen. Einen Kredit bekomme ich nicht mehr, weder privat noch für die Firma. Meine Eltern arbeiten in einer Chemiefabrik, ständig sind sie dort Strahlung ausgesetzt. Wahrscheinlich hat das den Krebs ausgelöst. Jetzt stellte sich heraus, dass die Fabrik sie einfach so entlassen kann. Leute wie sie behält man dort nicht. Sie leben in Samara, dort verdient man im Schnitt fünfzigtausend [etwa 465 Euro – dek]. So ist eben unser Russland.“ 

    Ilja ist 53. Er sagt, dass man „für die Heimat“ in den Krieg ziehen müsse. „Ich bin Patriot und versuche, meine Tochter im gleichen Geist zu erziehen. Seit 2014 beobachte ich die Lage, sehe fern, meine Frau schimpft, dass ich den Kasten tagelang nicht ausschalte. Odessa, Transnistrien, das alles holen wir uns.“ 

    Der Traktorfahrer Arkadi unterschreibt den Vertrag, weil er „eine bessere Wohnung und die Kinder absichern“ will. „Die Risiken? Nun, wenn sie mich töten – was soll’s? Stimmt es denn, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Nicht nur für ein Jahr? Na, dann bleibe ich eben bis zum Ende. Umentscheiden werde ich mich nicht. Wenn ich gehe, dann geh‘ ich!“ 

    Iwan ist Monteur. Er macht keinen Hehl daraus, dass es ihm ums Geld geht. „Was ich über den Krieg denke? Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Das ist eine politische Entscheidung, das geht mich nichts an. Kann sein, dass er gerecht ist, vielleicht ist er ungerecht. Aber die geringen Löhne in Russland… Du bist gut ausgebildet, du bist belesen, du arbeitest fleißig, aber Geld hast du keines. Wenn ich im zivilen Leben ein Gehalt von 200.000 hätte [etwa 1.865.- Euro – dek], würde ich um nichts in der Welt in den Krieg ziehen. Aber bei uns im Land sind nicht wir diejenigen, die über das Geld entscheiden. Es gibt Leute, die für uns die Entscheidungen treffen, das hängt nicht von uns ab. Ob ich zur Wahl gegangen bin? Ein paar Mal war ich da. Das letzte Mal habe ich für Putin gestimmt.“ 

    Der Bauarbeiter Sergej will den Vertrag unterschreiben, um „seinen Leuten zu helfen“. „Ich habe lange gedacht: zwei Jahre. Selbst wenn ich in einem zivilen Job 200.000 verdienen würde, würde ich trotzdem gehen. Stimmt es wirklich, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Eigentlich war doch die Rede von einem Jahr … Nun gut, verstehe. Meine Jungs sind ja sowieso da. Hauptsache, der Krieg ist bald zu Ende.“ 

    Der Maurer Dimitri hat gestern ein alkoholfreies Bier und eine Flasche Wodka getrunken. Sein Bruder dient schon im Krieg, er hat keine Wohnung und mit seiner Schwester hat er sich zerstritten. „Rausgeschmissen hat sie mich, ich habe nichts, wo ich wohnen kann.“ 

    „Morde sind OK, Raub ist OK“ 

    Die Rekrutierungsstelle kann Bewerber ablehnen, wenn sie wegen sexualisierter Gewalt oder Extremismus in Haft sind oder ein entsprechendes Verfahren gegen sie läuft. „Drogen sind OK, solche Delikte sind ja weit verbreitet“, erklärt einer der Sozialarbeiter. „Mord oder Raub ebenfalls. Da kommt es darauf an, was die Leute so erzählen. Es gibt ja keine eigene Kompanie für solche Leute: Alle sitzen zusammen im Schützengraben, da kann man keine Konflikte zwischen den Soldaten brauchen“.  

    Vor der Rekrutierungsstelle segnet ein Priester die Neulinge / Foto © Verstka

    Ein weiterer Grund für eine Absage ist eine starke Drogenabhängigkeit, die beim Bewerbungsgespräch auffällt, oder eine Krankengeschichte beim Psychiater. Die Mitarbeiter schauen sich auch die Tätowierungen der Bewerber an. Leute mit aufwändigem Körperschmuck kommen selten in die Rekrutierungsstelle. Die meisten Anwärter haben ein, zwei Tattoos, die sie sich in der Armee oder in der Haft stechen ließen. Einen Stern, eine Rose… „Die ganze Welt liegt mir zu Füßen“ auf Latein, „Nur Gott ist mein Richter“… Während sich unsere Reporterin mit Bewerbern unterhielt, kam ein Mann in die Rekrutierungsstelle, der hatte auf dem Bein ein Hakenkreuz tätowiert. Ein andere hatte die Ziffern „14/88“ auf der Schulter. „Wir haben überlegt, ob wir denen absagen“, räumt einer der Mitarbeiter ein. „Aber sie waren beide schon bei der Spezialoperation, beide haben bei Wagner gedient. Sie hatten Medaillen für die Einnahme von Bachmut dabei und haben Fotos gezeigt.“ 

    „Ok, ich habe so ein Tattoo. Aber wer will mir was vorwerfen, wenn wir gegen die da kämpfen?“, rechtfertigt sich einer der beiden Wagner-Kämpfer, der nicht mehr bei privaten Militärunternehmen dienen wollte. „Ich will einen militärischen Rang und Sozialleistungen.“ „Der Grund dafür, dass wir Leute mit Hakenkreuz nicht haben wollen, ist nicht, dass wir persönlich etwas gegen Hakenkreuze hätten“, erklärt man uns die Kriterien der Rekrutierungsstelle. „Aber in einer Einheit dienen die unterschiedlichsten Leute. Sie waschen sich auch zusammen. Wenn jemand dieses Symbol sieht, könnte es zu einer Situation kommen, die wir vermeiden wollen.“  

    Die Mitarbeiter sagen selbst, dass es ihre Aufgabe sei, alle in den Krieg zu schicken. „Ich hab‘ noch niemandem abgesagt, sagen wir mal so. Warum? Nun, weil das schräg wäre: Da will jemand für Putin sterben, und ich soll ihn aufhalten? Im Gegenteil! Wenn da einer kommt, der sein Leben aufs Spiel setzen will, wäre es doch merkwürdig, wenn ich ihm sagte: Geh‘ beim Wachdienst arbeiten!“ 

    „Wenn ich aber merke, dass jemand Zweifel hat, dann helfe ich ihm zweifeln“, sagt der Mitarbeiter weiter. „Ich weiß nicht, ob ich der Einzige hier bin, der so ist. Wir haben keine Teamsitzungen, wo sie uns eine Linie vorgeben. Aber die Frage, ob jemand die Risiken für Leben und Gesundheit versteht, muss immer gestellt werden. Ich sage ihnen das auch offen: Sie können ums Leben kommen. Sie können sterben, du könntest ohne Beine zurückkommen. Das weckt manchmal Zweifel.“ 

    „Habe ich Sie richtig verstanden – ich kann nicht nach einem Jahr zurück?“ 

     Die Information, bei der einigen Bewerbern die Gesichtszüge entgleiten, ist der Umstand, dass der Vertrag keineswegs nur über ein Jahr läuft, sondern unbefristet. Ein typisches Gespräch hierzu sieht so aus: 

    „Das der Vertrag automatisch verlängert wird, wissen Sie?“ 

    „Nein, davon wurde nichts gesagt. Ich gehe für ein Jahr.“ 

    „Nein, Sie gehen nicht für ein Jahr.“ 

    „Aber ich höre das jetzt zum ersten Mal. Und wozu habe ich dann für ein Jahr unterschrieben?! Da steht’s doch.“ 

    „Ihr erster Vertrag gilt ein Jahr. Aber sofort nach Ablauf wird er automatisch verlängert. Der Grund dafür ist ein Erlass von Wladimir Putin vom September 2022. Demnach gelten alle Verträge mit der Armee unbefristet bis die Spezialoperation beendet ist. Das wurde so geregelt, damit die Soldaten, die über die Mobilmachung zwangsweise eingezogen wurden, sich nicht ärgern, weil sie dort schon das dritte Jahr hocken, während die Vertragssoldaten kommen und gehen. Also gilt der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation.“ 

    „Und könnte die in einem Jahr beendet sein? Ich hab‘ doch nur für ein Jahr unterschrieben…“ 

    „Ein Erlass des Präsidenten ist juristisch stärker als ein Vertrag mit dem Verteidigungsministerium. Deswegen werden Sie bis zum Ende des Krieges bleiben. Könnte das Ihre Entscheidung ändern?“ 

    „Nein doch… da kann man wohl nichts machen… Aber ich werde doch mal gehen können… Auf Fronturlaub, auf Dienstreise nach Hause…?“ 

    „Einige ‚Frischlinge‘ wissen nichts von der automatischen Verlängerung“, bestätigt einer der Juristen. „Die glauben, dass sie einen Vertrag über ein Jahr unterschreiben, dort die Ausbildung absitzen und reich zurückkommen.“ 

    Im Sommer werden vor dem Rekrutierungsbüro Erfrischungen angeboten / Foto © Verstka  

    „Bloß nicht ins Gras beißen“  

    Sergej ist keine dreißig, er nuschelt und zittert. „Warum der Vertrag? Ich hab‘ keine Wahl. Die Schulden, die Wetten. Eigentlich war das Mamas Entscheidung. Sie hat mich gezwungen. Ich bin ein Stück Scheiße. Ich hab‘ alle enttäuscht…“ Der Mann bricht in Tränen aus. Später stellt sich heraus, dass er spielsüchtig ist: Millionen Schulden, Verbraucherkredite, das Geld seiner Eltern und seiner Partnerin hat er verspielt, sein Lohn geht für neue Einsätze drauf. Nachdem er die Kontaktdaten einiger Suchtberatungsstellen erhielt, beschloss Sergej, nicht zu unterschreiben. 

    Vor einem Einkaufszentrum in der Nähe des Rekrutierungsbüros wird ebenfalls um Freiwillige für die Armee geworben / Foto © Verstka 

    Bei der Rekrutierungsstelle kann man sich nur so lange noch umentscheiden, bis der Anwärter und der Kommandeur den Vertrag unterschrieben haben. Sobald die Dokumente unterschrieben sind, besprechen die frischangeworbenen Soldaten mit den Offizieren, wo sie die nächsten Tage verbringen werden. Sie können nicht sofort zu ihrer Einheit, es gibt zwei, drei Puffertage. Man könnte nach Hause fahren, doch das macht kaum jemand. Deshalb setzen sich die meisten in die Busse zum Lager Avangard im Patriot-Park in Odinzowo. „Dort wohnen sie in Kasernen, werden verpflegt, es entsteht wohl ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Dann geht’s zurück zu uns, und sie werden mit dem Bus zu ihren Einheiten gebracht.“ 

    Jeden Tag werden Listen mit Personen, die es sich anders überlegt haben, an das Militär geschickt. Jede Absage wird dokumentiert, in die Listen werden die Gründe eingetragen, in welcher Phase sich jemand umentschieden hat, und mit welcher Begründung. Die Daten werden dann analysiert, „weil es für die Militärs wichtig ist, dass möglichst wenigen abgesagt wird und möglichst wenige sich weigern.“ Jeden Tag gibt es etwa hundert, mit denen aus medizinischen Gründen kein Vertrag zustande kommt. Von vierhundert, die übrig bleiben, wird nochmal etwa ein Dutzend nachträglich ausgemustert. Zum Beispiel weil sie schwer alkoholabhängig sind oder in der Vergangenheit Gewalttaten gegen Kinder verübt haben. 

    Niemand kann einfach so die Rekrutierungsstelle verlassen. Man muss sich in Zimmer 306 melden. Dort sitzt neben dem Notar ein Angestellter, der Passierscheine für den Ausgang ausstellt. Man muss dann erklären, warum man hergekommen ist, wenn man schon keinen Vertrag schließen wollte. Die Passdaten werden aufgeschrieben und man wird unter Begleitung zum anderen Ende des Gebäudes geführt, dann über den Busparkplatz zum Tor.

    Die anderen fahren von hier in den Krieg. 

    In schneeweißen Pavillons, die mit künstlichen Blumen geschmückt sind, warten die Soldaten und ihre Familien. Wenn die Männer den Befehl bekommen, steigen sie in den Bus und fahren zu ihrem Stützpunkt. 

    Ein folkloristisch gekleidetes Musik-Ensemble spielt auf dem Parkplatz hinter der Rekrutierungsstelle. Hier verabschieden sich die Männer von ihren Familien und steigen in die Busse, die sie zu ihrer Einheit bringen / Foto © Verstka 

    Als wir mit einem der Anwärter sprechen, spielen nebenan Musikerinnen Akkordeon und Zither. Sie sind in reich verzierte Kaftane gekleidet und tragen Kokoschniks mit künstlichen Perlen auf den Köpfen. Es ist eine der Kulturbrigaden von Moskonzert, die „sich an der Unterstützung der Streitkräfte Russlands und des Staates beteiligt“.  

    Wenn keine Musiker da sind, kommt die Musik draußen aus Lautsprechern. Während eines der Interviews ist im Hintergrund die Stimme von Viktor Zoi zu hören: „Wünsch mir Glück im Kampf, wünsch mir, dass ich nicht ins Gras beiße.“ Jeden Tag ist im Hinterhof ein Priester anwesend. Vor der Abfahrt zum Stützpunkt können die neuen Rekruten dort beichten, mit dem Priester sprechen und gemeinsam beten. Es gibt auch eine Feldküche, wo kostenlos Buchweizengrütze und Büchsenfleisch ausgegeben werden. „Wir ziehen guter Dinge los“, sagt einer der Beteiligten zu Verstka

    Aus Dokumenten, die Verstka vorliegen, geht hervor, dass seit August mehr als 14.000 Personen von dieser Rekrutierungsstelle aus an die Front geschickt wurden. Berechnungen der BBC und Mediazona zufolge hatte von den mehr als 70.000 Soldaten, die seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine getötet wurden, jeder Fünfte nach Kriegsbeginn einen Vertrag mit der Armee geschlossen. 2024 waren unter den Militärangehörigen aus Russland, deren Tod aufgrund offen zugänglicher Quellen bestätigt ist, immer häufiger Soldaten, die älter als 40, 50 oder gar 60 ware, und dabei weder Kampferfahrung noch eine spezielle Ausbildung hatten. 

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    Ein Tribunal für Putin
    Aufgereiht in Plastiksäcken liegen Opfer willkürlicher Tötungen durch russische Besatzer auf dem Friedhof von Butscha. Ermittler haben sie im April 2022 geborgen, um jedes einzelne Verbrechen nachzuweisen / Foto © IMAGO / ZUMA Press Wire 

    Die Liste russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang. Sie reicht von Folter und Massenmord an der Zivilbevölkerung in Butscha über den Beschuss des Kinderkrankenhauses Ochmatdyt in Kyjiw bis zur Sprengung des Kachowka-Staudamms und ist damit noch lange nicht zu ende. Ermittler und zivilgesellschaftliche Initiativen haben bereits mehr als 140.000 einzelne Taten dokumentiert. Neben dem Tatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen einige Völkerrechtler auch den Tatbestand des Völkermords als erfüllt an.

    Auf das Entsetzen folgt die Frage: Wie können die Aggressoren zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten gibt es, Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen und wie lassen sich Lehren für die Zukunft ziehen?  

    Die Journalistin Farida Kubangalejewa hat darüber mit zwei ausgewiesenen Experten über diese Frage gesprochen:  

    Der Soziologe und Politikwissenschaftler Michail Sawwa (geb. 1964) war in den 1990-er Jahren Beauftragter für Nationalitätenfragen im Gebiet Krasnodar und lehrte er an der Staatlichen Universität des Kubangebiets Politikwissenschaften. 2013 verbrachte er mehrere Monate in Untersuchungshaft, bevor er in einem konstruierten Verfahren wegen Veruntreuung zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde. 2016 gewährte ihm die Ukraine Asyl. Als Mitarbeiter des Center for Civil Liberties in Kyjiw setzt er sich heute für die Dokumentation und Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ein. 

    Ilja Schablinski (geb. 1962) lehrte als Professor für Verfassungsrecht an der Higher School of Economics in Moskau. In den 1990er Jahren war er an der Ausarbeitung der russischen Verfassung beteiligt. Von 2012 bis 2019 war er Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten. Im Juni 2024 setzte das Justizministerium Schablinski auf die Liste der „ausländischen Agenten“.

     

    Michail Sawwa, Farida Kurbangalejewa, Ilja Schablinski / Montage nemoskva.net

    Farida Kurbangalejewa: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat bisher Haftbefehle gegen eine Handvoll offizieller Vertreter der Russischen Föderation erlassen, die an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind: Präsident Wladimir Putin, die Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa, Generalstabschef Waleri Gerassimow sowie den ehemaligen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Viele Beobachter ohne professionellen Hintergrund, auch ich, fragen sich: Warum sind es so wenige Personen, die der IStGH zumindest hier zur Verantwortung zieht? Und warum wurden gerade sie ausgewählt? 

    Michail Sawwa: Es sind noch ein paar mehr. Der IStGH hat auch Haftbefehle gegen den Kommandeur der Schwarzmeerflotte und den Kommandeur der Langstrecken-Luftwaffe Russlands erlassen. Grund dafür war der gezielte Beschuss ziviler Infrastruktur der Ukraine im Winter 2023. Damals wurde das System der Energieversorgung zerstört. Genau das hat die russische Regierung auch jetzt wieder vor. 

    Warum gerade diese Personen? Der Internationale Strafgerichtshof stellt erst einen Haftbefehl aus, wenn sehr überzeugende Beweise für ein Verbrechen vorliegen. Bei der Anklage gegen den ehemaligen Vizepräsidenten des Kongo hat er 5000 Zeugen vernommen. Erst wenn jeder Zweifel ausgeräumt ist, wird er tätig. Diese sechs Leute haben praktisch selbst bescheinigt, dass sie Kriegsverbrechen begangen haben. Sie haben gegen Artikel acht des Römischen Statuts verstoßen, das für den IStGH in etwa die gleiche Funktion hat wie das Strafgesetzbuch für nationale Gerichte. 

    Wladimir Putin und seine „Kinderrechtsbeauftragte“ Maria Lwowa-Belowa sind zwei von insgesamt sechs russischen Staatsbürgern, gegen die der Internationale Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehle ausgestellt hat / Foto © IMAGO/ZUMA Press Wire 

    Ilja Schablinski: In der Tat ist die Beweislage in zwei Anklagepunkten sehr klar. Dass Kinder mit ukrainischer Staatsbürgerschaft aus dem Land gebracht und an Familien in verschiedenen Regionen Russlands verteilt wurden, haben Lwowa-Belowa und auch Putin offen gesagt. Und zum Beschuss der ukrainischen Energieversorgungs-Infrastruktur haben sich sowohl Schoigu als auch Gerassimow ziemlich ausführlich geäußert. Auch Putin selbst hat sich ja damit gebrüstet, dass Angriffe auf Kraftwerke verübt werden. Ich denke, das war die Grundlage, auf der der Ankläger des IStGH tätig geworden ist. Die Liste der Kriegsverbrechen, für die auch weitere Verdächtige zur Verantwortung gezogen werden könnten, ist natürlich viel länger. 

    Maria Lwowa-Belowa beim Besuch eines Kinderheims im russisch besetzten Schachtarsk im Gebiet Donezk im August 2023 / Foto © IMAGO/SNA 

    Michail Sawwa: Zum einen wird diese Liste ergänzt werden. Es werden bereits einige weitere Fälle geprüft. Zum anderen ist der IStGH nicht die einzige internationale Instanz, vor der im Ukrainekrieg begangene Kriegsverbrechen verhandelt werden. Für das größte Verbrechen – den Beginn des Angriffskriegs und den Überfall auf ein Nachbarland – ist der IStGH beispielsweise nicht zuständig. Dafür muss ein internationaler Sondergerichtshof eingerichtet werden. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Und der muss nicht unbedingt in Den Haag angesiedelt sein, richtig? 

    Michail Sawwa: Genau. Er kann überall tätig sein – in einem Land oder auch in mehreren Ländern. Das hängt davon ab, wie er letztendlich aussehen wird. Bisher sind nur sehr allgemeine Planungen bekannt. In einer Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates heißt es zum Beispiel, dass ein internationaler Sondergerichtshof erforderlich ist, ohne dass das näher ausgeführt wird. In der Ukraine ist ein Konzept erarbeitet worden, das sich damit befasst, was im Einzelnen getan werden soll, um die Schuldigen für das Verbrechen des militärischen Angriffs zur Rechenschaft zu ziehen. Auch dort steht, dass unbedingt ein internationaler Sondergerichtshof berufen werden muss. Und es werden auch einige konkrete Angaben gemacht. 

    Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde: Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen

    Farida Kurbangalejewa: Wie wichtig ist es für die Ukrainer – und für Sie persönlich – dass dieser Gerichtshof in der Ukraine selbst tätig ist? 

    Michail Sawwa: Er wird mit Sicherheit hier tätig sein, zumindest teilweise. Die Ermittler werden hier arbeiten. Was die Richter betrifft, weiß ich es nicht, sie müssen sich nicht unbedingt in der Ukraine befinden. Entscheidend ist für uns etwas anderes: Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Dabei bin ich auch in einem Kampfgebiet im besetzten Teil der Oblast Kyjiw gewesen, wo vor meinen Augen Menschen umgebracht worden. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde. Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen, zur Abschreckung für andere Täter.

    Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag / Foto © IMAGO/Dreamstime 

    Ilja Schablinski: Ich hoffe darauf, dass die Beteiligten an der Entfesselung dieses furchtbaren, blutigen Angriffskriegs auch in Russland zur Verantwortung gezogen werden. Und zwar wegen der Einleitung des Krieges, für die der IStGH nicht zuständig ist. Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Aber ich stimme denen zu, die sagen, dass man darauf vorbereitet sein muss. Man braucht eine Rechtsgrundlage. Im Strafgesetzbuch Russlands gibt es einschlägige Artikel: Nr. 353, „Planung, Vorbereitung und Einleitung eines Angriffskriegs“ und Nr. 354, „Öffentliche Aufrufe zur Durchführung eines Angriffskriegs“ – denken Sie an die russischen Propagandisten. Ich will, dass diejenigen, die letztlich die Schuld am gewaltsamen Tod hunderttausender ukrainischer Bürger und auch meiner russischen Landsleute tragen, auf Grundlage dieser Artikel zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist das schlimmste Verbrechen überhaupt. 

    Der Internationale Strafgerichtshof und ein internationaler Sondergerichtshof werden tätig, wenn eine Rechtsprechung auf nationaler Ebene nicht möglich oder nicht gewollt ist. In Ruanda etwa wollten die neuen Machthaber nicht, dass der Prozess im eigenen Land stattfindet, und haben sich an den IStGH gewandt. In Russland gibt es verfassungsrechtliche Einschränkungen, beispielweise dürfen russische Staatsbürger nicht an andere Staaten ausgeliefert werden. Aber das lässt die Möglichkeit offen, dass Personen, die Kriegsverbrechen befohlen und begangen haben, unter einer anderen Regierung verurteilt werden und ins Gefängnis kommen. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Auf welcher Hierarchieebene beginnt die Verantwortung für Kriegsverbrechen? Wenn der Kommandeur der Schwarzmeerflotte den Befehl erteilt, Raketen abzufeuern, ist er offensichtlich schuldig. Aber wie ist es mit demjenigen, der einfach auf den Knopf drückt, und kurz darauf schlägt eine Rakete im Kinderkrankenhaus Ochmatdyt ein? Er führt ja nur einen Befehl aus.

    Am 8. Juli 2024 trifft ein russischer Marschflugkörper die  Kinderklinik Ochmatdyt in Kyjiw. Eltern und Pfleger bergen die Patientinnen aus der Krebsstation. Die Vereinten Nationen stufen den Angriff als Kriegsverbrechen ein / Foto © IMAGO/ZUMA Press Wire 

    Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt

    Michail Sawwa: Trotzdem macht er sich schuldig. Es gibt den Begriff des „verbrecherischen Befehls“. Das ist alles ziemlich detailliert beschrieben und gehört in guten Armeeeinheiten zur Ausbildung der Soldaten. Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt. Es gibt noch kompliziertere Situationen: Wenn Untergebene ein Kriegsverbrechen begehen und ihr Vorgesetzter nichts davon weiß, ist er trotzdem schuldig. Das ergibt sich aus dem humanitären Völkerrecht, das vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz kodifiziert wurde. Ein Artikel besagt, dass ein Vorgesetzter sich für Kriegsverbrechen seiner Untergebenen verantworten muss, wenn er davon einfach nur hätte wissen können. Der Kreis der Schuldigen ist also sehr viel weiter gefasst, als man im Kreml jetzt meint. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Hierzu wird auch eine andere Auffassung vertreten: Russische Militärangehörige, die ein Kriegsverbrechen begangen haben, sind Kombattanten. Sie führen die Befehle ihrer Offiziere aus und tragen selbst keine Verantwortung für ihr Tun. 

    Ilja Schablinski: Das muss das Gericht klären. Es gibt jedenfalls den Begriff des verbrecherischen Befehls, und im Völkerrecht gibt es das Kriterium der Offensichtlichkeit: Der Befehlsempfänger muss erkennen können, dass er dazu angeleitet wird, eine offensichtlich widerrechtliche Tat zu begehen. Der Befehl, Verwundete, Gefangene oder Zivilpersonen zu erschießen, ist ganz offenkundig illegal. In solchen Fällen können diejenigen, die ihn unmittelbar ausführen, zur Rechenschaft gezogen werden. Aber richtig, grundsätzlich können einfache Soldaten sich darauf berufen, dass sie nicht selbst entschieden haben, einen bewohnten Ort anzugreifen, sondern einen Befehl ausführten. In Butscha haben allerdings, soweit sich das jetzt beurteilen lässt, gewöhnliche Militärangehörige gewütet. Vielleicht auf Befehl von Offizieren, vielleicht auch nicht. Aber wer hat sie gezwungen, eine ganze Familie zu erschießen? Den Bürgermeister eines kleinen Ortes, die ganze Familie? Wer hat sie gezwungen, Dutzenden von Zivilisten die Hände zu fesseln und sie dann mit Nackenschüssen zu töten? Es gibt auch Zeugenaussagen zu den Vergewaltigungen und Morden. Man kann mit Grund vermuten, dass es einfache Soldaten waren, die diese Verbrechen begingen. Aber es kann nicht sein, dass ihr niedriger Dienstgrad sie von der Verantwortung entbindet. 

    Nach der Befreiung der Stadt Isjum im Gebiet Charkiw haben Ermittler Leichen von Bewohnern exhumiert. Einige wurden von den Besatzern zu Tode gefoltert / Foto © IMAGO/Photo News 

    Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten aus den Strafverfahren zum Genozid in Ruanda genau anzusehen

    Farida Kurbangalejewa: Ilja, Sie haben die russischen Propagandisten erwähnt und gesagt, dass auch sie sich für die Verbrechen verantworten sollten. Auch hier gibt es das Problem, dass sie in gewisser Weise Befehlsempfänger sind. Ich weiß, dass viele dieser Leute meinen, es gehöre eben zu ihrem Beruf, das zu sagen, was ihnen aufgetragen wird. Und wie realistisch ist es überhaupt, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden? 

    Michail Sawwa: Zunächst einmal: Das Argument „Wir machen das nicht freiwillig, sondern beruflich“ wird ihnen nicht weiterhelfen. Anders als Kriegsverbrecher können sie sich ja nicht einmal auf offizielle Anweisungen berufen, die ihnen befahlen, sich genau so zu äußern. Ihre Worte sind ihr eigenes Werk. Dass man dafür tatsächlich ins Gefängnis kommen kann, zeigt das Strafverfahren gegen Mitarbeiter des ruandischen Senders „Radio-Télévision Libre des Mille Collines“. Während des Genozids in Ruanda 1993 hatte dieser Sender zum Mord an den Tutsi aufgerufen. Das geschah in kaschierter Form. Das Volk der Tutsi wurde nicht ausdrücklich genannt, sondern es hieß beispielsweise: Man muss die Kakerlaken töten. Aber das Gericht wies ihnen nach, dass damit die Angehörigen dieser ethnischen Gemeinschaft gemeint waren und dass es sich um konkrete Mordaufrufe handelte. Sie erhielten Gefängnisstrafen von bis zu 25 Jahren. Einige kommen gerade wieder frei, sie sind inzwischen alt geworden. Andere wurden erst sehr viel später aufgespürt und festgenommen, und manche werden bis heute gesucht. Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten dieses Strafverfahrens genau anzusehen. 

    Ilja Schablinski: Wer Massenmord, Aggression, Sadismus und die Zerstörung von Städten gefeiert hat, muss sich natürlich dafür verantworten. Ich erinnere mich, wie Wladimir Solowjow die Ruinen von Marjinka oder Awdijiwka zeigte und orakelte: „Dieses Schicksal erwartet auch Berlin.“ Es gibt frappierende Beispiele für entgrenzte, gehässige Propaganda. Natürlich ist uns allen klar, dass es einen Regimewechsel braucht, damit diese Terrorpropagandisten zur Rechenschaft gezogen werden können. Meiner Meinung nach ist es letztlich Sache der russischen Gerichte, sich mit diesen Leuten zu befassen. 

    Der TV-Propagandist Wladimir Solowjow während eines Auftritts bei einer Rüstungsmesse in Moskau im September 2024 / Foto © IMAGO/Russian Look 

    Im Moment gibt die gesamte Richterschaft ein klägliches Bild ab. Das ist womöglich die beschämendste Seite der Geschichte des heutigen Russlands. Es bedeutet, dass nicht nur Soldaten Russlands als Eroberer und Marodeure auftreten, sondern alle staatlichen Strukturen gehorsam den Willen des Diktators ausführen und ihren Teil der blutigen und schmutzigen Arbeit verrichten. 

    Aber wir wissen ja aus der Geschichte, dass dieselben Leute anders entscheiden, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern, wenn die Angst fort ist und sie halbwegs frei handeln können. Auch nach dem Ende der Stalin-Ära hat sich die Rechtsprechung ja geändert, vielleicht nicht sehr stark, aber immerhin. Man muss die Propagandisten nach Artikel 354 wegen öffentlichen Aufrufs zur Einleitung dieses Angriffskriegs verurteilen und das Strafmaß jeweils individuell festlegen. Einige halten sich zurück, sie überlassen „Experten“ das Wort und verzichten nach Möglichkeit auf eigene Aufrufe und Einschätzungen. Andere treten aggressiv und gehässig auf. Entsprechend größer ist auch ihre Verantwortung. 

    Die Gerechtigkeit kann nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen

    Michail Sawwa: Ich stimme Ilja zu, es wäre sehr gut, wenn diese Leute von russischen Gerichten verurteilt würden. Aber wir wissen nicht, ob das passieren wird und wann, und es genügt nicht, nur auf einen politischen Regimewechsel in Russland zu hoffen. Man muss bereits jetzt über diese Leute zu Gericht sitzen, und die Prozessvorbereitungen laufen schon. Ich meine die Einrichtung eines internationalen Sondergerichtshofs für das Verbrechen des Angriffskriegs. Er muss ein sehr breites Spektrum von Verbrechen untersuchen, von den Initiatoren des Krieges bis zu den eben erwähnten Propagandisten. Das ist letztlich doch vor allem ein Fall für ein internationales Gericht. Die Gerechtigkeit kann nicht ewig warten. Wir können und werden nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen oder bis die inneren Widersprüche der Elite kulminieren. 

    Ilja Schablinski: Ja, da stimme ich zu: Wenn der Internationale Strafgerichtshof jetzt etwas tun kann, zum Beispiel über ein Mandat entscheiden, Anklage erheben und die Anklagepunkte genau formulieren, dann muss das getan werden. Wenn man auf einen Regimewechsel wartet, schenkt man diesen Leuten Zeit, in der sie einigermaßen sorgenfrei leben können. Nein, sie dürfen nicht vergessen, dass sie furchtbare Verbrechen begehen, dass ihre Worte und Taten ungeheure Opfer nach sich gezogen haben, zerstörte Städte, zerstörte Schicksale. Es muss ihnen schon jetzt ständig bewusst sein. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Der historischen Abfolge nach würde also wohl zunächst im Ausland ein Prozess gegen russische Kriegsverbrecher stattfinden, und erst später wäre ein Verfahren in Russland selbst möglich – ich würde sogar sagen, nicht bei einem Zusammenbruch des politischen Regimes, sondern im Fall einer russischen Niederlage im Eroberungskrieg gegen die Ukraine. 

    Ilja Schablinski: Wohl doch eher bei einem Regimewechsel. Unter einer russischen Niederlage würde ich den erzwungenen Abzug der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine verstehen. In diesem Fall könnte sich das Regime leider durchaus halten. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Viele Experten meinen, dass nur eine militärische Niederlage Russlands zum Zusammenbruch des Regimes führen kann. 

    Ilja Schablinski: Das hoffe ich auch. Allerdings war beispielsweise Saddam Hussein nach seiner Niederlage noch 13 Jahre im Amt. Aber generell ist diese Annahme richtig. Solange Russland nicht mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeitet, wird ein Prozess im vollen Sinn des Wortes kaum möglich sein. Aber ich denke, dass man zumindest die Anklageschriften ausfertigen muss. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Kann man das Verfahren gegen die sechs eingangs erwähnten Kriegsverbrecher schon einleiten, bevor man ihrer habhaft wird? 

    Michail Sawwa: Nein, das wird nicht passieren. Der Internationale Strafgerichtshof führt keine Verfahren gegen Personen durch, die nicht im Sitzungssaal anwesend sind. Deshalb sind die Haftbefehle ausgestellt worden. Vielleicht dauert es sehr lange, bis man ihrer habhaft wird, vielleicht wird es auch nie dazu kommen, aber bis es so weit ist, wird der IStGH auch kein Urteil fällen. Ich möchte aber noch einmal daran erinnern, dass der IStGH  nicht die einzige internationale Gerichtsinstanz ist. Im Moment geht es um die Berufung eines internationalen Sondergerichtshofs, der über das Verbrechen des Angriffskriegs urteilt. Dabei kann man sich an anderen Prinzipien orientieren und in seinen Statuten beispielsweise vorsehen, dass das Gericht auch in Abwesenheit eines Angeklagten verhandeln kann – dass es den Fall untersucht und das Urteil spricht, bevor der Verbrecher in den Gerichtssaal gebracht wird. Bisher ist noch nicht bekannt, wie das genau aussehen wird. 

    Der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs sollte durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden statt  im Sicherheitsrat

    Farida Kurbangalejewa: Wenn die russischen Kriegsverbrecher – in Abwesenheit oder Anwesenheit – von einem internationalen Sondergerichtshof verurteilt werden, warum ist es dann Ihrer Meinung nach so wichtig, sie zusätzlich noch in Russland zu verurteilen? Weil es symbolisch bedeutsam ist oder aus praktischen Erwägungen heraus? 

    Ilja Schablinski: Wenn sie in Russland verurteilt werden, kommen sie wirklich ins Gefängnis. Wenn man sie in Abwesenheit verurteilt, werden sie einfach feixen und Hohn und Spott verbreiten. Das hat dann wirklich nur symbolische Bedeutung. Ich halte es für möglich, ein Tribunal einzurichten, aber man muss gut überlegen, auf welcher Rechtsgrundlage das geschehen soll. Das Sondertribunal zu Jugoslawien wurde 1993 durch eine einstimmig verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrates geschaffen. Russland hat diese Resolution damals sehr engagiert unterstützt. In der jetzigen Situation ist es nicht möglich, einen Gerichtshof auf diesem Weg zu berufen. Also muss es über ein anderes Verfahren geschehen. 

    Michail Sawwa: Ein solches Verfahren gibt es. Diese Sondertribunale werden durch internationale Abkommen geschaffen. Der Internationale Strafgerichtshof ist übrigens auch über ein solches Abkommen zustande gekommen. Wir ukrainischen Experten sind der Auffassung, dass der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden sollte, die dem UN-Generalsekretär die Vollmacht erteilt, mit verschiedenen Ländern eine Vereinbarung über den Beitritt zu einem solchen Gerichtshof abzuschließen. Die Resolution würde also nicht im Sicherheitsrat verabschiedet, wo Russland ein Vetorecht hat, das es natürlich in Anspruch nehmen würde, sondern per Mehrheitsbeschluss in der UN-Generalversammlung. Das ist auch eine ziemlich schwierige Aufgabe, aber doch eine lösbare. 

    Radovan Karadžić bei einer Anhörung vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag im Juli 2008. 2016 verurteilte das UN-Kriegsverbrechertribunal den ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska  zu 40 Jahren Haft – unter anderem für den Völkermord in Srebrenica mit 8000 Toten im Jahr 1995 / Foto © IMAGO/Xinhua 

    Ilja Schablinski: Eine Mehrheit zu beschaffen ist möglich. Bei dieser Sache kann man auf die Generalversammlung hoffen. 

    Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können 

    Farida Kurbangalejewa: Ist es von Belang, wo die Kriegsverbrecher ihre Strafe verbüßen? Julija Nawalnaja hat im Juli dieses Jahres in einem Posting erklärt, sie sollten nicht in einer geheizten Zelle mit Fernseher in Den Haag sitzen, sondern in einer zwei mal drei Meter großen Zelle wie der, in der Alexej Nawalny eingesperrt war und malträtiert wurde. Es ist ja wirklich so, dass es in europäischen Gefängnissen, behaglicher und komfortabler zugeht. Wer dort einsitzt, muss keine besonderen Unannehmlichkeiten fürchten. Und wir alle haben eine Vorstellung davon, wie es in einem typischen russischen Gefängnis aussieht. 

    Michail Sawwa: Ich habe in einer drei mal drei Meter großen Zelle gesessen. Und zwar nicht allein, es war eine Zweierzelle. Das ist wirklich unangenehm, aber das Schlimmste ist der Freiheitsentzug – dass du hinter Gittern bist und keine eigenen Entscheidungen treffen kannst. Ich bin für eine strenge, aber humane Bestrafung. Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung – und die Urteile werden vermutlich hart ausfallen, sie haben sich schon lebenslange Freiheitsstrafen verdient – so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Diese Aussage dürfte bei vielen Ukrainern auf Unverständnis stoßen. 

    Michail Sawwa: Ja, aber als Menschenrechtsaktivist kann ich in dieser Frage keinen anderen Standpunkt vertreten. Deshalb ist es mir gleichgültig, wer mich wie versteht. Das für mich eine Sache der Überzeugung. 

    Ilja Schablinski: Ich möchte daran erinnern, dass Michail selbst eine schlimme Erfahrung gemacht hat. Er hat das Strafvollzugssystem Russlands unter verschiedensten Bedingungen von innen erlebt. Schon die Beförderung in dem Spezialfahrzeug, mit dem die Angeklagten aus dem Gefängnis ins Gericht gebracht werden, ist eine Tortur. Ich habe mir so einen Transporter nur mal angesehen. Aber Michail hat dort mehrere Stunden verbracht, und zwar nicht nur einmal. Oder in Krasnodar in brütender Hitze in einer Zelle zu sitzen. Ich kenne die auch nur von Besuchen. Michail hingegen „saß auch mal im Kerker“, um mit Brodsky zu sprechen. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Besteht denn die Möglichkeit, dass sie beispielsweise in der Ukraine inhaftiert sein werden? Nach Ansicht vieler Menschen dort wäre das nur logisch, konsequent und gerecht. 

    Ilja Schablinski: Der Internationale Strafgerichtshof entscheidet, in welchem Land die von ihm verurteilten Personen ihre Strafe verbüßen. Das betreffende Land musss den Anerkennungsvertrag für das Römische Statut unterzeichnet haben. Es gibt ein paar Dutzend Länder, die die Bedingungen erfüllen, die Entscheidung liegt beim Strafgerichtshof. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Noch einmal zum Schutz der Rechte der Gefangenen und dem humanen Umgang mit ihnen: Wie soll kontrolliert werden, dass sie nicht gefoltert und geschlagen werden? Genau das passiert im russischen Strafvollzugssystem ja immer wieder. 

    Michail Sawwa: Die Gewähr dafür übernimmt das Land, in dem der Prozess stattfindet. Und die Leute, die von einem künftigen internationalen Sondergerichtshof oder dem bereits aktiven Internationalen Strafgerichtshof verurteilt werden, verbüßen ihre Strafe ja in Ländern, wo es bereits ein stabiles System zur Kontrolle eines humanen Umgangs mit Gefangenen und Untersuchungshäftlingen gibt. Es ist also gewährleistet, dass dort keine Folter stattfindet. Dass sie von sehr vielen Leuten verflucht werden – davor kann sie allerdings niemand beschützen. 

    Ilja Schablinski: In Den Haag selbst gibt es ein Sondergefängnis mit etwa 80 Plätzen, wenn ich mich recht entsinne. Dort sind überall Videokameras installiert. Die ständige Kontrolle gehört zu den Vorkehrungen, die gewährleisten sollen, dass die Untersuchungshäftlinge und Inhaftierten keinen illegalen Maßnahmen ausgesetzt werden. Das Weitere hängt dann davon ab, in welchem Land die Verurteilten einsitzen werden. In Europa wird streng kontrolliert, in Russland herrscht völlige Willkür. Aber es gibt zurzeit wichtigere Fragen als die, wo diese Leute hinkommen werden. 

     

    Farida Kurbangalejewa: In wessen Namen wird die Anklage vorgebracht? Im Namen der Ukraine, also des Landes, das unter der Aggression Russlands gelitten hat, oder im Namen der internationalen Gemeinschaft? 

    Michail Sawwa: Im Namen der internationalen Gemeinschaft. Im Namen der Ukraine sind bereits Urteile wegen Kriegsverbrechen gegen russische Besatzer ergangen, die in Kriegsgefangenschaft gerieten. Solche Verfahren werden in der Ukraine durchgeführt. Aber meist geht es dabei um die Tötung von Zivilpersonen, also Nichtkombattanten. Wenn wir vom Verbrechen des Angriffskriegs selbst sprechen, vom Prozess gegen die oberste Führung Russlands, werden Anklage und Urteil hier fraglos im Namen der internationalen Gemeinschaft ergehen. 

    Ilja Schablinski: Genau. Als der Sondergerichtshof für das ehemalige Jugoslawien eingerichtet wurde, sagte der Vertreter Russlands sogar ausdrücklich, es handle sich um eine Einrichtung ganz neuer Art, durch die nicht im Namen der Sieger über die Verlierer entschieden wird, sondern im Namen der internationalen Gemeinschaft. So ist es, und so soll es auch sein. 

    Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet werden

    Farida Kurbangalejewa: Michail, bitte erzählen Sie ausführlicher davon, wie Kriegsverbrechen dokumentiert werden. Angenommen, ein Gebiet war von Russland besetzt und wurde dann zurückerobert. Fahren dann Menschenrechtsaktivisten dorthin und sammeln Informationen? 

    Michail Sawwa: Das erste Mal, dass ich ein Kriegsverbrechen dokumentiert habe, war am 3. März 2022 auf dem Gebiet des besetzten Teils der Oblast Kyjiw. Ich beobachtete aus einem Abstand von etwa 400 Metern, wie sich eine russische Militärkolonne über die Fernstraße von Schytomyr auf Kyjiw zubewegte, angeführt von einem Schützenpanzer. Zwei Zivilautos, normale PKWs, fuhren von Butscha her auf die Fernstraße. Sie mussten sie überqueren, um ins nächste Dorf zu gelangen, von wo aus eine freie, nicht von den Russen besetzte Straße nach Kyjiw führte. Der Schützenpanzer feuerte einfach aus seiner Kanone auf die Autos; mehrere Schüsse aus einer 30-Millimeter-Kanone. Als die Kolonne vorbeigezogen war, konnten wir aus der Nähe fotografieren. In jedem Auto waren drei Menschen umgekommen, nur noch die Beine waren zu sehen, die Körper waren von den Geschossen zerfetzt worden. Wir erkannten, dass in jedem der Autos ein Mann am Steuer gesessen hatte und eine Frau und ein Kind mit im Wagen gewesen waren. Wir fanden die Autokennzeichen und fotografierten sie, und so konnten wir die Identität eines der beiden Fahrer feststellen. Es war ein Freiwilliger aus Kyjiw, der einfach nur Menschen herausholen und retten wollte. 

    Ein paar Stunden später schob die nächste russische Kolonne die Autos aufs Feld, in den Straßengraben, und walzte sie nieder. Es blieben keine Spuren von dem Verbrechen. Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Krieg nicht lange erhalten bleiben; sie werden im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet. Wenn wir den Vorfall nicht festgehalten hätten, hätte niemand gewusst, wo man diese Leute suchen soll. Es blieb nicht einmal Material für ein genetisches Gutachten. 

    Im Dorf Berwyzja in der Region Kyjiw sichern Ermittler nach dem Abzug der russischen Armee im April 2022 Munitionsreste / Foto © IMAGO/NurPhoto 

    Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher 

    Aber das, wovon Sie gesprochen haben, findet auch statt: Befragungen der Opfer und Zeugen von Verbrechen nach dem Ende der Kampfhandlungen. Diese wichtige Aufgabe muss von zivilgesellschaftlichen Organisationen übernommen werden, weil es dafür nicht genug offizielle Kapazitäten gibt. Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher. Deshalb werden für den ersten Schritt, die Dokumentation der Verbrechen, Experten aus der Zivilgesellschaft benötigt. Es braucht eine geschützte Datenbank, wie wir sie haben, und die offiziellen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden müssen darauf zugreifen können. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Von wie vielen Kriegsverbrechen lässt sich bis jetzt mit Bestimmtheit sprechen? Dass die tatsächliche Zahl höher liegt als die der dokumentierten Verbrechen, ist klar. 

    Michail Sawwa: Etwa 140.000. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Entsetzlich. Um welche Art von Verbrechen handelt es sich im Wesentlichen? 

    Michail Sawwa: Bei einem Großteil handelt es sich um Angriffe auf zivile Infrastruktur. Im Gebiet um Kyjiw habe ich solche Vorgänge im März 2022 praktisch täglich dokumentiert. Dorfnachbarn haben mich angerufen und gesagt: „Hier bei uns hat es ‚gehagelt‘, halte das bitte fest.“ Bei diesen Fällen ist meist niemand zu Schaden gekommen, es wurden nur Gebäude oder Straßen zerstört. Hier muss womöglich nicht in jedem einzelnen Fall ein Strafverfahren eingeleitet werden, die Opfer werden einfach entschädigt. 

    Aber es gibt auch sehr viele Morde, bewusste Morde, bei denen die Opfer zuvor gequält wurden wie in Butscha. Ich wohne in der Nähe und habe die Verbrechen dort dokumentiert. Das war gezielter Mord. Und es gibt auch ziemlich viele sexuelle Gewaltverbrechen. 

    Oft handelt es sich auch um Ökozid, die bewusste Schädigung der Natur. Die Zerstörung des Wasserkraftwerks in Kachowka ist zum Beispiel ein furchtbarer Fall von Ökozid, der für unsere Region ziemlich neu ist. So etwas hat es in Europa lange nicht gegeben. Aber man soll nicht denken, dass es das einzige derartige Verbrechen ist. 

    Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms am 6. Juli 2023 versinken weite Teile der Oblast Cherson in den Fluten / Foto © IMAGO/NurPhoto 

    Farida Kurbangalejewa: Haben Sie eine Erklärung für die Grausamkeit der russischen Armee? Die Erkenntnis, wozu sie fähig ist, hat weltweit Entsetzen ausgelöst. 

    Michail Sawwa: Ja. Ich bin eigentlich Experte für Strafverfolgung aus politischen Motiven. Diese Kompetenz hat sich als sehr nützlich erwiesen, weil ich unter anderem Gutachten zu den Gründen dieser Grausamkeit erstellt habe. In Butscha habe ich etwas aufgezeichnet, was wahrscheinlich überrascht. Die Ortsbewohner sagten mir: „Verstehst du, wir haben diese Leute nicht als Feinde gesehen. Sie unterscheiden sich äußerlich nicht von uns. Sie sprechen auch Russisch.“ Das Gebiet um Kyjiw ist weitgehend russischsprachig. Deshalb fühlte man sich dort nicht in Gefahr. Trotzdem haben die Soldaten gemordet. Natürlich mussten wir eine Erklärung dafür finden. Sie sind durch die Z-Ideologie, die Kriegsideologie des „Russki Mir“ auf das bewusste Morden vorbereitet worden. 

    Die Ukrainer sind dehumanisiert worden, das heißt, sie sind für die Besatzer keine Menschen. Genauso war es übrigens bei den Soldaten der Wehrmacht in Nazideutschland. Erst kam die Dehumanisierung, dann folgten die Morde und anderen Verbrechen. In dem Dörfchen Andrijiwka bei Makariw, ebenfalls in der Kyjiwer Oblast, habe ich Anfang April, nachdem es befreit worden war und von den Häusern auf der Hauptstraße nur noch die Schornsteine standen, noch eine erstaunliche Sache festgehalten. Die russischen Soldaten nahmen den Ortsbewohnern die Autos weg und malten ein großes V darauf. In unserer Region war es kein Z, sondern ein V. Dann fuhren sie die Autos einfach kaputt, setzten sie gegen den Zaun oder versenkten sie im See. Wenn man am Ufer entlangging, war da alle fünf Meter ein versenktes Auto. einfach so. Warum? Sie wollten demonstrieren, dass sie die Oberhand haben. Sie wollten zeigen, was sie können, ihre Überlegenheit beweisen und alles, was ihnen einfiel, war tumbe Gewalt. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Gibt es bei Kriegsverbrechen mildernde oder erschwerende Umstände? 

    Ilja Schablinski: Das werden die gleichen sein wie in den nationalen Strafgesetzbüchern. Ein mildernder Umstand wäre, wenn der Angeklagte den Beweis erbringen kann, dass er körperlich oder psychisch gezwungen wurde, das Verbrechen zu begehen und ihm andernfalls der Tod gedroht hätte. Oder wenn er aktiv an der Aufklärung des Verbrechens mitwirkt. Erschwerende Umstände gibt es viele, was lässt sich dazu im Einzelnen sagen? Die Fälle, von denen Michail gerade erzählt hat, Mord an zwei oder mehr Menschen, Mord in Verbindung mit Vergewaltigung und so weiter. Das ist ein sehr weites Feld. 

    Es ist eine Frage der Zeit, bis die Täter hinter Gitter kommen. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird. Aber es wird passieren

    Farida Kurbangalejewa: Wir alle hier wünschen uns einen Prozess gegen Kriegsverbrecher und reden gerade darüber, wie er zustande kommen könnte. Aber wie realistisch ist es Ihrer Einschätzung nach, zu erwarten, dass die betreffenden Personen vor Gericht gestellt werden und dann wirklich eine Haftstrafe verbüßen? 

    Michail Sawwa: Das ist durchaus realistisch. Es ist eine Frage der Zeit. Ich kann im Moment nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis sie hinter Gitter kommen, niemand kann das. Aber es wird passieren. Denn sehr viele Leute in der Ukraine, und nicht nur dort, sind äußerst entschlossen und motiviert, das zu erreichen. Wir sind bereit, viele andere Fragen hintanzustellen und einige ganz zu vergessen. Aber wir werden beharrlich, konsequent und über lange Zeit darauf hinarbeiten, dass diese Verbrecher bestraft werden. 

    Im Juli 2024 verurteilte ein Schwurgericht in Brüssel den 65-Jährigen Emmanuel Nkunduwimye wegen mehrfachen Mordes und Vergewaltigung, die er 1995 während des Genozids in Ruanda begangen hat – 30 Jahre zuvor / Foto © IMAGO/Belga 

    Ilja Schablinski: Putin wird irgendwann sterben. Er achtet peinlich auf seine Gesundheit, auf Reisen begleitet ihn ein ganzer Tross von Ärzten. Er hat große Angst vor Attentaten. Aber ihn erwartet das gleiche Schicksal wie Stalin und die anderen blutigen Diktatoren. Für sehr viele Menschen in Russland ist Putins Ableben die Voraussetzung dafür, offen sagen zu können, was sie über diesen Krieg denken. Der Krieg ist in Verbindung mit dem bösen, niederträchtigen Willen eines einzigen Menschen zu sehen. Putin hat eine Gruppe von Fanatikern um sich geschart, aber die Initiative geht ganz klar von ihm aus. Für Millionen Russen ist das auch ein Wahnsinn. Sehr viele Menschen in Russland würden diese Schmach gerne tilgen, und insofern stimme ich Michail zu. So sieht es im Moment aus. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Was passiert, wenn Putin stirbt, bevor ein Prozess gegen ihn beginnt – oder Schoigu, Gerassimow oder andere Kriegsverbrecher? Werden sie dann posthum verurteilt? 

    Ilja Schablinski: Laut Artikel 24 der russischen Strafprozessordnung ist ein Strafverfahren gegen eine Person einzustellen, wenn sie verstirbt. Es gibt allerdings bereits Ausnahmen; einige Personen sind entgegen dieser Bestimmung postum verurteilt worden, zum Beispiel Sergej Magnitski. In diesen Fällen ging es dem Staat darum, jemanden, der ihm die Maske vom Gesicht reißen wollte, für nachweislich schuldig zu erklären. Bei verstorbenen Tyrannen, Mördern und Schlächtern ist die politische und moralische Beurteilung entscheidend. Sie ist wichtig für ihre Anhänger oder die bösartigen, blutrünstigen Fanatiker, die diesen Krieg propagieren und sich an jedem Mord berauschen. Das Urteil über Stalin haben ja schließlich seine Weggefährten gefällt, und ähnlich war es beim philippinischen Diktator Ferdinand Marcos. In einigen Ländern sind Diktatoren, die Kriege entfesselt haben, verhaftet worden, etwa in Argentinien und Griechenland. Wie es bei uns kommen wird, wissen wir noch nicht. Putin versucht ja offensichtlich, eine Armee von Leuten zu schaffen, die diese Gehässigkeit noch auf Jahre hinaus in sich tragen. 700.000 Mann werden von der Front heimkehren. Putin setzt darauf, dass sie ihn verteidigen werden, weil dieser Krieg ihr Lebensinhalt ist. Und doch gibt es Erfahrungen, die besagen, dass Diktatoren, die so etwas tun, nicht ungestraft davonkommen. 

    Michail Sawwa: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Putin-Regime anomal ist. Als Gegner dieses Regimes müssen wir uns an die Regeln halten. Einen Toten vor Gericht zu verurteilen wäre auch etwas Anomales. Aber denkbar wäre etwa, dass ein internationaler Gerichtshof die Ideologie des Russki Mir verurteilt. Nicht den Menschen selbst, sondern die Idee, die er in die Welt gesetzt hat. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Putin hat also eine Chance, der Verurteilung durch einen internationalen Gerichtshof zu entgehen? 

    Michail Sawwa: Ja, aber nur wenn er vorher stirbt. 

    Ich fürchte, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen 

     

    Farida Kurbangalejewa: Worum geht es bei einem Prozess gegen Kriegsverbrecher – ob in Den Haag oder vor einem internationalen Sondergerichtshof – in erster Linie? Um die Bestrafung der Kriegsverbrecher als solche? Oder um eine Lehre für künftige Generationen, damit sich so etwas nie mehr wiederholt? Allerdings waren ja beispielsweise die Nürnberger Prozesse auch als Lehre für die Zukunft gedacht, aber offenbar haben nicht alle diese Lektion gelernt. 

    Michail Sawwa: Bei einem solchen Prozess steht immer die Gerechtigkeit im Vordergrund. Es gibt sehr viele Opfer und Hinterbliebene, die wollen, dass die Kriegsverbrecher ihre gerechte Strafe erhalten. Die Gerechtigkeit für die Opfer ist weit wichtiger als die Bestrafung an sich. Und wie Sie ganz richtig gesagt haben, halten diese Prozesse auch Lehren für die Zukunft bereit. Die Nürnberger Prozesse – und ich würde hier auch an die Tokioter Prozesse gegen japanische Kriegsverbrecher erinnern – hatten ungeheuer große Bedeutung. Meiner Einschätzung nach hat sich Japan ein für alle Mal ausgetobt. Genau wie Deutschland. Andere Länder, wo die Vorfahren nicht auf der Anklagebank saßen, haben die Erkenntnisse nicht beherzigt. Aber für sie sind neue Prozesse in Vorbereitung. 

    Ilja Schablinski: Die Ideologie muss verurteilt werden. Bei den Nürnberger Prozessen sind bestimmte Aspekte der NS-Ideologie für unrechtmäßig erklärt worden. Heute muss die Ideologie des imperialen russischen Nationalismus verurteilt werden, der lange Zeit, noch vor zehn Jahren, ganz harmlos wirkte. Jetzt hat er sich als blutrünstiges Monster erwiesen. Das muss festgestellt werden. Ich fürchte überhaupt, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen. Seit dem Amtsantritt des jetzigen Diktators Putin hat der Staat sie dabei unterstützt und ihnen – vor allem in den letzten 15 Jahren – gezielt eingeredet, der russische Imperialismus sei eine Art höhere Existenzform des russischen Staates. Das ist übelster Nationalismus, Hass und Hochmut gegenüber den Nachbarn Russlands. Mit Hochmut und Verachtung fing es an, und während des Krieges kam dann der Hass. Diesem Imperialismus muss ein für alle Mal ein Ende bereitet werden. Um welchen Preis, kann ich nicht sagen. Das Gericht muss dabei seine Aufgabe erfüllen. 

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    Zehn Lehren aus 1000 Tagen Krieg

    Was als traditioneller Krieg begann, ähnelt zunehmend Szenen aus einem Science-Fiction-Film. Einige Übereifrige reden bereits vom vollständigen Verschwinden traditioneller Waffengattungen und dem Ersatz von Soldaten und Panzern durch Roboter. Doch in Wirklichkeit ist dies noch weit entfernt. Das ukrainische Portal Texty.org.ua bilanziert, was sich seit dem Februar 2022 militärisch und technisch verändert hat. 

    Ein Drohnen-Pilot der 57. Motorisierten Brigade bereitet einen Quadrocopter auf den Einsatz in der Regioin Charkiw vor. Durch die FPV-Brille sieht er den Flug, als wäre er an Bord / Foto © IMAGO / ABACAPRESS 

     

    1. Artillerie 

    Die Hauptwaffe zur Bekämpfung des Gegners im taktischen Raum bleibt die Artillerie – sowohl großkalibrige Geschütze als auch Raketenartillerie (wie etwa die amerikanischen Raketenwerfer HIMARS oder die russischen Smersh oder Grad, die eine ballistische Flugbahn haben, aber beim Abschuss durch ein Rohr geleitet werden –  dek). In letzter Zeit berichten einige Experten, dass der Einsatz von Drohnen immer mehr in den Vordergrund rückt, doch bleibt die Artillerie wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg die wichtigste Waffe der Kriegsführung. 

    Nur das Artilleriekaliber hat sich verändert. Während im Ersten Weltkrieg 3-Zoll-Splittergranaten gegen die Infanterie und Geschosse bis zu 300 mm gegen starke Befestigungsanlagen eingesetzt wurden, verursachten im Zweiten Weltkrieg insbesondere 80-120 mm-Mörsergranaten einen erheblichen Teil der Schäden. Heute sind es 152 und 155 mm-Granaten und schwere Mehrfachraketenwerfer. 

    Mit der Integration eines Aufklärungszielradars und moderner Lenkmunition hat das Artillerie-Gegenfeuer eine neue Stufe erreicht. 

    2. Befestigungen 

    Feldbefestigungen erfordern einen erheblichen Aufwand; und während die Russen es sich leisten können, ganze Einheiten zum Graben einzusetzen, haben die ukrainischen Streitkräfte diese Möglichkeit aufgrund des Personalmangels nicht. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sowohl Marinestützpunkte als auch Flugplätze praktisch nicht auf Angriffe vorbereitet sind. Deshalb braucht es eine verstärkte technische Ausstattung der Pioniereinheiten aller Teilstreitkräfte. 

    3. Minen 

    Alle Systeme zur Minenverlegung zeigen eine hohe Effektivität. Gleichzeitig wird deutlich, dass es an technischen Lösungen für die Aufklärung und die Überwindung von Minenfeldern fehlt. 

    4. Drohnen und elektronische Kampfführung 

    Viele Experten prognostizierten den breiten Einsatz von Luft- und Seedrohnen. Während dies eingetreten ist, bleibt die Drohnenabwehr jedoch systematisch zurück. Dieser Umstand zwingt die Streitkräfte dazu, neue taktische Einsatzpläne für verschiedene Kräfte anzuwenden sowie spezialisierte Systeme der elektronischen Kampfführung und Flugabwehr zur Bekämpfung von schwer zu erfassenden und niedrigfliegenden Drohnen zu entwickeln. 

    Der massenhafte Einsatz von FPV-Drohnen sowie KI-gelenkter Loitering-Waffen verändert das Bild auf taktischer Ebene des Gefechtsfelds grundlegend. Die Wirksamkeit des Einsatzes von schwer zu erkennenden taktischen Drohnen in niedriger Flughöhe hat sich als viel höher erwiesen als angenommen. 

    5. Flugabwehr 

    Eine gestaffelte Flugabwehr aus Boden-Luft-Raketensystemen hat sich als besonders effektiv erwiesen, um den Einsatz der gegnerischen Luftwaffe über und hinter der Frontlinie zu begrenzen. Dies wiederum führte zu einer raschen Anpassung aufseiten der Russen, welche konventionelle Bomben mit speziellen Modulen zu Gleitbomben umrüsteten.  

    Eigenbeschuss durch Boden-Luft-Raketen mit Zielsuchsensoren stellt bei den ukrainischen Streitkräften ein ernsthaftes Problem dar. Bis zu 30 Prozent der Verluste an Fluggeräten entfallen auf Friendly Fire. Dies erfordert neue Lösungen für Freund-Feind-Erkennungssysteme und die Einleitung der Selbstzerstörung von Raketen im Flug bei Anvisierung eigener Kräfte. 

    Generell hat der Krieg gezeigt, dass Marschflugkörper und ballistische Raketen das wirksamste Mittel sind, um die gegnerische Flugabwehr zu überwinden und Ziele im rückwärtigen Raum zu bekämpfen. Diese Fähigkeiten reichen jedoch nicht aus, um Waffenfabriken und die Hauptverkehrsstränge vollständig zu zerstören. 

    Daher ist damit zu rechnen, dass Raketen entweder mit höherer Sprengladung und höherer Geschwindigkeit entwickelt werden oder der Gegner bis zu zehn Raketen gleichzeitig auf ein Ziel abschießt, so wie zum Beispiel bei der Zerstörung des Wärmekraftwerks Trypillja

    Die von der Ukraine eingesetzten Anti-Schiffs-Raketen haben sich als effektiv erwiesen, um die Flugabwehr von Schiffen durch Einzel- und Doppelschläge zu überwinden, was beispielsweise zur Zerstörung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, des Kreuzers Moskwa, führte. 

    Deshalb müssen die russischen Streitkräfte neue Lösungen für den Schutz von Kriegsschiffen und vor allem ihrer Liegeplätze finden, denn Angriffe ukrainischer Seedrohnen haben die russische Flotte bereits gezwungen, nach Noworossisk zu fliehen. Bislang versuchen die Russen Helikopter zur Abwehr einzusetzen, doch das Aufkommen von Seedrohnen mit Flugabwehrraketen wird dieses Problem [aus Sicht der Ukrainer] lösen. 

    6. Gepanzerte Fahrzeuge 

    Der Krieg hat gezeigt, wie anfällig gepanzerte Fahrzeuge für Angriffe aus der Luft sind. Mehr als 90 Prozent der Zerstörungen von gepanzerten Fahrzeugen werden heute durch einfache Hohlladungsmunition verursacht, die von Drohnen abgeworfen wird, beziehungsweise von Kamikaze-Dohnen, die sich auf die Fahrzeuge stürzen. 

    Daher benötigen alle Kampf- und Schützenpanzer sowie gepanzerten Mannschaftstransportwagen Anpassungen, um das Schutzniveau der Panzerung auf der Oberseite zu erhöhen, sowie Ausrüstung mit Systemen der elektronischen Kampfführung zum Schutz vor Drohnen. 

    7. Drohnen-Luftkämpfe 

    Er häufen sich Fälle, in denen russische Drohnen von ukrainischen Kampfdrohnen abgefangen werden. Das erinnert an den Ersten Weltkrieg, als die Hauptaufgabe von Jagdflugzeugen darin bestand, feindliche Aufklärungsflugzeuge zu vernichten. In naher Zukunft ist mit echten Luftkämpfen zwischen Drohnen zu rechnen. 

    8. Sturmangriffe auf Städte 

    Während der Angriffe auf Städte bleibt die im Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickelte Praxis der Sturmbataillone relevant. Nur die Taktik ändert sich: Eindringen und Konzentrierung von Personal an den Angriffslinien oder Angriffe mit hochmobilen Trupps. Solche Gruppen zu bekämpfen ist schwierig, doch können die ukrainischen Streitkräfte Erfolge verzeichnen. 

    9. Leichte Fahrzeuge 

    Es besteht dringender Bedarf an der Entwicklung und Bereitstellung von leichten Fahrzeugen wie Quads oder Elektromotorrädern zur Unterstützung von Aufklärungseinheiten und Truppen im rückwärtigen Raum. Auch bestehen weiter systemische Probleme bei der Evakuierung von Verwundeten vom Gefechtsfeld durch spezialisierte Einheiten mit entsprechender Ausrüstung. Zwar gibt es Einsätze von Bodendrohnen, doch sind diese sehr selten. 

    10. Satelliten 

    Die Mittel zur Beschaffung von Aufklärungsinformationen haben sich stark verändert. So setzen die ukrainischen Streitkräfte äußerst effektiv verschiedene Elemente der Weltraumaufklärung und Satellitenkommunikation ein. Um dem etwas entgegenzusetzen, müssen die Russen ihrerseits Satellitenkommunikationskanäle stören und mehr eigene Satelliten ins All bringen, womit sie sich allerdings schwertun. Die ukrainischen Streitkräfte erhalten über ihre Verbündeten Informationen in Echtzeit, was ihnen erlaubt, kurzfristig auf Veränderungen der Lage zu reagieren und den Besatzern das Leben deutlich zu erschweren. 

  • Bilder vom Krieg #24

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nicole Tung

    Ein verwundeter ukrainischer Soldat wird bei Kurachowe in ein Frontlazarett eingeliefert / Foto © Nicole Tung 

    dekoder: Die Verteidiger der Ukraine sind im Osten des Landes seit Wochen stark unter Druck. Sie waren Ende September im Frontgebiet zwischen Pokrowsk und Kurachowe. Was haben Sie da erlebt? 

    Nicole Tung: Das Feldlazarett in Kurachowe, in dem ich dieses Foto aufgenommen habe, versorgte einen 90 Kilometer langen Frontabschnitt. Das ist ein riesiges Gebiet. Als der verwundete Soldat auf einer Trage eingeliefert wurde, wand er sich vor Schmerzen. Die Sanitäter hatten ihm diese Plastikspritze zwischen die Zähne gesteckt, damit er da draufbeißen konnte. Unter anderen Umständen hätte die Wunde an seinem linken Bein gut behandelt werden können. Aber das Bein war oberhalb des Knies mit einem Tourniquet abgebunden, um die Blutung zu stillen. Wegen des starken Beschusses konnten die Sanitäter ihn nicht gleich aus der Gefechtszone rausholen. Also lag er einen halben Tag da. Als sie ihn eingeliefert haben war das Bein schon lila. Er flehte immer wieder: „Bitte rettet mein Bein!“.  

    Welchen Eindruck haben sie insgesamt von der Situation an der Front? 

    Die Lage ist sehr ernst. Die Ukrainer verlieren stetig an Boden. Als ich den Versorgungspunkt zum ersten Mal besuchte, befand er sich im zweiten Stockwerk eines Gebäudes in Kurachowe. Beim nächsten Besuch war er in den ersten Stock verlegt worden, weil bereits Gleitbomben in die Stadt flogen. Als ich dieses Foto aufnahm, war die Front nur noch zehn Kilometer oder weniger entfernt. Erkundungsdrohnen kreisten über der Stadt und wir konnten hören, wie die Ukrainer Mörser abfeuerten. Zwei Wochen später musste das Lazarett in einen anderen Ort verlegt werden, weiter weg von der Front.

    Es gab unterschiedliche Phasen in diesem Krieg: Auf den ersten Schock nach dem Überfall folgte eine Euphorie, als die Russen zurückgeschlagen werden konnten. Wie ist die Stimmung in der Truppe zur Zeit? 

    Ich glaube, sie sind ziemlich verzweifelt, weil kein baldiges Ende des Krieges absehbar ist. Die Ukrainer sind sehr innovativ, zum Beispiel beim Einsatz von Drohnen. Aber sie können einfach nicht dieselben Ressourcen mobilisieren, wie Russland sie in die Schlacht wirft. Der Staat bemüht sich verstärkt darum, mehr Männer einzuziehen. Aber sie haben momentan einfach nicht genug Leute. Und wenn die Russen rasch vorrücken, wirkt sich das auch auf die Moral der ukrainischen Soldaten aus. Selbst wenn es in nächster Zeit Verhandlungen geben sollte, könnte das bedeuten, dass so viele Kämpfer vielleicht vergeblich gestorben sind und Russland dennoch große Territorien einnimmt. Eine verbreitete Klage lautet: „Unsere Unterstützer geben uns gerade genug Waffen, damit wir nicht verlieren. Aber nicht genug, um diesen Krieg zu gewinnen.“ 

    Zu Beginn des Krieges hatten sich viele Männer und auch Frauen freiwillig gemeldet, um ihr Land zu verteidigen. Jetzt werden Männer auch gegen ihren Willen eingezogen. Wie wirkt sich das auf die Motivation aus? 

    Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Wehrpflichtige heute nur einen oder anderthalb Monate lang ausgebildet werden, bevor sie in den Einsatz müssen. Einige werden Truppenteilen zugewiesen, die russische Stellungen stürmen müssen, das sind die gefährlichsten Einsätze. Ich war in letzter Zeit bei vielen Beerdigungen von Einberufenen. Die waren oft zwischen 40 und 50 Jahre alt, als sie nach vier Wochen Ausbildung an die Front geschickt wurden. Man kann sich denken, dass sich diese Situation auch auf die erfahreneren Soldaten auswirkt, die vielleicht schon seit 2014 kämpfen, wenn sie sehen, wie schlecht die Soldaten ausgebildet sind, die sie unterstützen sollen. 

    Sie sind eine erfahrene Reporterin und haben schon aus vielen Kriegen berichtet, unter anderem aus Syrien. Was ist das Besondere am Krieg in der Ukraine? 

    Zunächst handelt es sich aus historischer Sicht um den größten Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir leben im Jahr 2024 und in Europa sitzen Menschen in Schützengräben. Zum anderen ist da die Technik: Wir sehen Artilleriegeschütze aus der Sowjetzeit und gleichzeitig Drohnen, die erst am Morgen zusammengebaut wurden. Und die Soldaten, die sie steuern, gucken durch diese VR-Brillen auf das Schlachtfeld. Dieser Kontrast ist krass. Und schließlich ist da die menschliche Seite: Die Ukrainer sind sehr widerstandsfähig. Sie halten ihr Alltagsleben unter allen Umständen aufrecht. Aber auch das wird langsam zermürbt. Einst lebendige Orte wurden ausgelöscht. In jedem Krieg gibt es Tod und Zerstörung. Aber dieser Krieg fühlt sich wirklich an wie ein Angriff auf die ukrainische Identität und ihre Geschichte. 

     

    Foto: Nicole Tung @nicoletung 
    Bildredaktion: Andy Heller @frau.heller 
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.11.2024

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