„Diejenigen, die sehen, was passiert, können keine Rechtfertigung für diesen Angriff auf die Ukraine finden“ – so wurde ein Vertreter der russischen Delegation bei einem UN-Klimatreffen am 27. Februar zitiert. Oleg Anissimow sagte demnach in einer nicht-öffentlichen Online-Runde, er wolle „im Namen aller Russen für die Unfähigkeit, diesen Konflikt zu verhindern, um Entschuldigung bitten“, wie nach der Abschlusssitzung der 195 Mitgliedsstaaten des Weltklimarates berichtet wurde. Ein westlicher Journalist hatte Anissimows Worte öffentlich gemacht – die Nachricht ging um die Welt. Zuvor hatte seine ukrainische Kollegin Swetlana Krakowskaja in einer leidenschaftlichen Rede den Stopp „dieses wahnwitzigen Krieges“ gefordert.
Wer sich öffentlich gegen Russlands Krieg in der Ukraine positioniert – oder einfach nur den Krieg als Krieg bezeichnet –, der begibt sich in Russland derzeit in Gefahr und muss mit Konsequenzen rechnen: Laut OWD-Info sind bei russlandweiten Anti-Kriegs-Protesten seit dem 24. Februar mehr als 7500 Menschen festgenommen worden. Und doch sind es nicht nur durch ihre Bekanntheit „geschützte“ Personen des öffentlichen Lebens wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprechen, sondern zunehmend auch Fach- und Berufsverbände, sowie Privatpersonen auf ihren Social-Media-Kanälen. Und auch in den Hinterzimmern der Macht herrscht keineswegs allgemeine Kriegsbegeisterung. Zumindest legt das ein kürzlich erschienener Artikel der Journalistin Farida Rustamowa (zuvor bei Doshd und Meduza) nahe, in dem sich ranghohe Staatsbeamte hinter vorgehaltener Hand sehr kritisch und besorgt über die Lage äußern. Einige Oligarchen ließen auch öffentlich Kritik durchblicken, äußerten sich zum Teil sogar deutlich, darunter die Milliardäre Oleg Deripaska und Oleg Tinkow.
Oleg Anissimow sorgte mit seinen einfachen Worten und seiner Entschuldigung gegenüber der Ukraine für weltweite Aufmerksamkeit und Hoffnung. In einem Protokoll auf Meduza spricht er über die Geschichte hinter der Nachricht, über Schuld, Angst und Verantwortung.
Es war eine Klausur von Klimaexperten. Die gesamte interne Atmosphäre, alles, was wir dort besprechen, unterliegt absolutem Stillschweigen. Es gab einen Leak [über eine Diskussion des Kriegs], so was kommt vor. Aber damit Sie verstehen: Bei nicht-öffentlichen Veranstaltungen werden Dinge gesagt, die nicht nach außen dringen sollen.
Zweitens: Ich bin nicht der Leiter der russischen Delegation. Das hat der französische Journalist [berichtet hat die Nachrichtenagentur AFP – dek] erfunden, der als erster von meinem Redebeitrag berichtet hat. Der hatte irgendwo irgendwas gehört, was ihm dann irgendjemand bestätigt hat. Ein bisschen paparazzimäßig.
Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt. Wir hatten zwei Wochen lang intensiv gearbeitet, es tagte der UNO-Sicherheitsrat. Das ist ja eine ziemlich große Sache: der Bericht der UN-Klimaexpertengruppe. Alle Länder sind da, und die Vertreter der Delegationen verhandeln dort Zeile für Zeile die Kurzfassung für die Politik. Das war unsere Aufgabe, sie ist von enormer Bedeutung – bisweilen haben wir um Positionen, die für jedes Land wichtig sind, heftig gestritten.
Im Rahmen der UNO sprechen die Delegationen der jeweiligen Länder in ihrer Landessprache, auch die russische Delegation führt ihre offizielle Position auf Russisch aus – das habe ich auch getan. Momentan findet diese Konferenz nicht im Präsenzmodus statt, sondern über Zoom, und man kann nicht auf den Flur hinausgehen und mit jemandem ein paar Worte wechseln. Ich nehme seit 1995 an diesen Konferenzen teil, ich habe da viele Kollegen und Freunde aus der ganzen Welt.
Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt
Als mit der Ukraine passierte, was mit der Ukraine passiert ist, traten natürlich alle Delegationen mit irgendeinem Statement zur Unterstützung der Ukraine auf. Das tat ich zu dem Zeitpunkt nicht. Habe ich einfach nicht gemacht. Habe geschwiegen. Na ja, weil ich – ich weiß auch nicht, wahrscheinlich war ich zu kleinmütig.
Es ist auch so, dass am Dienstag [22. Februar] meine Mutter gestorben ist, sie war 97. Und am Donnerstag [24. Februar] wurde das alles diskutiert. Sie verstehen bestimmt, dass ich, obwohl ich meine Arbeit fortsetzte, mit meiner Aufmerksamkeit auch woanders war. Vielleicht habe ich es einfach überhört und nicht ganz mitbekommen, als sich alle geäußert haben. Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt – ich war ja dort nicht der einzige Experte aus Russland.
Wir setzten unsere Arbeit fort. Heute [27. Februar – dek] war der letzte Tag. Wissen Sie, normalerweise war bei diesen Sitzungen immer auch jemand leger gekleidet: Die Teilnehmer leben in verschiedenen Zeitzonen, bei den einen ist Tag, bei den anderen Nacht. Doch heute trugen die meisten Anzug und Krawatte. Und heute war auch Swetlana Krakowskaja wieder im Zoom – sie ist Mitglied der ukrainischen Delegation. Wir kennen uns schon lange, sie war bei unseren Antarktis-Expeditionen dabei und ist eine ziemlich bekannte Wissenschaftlerin. Sie machte eine Erklärung vornehmlich wissenschaftlicher Natur – was für ein großes Stück Arbeit wir alle geleistet hätten und dass die Ukraine aus bekannten Gründen in den letzten Tagen nicht an der Konferenz habe teilnehmen können – es kein Internet gebe und so weiter und so fort. Und sie hoffe, dass diese Arbeit einen Beitrag zum Frieden leiste.
Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören
Dann begann sie, über russische Themen zu sprechen – über den Krieg und all das. Dann verstummte sie, es trat eine Pause ein, das war jetzt der nicht-offizielle Teil. Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören.
Ich habe dann folgendes getan: Ich sagte den nächsten Satz auf Englisch. Gearbeitet hatten wir die ganze Zeit auf Russisch – wenn du als offizielle Person auftrittst, wirst du gedolmetscht. Ich sagte auf Englisch, dass ich jetzt nicht als Mitglied der russischen Delegation auftrete, sondern als Mensch, der in Russland lebt und sein Mitgefühl mit der Ukraine zum Ausdruck bringt sowie sein Bedauern, dass wir diesen Angriff nicht verhindern konnten.
Außerdem habe ich gesagt: „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes. Ich schäme mich, dass wir es nicht geschafft haben, in unserem Land zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen, die auf Entscheidungen des Präsidenten und der Regierung Einfluss nehmen könnten. Dass wir einfach vor die Tatsache gestellt wurden – genauso wie die Bevölkerung der Ukraine. Wir wurden vor die Tatsache gestellt, dass wir, die Bürger Russlands, in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden.“
Das ist alles, was ich gesagt habe. Ich wiederhole, in einer nicht-öffentlichen Sitzung. Es war davon auszugehen, dass das in diesem Plenum verbleibt, aber irgendjemand hat etwas nach außen dringen lassen, dann ist es leicht verzerrt in die Medien gelangt, und schon ging es um die ganze Welt. Jetzt sehe ich es.
Verstehen Sie, ich bin jetzt in den Medien bekannt, dabei bin ich einfach ein Wissenschaftler, der als russischer Bürger seine Meinung gesagt hat. Die sehr simpel ist: Erstens, nein zum Krieg. Und zweitens: Ich schäme mich für mich selbst und für meine Mitbürger dafür, dass wir in unserem Land keine Gesellschaft aufbauen konnten, die uns ein friedliches Leben ermöglichen würde – uns und unseren Nachbarländern.
Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt
Ich befürchte, dass meine Aussage meine Karriere beeinträchtigen wird. Natürlich befürchte ich das. Aber hören Sie mir zu, ich bin 64, in zwei Wochen 65. Ich lebe in Russland und will nicht flüchten, meine Heimat verlassen, nur weil ich etwas befürchte. Aus Sicht eines Bürgers des Landes habe ich nichts gesagt, was diesem Land Schande bringen würde. Ja, ich habe nichts Derartiges gesagt. Und alle meine Befürchtungen sind nichts im Vergleich zu der Zufriedenheit, die ich verspürt habe, als ich meinen Standpunkt geäußert habe. Wissen Sie, es gelingt einem nicht jeden Tag, von allen Ländern der UNO gehört zu werden.
Vielleicht war das nicht auf besonders hohem politischen Niveau, vielleicht kann man mich mit Greta Thunberg auf eine Stufe stellen, die ja auch vor der UNO gesprochen hat.
Man kann vielleicht auch sagen: „Der spinnt.“ Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt.
Ich gebe Ihnen einen Rat: Machen Sie keine Symbolfigur aus mir. Hören Sie, ich bin nicht der einzige im Land. Manche sprechen es aus, viele schweigen. Wer spricht, wird nicht immer gehört – weil es kein Sprachrohr gibt. Das war einfach eine Situation, in der ich eine Plattform hatte und somit ein Sprachrohr. Aber im ganzen Land gibt es solche Äußerungen, die davon zeugen, dass nicht alle Russen mit dem, was passiert, einverstanden sind. Dass das nicht alle unterstützen. Das ist auch ganz logisch – es wäre seltsam, wenn es anders wäre, dann würde ich meinen Respekt vor Russland verlieren.
Es ist sehr einfach, aus mir Greta Thunberg zu machen. Sie wissen ja, wie geschickt der Staat manipuliert: „Der Mann ist nicht ganz bei Trost, bei allem Respekt für seine Verdienste, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste, außerdem ist seine Mutter gerade gestorben.“ Dann sehe ich aus wie ein Psycho. Dabei ist alles ganz anders.
Es ist Tag sechs im russischen Krieg gegen die Ukraine. Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es seit Donnerstag mehr als 100 getötete Zivilisten und mehr als 300 Verletzte in der Ukraine; mehr als 660.000 Menschen sind auf der Flucht. Die ukrainische Regierung geht von mehreren hundert Toten aus.
Von russischen Medien angesprochen auf die UN-Angaben zu Opfern unter der Zivilbevölkerung, hält Kreml-Sprecher Dmitri Peskow weiter an der Darstellung fest, wonach lediglich militärische Anlagen das Ziel seien. Statt von einem Krieg spricht er, wie es das offizielle Russland seit Beginn der Angriffe insgesamt tut, von einer „militärischen Spezialoperation“, von so genannter „Demilitarisierung“ und „Entnazifizerung“ der Ukraine. Die verbliebenen unabhängigen Medien innerhalb Russlands haben den Krieg dagegen von Beginn an Krieg genannt – und berichten außerdem von ersten Opfern auf der russischen Seite, die am Sonntag auch erstmals das russische Verteidigungsministerium bekannt gab (ohne allerdings Zahlen zu nennen). Bei der The New Timeswurde ein solcher Artikel nach Anordnung durch den russischen Generalstaatsanwalt blockiert, den Medienberichten zufolge außerdem zahlreiche ukrainische Medien und diese gleich vollständig. Verschiedene Medien, darunter die renommierte Novaya Gazeta, der Telekanal Doshd und das Portal Mediazona, berichten, Anordnungen der Medienaufsicht erhalten zu haben. Ihnen wurde mitgeteilt, angeblich „unzuverlässige Information“ zu verbreiten. Welche Begriffe die Behörde darunter versteht, ließ sie ebenfalls offiziell wissen: „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“. Auch die Nutzer sozialer Netzwerke berichten gegenüber russischen Journalisten von Problemen: Demnach laufen Twitter, Facebook und Instagram langsamer.
Der Druck, im Internet blockiert zu werden, wird einigen Redaktionen mittlerweile zu groß: Die Novaya Gazeta etwa schrieb am Dienstag (heute, 1. März) in einer Hausmitteilung, nach Aufforderung durch die Generalstaatsanwalt drohten „gigantische Strafen“ bis hin zu „der Aussicht einer Liquidierung der Medien“. Deshalb habe man nach Abstimmung im Redaktionsausschuss mehrheitlich entschieden, „unter den Bedingungen der Kriegszensur“ weiterzuarbeiten. In den Artikeln, die online zu sehen sind, wird nun getitelt: „Russland greift die Ukraine an“. Nutzer reagierten überwiegend mit Verständnis: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Auch bei Echo Moskwy werden Hörer und Nutzer von Chefredakteur Alexej Wenediktow in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Sender aus diesen Gründen – anders als in ersten Meldungen – von „Spezialoperation“ spreche.
Update 1. März, 19.30 Uhr:Echo Moskwy hat auf seinem Telegram-Kanal mitgeteilt, dass die Radiostation abgeschaltet worden sei. Außerdem hat die Medienaufsicht angeordnet, Echo sowie Doshd im Internet zu sperren; laut Medienberichten setzen die Provider das bereits um.
Update, 2. März: Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko auf Telegram mit, dass er sowie weitere Mitarbeiter das Land verlassen. Ihre „persönliche Sicherheit ist bedroht”.
Lew Rubinstein, russischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist und früherer Dissident, schreibt kurz nach dem Angriff über den Kampf der Begriffe und einen Krieg der Sprache – der für ihn lange Zeit vor diesem echten Krieg begonnen hat.
Wörter der Nachkriegszeit wie „Nazismus“ und „Faschismus“ haben im sowjetischen und postsowjetischen Propaganda-Diskurs allmählich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie entbehren heute jeglichen semantischen Inhalts. Sie, diese Wörter, werden als reine Instrumente verwendet, als vermeintlich starke und überzeugende rhetorische Figuren.
In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden. Der russische Präsident sagt, die „Aufgabe, die mit der militärischen Operation verfolgt“ werde, sei die „Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine“. Wenn man das in irgendeine Sprache übersetzt, deren Sprecher nicht den Kontakt zur Realität verloren haben, führt das bei einem normalen modernen und zivilisierten Menschen unmittelbar zu dem, was in der Psychologie kognitive Dissonanz genannt wird: Er zweifelt sofort entweder an der psychischen Gesundheit der Person, die das sagt, oder an seiner eigenen.
In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden.
Wie soll man aus Sicht der klassischen Logik verstehen, dass „das friedliebende Russland die faschistische Ukraine“ angegriffen hat, zwecks ihrer „Demilitarisierung“ und „zum Schutz der eigenen Sicherheit“? Das lässt sich gar nicht verstehen, wenn man nicht bedenkt, dass im politischen Wörterbuch des modernen Russland Wörter überhaupt nicht das bedeuten, was sie in akademischen Wörterbüchern bedeuten. Oft haben sie sogar eine komplett gegensätzliche Bedeutung.
Unsere Geschichte unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass sich die wichtigsten Ereignisse im Raum der Sprache abspielen – der beinahe einzigen Realität im irgendwie sonst nicht so realen Leben Russlands.
Und immer wiederholt sich alles. Das heißt, nein, es wiederholt sich nicht, es reimt sich. Reim ist ja keine Wiederholung, Reim ist Zusammenklang. Deswegen wiederholt sich nie etwas wortwörtlich.
So haben wir zum Beispiel vor Kurzem noch Angst davor gehabt, das Wort „Krieg“ in den Mund zunehmen.
Das heißt, es wurde natürlich in den Mund genommen. Aber es gab nur den einen „Krieg“, den Zweiten Weltkrieg. Andere Kriege gab es nicht. Bis vor ein paar Tagen.
Es gab im Übrigen noch einen Krieg, der nie erklärt worden war und immer währte: Das russische Volk war immer geteilt in zwei ungleiche Teile. Der eine – der kleinere – bezeichnete hartnäckig Gemeinheiten als Gemeinheiten, Feigheit als Feigheit, Dummheit als Dummheit und Faschismus als Faschismus. Der andere, der größere, war anfällig für die offizielle Rhetorik und bezeichnete Gemeinheiten als Patriotismus, Feigheit als die Notwendigkeit, den Umständen Rechnung zu tragen, eine offene Aggression als Schutz der eigenen Sicherheit, und das Streben von Völkern und Gesellschaften nach Freiheit und Offenheit als Nazismus.
Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden.
Dieser Krieg, dieser Krieg der Sprache, dieser Krieg um die Bedeutung von Wörtern und Begriffen, war und bleibt der zentrale und endlose Bürgerkrieg.
Und auch der Krieg, der schon den zweiten Tag [der Text erschien am 25. Februar 2022 – dek] vor den Augen der ganzen Welt in der Ukraine entbrennt, wird ebenfalls nicht Krieg genannt. Er heißt „Militäroperation“.
Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden. Wie? Irgendwie, aber unbedingt. Und darüber müssen wir uns unbedingt Gedanken machen, wir alle gemeinsam und jeder für sich.
„Ich, eine Bürgerin der Republik Belarus, bin gegen die Beteiligung von Belarus beim russischen Militärangriff auf die Ukraine. Ich fordere den Abzug der russischen Truppen aus Belarus. Ich möchte, dass mein Land ein Territorium der Sicherheit ist und sich nicht an Aggressionen beteiligt.“ Dies schrieb die belarussische Lyrikerin Julia Cimafiejeva am gestrigen Sonntag wie viele andere auf Facebook. Es entwickelte sich ein Flashmob, dem sich viele Belarussen anschlossen, um auch gegenüber den Ukrainern auszudrücken, was sie von einem möglichen Einstieg Alexander Lukaschenkos mit eigenen Truppen in Russlands Krieg halten. Am Wochenende hatte es Hinweise gegeben, dass die belarussische Armee anscheinend in der Phase der Mobilmachung sei. Auch zwei Marschflugkörper waren von Belarus in Richtung Ukraine abgefeuert worden, allerdings, wie Lukaschenko selbst mitteilte, von der russischen Armee. Dennoch ist Lukaschenko bereits tief in den Krieg verstrickt. Im Land stehen mehr als 30.000 russische Soldaten und entsprechendes Gerät. Anscheinend werden verwundete russische Soldaten auch in belarussischen Krankenhäusern versorgt, zudem unterstützen die belarussischen Machthaber den Kreml hinsichtlich der Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee. Dass Lukaschenko aktiv in den Krieg eingreifen könnte, ist nach wie vor nicht ausgeschlossen. Es gibt Berichte von Truppensammlungen in der Nähe der west-belarussischen Stadt Brest.
In dieser aufgeheizten Atmosphäre fand am gestrigen Sonntag das umstrittene Referendum zur Verfassungsreform statt, dessen vorläufiges Ergebnis in den frühen Morgenstunden am Montag verkündet wurde. Demnach hätten 65 Prozent der 6,8 Millionen Wahlberechtigten für die Reformvorschläge gestimmt, die sich insgesamt so zusammenfassen lassen: Es soll gewisse Machtverschiebungen auf andere staatliche Organe wie die Allbelarussische Volksversammlung geben, allerdings bleibt die zentrale Führung beim Präsidenten, also bei Lukaschenko. Der kann sich ab der nächsten Wahl, die für 2025 angekündigt ist, noch für zwei Legislaturperioden um das Amt bewerben. Was bedeutet, dass er theoretisch bis 2035 regieren kann. Eine zentrale Neuerung, die die Reform vorsieht, ist die Aufhebung des militärisch neutralen Status von Belarus, der in der Verfassung von 1994 festgeschrieben ist. Damit können ab sofort auch längerfristig russische Truppen in dem Nachbarland stationiert werden, sowie auch russische Atomwaffen, die Wladimir Putin am Sonntag in Alarmbereitschaft versetzt hat.
Das Referendum sowie Lukaschenkos Rolle im Krieg wird von der belarussischen Opposition massiv kritisiert. „Das ist ein Hochverrat am Staat, ein Hochverrat am Volk“, urteilte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Vilnius. „Die Hauptbedrohung unserer Souveränität ist Alexander Lukaschenko“, sagte der im Exil befindliche Oppositionspolitiker Pawel Latuschko. Auch an der Echtheit des Wahlergebnisses gibt es von vielen Seiten Zweifel, da der Auszählungsprozess noch intransparenter als sonst gestaltet wurde. Die Namen der Wahlkommissionsmitglieder wurden geheim gehalten, Exit-Polls waren untersagt und in der in Belarus üblichen Vorwahl, die am vergangenen Dienstag begonnen hatte, gibt es traditionell diverse Manipulationsmöglichkeiten. Die Opposition hatte dazu aufgerufen, die Stimmzettel mit zwei Kreuzen ungültig zu machen. Viele Belarussen nutzten die Stimmzettel auch, um ihren Protest gegen den Krieg zum Ausdruck zu bringen. „Nein zum Krieg“ konnte man auf Zetteln lesen, die abfotografiert durch die sozialen Medien gingen. Zahlreiche Belarussen nahmen den Wahltag trotz der äußerst repressiven Atmosphäre zum Anlass, auf die Straße zu gehen. Hunderte versammelten sich vor allem in Minsk, in Hinterhöfen, auf Plätzen; reihten sich in Menschenketten auf, fuhren hupend durch die Stadt oder skandierten vor dem Verteidigungsministerium Losungen für die Ukraine und gegen den Krieg. An der ukrainischen Botschaft in Minsk beten die Menschen, bringen Blumen und andere Zeichen der Anteilnahme. Die Proteste wurden von der Staatsmacht auseinandergetrieben, rund 800 Personen festgenommen.
Minsk wurde von der russischen Führung am Wochenende, wie schon ab 2014, für angekündigte Friedensverhandlungen mit der Ukraine ins Spiel gebracht. Eine russische Delegation war dafür bereits am Sonntag in der belarussischen Hauptstadt angekommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky lehnt es allerdings ab, nach Belarus zu reisen. Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen. Seit Montagmittag verhandeln die Delegationen aus der Ukraine und aus Russland, an der die beiden Staatsoberhäupter allerdings nicht teilnehmen, an der belarussisch-ukrainischen Grenze.
Der belarussische Politanalytiker Waleri Karbalewitsch diskutiert in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium SN Plus die Rolle Lukaschenkos im russischen Krieg gegen die Ukraine und analysiert, welche Folgen möglich wären.
Belarus – das Aufmarschgelände für den Angriff
Lukaschenko hat wiederholt erklärt, dass von unserem Staatsgebiet aus nie eine militärische Gefahr für die Ukraine ausgehen würde, dass Belarus an keinem Krieg teilnehmen würde, solange es nicht angegriffen wird. Am 22. Februar sagte Lukaschenko bei einem Festakt zum [bevorstehenden – dek] Tag des Vaterlandsverteidigers: „Denken Sie immer daran: Die Staatsführung und ich als Präsident werden immer alles dafür tun, damit Belarus eine friedliche kleine Insel auf diesem verrückt gewordenen Planeten bleibt.“
Fast wie eine Verhöhnung wurde im Entwurf der neuen Verfassung folgender Punkt ergänzt: „Die Republik Belarus schließt eine militärische Aggression von seinem Gebiet gegenüber anderen Staaten aus.“
All diese hehren Wünsche werden durch den militärischen Angriff auf die Ukraine vom belarussischen Staatsgebiet aus durchkreuzt – selbst wenn die belarussischen Streitkräfte nicht selbst daran teilnehmen.
Lukaschenko hat erklärt: „Der an unserer belarussischen Südgrenze verbliebene Teil der russischen Truppen wurde – und das sage ich offen und ehrlich – natürlich vom russischen Generalstab mit hoher Wahrscheinlichkeit – das weiß ich aber nur aus den Medien – in dieser Operation eingesetzt.“
Also fragen die russischen Generäle Lukaschenko nicht nur nicht um Erlaubnis, belarussisches Gebiet in dem Krieg zu nutzen, sondern informieren ihn nicht mal darüber. Die Information muss er den Medien entnehmen. So ist Belarus jetzt zu einem Durchgangshof für die russischen Truppen geworden.
Übrigens: Laut einer Definition der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1974 gilt das Bereitstellen des Hoheitsgebiets für eine Aggression gegenüber einem Drittland ebenfalls als Aggression.
Spannungen, aber kein Krieg
Bis zum Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine, hatte das offizielle Minsk rhetorisch eine radikalere und aggressivere Position zum Westen. Das Wort Schurken erklang gegenüber Politikern der Nachbarstaaten aus Lukaschenkos Munde wie ein tägliches Pflicht-Zitat. Putin und seine Umgebung hatten sich das nicht erlaubt und die Opponenten mit unverhohlenem Zynismus „unsere westlichen Partner“ genannt. Lukaschenko hatte somit das laut gesagt, was der russische Leader aus welchen Gründen auch immer nicht aussprechen wollte, und dadurch in gewisser Hinsicht als Pressesprecher des russischen Präsidenten fungiert.
Außerdem redete das offizielle Minsk nicht nur, sondern tat auch viel dafür, um den westlichen Nachbarn Probleme zu bereiten: Die Landung des Flugzeugs mit Protassewitsch am Minsker Flughafen, die Migrations-Krise und so weiter. Lukaschenko initiierte auch neue belarussisch-russische Militärübungen auf dem belarussischen Staatsgebiet. So zumindest hatte er das behauptet. Eine solche politische Linie erlaubte Lukaschenko, Putin gegenüber seine Loyalität zu demonstrieren im Austausch gegen diverse Dividenden. Und es dem Westen heimzuzahlen.
Jedoch interessierte ihn nur die Verschärfung der Spannungen, die Existenz im Ausnahmezustand, die Schaffung einer belagerten Festung, die niemand angreift. Er wollte wohl kaum einen echten Krieg. Denn das bedeutet eine enorme Erschütterung für das Volk und den Staat mit unvorhersehbaren Folgen.
Ein Krieg lohnt sich nicht für Lukaschenko
Ein vollumfänglicher Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der auch noch das Staatsgebiet von Belarus einbezieht, bereitet Lukaschenko daher sehr viele Probleme.
1. Ein Krieg – insbesondere mit der Ukraine – ist sehr unpopulär in Belarus. Davon zeugen Meinungsumfragen. Er ist darüber hinaus auch unpopulär bei Lukaschenkos Anhängern.
2. Russlands Aggression gegen die Ukraine ist langfristig eine Bedrohung für die Unabhängigkeit von Belarus. Denn Putin akzeptiert die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion nicht. Russische Politiker machen keinen Hehl daraus, dass die Existenz eines belarussischen Staatsgebildes [für sie] nur irgendein Missverständnis ist. Lukaschenko wiederholt seit 27 Jahren, dass wir und die Russen ein Volk seien, dass Russland unser großer Bruder sei und so weiter. Und nun könnte diese ganze Politik der „brüderlichen Integration“ zu unerwarteten Konsequenzen führen. Putin könnte sagen: Wenn wir doch ein Volk sind – wozu braucht ihr dann einen eigenen Staat?
3. Wie sehr Lukaschenko auch eine Beteiligung der belarussischen Armee an diesem Krieg vermeiden mag – für die Weltgemeinschaft bleibt es Fakt, dass Belarus der einzige Helfer des Aggressors ist. Das belarussische Staatsgebiet wird für den Angriff auf die Ukraine genutzt. Belarus und Russland haben sich praktisch gegen die ganze Welt gestellt. Dieses Brandmal lässt sich nicht mehr abwaschen. Und es ist schlimmer als das Brandmal „Diktator“.
4. Dass sich russische Truppen (in wachsender Zahl) auf belarussischem Gebiet befinden, heißt für Lukaschenko ein Kontrollverlust über das Land, das er fast drei Jahrzehnte als sein Eigentum betrachtet hat. Das ist der Verlust der militärischen Souveränität. Russische Generäle verfügen über belarussisches Gebiet, wie sie wollen. Das ist sehr unangenehm für jeden Staatschef. Es war kein Zufall, dass der kasachische Präsident Kassim-Schomart Tokajew nicht zögerlich war mit dem Abzug der OVKS-Truppen aus seinem Land.
5. Der Krieg vereinfacht alle Beziehungen erheblich, er unterteilt die Situation in Schwarz und Weiß, ohne Schattierungen. Für Lukaschenko bedeutet das eine drastische Verengung des Handlungsspielraums in den Beziehungen zum Kreml. Für Ausweichmanöver, Balanceakte und Finten wird es immer weniger Möglichkeiten geben. So muss etwa die unangenehme Entscheidung zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik gefasst werden. Das Problem ist hier nicht nur die negative Reaktion der Weltgemeinschaft. Bald kommt die Frage nach der Eingliederung der Volksrepubliken in den „Unionsstaat von Belarus und Russland“. Dann werden womöglich auch Abchasien, Südossetien und Transnistrien beitreten wollen. Es würde dann ein Unionsstaat aus russischen Marionetten. Der Status von Belarus fiele schlagartig auf das Niveau jener nicht anerkannten, kleinen halbstaatlichen Gebilde. Das Bild als völlige Marionette Putins (und das ausgerechnet in der Zeit, in der Letzterer ein klar unangemessenes Verhalten an den Tag legt) – das wäre sicher nicht das Finale der politischen Biografie Lukaschenkos, von dem er geträumt hat.
6. Ein ganz realer Konflikt mit der Ukraine, also nicht mehr auf der Ebene der Rhetorik – das ist für das offizielle Minsk in jeglicher Hinsicht unvorteilhaft. Nehmen wir allein den ökonomischen Aspekt. Der Handelsbilanzüberschuss zwischen Belarus und der Ukraine beträgt 4,5 Milliarden US-Dollar. Wenn dieser Handel wegfällt, entstehen für Belarus größere Einbußen als durch westliche Sanktionen.
7. Die USA und Großbritannien haben neue Wirtschaftssanktionen gegen Belarus verhängt, ausdrücklich wegen der Beteiligung an der Aggression gegen die Ukraine. Offensichtlich hat die EU vor, genau das gleiche zu tun. Zudem werden die Sanktionen gegen Russland zum Teil auch Belarus treffen.
8. Der Krieg hat die wirtschaftlichen Probleme in Belarus deutlich verschärft. Der Rubelkurs ist nach unten gesaust. Das Fehlen von Fremdwährungen bei den Banken, in den Wechselstuben, an den Bankautomaten, die sich davor bildenden Schlangen – all das könnte ein Vorbote für noch viel ernstere Probleme und sogar unkontrollierbarer Prozesse werden.
Genau deswegen versucht Lukaschenko, irgendwelche Erklärungen zu vermeiden, und tut so, als ob gar nichts los wäre und die Ereignisse im Süden die Belarussen nichts angingen. Doch im Informationszeitalter ist das unmöglich.
Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 hat Russland die gesamte Ukraine angegriffen. Sämtliche diplomatische Bemühungen, die es seit Dezember 2021 auf internationaler Ebene gegeben hat, als Russland von der NATO und den USA weitreichende „Sicherheitsgarantien“ gefordert hatte, sind damit komplett gescheitert. Zuvor hatte sich die Entwicklung massiv zugespitzt: Schon beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar hatte Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine geprochen. Am Montag, 21. Februar, erkannte Russland die Separatistengebiete im Osten der Ukraine als unabhängig an, verbunden damit, dass Putin Truppen losschickte. In einer TV-Rede, ausgestrahlt am Montagabend, nur Stunden vor dem Ingangsetzen der Militärkolonnen, hatte Putin der Ukraine ihre eigene Staatlichkeit abgesprochen. Ein „Meisterwerk der Demagogie“, nannte der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel den Auftritt.
Worum aber geht es dem Kreml, worum geht es Moskau? Wirklich um Kränkungen durch den Westen, vermeintlich nicht eingehaltene „Versprechen“ und Sicherheitszusagen aus den 1990er Jahren? Die Politikanalystin Tatjana Stanowaja schrieb nach Putins Rede: „Heute ist der Tag, an dem Wladimir Putin auf die dunkle Seite der Geschichte übergewechselt ist. Es ist der Anfang vom Ende seines Regimes, das sich nur noch auf Waffen stützt.“ In einem langen Analysestück auf Vashnyje Istorii skizziert Kirill Rogow ein Regime, das auf Repression und Rohstoffe setzt, aber keine wirkliche Zukunftsperspektive zu bieten hat. Und so zum Aggressor wird. Einen Tag vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde der Text veröffentlicht.
Wofür braucht Putin einen Krieg? Wissenschaftler suchen nach einer Erklärung für den exzentrischen und aggressiven außenpolitischen Kurs des Kreml, versuchen, die Logik dahinter und seine wahren Ziele zu erklären. Diese Versuche führen allerdings zu einer anderen, allgemeineren Frage: Was leitet autoritäre Regime überhaupt bei der Wahl ihres außenpolitischen Kurses? Sind die Eskalation des Konflikts mit dem Westen und die Vorbereitung eines realen Krieges gegen die Ukraine [Text vom 23.02.22 – dek] eine Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder werden sie von innenpolitischen Gründen diktiert?
Einige Vorteile einer Eskalation sind mit dem bloßen Auge erkennbar. Wer war Putin noch vor einem Jahr? Er war jemand, dem die Welt einen Mordversuch mit einer verbotenen Chemiewaffe am Anführer der Opposition vorwarf. Selbst der amerikanische Präsident unterstrich diesen Vorwurf mit einem Wort. In Russland haben zig Millionen Menschen den Film [von Alexej Nawalny – dek] über Putins Palast gesehen, der ihn als im Pomp versinkenden Mafiaboss zeigte.
Sind die Eskalationen Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder von innenpolitischen Gründen diktiert?
Derselbe Putin erscheint heute als jemand, der bereit ist, einen großen Krieg zu führen, um die russischen Interessen zu verteidigen und die „Umzingelung Russlands durch die NATO“ aufzuhalten. Die Machthaber dieser Welt statten ihm einer nach dem anderen Besuche ab und diskutieren betont respektvoll über seine Sorgen und Forderungen. Niemand erwähnt den Palast, den Anschlag auf Alexej Nawalny oder die im ganzen Land zunehmenden Repressionen. Wenn das mal kein überzeugender Nutzen einer Eskalation ist. Fighting Fire with Fire, oder klin klinom wyschibat, einen Keil mit dem anderen rausschlagen, wie es auf Russisch heißt.
Aber es gibt auch eine tiefer gehende Perspektive, die die Dynamik der Putinschen Eskalationen erklärt. 2011, als Putin verkündete, in den Präsidentensessel zurückkehren zu wollen, sah er sich zum ersten Mal mit Massenprotesten konfrontiert. Sein berühmtes Rating, seine Beliebtheitsskala, sank auf einen Tiefstand. Anti-Putin-Äußerungen wurden zu einem wesentlichen Bestandteil im innenpolitischen Geschehen. Der Kreml reagierte darauf mit verstärkter Kontrolle der Medien, gezielten Repressionen und einer Verschärfung der Demonstrationsgesetze. In der Folge wurde 2013 das organisatorische Potential der Opposition gesprengt, die Demonstrationswelle verebbte. Doch die Umfragewerte blieben unten. Putins Legitimität als autoritärer, alternativloser Herrscher wurde nicht wiederhergestellt. Erst nach der Annexion der Krim und den entfachten Kämpfen im Donbass schnellte das Rating wieder in die Höhe. Der „schwache Putin“ löste sich auf im Rauch eines siegreichen Krieges.
Als Putin Ende 2020/Anfang 2021 erneut mit einer Reihe von ernstzunehmenden Herausforderungen konfrontiert wurde – der aufgedeckte Mordanschlag, der Film über den Palast, Massenproteste, die diesmal auch die Provinz ergriffen –, holte er wieder zum Gegenangriff auf die Opposition und die unabhängige Presse aus, schickte Dutzende von Oppositionellen ins Gefängnis oder vertrieb sie aus dem Land, und erklärte Nawalnys Organisationen für illegal. Und wieder gelang es ihm, das Potential der Opposition erfolgreich zu sprengen. Doch genau wie beim letzten Mal führte das nicht zur Wiederherstellung der Legitimität Putins als autoritärer Leader. Das Rating blieb auf demselben Niveau, und die Proteststimmen bei den Wahlen im vergangenen Jahr konnten lediglich mithilfe von Fälschungen abgefangen werden. Das heißt, das Problem war nur halb gelöst.
Es ist an der Zeit, sich die Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen
Doch diese Argumentation überzeugt jene nicht so recht, die in den Handlungen des Kreml ein Bekenntnis zu den nationalen Interessen sehen. Und es ist an der Zeit, sich diese Interessen und die tieferen Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen.
In Russland existieren schon seit Jahrhunderten zwei große Narrative, die seine Beziehungen zur Außenwelt beschreiben.
Zwei große Narrative
Das erste sieht Russland als ein riesiges, an Territorium und natürlichen Ressourcen außerordentlich reiches Land, was sein Potential als Großmacht sozusagen von Anbeginn an definiert. Die Länder, die Russland umgeben, sind demzufolge neidisch auf diesen Reichtum und fürchten sein Potential, und deshalb trachten sie danach, Russland zu spalten, von innen heraus zu unterwandern oder seine Möglichkeiten zur vollen Entfaltung dieses Potenzials einzuschränken. Russlands primäre Aufgabe besteht in diesem Narrativ darin, sich diesen feindlichen Handlungen unter Einsatz seiner inneren Kräfte zu widersetzen. Das ist das Narrativ von Schutz und Verteidigung.
Das zweite Narrativ ist wohl nicht weniger historisch verankert und praktisch jeder Russe, jede Russin kennt es. Es beschreibt Russland ebenfalls als ein an Territorium und an Ressourcen reiches Land mit einem riesigen Potential, welches es nicht vollends entfalten kann – allerdings, weil das Land nicht genügend entwickelt ist und technisch, wirtschaftlich wie gesellschaftlich hinter dem Westen zurückbleibt. Das Land muss also unbedingt eine Kraftanstrengung unternehmen und den Westen einholen, damit sich sein Potential vollends entfalten kann. Dieses Narrativ ist das der Modernisierung und der aufholenden Entwicklung.
„Schutz und Verteidigung“ versus Modernisierung
Diese zwei Narrative stehen in der öffentlichen Meinung in ständiger Konkurrenz, wobei sie die Prioritäten der nationalen Interessen, der entsprechenden politischen Ziele und notwendigen Handlungen auf unterschiedliche Weise definieren. Was meistens bei der Analyse durchrutscht, ist, dass diese zwei Narrative und die politischen Prioritäten, die sie implizieren, grundsätzlich unterschiedliche Kompetenzen von den Leadern und Eliten auf den Kommandoposten erfordern.
Im ersten Fall sind das die Kompetenzen der Verteidigung und der Bewahrung von Ordnung – also Kompetenzen der Gewalt. Im zweiten Fall ist es die Kompetenz, Technologien und Institutionen zu übernehmen und sie anzupassen sowie Allianzen zu schließen und Handel zu treiben. Die zwei Narrative führen nicht nur zu einer Konkurrenz, was die priorisierten Ziele in der öffentlichen Meinung angeht, sondern auch zu einer Konkurrenz zwischen zwei Typen von Eliten, die auf unterschiedliche Kompetenzen und Mechanismen in der Verwaltung, in den Institutionen ausgerichtet sind.
Löwen und Füchse
In Phasen, in denen in Russland das erste Narrativ populär ist, dominiert an der Spitze der Führungspyramide jener Typ von Elite, den Vilfredo Pareto in Anlehnung an Machiavelli als „Löwen“ bezeichnete und die wir hierzulande als Silowiki kennen. Dominiert das zweite Narrativ, betreten die Bühne diejenigen, die Pareto und Machiavelli als „Füchse“ bezeichneten. Ändert sich das dominierende Narrativ, kommt es unweigerlich zu einer Umgestaltung der Eliten.
Betrachtet man Russlands Geschichte der letzten Jahrzehnte aus diesem Blickwinkel, kann man sagen, dass seit Gorbatschows Reformen Mitte der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre in der russischen Politik die Füchse dominierten, die ein Aufholen in der Entwicklung und eine pragmatische Kooperation mit dem Westen in den Vordergrund der nationalen Interessen stellten. In diese Zeit fielen die massenhaften Privatisierungen, und die Füchse, die feste politische Posten innehatten, wussten diese für ihren eigenen Vorteil zu nutzen.
Mit Putin kamen die Löwen
Doch mit Putins Einzug in den Kreml im Jahr 2000, betraten immer mehr Löwen, oder Silowiki, wie man sie in Russland nennt, die politische Bühne. Ab 2012 dominierten sie das Regierungssystem vollends. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Putins 20-jähriger Amtszeit eine massive Umschichtung privatisierter Vermögenwerte stattgefunden hat, überwiegend zum Vorteil der Löwen. Jetzt stehen sie genau wie Putin vor der Frage, wie sie ihre Vorherrschaft festigen und zusammen mit dem erbeuteten Reichtum an die nächste Generation von Politikern und Eigentümern weitergeben können: an ihre Kinder und Erben.
Während es in den 2000er Jahren zunächst danach aussah, als würden Putin und seine Regierung über Kompetenzen sowohl des ersten als auch des zweiten Typs verfügen – also als würden sie sowohl die Wirtschaft ankurbeln als auch Ordnung schaffen – geriet das Wirtschaftswachstum 2010 beträchtlich ins Stocken. Das stellte die Fähigkeiten der Putinschen Elite auf diesem Gebiet in Frage und holte den Modernisierungsbedarf wieder zurück auf die Tagesordnung. Das heißt, es eröffnete den Füchsen wieder die Chance, ihre Positionen in der russischen Politik zu stärken. Davon zeugten sowohl die Modernisierungsrhetorik während Medwedews Präsidentschaft als auch die Proteste 2011 und 2012, bei denen soziale Gruppen neue Forderungen stellten, die über die Ideale von Sicherheit und Stabilität hinausgingen.
Dies ist der Hintergrund, vor dem die Krim-Wende in der russischen Politik vonstatten ging. Die Annexion der Krim kam wie die symbolische Rückkehr eines sowjetischen Elysiums mit dem Titel Supermacht daher. Und sie schuf nicht nur ein unlösbares Problem in Russlands Beziehungen zum Westen, sondern blockierte auch jeden Versuch, das Land wieder auf den Weg der Modernisierung zu bringen. Die Annexion der Krim und der Konflikt mit dem Westen wurden zum Hebel, mit dem die Füchse an den Rand gedrängt und ihr politischer Einfluss untergraben wurde. Damals wie heute provozierte der hohe Konfrontationsgrad den Westen zwingend zu einer Reaktion, die es wiederum erlaubte, das Narrativ vom sich verteidigenden Russland als alternativlos und einzig möglich darzustellen – und dieses Narrativ als eine einvernehmliche Doktrin nationaler Interessen durchzusetzen.
Die Isolation Russlands ist keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag
Vertreter der Elite ersten Typs – Löwen, Silowiki – besetzen heute die politischen Spitzenpositionen der Herrschaftspyramide und aller weiteren Ebenen, sowie die Schlüsselpositionen der Wirtschaft und Geschäftswelt. Eine antiwestliche Haltung und der Isolationismus sind für sie nicht nur ein formaler, sondern ein realer ideologischer Identifikationsrahmen, der durch ihre entsprechenden Kompetenzen (Kontrolle, Bewachung, Unterwerfung, Repression) und institutionellen Präferenzen gestützt wird.
Die Isolation Russlands ist daher keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag. Sie soll den Modernisierungseffekt aus zweieinhalb Jahrzehnten prowestlicher Orientierung des Landes nivellieren. Sie sichert das Funktionieren eines geschlossenen wirtschaftlichen Umverteilungsmodells, in dem der durch Rohstoffexport erzielte Gewinn zum überwiegenden Teil in den Händen des Staates landet und die Dominanz der Löwen festigt. Diese Ressourcen reichen aus, um notwendige technische Ausrüstungen anzuschaffen und einen riesigen Sicherheitsapparat zu unterhalten. Gleichzeitig lässt dieses Modell keinen nennenswerten Zufluss von ausländischem Kapital zu. Das würde nicht nur dem inländischen Kapital und den traditionellen Patronage-Eliten Konkurrenz machen, sondern auch die Position der Modernisierungs-Eliten stärken, die für den Austausch mit anderen Ländern besser geeignet sind.
Russlands wirtschaftliche Interessen zu opfern, wirkt gar nicht so irrational – wenn man bedenkt, dass es um den Erhalt der herrschenden Stellung in der russischen Politik und um die Weitergabe von erbeutetem Vermögen an die Nachfolger geht. Sanktionen, die politische und wirtschaftliche Isolation, begleitet von einer drastischen Schwächung der rivalisierenden Eliten und deren politischer Narrative – all das sichert eine reibungslose und sichere Weitergabe.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich zahlreiche liberale Stimmen in Russland entsetzt gezeigt, gerade in Sozialen Netzwerken Schock und Scham geäußert, darunter auch viele Kulturschaffende und Künstler. Laut OWD-Info sind bis Donnerstagnacht in 52 russischen Städten mehr als 1742 Menschen bei Protestaktionen gegen den Krieg festgenommen worden [Stand: 23:57 Ortszeit (MSK)].
Aber wie steht die breite Masse zu diesem Krieg: Glauben die Menschen in Russland, es sei legitim, in die Ukraine einzumarschieren? Hat Putin mit seinem Krieg Unterstützung in der Gesellschaft? Gibt es gar eine ähnliche Euphorie wie 2014? Diese Fragen hat Meduza wenige Tage vor Kriegsbeginn dem Soziologen Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada, gestellt.
Dazu muss man wissen: Tatsächlich erschienen vielen Menschen in Russland solche Probleme wie Armut und Inflation bislang drängender als geopolitische Themen, die für die Gesellschaft ganz unten auf der Prioritätenliste rangierten. Hinzu kommt, dass Meinungsumfragen in Russland nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Da Menschen in autoritären Systemen Angst haben, eine sozial nicht erwünschte Meinung kundzutun, würden sie häufig das wiedergeben, was sie aus den Abendnachrichten vom Vortag behalten haben, so der Soziologe Grigori Judin: „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen.“
Demgegenüber liefert die Soziologie aber handfeste Hinweise, dass Meinungsumfragen die öffentliche Meinung in Russland abbilden können: Wenn Menschen ihre Informationen etwa jahrelang nur aus Propaganda-Medien beziehen, dann ist es naheliegend, dass sie diesen Informationen irgendwann glauben, dann verfestigt sich bei ihnen auch die Meinung, die ihnen schon seit Jahren vorgesetzt wird: Dass die Ukraine etwa vom Westen gesteuert, dass sie eigentlich kein richtiger Staat sei, oder eben dass die „Ukro-Faschisten“ Russen in der Ukraine töten würden – und die Ukraine deshalb, wie Putin es in seiner TV-Rede vor dem Marschbefehl sagte, „entnazifiziert“ werden müsse.
Wie also steht die russische Gesellschaft zu einem Krieg? Denis Wolkow spricht im Interview vom Dienstag über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte.
Anastasia Jakorewa: Putin hat in seiner Rede zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik [am Montag, 21.02.2022 – dek] gesagt, er sei sicher, dass die Bürger in Russland diese Entscheidung unterstützen werden. Kann man wirklich von einer rückhaltlosen Unterstützung sprechen?
Denis Wolkow: Die Daten, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, geben uns eine grobe Vorstellung davon, wie die Menschen reagieren. Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu einem Krieg und zu dem, was da vor sich geht. Die erste: Amerika ist an allem Schuld. Nicht mal die Ukraine, nein, Amerika und der Westen: Die setzen die Ukraine unter Druck, die ihrerseits irgendwas gegen die nicht anerkannten Republiken im Schilde führt – auf deren Seite soll Russland sich einmischen. Denn es geht um die russischsprachige Bevölkerung, um Menschen mit russischen Pässen, also „unsere“ Leute. Es ist eine Situation, in der auf unsere Leute eingeprügelt wird, und natürlich müssen wir ihnen helfen und sie verteidigen.
In den vergangenen sieben Jahren haben wir die Menschen regelmäßig befragt, welches Schicksal sie für diese Republiken sehen. Ein gutes Viertel sagt, die Republiken müssten unabhängig werden. Ein weiteres Viertel sagt, sie müssten Russland angegliedert werden. Und in etwa ähnlich viele sind für einen Verbleib in der Ukraine. Der Rest ist unentschieden.
Die Situation wird als Bedrohung dargestellt für das russischsprachige Brudervolk. Beziehungsweise nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk
Es gibt also keine vorherrschende Meinung. Aber als wir gefragt haben: Wenn die Republiken darum bitten, an Russland angegliedert zu werden, sollten wir sie dann angliedern? Da haben etwa 70 Prozent mit „Ja“ geantwortet: Man muss ihnen helfen, und man muss sie aufnehmen. Darum denke ich, dass jetzt, wo die Anerkennung entschieden ist, die Mehrheit diese Entscheidung unterstützen wird – zumal die Situation, wie auch schon 2014, als Bedrohung dargestellt wird für das russischsprachige Brudervolk, beziehunsgweise sogar nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk.
Wie groß ist die Angst bei den russischen Bürgern vor westlichen Sanktionen und den damit verbundenen ökonomischen Einbußen?
Die Angst vor Sanktionen, den ersten Schock gab es ganz am Anfang, als sie verhängt wurden. Dann hat man sich mit der Zeit daran gewöhnt. Zusätzlich haben viele der Befragten das Gefühl: Was auch immer Russland tut – Sanktionen wird es so oder so geben, denn der Westen will Russland schwächen und demütigen. So, wie man uns schon 2014 gesagt hat: Wenn es die Krim nicht gäbe, hätten sie sich was anderes ausgedacht. Das ist eine feste Überzeugung, die auf einem Misstrauen gegenüber der US-Außenpolitik gründet – die konnten wir schon Ende der 1990er Jahre feststellen, als die NATO-Osterweiterung begann.
In einem Ihrer Gastbeiträge [Wolkow publiziert regelmäßig in unabhängigen russischen Medien – dek] habe ich gelesen, in Russland würden sowohl diejenigen, die der Staatsführung gegenüber loyal sind, als auch diejenigen, die ihr gegenüber oppositionell eingestellt sind, dem Westen die Schuld für den Konflikt geben. Die Mehrheit beider Gruppen meint, dass Amerika schuld sei – nur die Prozentanteile der Mehrheiten unterscheiden sich. Woher diese Eintracht?
Eine eindeutige Antwort habe ich darauf nicht. Ich denke, hier spielt mit rein, dass man die Konfrontation zwischen Russland und den USA als internationalen Hauptkonflikt wahrnimmt. Das ist ein Ausdruck von Patriotismus. Man muss sich klar positionieren, wo man steht. Und wenn es so einen Konflikt gibt – dann sind natürlich mehr Leute auf der Seite Russlands.
Wobei ja offensichtlich ist, dass diese beiden Gruppen ihre Informationen aus unterschiedlichen Quellen schöpfen.
Das sagt wirklich etwas darüber aus, wie Menschen Nachrichten konsumieren: Über den Konflikt berichten vor allem das Fernsehen und die offiziellen Medien, und sobald Menschen etwas davon interessant finden, dann suchen sie noch nach weiteren Quellen. Zu diesem Thema suchen die Menschen aber anscheinend nicht nach zusätzlichen Quellen. Wie sie auch in den Umfragen sagen: Wenn ich nur etwas über die Ukraine höre, schalte ich sofort um, ich will nichts davon hören, will nichts davon wissen.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird
Das heißt, bei vielen läuft der Fernseher im Hintergrund, er ist irgendwie einfach da, und dann [sagen die Menschen – dek]: Ich sehe nur fern, und wenn mich diese Geschichte berühren würde, dann würde ich noch was im Internet lesen [unabhängige russische Medien sind fast ausschließlich online zugänglich, wie auch der TV-Sender Doshd – dek]. Oder eben nicht.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird. Früher hat es der Fernsehsender Doshd zumindest manchmal in die Top-Suchergebnisse von Yandex geschafft. Ich habe Nachrichten über Alissa [eine von Yandex entwickelte virtuelle Sprachassistentin] gehört. Als all das anfing, hat Alissa plötzlich keine Nachrichten [der „ausländischen Agenten“-Medien – dek] mehr wiedergegeben.
Wie stehen die Menschen zu einer möglichen Militäraktion [das Interview wurde am 22.02.2022 geführt – dek]?
Schwer vorherzusagen, denn womit können wir es vergleichen? Wir können das nur mit [dem Georgienkrieg] 2008 vergleichen. Worin besteht hier die größte Gefahr? Darin, dass unsere Truppen tatsächlich Gefechte gegen ukrainische Truppen führen. Früher gab es dazwischen einen Puffer; vielleicht waren [russische Truppen im Donbass], aber nicht offiziell …
Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun?
Wir haben den Menschen folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass die Situation zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnte?“ Ende 2021 hat dies rund eine Hälfte für wahrscheinlich gehalten, und die andere für nicht wahrscheinlich. Die Gefühle diesbezüglich: Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun? Wir wollen Frieden, von den Normalbürgern hängt nichts ab ab. Nicht mal von der russischen Staatsführung hängt [dem öffentlichen Bewusstsein nach] etwas ab. Also sagen die Leute: Ja, wir müssen uns verteidigen, ja, wir dürfen nicht klein beigeben, aber was genau ist dieses Klein-Beigeben – die werden versuchen, uns niederzuwalzen, sollen wir uns da etwa zurückziehen?
In einem Ihrer Gastbeiträge haben Sie geschrieben, die Gesellschaft sei „innerlich auf einen Konflikt vorbereitet“. Auch auf einen militärischen Konflikt?
Im Grunde ja, auf einen militärischen Konflikt. Auch hier gilt es, dass die Gesellschaft latent bereit ist – denn wie lange schon wird darüber gesprochen. Das heißt aber nicht, dass sich diese Haltung nicht ändern wird, dass keine Müdigkeit einsetzt. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird und wie die Menschen darauf reagieren werden. Anfangs wird es wahrscheinlich eine Mobilisierung um den Führer geben. Aber was dann?
Wenn es ein kurzer Krieg wird, dann wird es wahrscheinlich ähnlich wie mit Georgien: Auch damals hatten die Menschen das Gefühl, dass es nicht um Georgien und Russland ging – sondern um die USA und Russland. Und dass wir unsere Brüder gerettet hätten. Wichtig war, dass es schnell vorbei war und niemand das Gefühl von ernsthaften Verlusten hatte.
Ein andauernder Krieg kann [Putins] Zustimmungswerten einen beachtlichen Schlag verpassen, ich kann aber ganz bestimmt nicht vorhersagen, wie sich der Konflikt entwickeln wird.
Gibt es mögliche Trigger für russische Bürger, wegen derer sie sich scharf gegen einen Krieg wenden würden?
Das ist schwer zu sagen. Ich denke, vor allem eine große Zahl an Opfern oder die Dauer des Konflikts, ein Sich-Hinziehen.
Welche Möglichkeiten sehen die russischen Bürger, um den aktuellen Konflikt zu lösen – außer einen Krieg?
Sie sehen nicht wirklich welche. Am häufigsten haben die Menschen Verhandlungen genannt. Aber man kann nicht sagen, dass sie geglaubt haben, dass daraus etwas wird, dass die Verhandlungen helfen würden, etwas zu zu lösen. Wir wollten, baten, haben vorgeschlagen, aber niemand ist darauf eingegangen – so sehen die Menschen das.
Wenn man die Situation 2014 mit heute vergleicht, worin unterscheidet sie sich?
Die Sorge, die Angst vor einem Krieg, ist größer. Aber auch um die Zivilgesellschaft ist es inzwischen ganz anders bestellt – damals war sie viel freier, viel präsenter, es gab eine Antikriegsbewegung, es gab Oppositionspolitiker, die noch Unterstützung aus den Jahren 2011/2012 in Teilen der Gesellschaft genossen: Boris Nemzow, Alexej Nawalny, eine ganze Reihe. Jetzt ist da niemand, außer Jabloko als Partei – die, ich sag mal so, nicht sehr populär ist. Und: Proteste sind verboten. Auch deswegen sehen wir keine Antikriegsbewegung. Sowohl die unabhängigen Politiker als auch die unabhängigen Medien sind ausgedünnt.
„Russland erkennt die beiden selbst ernannten Volksrepubliken DNR und LNR als unabhängig an.“ „Russland schickt Truppen in die Separatistengebiete“ – nach diesen Nachrichten am späten Abend des 21. Februar 2022 kündigten die EU und auch die USA umgehend Sanktionen an. Der UN-Sicherheitsrat trat noch in der Nacht zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Auch die Bundesregierung sprach von einem klaren Bruch des Minsker Abkommens, am heutigen Dienstag gab sie bekannt, das Genehmigungsverfahren der Pipeline Nord Stream 2 vorerst zu stoppen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky sagte in seiner Rede an die Nation noch in der Nacht, man setze sich weiter für den diplomatischen Weg ein und erwarte von den Partnern klare Maßnahmen der Unterstützung. „Es ist unser Land und wir haben keine Angst vor niemandem.“
Die Dramaturgie des 21. Februar 2022 begann nachmittags mit einer öffentlich ausgestrahlten außerordentlichen Sitzung des Sicherheitsrats. Dieser tagt sonst hinter verschlossener Tür. Viral in Sozialen Medien ging dabei der Auftritt von SWR-Chef Sergej Naryschkin, der sich stark nervös und eingeschüchtert zeigte und zunächst von einem Beitritt des Donbass in die Russische Föderation sprach – worauf Putin ihn korrigierte, es gehe um die Anerkennung der Unabhängigkeit. Die Mitglieder des nationalen Sicherheitsrats sprachen sich geschlossen für eine Anerkennung der beiden selbst ernannten Volksrepubliken aus. Dort hatte am Freitag vergangener Woche die Evakuierung begonnen, nachdem immer wieder von einem vermeintlichen „Genozid“ die Rede gewesen war.
In einer anschließenden Fernsehansprache erklärte Präsident Putin, die beiden selbst ernannten Volksrepubliken als unabhängig anzuerkennen. In der Rede selbst sprach er dabei nur am Rande vom „Genozid“ und ging vor allem auf die Geschichte und Gegenwart der Ukraine ein, die er – wie schon in seinem Aufsatz aus dem vergangenen Jahr – als einen untrennbaren „Teil unserer Geschichte, unserer Kultur” bezeichnete. Die moderne Ukraine, so behauptete Putin unter anderem, sei „voll und ganz von Russland erschaffen worden, vom kommunistischen, bolschewistischen Russland“. Per Dekret leitete er im Anschluss die Anerkennung der Unabhängigkeit der „DNR“ und „LNR“ ein. Noch in der Nacht entsandte Russland Truppen in Richtung Donbass.
dekoder bringt russische und belarussische Stimmen aus der Debatte.
Tatjana Stanowaja: Der Tag, an dem Putin auf die dunkle Seite der Geschichte wechselte
Die Politikwissenschaftlerin und Analystin Tatjana Stanowaja prognostiziert auf Telegram den Anfang vom Ende der Ära Putin, zumal es in der russischen Gesellschaft keinen allzu großen Rückhalt für einen Krieg gegen die Ukraine gebe:
[bilingbox]Heute ist der Tag, an dem Wladimir Putin auf die dunkle Seite der Geschichte übergewechselt ist. Es ist der Anfang vom Ende seines Regimes, das sich nur noch auf Waffen stützt. Putin irrt sich, was das Ausmaß der potentiellen Unterstützung einer „russischen Rettungsoperation“ in der Ukraine angeht, die mittlerweile offensichtlich folgen wird. Und er überschätzt bei weitem die Unterstützung, die ihm die russische Bevölkerung erweisen wird. Proteste wird es nicht geben, wie ich schon oft geschrieben habe. Doch er bekommt auch keinen breiten Zuspruch. ~~~Сегодня день, когда Владимир Путин перешел на темную сторону истории. Это начало конца его режима, которому остается опираться только на штыки. Путин ошибается в степени потенциальной поддержки „российской спасительной операции“ в Украине, которая уже очевидно последует. И он глубоко переоценивает уровень поддержки, которую ему окажет российское население. Протестов не будет, как я много писала. Но и широкой поддержки он не получит.[/bilingbox]
Noch vor der Rede Putins hatte Stanowaja – eigentlich bekannt für ihre nüchternen Analysen – auf ihrem Telegram-Kanal mit Blick auf die Ukraine zugleich eine düstere Prognose skizziert:
[bilingbox]In den Donbass einmarschieren, sich in den Kampf mit der ukrainischen Armee begeben, bis Kiew vordringen. Und der Ausstiegsplan könnte wie folgt aussehen: Die Ukraine in drei Teile teilen. Der Westen bleibt dem Westen, die Mitte bleibt eine geopolitisch „neutralisierte“ Ukraine, der Donbass wird angegliedert.
Außerdem gibt es ein Minimalziel-Szenario – die DNR und LNR einfach anzuerkennen. Doch darin sehe ich keinen Sinn. Als die Anerkennungs-Initiative der KPRF gerade aufgekommen war, schrieb ich einen Post, dass Moskau die DNR und LNR nur dann anerkennen wird, wenn es auch nach einem beträchtlichen Teil der Ukraine greifen wird. Doch im Endeffekt habe ich den Text nicht veröffentlicht – zu diesem Zeitpunkt wirkte es wie Alarmismus, von dem es überall genug gab. Jetzt erscheint mir das mehr als wahrscheinlich.~~~Войти на Донбасс, ввязаться в бои с украинской армией, дойти до Киева. На выходе план может быть такой: расчленить Украину на три части. Запад оставить Западу, центр оставить геополитически „нейтрализованной“ Украиной, Донбасс присоединить.
При этом есть и сценарий минимум – признать просто ДНР и ЛНР, но, как я уже много раз писала, я не вижу в этом никакого смысла. Еще когда только появилась эта инициатива КПРФ с признанием, я написала пост, что Москва признает ДНР и ЛНР только в одном случае – если замахнется на значительную часть Украины. Но в итоге этот текст я так и не опубликовала – на тот момент это казалось искусственным нагнетанием, которого и там было много вокруг. Теперь мне это кажется более чем вероятным.[/bilingbox]
Der belarussische Journalist Artyom Shraibman sieht im Vorgehen Russlands das Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung einer ehemaligen Großmacht. Er fragt auf Telegram, was das für Belarus bedeuten könnte.
[bilingbox]Die Rede Putins zeigt deutlich, wie wichtig es ist, ehemaligen Imperien gleich nach dem Kollaps zu helfen, einen Ausweg aus der posttraumatischen Belastungsstörung zu finden (oder gar nicht erst hineinzugeraten).
Bleibt das aus, entsteht für die Leader traumatisierter Gesellschaften nach einiger Zeit eine unwiderstehliche Versuchung umzuschalten und nicht mehr die eigenen Fehler zu korrigieren, sondern die erlittenen historischen Ungerechtigkeiten.
Für Belarus weniger wichtig ist der kleine Spatz Donbass, den Putin offensichtlich beschlossen hat zu verschlingen, nachdem er dem Westen die zuvor geforderten Zugeständnisse nicht abringen konnte. Wichtiger ist der Ansatz dieses Mannes und seiner Gefolgschaft, was die Zweitrangigkeit des gegenwärtigen Status quo, seiner Grenzen und „zufällig entstandenen Staaten“ angeht und die Priorität von Traumata und Erniedrigungen, die seine Generation von Sowjetmenschen erlitten hat.
Wir sollten uns die Fehler merken, die seinerzeit in der Aufarbeitung dieser Traumata gemacht wurden, als sie noch heilbar waren. Vielleicht wird unsere Generation einst solche Probleme verhindern müssen bei denen, für die das Ende von Putins Russland und Lukaschenkos Belarus zum Trauma wird.~~~
Речь Путина – это очень четкая демонстрация того, как важно помогать бывшим империям сразу после коллапса выйти из пост-травматического синдрома (или не войти в него).
Если этого не сделать, мы получаем на какой-то дистанции непреодолимый соблазн лидеров травмированного общества переключиться с коррекции себя на коррекцию исторических несправедливостей по отношению к себе.
Для Беларуси не так важен донбасский чижик, которого, кажется, решил съесть Путин, не добившись от Запада затребованных уступок. Важнее сам подход этого человека и его окружения к вторичности современного статус-кво, его границ и «случайных государств» при первичности травм и унижений, которые перенесло его поколение советских людей.
Важно запомнить ошибки работы с этими травмами в то время, пока их можно было лечить. Возможно, нашему поколению придется предотвращать такие же проблемы у тех, чьей травмой будет конец России Путина и Беларуси Лукашенко.[/bilingbox]
Der Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov sieht nicht nur einen, sondern einen „kollektiven Putin“ am Werk – und ruft in einem Post auf Facebook nach der Verantwortung jedes Einzelnen, auch jedes einzelnen Bürgers:
[bilingbox]Das ist nicht ein einzelner Mensch mit einer gewissen psychiatrischen Diagnose. Das ist ein ganzer Corps, eine ganze Population von Tschekisten, deren Uhren gleich ticken. Und dieses Spektakel der Sicherheitsratssitzung am 21. Februar hat in Reinform das anthropologische Experiment gezeigt, an dem wir alle durch Arbeit, Leben und Verirrungen im postsowjetischen Russland beteiligt sind. All diese Männer und eine Frau bildeten einen kollektiven Putin, komplett entledigt von jeglicher politischer Subjekthaftigkeit. […]
Die Ukraine hat ihrem deutlich mächtigeren Nachbarn nichts angetan. Sie ist ein Land, das von diesem stärkeren Nachbarn beraubt wurde, obwohl jener 1994 [im Budapester Memorandum – dek] Schutz geschworen hatte (da steht bis heute Lawrows Unterschrift drunter!). Aber das ist nichts Neues für die Leute in Russland.
Was soll man machen, wenn man begreift, dass das Diebesland dein eigenes Vaterland ist? Nicht der Staat, sondern das Land. Ich weiß nicht, auf diese Frage gibt es diverse Antworten.
In der heutigen Sitzung des konstruierten Nawalny-Falls wurde ein Zeuge der Anklage unerwartet zum Zeugen der Verteidigung: Fjodor Goroshanko beschuldigte die Ermittler der Fälschung und Einschüchterung, er bezeichnete den ganzen Prozess als Betrug. Die Sitzung wurde vertagt. Was ist, wenn Goroshankos Tat ansteckend ist – auch für einige in die Ukraine kommandierte russische Soldaten? Die dieses Land dann womöglich vor ihren eigenen Leuten beschützen wollen?~~~Это не один человек с неким психиатрическим диагнозом, а целая корпорация-популяция сверяющих друг с другом часы чекистов. Зрелище заседания Совета безопасности РФ 21.02.2022 как раз и интересно чистотой антропологического эксперимента над всеми нами – причастными к постсоветской РФ работой, жизнью, заблуждениями. Все эти мужчины и одна женщина – один коллективный Путин, начисто лишенный политической субъектности. […] [Украина] не сделала своей куда более мощной соседке ничего плохого, страна, которую эта более сильная соседка ограбила, хотя сама поклялась в 1994 году защищать (там даже подпись Лаврова до сих пор на своем месте!). Но ведь и тут нет ничего нового для россиян. Что же делать, когда осознаешь, что страна-грабительница – твое собственное отечество? Не государство, а именно страна. Не знаю: на этот вопрос можно ответить по-всякому. Сегодня на процессе по сфабрикованному делу Навального один свидетель обвинения – Федор Горожанко – неожиданно стал свидетелем защиты, обвинив следователей в подлоге и запугивании, а весь процесс назвавший фальсификацией. Заседание суда было прервано. А что если шаг Федора Горожанко окажется заразительным и для некоторых российских военных, брошенных на Украину? И они захотят защитить эту страну от самих себя?[/bilingbox]
War die Anerkennung der Separatistengebiete von langer Hand geplant oder war es eher eine spontane Entscheidung? Diese Frage stellen sich derzeit zahlreiche Analysten. Manche haben Putins Eskalationsstrategie als Chicken Game beschrieben – aus ihrer Sicht ist jetzt klar, dass Putin die Mutprobe mit dem Westen verloren hat und nun aus der Kränkung heraus handelt. Auch der Journalist Sergej Parchomenko teilt diese Einschätzung.
[bilingbox]Noch vor zwei Wochen hatte niemand vor, das zu tun. Russland braucht diese Gebiete nach wie vor nicht (und auch wenn das zynisch klingt: Für Russland ist es viel profitabler, wenn diese zwei rostigen Nägel aus dem Körper der Ukraine herausstaken und ihr Qualen bereiten), und die künstlich zu diesem Anlass und auf Bestellung geschaffenen „Flüchtlingszüge” braucht es erst recht nicht. Es ist eine reaktive Entscheidung: erzwungen, forciert und entstanden aus den Ereignissen der letzten Wochen – eine situative Reaktion, die nötig wurde, um sich aus einer peinlichen Niederlage herauszustehlen.
Doch jetzt kann man plötzlich sagen: Das war der Plan, so haben wir uns das gedacht, so clever haben wir das alles eingefädelt, haben alle kleingekriegt und an der Nase herumgeführt. Und sogar: „Sie fragen, warum haben wir im Dezember den ganzen Unfug mit den irrsinnigen Ultimaten gestartet? Warum wohl, hahaha? Dachtet ihr etwa, wir würden das ernst meinen?”
Es ist Wahnsinn, dass das Schicksal eines fremden Stückchens Erde, zusammen mit dem Schicksal von vier Millionen Menschen, mit Provokationen und militärischer Aneignung entschieden wird – um öffentlichkeitswirksam die Initiative in einem verlorenen Propagandakrieg an sich zu reißen. Biden hat diesen Krieg in den Zeitungen, auf Websites, bei Briefings und Pressekonferenzen geführt. Putin hat ihn kaltblütig auf lebendige Erde mit lebendigen Menschen verlagert.~~~никто ещё две недели назад не собирался этого делать. Эти территории России по-прежнему не нужны (для России, как ни цинично это звучит, гораздо выгоднее, чтобы эти два ржавых гвоздя торчали из тела Украины и мучали ее), и этот искусственно созданный к случаю и по заказу поток “беженцев» – не нужен тем более. Это реактивное решение, вынужденное, форсированное, выросшее из событий последних недель, – ситуационный ответ, потребовавшийся, чтобы вывернуться из стыдного поражения. Но вот теперь можно будет сказать: так и было задумано, вот как мы хитро все устроили, всех нагнули и вокруг пальца обвели.
И даже – “Вот вы спрашивали, зачем мы устроили эту выходку с безумными ультиматумами в декабре? А вот зачем, ха-ха, а вы думали, мы всерьез, да?..”
Это дикая ситуация, когда судьба куска чужой земли, вместе с судьбами четырех миллионов людей, решается при помощи провокаций и силового захвата с сугубо “информационной” целью, – чтоб перехватить инициативу в проигранной пропагандистской войне. Байден эту войну вел на страницах газет, на сайтах, в залах брифингов и пресс-конференций. Путин хладнокровно ее перенес на живую землю и живых людей.[/bilingbox]
Russia in Global Affairs: Die Kriegsgefahr ist kleiner
Auf dem Telegram-Kanal des kremlnahen Magazins Russia in Global Affairs heißt es in einem Beitrag, die Anerkennung und Truppenentsendung bedeute eine offizielle Legitimierung des de facto-Zustands:
[bilingbox]Neue Sanktionen sind angekündigt. Die wichtigste Frage ist, ob der Einsatz russischer Streitkräfte in der DNR/LNR als Invasion angesehen und mit einem bereits vorbereiteten Sanktionspaket, einschließlich Nord Stream 2, beantwortet wird. Wenn sie streng formell angegangen werden – ja, wenn sie flexibel sind – nicht unbedingt.
Es ist schwierig, die Verlegung von Truppen in den Donbass als Angriff auf die Ukraine zu bezeichnen. Zumal die allgemeine Kriegsgefahr kleiner geworden ist. Die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation in der Kontaktzone ist gering, wenn dort die russische Armee ist. Und es gibt derzeit keinen Grund, den Einsatz der russischen Streitkräfte im Donbass als Vorbereitung eines weiteren Brückenkopfes für einen Angriff auf die Ukraine zu betrachten. Der unternommene militärisch-politische Schachzug ist zwar ziemlich gewagt, aber für die Beziehungen zum Westen nicht fatal. Vielmehr wird damit eine Situation legitimiert, die de facto schon vorher bestand. ~~~Обещаны новые санкции, основной вопрос – будет ли размещение российских сил в ДНР/ЛНР интерпретировано как вторжение и встречено уже подготовленным пакетом санкций, включая «Северный поток-2». Если подходить строго формально – будут, если гибко – не обязательно. Атакой на Украину перемещение сил в Донбасс назвать трудно. Более того, общая опасность войны снизилась. Вероятность обострения в зоне соприкосновения при условии, что там находится российская армия, невелика. А считать дислокацию ВС РФ в Донбассе подготовкой ещё одного плацдарма нападения на Украину оснований на данный момент нет. Предпринятый военно-политический ход достаточно ярок, но не фатален с точки зрения отношения с Западом. По сути, легитимирует ситуацию, существовавшую де-факто и раньше.[/bilingbox]
Ähnlich sieht es auch der Journalist Arkadi Babtschenko – allerdings zieht er daraus in seinem Kommentar auf Facebook ganz andere Schlüsse:
[bilingbox]De facto hat sich nichts geändert. Überhaupt nichts. Die russischen Truppen sind genauso da wie schon zuvor. ORDLO bleibt Ordlo. Die Ukraine hatte keine Kontrolle über diese Gebiete und hat sie jetzt auch nicht. Es gab schon einen Krieg, jetzt geht er bloß weiter. Das einzige was sich geändert hat, ist, dass die Russen nun Militärabzeichen tragen. Endlich.
Aus diesem de facto ergeben sich nun ein gewisses de jure. Das grundlegendste: Die Minsker Vereinbarungen […] existieren endlich nicht mehr. Gott sei Dank. […] Die Minsker Vereinbarungen wurden einzig und allein zu dem Zweck getroffen, den Vormarsch der russischen Panzerkolonnen zu stoppen: Diesen konnte die Ukraine zu diesem Zeitpunkt nicht physisch aufhalten, wohl aber mit diesem Stück Papier, das nie jemand wirklich umsetzen wollte. […] Jede Truppenverlegung in das ORDLO-Gebiet […] bedeutet für die ganze Welt und insbesondere für das Völkerrecht EINMARSCH RUSSISCHER TRUPPEN IN DAS GEBIET DER UKRAINE. Niemand wird das anders interpretieren. Das heißt – eine Invasion. Genau die „kleine Invasion“, von der Biden gesprochen hat. Wisst ihr noch, wie alle über ihn gelacht haben? Guten Morgen. Gott schütze den Alten.~~~
де-факто не изменилось ничего. Вообще ничего. Российские войска как были там, так и есть. ОРДЛО как было ордлом, так и осталось. Украина как не контролировала эти территории, так и не стала. Война как шла, так и будет. Единственное изменение – русские надели шевроны. Наконец-то.
А вот из этого де-факта вытекает уже несколько де-юре. Самое базисное: Минские договоренности, […] наконец прекратили свое существование. Слава те, господи. […] Минские и так были созданы с одной единственной целью – остановить продвижение русских танковых колонн, которые Украина остановить тогда не могла физически, но смогла при помощи этой бумажки, филькиной грамоты, которую выполнять никто и не собирался. […] любой ввод войск на территорию ОРДЛО […] для всего мира и для международно права в частности означает ВВОД РОССИЙСКИХ ВОЙСК НА ТЕРРИТОРИЮ УКРАИНЫ. И никак иначе это интерпретироваться не будет. То есть – вторжение. То самое «небольшое вторжение», о котором говорил Байден. Помните, как над ним все хихикали? Доброе утро. Боже, храни деда.[/bilingbox]
Kirill Rogow: Putin ist eine Bedrohung für das eigene Land
Für den russischen Politologen und Journalisten Kirill Rogow steht das, wofür Putin lange seinen politischen Kurs gerechtfertigt hat – die versprochene Stabilität Russlands – mehr denn je zur Debatte:
[bilingbox]Es ist schon erstaunlich, dass ein Mann, der als Pragmatiker an die Macht kam, dessen Berufung es war, Russland zu stabilisieren – dass der seine Präsidenten-Karriere in dieser manischen Idee eines Krieges mit der Ukraine hat kulminieren lassen. Er hat da eine fixe Idee. Niemand darf länger als acht Jahre den Präsidentenposten bekleiden, sonst wird er zur Bedrohung für das eigene Land.~~~Все-таки это удивительно и потрясающе, что человек, который пришёл к власти в образе прагматика, чьё призвание было стабилизировать Россию, свёл свою президентскую карьеру к маниакальной идее войны с Украиной. Это просто навязчивая идея у него. Нельзя никому находиться на президентском месте более 8 лет, иначе он превращается в угрозу для собственной страны.[/bilingbox]
In Belarus sind seit dem jüngsten gemeinsamen Militärmanöver mit Russland mehrere zehntausend russische Soldaten präsent. Lukaschenko stand in den von belarussischen Staatsmedien verbreiteten Bildern der Raketentests fest an der Seite Putins. Wird der belarussische Machthaber eine Unabhängigkeit der selbst ernannten Volksrepubliken DNR und LNR ebenfalls anerkennen? Das fragt sich der belarussische Politikexperte Jegor Lebedok.
[bilingbox]Für Lukaschenko ist die Frage nach der Anerkennung von DNR und LNR eine finanzielle. Möglich ist der Wegfall von zwei bis vier Milliarden Dollar aus dem Export durch früher verhängte Sanktionen gegen Belarus, die gerade beginnen, ihre Wirkung zu zeigen. Eine Anerkennung könnte neue Sanktionen nach sich ziehen, die noch nicht ganz abzusehen sind. Um da klarer zu sehen und den Schaden im Falle einer Anerkennung der Republiken zu bewerten, macht es für Lukaschenko Sinn, noch ein bisschen zu warten, bevor er Putin die „Rechnung ausstellt“. Wobei: Bisher bringt Putins Politik gegenüber Lukaschenko kaum mehr Geld als für ein Paar Hosen (bis zu den aktuellen Ereignissen wurden statt der [von Belarus – dek] gewünschten 3,6 Milliarden US-Dollar gerade mal 1 Milliarde versprochen). Und dabei hat Belarus militärpolitisch bisher alles, was Putin als notwendig galt, umgesetzt. Eine schnelle Anerkennung der DNR und LNR von seiten Lukaschenkos könnte dann vor allem davon zeugen, dass der Preis bereits vereinbart wurde und passabel ist – oder dass Lukaschenko keinen Vorrat an politischem und ökonomischem Halt hat, um Putins Willen Kontra zu geben.~~~Для Лукашенко сейчас вопрос признания Л/ДНР – это вопрос финансов. Возможно выпадение 2-4 млрд $ экспорта в Украину на фоне начала заметного действия ранее введенных санкций на Беларусь (хотя Украина скорее всего продолжит все основное закупать, особенно по прошествии обострения: у Л/ДНР же закупали). Признание может повлечь за собой новые санкции, которые пока не совсем ясны. Как раз чтобы понять их и оценить ущерб от признания, и имеет смысл для Лукашенко несколько подождать с признанием, для „выставления счета“ Путину. Хотя пока видна политика Путина по отношению к Лукашенко выделять средства не более чем на поддержание штанов (до текущих событий из желаемых 3,6 млрд $ только 1 млрд $ обещан) и это при том, что в военно-политическом смысле в Беларуси реализуется все необходимое Путину. Быстрое признание со стороны Лукашенко Л/ДНР свидетельствовало бы о том, что либо цена уже оговорена и приемлема, либо что запаса политической и экономической прочности перечить воле Путина у Лукашенко нет.[/bilingbox]
Viktor Tereschtschenko: Belarus wird zusehends militarisiert
Der belarussische Politiker und Präsidentschaftskandidat des Jahres 2010 Viktor Tereschtschenko geht darauf ein, was der Verbleib der russischen Truppen in Belarus, im Zusammenhang mit der aktuellen Zuspitzung der Lage, heißen könnte. Er zeigt sich überzeugt, dass die Truppen ein Instrument für Lukaschenko sind, die eigene Macht sichern zu können. Gleichzeitig helfe es Putin, das Drohszenario gegenüber den NATO-Staaten aufrecht zu erhalten
[bilingbox]Die russischen Truppen bleiben für unbestimmte Zeit auf dem Territorium von Belarus. Erklärt wird diese Entscheidung mit der Präsenz von NATO-Truppen an den westlichen Grenzen [von Belarus]. Aber, ich bin sicher, dass eine Verstärkung der russischen Truppen nicht nur hinsichtlich personeller, sondern auch militärtechnischer Ressourcen erfolgt. Mit anderen Worten, Belarus wird zusehends militarisiert und mit den bewaffneten Truppen eines anderen Landes zugestellt. Und ist es unmöglich, die Folgen einer solchen Militarisierung vorauszusagen. Die Diplomatie funktioniert nicht. Aber vor allem gibt die Führung des Landes der Bevölkerung keine Informationen und trifft Entscheidungen entsprechend des eigenen Stands von Kultur und Bildung. Ich denke, dass die Entscheidung (die russischen Truppen in Belarus zu belassen) nicht von der belarussischen Seite getroffen wurde; sie hat nur zugestimmt, um die eigene Macht zu sichern. Ich sage mal so: Es ist eine einvernehmliche Entscheidung mit der Russischen Föderation. Russland plant seit langem, Truppen in Belarus zu stationieren – um seine eigenen Interessen zu sichern.~~~Российские войска остаются на территории Беларуси на неопределенный срок. Такое решение объясняют наличием войск НАТО у западных границ. Но, я убежден, за этим последует усиление российских войск не только человеческими ресурсами, но и техникой. Иными словами, Беларусь все больше милитаризуется, заполняется вооруженными силами другой страны. А предсказать результаты подобной милитаризации невозможно. Дипломатия не работает. Но самое главное, что руководство страны не доносит информацию до населения и принимает решения в соответствии с собственным уровнем культуры и образования. Думаю, решение (oставить российские войска в Беларуси) принимала не беларусская сторона; она согласилась только с тем, чтобы сохранить себя у власти. Скажу так: это обоюдное решение с Российской Федерацией. Россия давно, особенно сегодня, планировала разместить войска в Беларуси – для обеспечения своих интересов.[/bilingbox]
Die Publizistin und Philologin Irina Prochorowa, eine der wichtigsten russischen Intellektuellen, braucht auf Facebook nur wenig Worte:
[bilingbox]Mein Gott, wie konnten wir es zu solcher Schande und Ehrlosigkeit kommen lassen … Es ist beschämend und bitter, in diesem Teil der Welt zu leben, meine Herrschaften …~~~Боже мой, как мы могли докатиться до такого позора и бесчестия…Стыдно и горько жить на этой части света, господа… [/bilingbox]
Droht der Ukraine eine russische Invasion? „Das Risiko steigt,“ warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Wochenende in der ARD. Stoltenberg sagte, er befürchte, dass Russland derzeit einen Vorwand für einen Einmarsch suche.
Am Freitag hatten Denis Puschilin und Leonid Pasetschnik die Bevölkerung per Videoansprache zur „Evakuierung“ aufgerufen. Die beiden sind die Chefs der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, wo Russland in der Vergangenheit auch massenweise russische Pässe ausgestellt hat. Wie später anhand von Video-Metadaten bekannt wurde, wurden die beiden Aufrufe offenbar schon zwei Tage zuvor aufgenommen – als die Lage vor Ort noch ruhig war. Mitte Februar 2022 hatte die Staatsduma zudem eine Initiative der KPRF verabschiedet, die beiden abtrünnigen Regionen als unabhängig anzuerkennen. Am heutigen Montag tagt der Sicherheitsrat dazu in einer außerordentlichen Sitzung. Die USA und weitere westliche Staaten warnen bereits seit Wochen davor, dass Russland einen Anlass für einen Angriff auf die Ukraine erfinden wolle.
Beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar in Moskau sprach Präsident Wladimir Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine. Berichte im russischen Staatsfernsehen verbreiten diese Lesart: Im staatlichen Perwy Kanalerzählte RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan am Wochenende zuvor von angeblichen Gräueltaten der ukrainischen Armee im Osten der Ukraine und tausenden Kindern im Donbass „ohne Arme und Beine“. Weder UN noch OSZE sehen im Donbass dagegen Hinweise für einen Genozid.
Genozid, Völkermord – die militärische Operation der NATO gegen Jugoslawien im Jahr 1999 legitimierten viele westliche Politiker damals als eine humanitäre Intervention, die NATO handle aus einer „Schutzverantwortung“ heraus. Derzeit weisen Beobachter immer wieder auf solche vermeintlichen Parallelen zum Kosovokrieg hin – als Russland auf der Seite Serbiens stand: Unter dem Vorwand eines „Genozids“ und einer „Schutzverantwortung“ könnte Russland nun auch die Ukraine angreifen.
Auch in russischen unabhängigen Medien kommentieren Beobachter die jüngsten Ereignisse mit wachsender Sorge. Meduza hat am Freitag außerdem Bewohnerinnen und Bewohner der „Volksrepubliken“ zur aktuellen Lage befragt. dekoder bringt Ausschnitte daraus und aus der Debatte.
Kirill Martynow, Redakteur der Novaya Gazeta, kommentiert die aktuellen Ereignisse in einem emotionalen Post auf Facebook:
Samstag, der 19. Februar, der Tag vorm Abschluss der Olympischen Spiele, hat Anschauungsmaterial wie aus dem Lehrbuch geliefert für die Entfesselung eines aggressiven Krieges.
Was ist zu tun, wenn niemand Krieg will, du ihn aber dringend brauchst, um ernst genommen zu werden? Ein Schlüsselmoment ist hierbei die Entschmenschlichung des Feindes: Um ein Nachbarland zu überfallen, muss man erst einmal der eigenen Gesellschaft beibringen, dass in diesem Land Unmenschen leben, die eine Un-Sprache sprechen. Belofinnen, Belopolen, Banderowzy – you name it.
Ein Schlüsselmoment ist die Entschmenschlichung des Feindes
Von solchen Unmenschen ist immer und alles zu erwarten, deswegen wundert sich wohl niemand, wenn sie pünktlich, im Moment der Konzentration von zehntausenden mobilisierter Soldaten an ihren Grenzen, einen Tag vor Ende des Sportfestes in China, eine Jagd auf friedliche Bürger beginnen. Am Horizont erscheint ein gekreuzigter Junge von der Größe der Donbass-Gebiete: Um das Bild der unmenschlichen Grausamkeit zu vollenden, benutzt man Freitagabend Waisenkinder aus dem dortigen Kinderheim und bringt sie mitten in der Nacht irgendwohin. Wer bringt Kinder in eine solche Lage? Nur Todfeinde des guten russischen Volkes, Unmenschen.
Pünktlich beginnen an der Grenze zur Russischen Föderation Granaten zu explodieren. Zum Glück gibt es keine Opfer, und woher die Granaten angeflogen kamen, ist auch nicht klar, aber das ist auch nicht wichtig, denn alles ist false flag – ein Täuschungsmanöver. Dazu sind nur die da in der Lage, die Untiere!
Die Evakuierung angesichts eines unsichtbaren Feindes entwickelt sich von allein in eine humanitäre Katastrophe – verbunden damit ist das Abpressen von Hilfsgeldern russischer Staatsbediensteter, die aufgerufen sind, Teile ihres Gehalts für „die Kinder des Donbass“ zu spenden. Zusätzlich wird es zu einem es zu einem Casus Belli, denn wenn den Menschen befohlen wird zu fliehen, dann ist die Lage ja sehr ernst. Für alle Fälle werden parallel dazu Männer, die in der Donezker und Luhansker Volksrepublik leben, unter dem Vorwand der Mobilmachung als Geiseln genommen – vielleicht töten die Unmenschen einige von ihnen.
Der Krieg jedoch will einfach nicht beginnen, weil ihn immer noch niemand will, aber man muss ihn heranzüchten, ihm auf die Beine helfen, ihn mit Geld füttern und mit Propaganda aufblasen
Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?
In Donezk explodiert als erstes ein oller UAZ und wenig später stellt sich heraus, dass mit diesem Nummernschild bis vor Kurzem ein anderes, neueres Fahrzeug unterwegs war. Der hinterlistige Feind hat wohl vor dem Terroranschlag den neuen Geländewagen gegen den alten getauscht: So wirtschaftlich clever konzipiert ist die Operation Mungo-Volte – wie sie in den Metadaten [der Evakuierungsaufrufe] der Chefs der Donezker und Luhansker Volksrepublik heißt, aus denen auch hervorgeht, dass diese Eil-Videobotschaften bereits [zwei Tage – dek] zuvor aufgenommen worden waren.
Aus dem Kommandopunkt wird der Start unserer neusten Friedensraketen verfolgt. Ihren Flug beobachten auch die „harten Nüsse“ [Lukaschenko und Putin – dek]. Das Verteidigungsministerium erklärt, dass unsere russischen Truppen in einem weiteren Nachbarland so lange bleiben werden, wie es die aufgekommene internationale Anspannung erfordert. Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?
Wir sind historisch doch die Unschuld in Person
Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft wächst quasi wie von selbst: In einer Spezoperazija hat die Duma die Bereitschaft erklärt, die DNR und LNR anzuerkennen. Jetzt ist der Sprecher des Parlaments empört, dass das Leiden der Kinder im Donbass westliche Politiker völlig kalt lässt. Die Regierung Kubas beschreibt die Politik des Westens als Hysterie und Provokation.
Dimitri Peskow teilt uns seine historiosophischen Anschauungen mit, nach denen Russland in seiner gesamten Geschichte nie jemanden angegriffen hat. Ich denke, das ist ein seltener Fall, in dem Peskow aufrichtig spricht. Viele Menschen, bei denen Propaganda an die Stelle von Bildung getreten ist, teilen diese Ansicht: Diese Unmenschen an unserer Grenze provozieren uns – wir sind historisch doch die Unschuld in Person.
Die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen
Die Qualität der Inszenierung wirkt, als hätte der betrunkene Chef eines Provinz-Jugendtheaters Regie geführt. Viele glauben ihr nicht, doch die werden dann zu Helfershelfern der Unmenschen und zu Feinden erklärt, und die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen. Beim Rest der Gesellschaft führt der ganz normale Konformismus zu der Haltung, dass der Krieg nun unausweichlich ist: Wir sind die belagerte Festung und müssen den Gürtel enger schnallen. Da muss doch was dran sein, wo Rauch ist, ist auch Feuer, schließlich könnte doch niemand so dreist unser großes Volk belügen und der Kaiser kann doch nicht nackt sein.
Dimitri Kolesew: Humanitäre Krise als zusätzliches Argument und Druckmittel
Dimitri Kolesew fasst die Geschehnisse in einem Überblicksartikel auf Republic zusammen – an dessen Ende geht er auch auf die Warnung von US-Präsident Biden ein, dass Russland plane, die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen:
Die ausgerufene Evakuierung wirkt bislang eher wie der Teil einer Informationskampagne, die Russland im Konflikt mit dem Westen und der Ukraine braucht. Derzeit ist eher zweifelhaft, ob aus DNR und LNR tatsächlich große Flüchtlingsströme zu erwarten sind, für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es aber reichen.
Die Frage ist, warum es notwendig ist, die Situation auf diese Weise anzuheizen. Die Vereinigten Staaten erklären nach wie vor, dass Russland eine kriegerische Invasion in die Ukraine vorbereitet, wobei sogar damit zu rechnen sei, dass sie bis Kiew vordringen wollen. Das ist eines der möglichen Szenarien, doch ist es nicht sehr wahrscheinlich. Und sei es nur, weil die an der Grenze zusammengezogenen Truppen für eine großangelegte Invasion oder Besatzung nicht ausreichen würden.
Für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es reichen
Realistischer wirkt da schon die Variante eines Einmarschs russischer Truppen in das Gebiet von DNR und LNR, wo Russland de facto bereits vor Ort ist. Womöglich wäre dafür eine Anerkennung der beiden Republiken nötig. Das allerdings würde vom Westen als Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine gewertet werden, hätte harte Sanktionen zur Folge und würde die internationale Lage Russland noch mehr erschweren. Der Nutzen eines solchen Schritts liegt nicht auf der Hand.
Womöglich hat Moskau nun in Reaktion auf die USA, die die Situation mit Erklärungen über eine unmittelbar bevorstehende russische Invasion aufgeheizt haben, die Unruhe gesteigert, indem es eine humanitäre Krise simuliert. Das könnte ein zusätzliches Argument und Druckmittel gegenüber Washington und Kiew sein, um Garantien für den Nichteintritt der Ukraine in die NATO und für die Erfüllung des Minsker Abkommens nach russischer Lesart zu bekommen.
Meduza: „Auf uns wartet keiner, nirgends”
Unmittelbar dem Evakuierungsaufruf am Freitag hat Meduza Stimmen vor Ort eingeholt. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus.
„Wir haben schon lange keine Angst mehr“ Jelena, Schachtjorsk
Ich selbst möchte nirgends hinfahren. Auf uns wartet keiner, nirgends – ja, und was ist mit der Arbeit, sowieso klar. Keiner will wegfahren. Die Leute glauben nicht, dass es Krieg geben wird. Und ich auch nicht: Ihr werdet sehen, es passiert nichts. Da bin ich sicher, Schluss, aus. Wir haben schon lange keine Angst mehr, wir sind an all das schon seit vielen Jahren gewöhnt.
Mir scheint, das ist alles Politik. Russland wollte unsere Republiken anerkennen, dann sagte Putin: „Nein, nein, ich werde nichts anerkennen.“ Jetzt muss man einen Präzedenzfall schaffen. Was werden wir tun, wenn die Ukraine die DNR und LNR angreift? Wir werden die Republiken anerkennen, denn da leben viele unserer Bürger – die, die einen russischen Pass bekommen haben. Es ist unklar, warum das ausgerechnet jetzt passiert. In den letzten Jahren haben wir friedlich gelebt sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland.
„Ich kämpf auch mit der Mistgabel gegen Ukro-Faschisty“ Denis, Donezk
Meine Familie und ich, wir sind 2014 nirgendwohin geflohen und haben auch jetzt beschlossen, hier zu bleiben. Ich bin 45 Jahre alt, hatte vor kurzem erst einen Herzinfarkt, meine Angina pectoris macht sich bemerkbar, aber wenn es richtig knallt, klar, dann kämpf ich sogar mit einer Mistgabel gegen die ukrofaschisty. Im Kriegsfall ist meine Hauptaufgabe meine Familie und mein Land zu schützen.
Was die tatsächliche Situation vor Ort betrifft, da kann ich sagen, dass das, was sie in der Zombiekiste zeigen, stark übertrieben ist. Es sind bei weitem nicht alle willens wegzufahren. Viele wollen hier weiterhin wohnen bleiben, wie sie auch 2014 geblieben sind.
„Die hätten jemanden aus Hollywood beauftragen sollen“ Jewgeni, Donezk
Ich wohne am Rande der Stadt. Bei uns wurde gestern nur ein bisschen geschossen und heute auch etwas – in der Ferne. Ich glaube, dass die Infrastruktur in der Stadt von den Einheimischen selbst vermint wurde. Mir scheint, sie haben sich nicht einmal viel Mühe gegeben. Die hätten doch jemanden aus Hollywood beauftragen sollen, um es etwas raffinierter zu machen. Einen UAZ im Stadtzentrum in die Luft jagen und behaupten, es sei der UAZ des Polizeichefs gewesen – das ist nicht mal lustig. Ich habe noch nie einen Polizeichef in einem UAZ gesehen. Ich glaube, die DNR-Behörden selbst haben sich das einfallen lassen. Ich glaube an eine Invasion der Ukraine, aber die Ukraine braucht das am wenigsten.
Die Gescheiten – Geschäftsleute, Politiker, Banditen – haben dieses Gebiet 2014 verlassen. Ich blieb und fragte mich, was passieren wird. Für diese Regierung würde ich aber nicht in den Krieg ziehen. Ich werde nicht kämpfen, um meine Heimat zu verteidigen, weil ich ein anderes Land als mein Heimatland betrachte: Ich wurde als Ukrainer geboren, ich werde als Ukrainer sterben, einen russischen Pass will ich nicht.
„Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen“ Alexander, Makejewka
Ich bin Wehrpflichtiger. Jetzt heißt es, dass sie schon von Haus zu Haus gehen und einberufen, bis jetzt ist noch niemand zu mir gekommen. Ich will nicht kämpfen. Ich denke, es muss nicht sein. Die Leute versuchen, ihre Taschen zu füllen und Macht aufzuteilen. Einer braucht ein Amt, ein anderer Geld. An der Macht ist jetzt, wer früher ein Niemand war. Jetzt haben sie Befugnisse und versuchen, sich etwas aus den Fingern zu saugen. Wer in den Krieg ziehen wollte, ist schon dort. Soldat in der Armee zu sein ist nur eine Verdienstmöglichkeit.
Im Internet vergleichen viele die aktuelle Situation mit 1941 oder 1945. Damals haben die Menschen für ihre Heimat gekämpft, die Deutschen haben angegriffen. Gegen wen soll man aber jetzt Krieg führen? Gegen Brüder und Schwestern auf der anderen Seite? Viele haben Verwandte in der Ukraine. Viele. Wahrscheinlich jeder. Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen.
Die Grundstimmung ist: „Kann uns nicht irgendjemand irgendwo aufnehmen.“ Wenn Russland uns aufnimmt – gut, damit könnten wir leben. Wenn die Ukraine uns aufnimmt, auch gut. Jetzt sind wir in einer Zwischenzone: In Russland scheint es einigermaßen gut zu laufen, auch in der Ukraine ist es ok, nur bei uns wie immer – nicht so richtig.
Jetzt also aufatmen? Am Freitag vergangener Woche noch hatten die USA die NATO-Länder gewarnt, es gebe konkrete Kriegspläne Russlands, ein Angriff auf die Ukraine sei für Mittwoch, 16. Februar geplant – den der ukrainische Präsident Selensky prompt zum nationalen Feiertag erklärte. Die USA verlegten ihre Botschaft von Kiew nach Lwiw in der Westukraine, zahlreiche NATO-Länder, darunter auch Deutschland, forderten ihre Landsleute auf, die Ukraine zu verlassen.
Das Vorgehen löste eine Debatte aus, welche Strategie hinter solchen öffentlichen Warnungen der US-Geheimdienste steckt. Sollte es darum gehen, mit der Warnung vor einem Krieg eben diesen zu verhindern? Und ist die Strategie nun aufgegangen? Schon am Dienstag, noch vor dem Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Wladimir Putin in Moskau, gab es Entspannungssignale: Der russische Außenminister Lawrow sagte, man wolle Gespräche mit den USA und der NATO fortführen. Später, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz, betonte Putin, Russland sei „bereit, den Weg der Verhandlungen zu gehen“. Alles wieder gut also? Oder wird die russische militärische Bedrohung der Ukraine den Westen noch lange beschäftigen?
Alexander Baunow kommentiert auf Carnegie.ru das Vorgehen der USA und Russlands sowie die (vermeintliche) Entspannung.
Die Ankündigung eines fremden Krieges – für Biden war das eine günstige Strategie. Sollte es Krieg geben, hätte er Recht gehabt – wenn nicht, dann hat er Putin gestoppt. Gestoppt, ohne Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen und – was für ihn wichtig ist – in Geschlossenheit mit den Verbündeten, im Namen des Westens als politisches Ganzes.
Es wäre falsch daraus zu schließen, dass es ihm gleichgültig wäre, ob Putin nun einmarschiert oder nicht. Wenn du einen Krieg gestoppt hast, bist du stark. Wenn nicht, bist du nicht stark genug. Wenn nun Russland in die Ukraine einmarschiert, wäre die Reaktion, die sich der Westen erlauben kann, für viele ungenügend und inadäquat für ein solch extremes Ereignis. Doch wenn Russland nicht einmarschiert, wird der Westen stark aussehen – er ist also in der Lage, einen Aggressor aufzuhalten. Das ist einer der Gründe dafür, warum mit solcher Überzeugung von einer unabwendbaren Aggression gesprochen wurde. Je unabwendbarer, desto ruhmreicher ein beliebiger anderer Ausgang.
Biden als Leader eines geeinten Westens
Eine Invasion scheint für den Westen tatsächlich wahrscheinlich. Und das betrifft nicht nur die plaktativen Schlagzeilen der Boulevardmedien, über die man sich ironisch äußern kann bis zum Abwinken. Aber die führenden Köpfe einflussreicher Staaten sind keine Boulevardblätter, sie mögen es nicht besonders, wenn man sich ironisch über sie erhebt, sie reißen sich nicht darum, zum Lacher zu werden. Doch genau das wäre die Wirkung der ungewöhnlich intensiven diplomatischen Aktivität und der nie gehörten Besorgtheit im Ton der Erklärungen, gäbe es dafür jenseits der Boulevard-Schlagzeilen keine ernste Grundlage.
Ein globales Spektakel von diesem Ausmaß mit dem Ziel Russland zu diffamieren, kann man sich nur schwer vorstellen. Denn auch Vertreter Frankreichs und Deutschlands sind mit von der Partie – und die reißen sich gewöhnlich nicht darum, Russland einfach so in ein schlechtes Licht zu rücken. Für die, die wollen, finden sich zahlreiche andere Gründe, von dem mittlerweile halb in Vergessenheit geratenen Nawalny bis hin zu neuen Cyberattacken.
Ähnliche stark war die mediale und politische Nervosität zum letzten Mal vor dem Einmarsch der amerikanischen Koalition in den Irak, allerdings waren seinerzeit die Vereinigten Staaten erst kurz zuvor Opfer des größten Terroranschlags der Weltgeschichte geworden. Frankreich und Deutschland gingen ihren eigenen Weg. Diesmal haben sich die vier Mächte – USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland – vielleicht nicht in einer Reihe aufgestellt, doch dafür als Gruppe gebündelt, mit Blick in dieselbe Richtung.
Für Biden ist es wichtig, nicht als einsamer Alarmist dazustehen, erst recht nicht als Mitschuldiger an der Eskalation, sondern als Leader eines geeinten Westens. Die geteilte Besorgtheit und die Zusammenarbeit mit anderen westlichen Staatschefs schützen ihn vor Anschuldigungen, falls sich die Aufregung als unbegründet herausstellt.
Truppenkonzentration als Instrument harter Diplomatie
Es ist durchaus denkbar, dass Moskau tatsächlich zu irgendeinem Zeitpunkt ein gewaltsames Vorgehen der Ukraine [im Donbass – dek] befürchtet hat – ermutigt durch den Wahlsieg Bidens, die aserbaidshanische Operation zur Rückholung Bergkarabachs, neue Waffen und so weiter. Als abschreckendes Signal wurden dann im vergangenen Frühling Truppen zusammengezogen und Richtung Ukraine geschickt.
Daraufhin stellte sich heraus, dass ein Zusammenziehen von Truppen Richtung Ukraine als Instrument harter Diplomatie funktioniert. Es kam zu einer Reihe intensiver, nicht geplanter Kontakte zwischen der neuen amerikanischen Regierung mit dem Kreml und einem Gipfeltreffen der Präsidenten, das andernfalls womöglich noch lange auf sich hätte warten lassen. Überhaupt rückte Russland vom Rand ins Zentrum der Agenda der neuen [Biden-]Administration.
Nachdem der Kreml mit der moderaten und kurzfristigen Konzentration von Truppen moderate Ergebnisse erzielt hatte, beschloss er den Wirkungsgrad dieses Instruments zu maximieren. Schon lange hatte Russland eine Beschwerdeliste angelegt, auf die der Westen in keiner Weise reagierte, ja, die er sogar als uninteressant und offensichtlich perspektivlos abtat. Und siehe da, es hatte sich ein Mittel gefunden, sodass er doch reagierte: Truppen in direkter Nähe zur Ukraine in einer solchen Menge und Zusammensetzung, dass es die Militärs für die Vorbereitung einer Invasion hielten.
Marschbereitschaft und Feldzug unterscheiden sich darin, dass beim ersten noch niemand irgendwohin marschiert und das auch nicht unbedingt tun muss. Doch fordert der Einsatz solch extremer Instrumente auch beeindruckende Ergebnisse. Wird die Bedrohung zurückgenommen, ohne dass überzeugende Ergebnisse erzielt wurden, bedeutet das, dass die Androhung von Gewalt als Druckmittel beim nächsten Mal nicht funktionieren wird. Deswegen muss es entweder zur Gewaltanwendung kommen oder es müssen beeindruckende Ergebnisse präsentiert werden. Oder man muss versuchen, mit den erreichten Ergebnissen zu beeindrucken. Bislang sind ein solches Ergebnis – abgesehen von der Wiederaufnahme einiger Themen: die einzigartig intensiven diplomatischen Kontakte.
Jetzt also aufatmen?
Ohne ein umfassendes diplomatisches Ergebnis und ohne den Entschluss zum gewaltsamen Vorgehen ist es nicht ausgeschlossen, dass Russland die Marschbereitschaft der Armee nahe der ukrainischen Grenze in eine ständige oder regelmäßig reaktivierbare Bedrohung verwandelt. Die würde der Ukraine mehr Schaden bringen als die westliche Hilfe Vorteile verschafft. Der Westen wird dadurch ebenfalls in Anspannung gehalten, sodass die Ukraine und der Westen letztlich zu größeren Kompromissen bereit sein könnten. Wenn nicht mit dem Schwert, dann also durch Zermürben.
Rund 30.000 Soldaten aus Russland nehmen laut Kalkulationen der NATO an dem Militärmanöver mit Namen Entschlossenheit der Union 2022 teil, das noch bis zum 20. Februar in Belarus stattfindet. Eine für ein Manöver ungewöhnlich hohe Zahl an Kampftruppen, die sogar aus dem Fernen Osten Russlands verlegt wurden. Dazu Luftabwehrsysteme, Raketen, die mit Atomwaffen bestückt werden können, und Kampfjets. Die russische Führung bestätigte, dass die Übung an fünf Orten im Nachbarland abgehalten wird, betonte aber, dass man sich in Bezug auf die Truppenstärke an die internationalen Vorgaben halten werde. Diese erlauben maximal 13.000 Soldaten. Internationale Militärexperten und Kritiker äußern Sorge darüber, dass der Kreml Belarus als Aufmarschgebiet für eine etwaige Invasion der Ukraine nutzen könnte. So wurde ein großes russisches Militärlager in der Nähe der Stadt Retschiza errichtet, rund 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. In Belarus wird mitunter befürchtet, dass die russischen Truppen auch nach der Übung im Land stationiert bleiben könnten. Eine Angst, die Alexander Lukaschenko zu zerstreuen versuchte, indem er sagte, dass die russischen Truppen nach Ende des Manövers das Land verlassen würden. Den Abzug würde er zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin entscheiden. Für Ende der Woche ist ein Treffen der beiden Staatsführer angekündigt.
Der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman setzt sich in seinem Stück für die russische Online-Plattform Carnegie.ru mit möglichen politischen Konsequenzen des Manövers für Belarus auseinander. Dabei fragt er auch, welche Rolle die Staatsführung um Lukaschenko für den Kreml spielen würde, falls es zu einem Krieg kommen sollte.
Für das Regime in Belarus sind zwei extreme Szenarien unangenehm, die sich im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ergeben könnten: ein Krieg und ein Waffenstillstand. Käme es zum Krieg, wäre man zu riskanten und wohl auch selbstzerstörerischen Zugeständnissen an den Kreml genötigt. Im zweiten Fall würde es schwierig werden, im Kreml Interesse für die zur Schau getragene antiwestliche Haltung zu wecken. Um die USA zu Zugeständnissen bezüglich der Sicherheitsgarantien zu bewegen, hat Moskau eine reale Drohkulisse für die Ukraine geschaffen, indem das Land von allen Seiten mit Truppen umstellt wird. Eine der Fronten dieser militärischen Diplomatie ist mittlerweile das Staatsgebiet von Belarus.
Vom Friedensstifter zum Vorposten
Alexander Lukaschenko fällt in diesem Geschehen nicht einfach nur die Rolle eines Statisten zu, sondern vorgeblich die des Initiators dieser Manöver, die bis zum 20. Februar in Belarus stattfinden. Er hatte als erster bereits Anfang Dezember von den bevorstehenden außerplanmäßigen Manövern gesprochen. Anschließend unterstrich er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er selbst die russischen Streitkräfte eingeladen habe. Man müsse die Verteidigung der Südflanke üben, da von der Ukraine eine Gefahr ausgehe. Bereits vor ihrem Beginn haben die Manöver die neue Rolle von Belarus in der Region verdeutlicht und auch den Kontrast zu den Träumen von einer osteuropäischen Schweiz, von denen die belarussische Regierung vor ein paar Jahren noch sprach.
Bis 2020 hatte Lukaschenko die Verschärfung der Krise zwischen Russland und dem Westen ausgenutzt. Minsk balancierte zwischen den beiden Seiten, indem es für die eine Seite Risiken feilbot und der anderen Seite Möglichkeiten offerierte. 2020 brach dann der westliche Vektor ab, und Minsk hat jetzt weder Raum für diplomatische Schachzüge noch eine Wahl, wie es sich im Falle einer Eskalation in der Region verhalten kann. Ein neuer Versuch, sich von Moskau zu distanzieren, würde im Westen wohl kaum honoriert werden, in Russland träfe er, milde gesagt, auf Unverständnis.
Unter Experten und Politikern gab es viele Jahre Diskussionen darüber, wie autonom Lukaschenko sein werde, wenn sich die Gefahr eines echten Krieges abzeichnet: Folgt er gehorsam dem Willen des Kreml oder geht er in Widerstand, um seine Souveränität zu bewahren und sie allen zur Schau zu stellen? Anfang 2022 begann nun ein Experiment, das diese Debatte – und sei es vorübergehend – zugunsten der ersten These entscheidet. Niemand fragt sich jetzt noch, als was das belarussische Territorium zu betrachten ist: Es ist jetzt ganz und gar russisches Aufmarschgebiet. Und der Grad an Bedrohung von Seiten des belarussischen Hofes wird allein von einer Variablen bestimmt: ob der Kreml einen Krieg will.
Lukaschenkos undankbare Rolle in dem Spiel
Lukaschenko hat sich derweil keineswegs verändert. Es missfällt ihm, dass er nicht mehr als Herr der Lage im eigenen Land wahrgenommen wird. Es verletzt ihn allein schon der Gedanke, dass sowohl Kräfte im Ausland als auch die eigene Nomenklatura in ihm einen Vasallen Russlands und nicht des belarussischen Souveräns erkennen. Das ist schon an Kleinigkeiten erkennbar. Bei einer Sitzung mit den Silowiki fängt er plötzlich an, in Abwesenheit, aber sehr ausgiebig mit dem Anführer der vorletzten Oppositionsgeneration Senon Posnjak, zu streiten. Er argumentierte dabei, dass das derzeitige Regime keine Besatzung des Landes zulassen werde, woher die Gefahr auch kommen möge.
Washington versteht diesen Charakterzug Lukaschenkos und ärgert ihn damit, dass es durch einen ungenannten Mitarbeiter des Außenministeriums erklären lässt, der belarussische Diktator habe allem Anschein nach die Situation nicht mehr im Griff. Und: Wenn sich Minsk in einen Krieg mit der Ukraine verstricken würde, könne das zu einer Spaltung der belarussischen Eliten führen. Das sieht nicht nach dem Wunsch aus, Lukaschenko in die Schranken zu weisen, sondern eher nach einem Versuch, die manipulativen Spekulationen des Gegners zu durchkreuzen und Lukaschenko zu Selbständigkeit zu ermutigen. Parallel drohen die USA Minsk mit neuen Sanktionen wegen der möglichen Beteiligung an einer russischen Aggression gegen die Ukraine. Das ist keine leere Drohung: Wegen der geringen Bedeutung von Belarus für die Weltwirtschaft und einer Reihe bereits verhängter Sanktionspakete wäre es politisch einfacher, Sanktionen gegen Belarus auf ein iranisches Niveau zu schrauben als in gleicher Weise gegen Russland vorzugehen.
All diese Umstände, die Lukaschenko vielleicht erzürnen mögen, können jedoch nichts an einer weit unangenehmeren Tatsache ändern: Falls sich die Lage in der Region bis zum Äußersten eskaliert, dürfte der Kreml seine Pläne für das Territorium von Belarus nicht davon abhängig machen, was Lukaschenko dazu sagt.
Weder Krieg noch Frieden
Die Wahrscheinlichkeit eines echten Krieges in der Region abzuschätzen, ist eine undankbare Aufgabe. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, wird die belarussische Armee wohl kaum unmittelbar daran beteiligt sein. Die Ausnahme wäre hier, wenn es zu einem vollkommen apokalyptischen Szenario käme, bei dem die russischen Angriffe gegen die Ukraine von belarussischem Territorium aus geführt werden, und es als Antwort der Ukraine zu Raketenbeschuss und Sabotageaktionen kommt, von denen belarussische Militärangehörige oder Zivilisten betroffen wären.
Auf eigene Faust wird Lukaschenko in dem Konflikt sicherlich keine belarussischen Truppen einsetzen. Darauf ist Moskau aus militärischer Sicht nicht sonderlich angewiesen, doch gibt es gewichtige politische Gründe. All die 27 Jahre an der Macht hatte Lukaschenko seinen Wählern Ruhe und Frieden als wichtigste Leistung versprochen, die alle anderen Entbehrungen und Probleme rechtfertigt. Eine Beteiligung an einem Krieg, insbesondere gegen die Ukraine, wäre selbst einem beträchtlichen Teil der Anhänger Lukaschenkos schwer zu erklären, und den übrigen Belarussen umso schwerer. Lukaschenko ist mittlerweile ohnehin zu weit vom Höhepunkt seiner Legitimität entfernt, um sein wichtigstes politisches Kapital zu riskieren, nämlich den Frieden seiner loyalen Wähler.
Lukaschenkos jüngster Ansprache an das Volk und das Parlament zufolge ist ihm das sehr wohl bewusst. In seiner Rede fand sich viel militaristische Rhetorik, doch erklärte er auch auf die Frage einer Frau aus dem Saal, ob ihre Söhne im Ausland würden kämpfen müssen, dass die belarussische Armee dazu da sei, das Land auf dem eigenen Territorium zu verteidigen. „Wenn sie kommen, um uns umzubringen, werden wir uns volle Pulle wehren, auf unserem, wie auf fremdem Territorium. Von uns wird niemals ein Krieg ausgehen“, fügte er hinzu. Bei einer solchen Veranstaltung gibt es keine Fragen, die nicht vorab genehmigt wären, also wollte die Regierung, dass Lukaschenko die Gelegenheit für eine solche Antwort hat, um die zunehmenden Ängste in der Gesellschaft zu zerstreuen.
Die Grauzone dieses gelenkten Konflikts ist ideal, um Moskau ohne größere Verluste seine rhetorische Loyalität zu verkaufen. Falls der Konflikt zwischen Russland und den USA ohne Krieg, aber auch ohne einen Frieden gelöst wird, wenn also die Differenzen diplomatisch breitgeredet werden, könnte Lukaschenko daraus sogar Kapital schlagen. Für das Verhältnis von Minsk zum Westen würde das allerdings nichts Neues bedeuten. Die Hoffnungen auf eine Autonomie Lukaschenkos sind eh zerstoben, und dieser Ansehensverlust lässt sich in absehbarer Zukunft nicht korrigieren.
Im Verhältnis zu Moskau würde Lukaschenko allerdings zu einem Verbündeten, der in einem wichtigen Moment seine Pflicht in einem Bereich erfüllt hat, der für den Kreml von sakraler Bedeutung ist, nämlich bei der Sicherheit. Sollte das für Moskau nicht ein Anlass sein, bei den nächsten Kreditverhandlungen etwas großzügiger zu sein?