Laut des russischen Verteidigungsministeriums sollen die „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduziert werden. Man wolle sich vor allem auf den Donbass konzentrieren. Allerdings gingen die Angriffe von russischer Seite auch nach dieser Ankündigung weiter. Es gab auch das erste Treffen seit Wochen zwischen Vertretern der Ukraine und Russland in Präsenz. Doch ob die Verhandlungen wirklich eine Annäherung gebracht haben, wird sich erst zeigen müssen. Bisher wird das eher skeptisch gesehen.
Belarussische Medien wie Zerkaloberichteten am Dienstag von einem Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine nach Belarus, das der Kreml von Anfang an als Aufmarschgebiet für den Angriffskrieg genutzt hat. Immer wieder gab und gibt es Hinweise, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eigene Truppen in den Krieg schicken könnte, was bis heute allerdings nicht passiert ist. Ein Grund könnte sein, dass Lukaschenko die innenpolitischen Folgen eines solchen Schritts fürchtet. Denn die große Mehrheit der Belarussen scheint gegen den Krieg zu sein. Mittlerweile kämpfen mehrere Gruppen mit belarussischen Freiwilligen auf Seiten der Ukraine. Und im Land selbst haben Belarussen durch diverse Protestaktionen oder Sabotageakte beispielsweise an den Eisenbahnstrecken, über die russisches Gerät transportiert wird, ihren Unmut gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Grund: Der Widerstand innerhalb der belarussischen Armee gegen den Kriegseinsatz ist einfach zu groß.
Die Belarussen befänden sich in einer komplexen moralischen und emotionalen Zwickmühle, meint der belarussische Autor Maksim Shbankou. Nach einer begonnenen friedlichen Revolution im Jahr 2020, die aber nicht zu einem Wechsel der Regierung geführt hat, seien sie nun Teil einer Gemengelage, die durch Lukaschenkos fatale Abhängigkeit vom Kreml entstanden ist. In dieser unheilvollen Situation würden sich auch bekannte Komplexe und Schuldgefühle bemerkbar machen und altbekannte Unsicherheiten in Bezug auf das kollektive Ich der Belarussen. In einem Stück für das belarussische Online-Portal SN Plus seziert der in Vilnius lebende Shbankou die momentanen Selbstvergewisserungsversuche und -möglichkeiten der Belarussen.
Der Krieg arbeitet in zwei Richtungen: Er pustet die Hirne durch und erhöht den Grad des Wahnsinns. Klar, die Führung des Landes liegt im Koma. Unangenehm, wenn du selbst nicht im Land bist. Plötzlich schämst du dich, dass hier nicht geschossen wird und du nicht schießt. In die richtige Richtung. Irgendwie peinlich, jetzt shoppen zu gehen. Den Newsfeed zu scrollen – ist eine billige Ausrede: Scheinbar auf dem Laufenden zu sein, aber doch dran vorbei. Du wartest auf eine Invasion oder Raketen. Du weißt nicht mehr genau: Ist es gut oder schlecht, dass Vilnius so nah an Minsk liegt? Seltsam, Filme anzuschauen. Keine Filme zu schauen ist noch seltsamer. Uncool, Russisch zu sprechen. Und du weißt nicht, wo man eine kugelsichere Weste kauft. Unser Film hat Schnellvorlauf integriert. Der Plot schwimmt und schmilzt. Es bleiben nur die einfachen Dinge. Ohne Angst aufwachen. Rausgehen. Die Katze füttern. Sich selbst für schuldig an allem erklären.
Die beste Frage des russisch-ukrainischen Krieges: Wie hält man es mit den Belarussen? Am häufigsten hört man das von den Belarussen. Alle anderen kümmert es nur schwach – im Zusammenhang mit Alltagsgeopolitik oder öffentlicher Rhetorik. Sie leben von anderem. Aber wir haben ja nur uns. Unsere Firmenstrategie ist die aggressive Selbstaufopferung: Wir verhören uns selbst, wir richten und verurteilen uns, wir nageln uns selbst ans Kreuz. Wenn man es durchschaut hat, tatsächlich eine hervorragende Form der traumatischen Eigenwerbung.
Vielleicht nimmt man uns so wenigstens wahr.
Wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben
Die erste ukrainische Front ist dort, wo Kiew belagert wird, Iskander in Geburtskliniken einschlagen, ausgebrannte russische Panzer liegen und Wohngebiete flächenbombardiert werden. Die zweite ist in den Köpfen einzelner belarussischer Klugscheißer. Die sich nicht entscheiden können, was sie tun sollen: Reue zeigen oder gekränkt sein. Für alle Fälle wählen sie einfach beides.
Was hat uns gekränkt? Dass wir im Sandkasten vergessen wurden. Dass wir so großartig sind – aber nur schwach geliebt werden. Prag macht dicht, London will uns nicht, die Grenzer lächeln nicht.
Dass Europa uns einen Kampf schuldig ist – aber diese Schuld nicht einlöst. Dass Schengenvisa zu kurz sind und die Überweisungen zu lange dauern. Dass die Belarussen nicht im Trend und überhaupt kaum auf der Agenda sind – dabei war das Thema noch gar nicht durch. Dass sie uns blöde mit Lukaschenko verwechseln – und jetzt auch noch mit Putin.
Plus, wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben. Und jetzt auch noch Putin. Ein triumphales Tribunal. Humanitäre Selbstverstümmelung. Und was nun? Wir wurden so gemacht. Wir haben uns so gemacht. Vermeintliche Papierschiffkapitäne.
In einer Situation, in der Dächer einstürzen und Züge brennen, fliegt unser kulturelles Gepäck wie der Koffer eines überstürzt Flüchtenden in alle Winde und legt intime Details grundlegender geistiger Übungen dem zufälligen Betrachter zum Urteil vor. Geistige Klammer namens postsowjetischer Intellektualismus.
Alles hier besteht aus populären Illusionen, ausgebremstem Transitiv und emotionalen Rückschlägen. In einer solchen nach fremden Vorbildern zusammengebauten Welt bewegen Klugscheißer die Massen und säen das ewig Gute, diktieren Bücher die Regeln, erhalten die Beleidigten Blümchen, triumphiert die Vernunft, herrschen höhere Werte. Und das klangvolle Wort eines Nobelpreisträgers wiegt mehr als eine Ladung Marschflugkörper aufs nächste heiße Ziel.
Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe
Hier laufen zwei im postsowjetischen Raum populäre Legenden in einem gemeinsamen Schwung zusammen: intellektuelle Selbstverliebtheit und provinzielle Unterlegenheit. Erstere erlaubt es jedem beliebigen Individuum, das halbwegs „Habermas“ aussprechen kann, im Namen des besten Teils der Nation auf Sendung zu gehen. Letztere bringt einen dazu, sich beleidigt und minderwertig zu fühlen, selbst wenn man es in die höchste Liga geschafft hat. Der traumatische Messianismus bringt komplexbehaftete Helden zum Vorschein und fordert im Gegenzug obligatorische Knickse und regelmäßige Reue. Aber muss man überhaupt sagen, dass beide oben beschriebenen Märchen ausschließlich in unserer Fantasie existieren?
Die Nation ist eine Abstraktion. Das Volk eine Verallgemeinerung. Ein Konzept. Ein rhetorisches Mittel. Wollen die Russen Krieg? Eine inhaltslose Frage, die nach Konkretisierung schreit. Ist der Dichter schuld, dass er Schriftsteller und nicht Scharfschütze ist? Selbes Spiel. Oder: Ist Belarusse ein Makel oder ein Qualitätsmerkmal? Ebenso. Frag gefälligst konkreter.
Sich für die Hölle zu entschuldigen ist ausschließlich dann sinnvoll, wenn du – und zwar genau Du und nicht eine angenommene „Nation“ oder ein „Volk“ – irgendwie in der Lage warst, die Geschehnisse zu beeinflussen. Und das nicht getan hast. Mit anderen Worten, Reue erfordert Beteiligtsein.
Ein in Asphalt gewalztes Land möchte bestimmt nicht an einem Panzertango teilnehmen. Und ohne den verlieren alle Reueakte und weitere Wortakrobatik sofort ihren Wert, wenn wir den Mund aufmachen. Noch eine Videoansprache. Noch eine Petition. Ein neues Wortpaket. Eine frische Geste. Und noch ein Kommentar hinterher. Wer hat denn gesagt, dass unsere Konzepte etwas wert sind? Wer hat entschieden, dass die Orks Partituren brauchen?
Wir sind schön, laut, leicht verbeult – und stehen noch auf einem leeren Bahnsteig. Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe. Wir senden im Namen derer, denen das scheißegal ist. Wir sind bereit, fremde Schuld auf uns zu nehmen, die wir niemals begleichen können. Noch immer zu wenig Liebe? Stellt euch drauf ein, es wird schlimmer.
Es hat uns alle zugedeckt. So leben wir weiter.
Die zweite ukrainische Front – das ist der Krieg mit uns selbst. Mit der erdachten Mission und dem erträumten Status. Mit der Facebook-Brunft und der Youtube-Extase. Mit der ewigen Promo-Aktion der eigenen Minderwertigkeit und dem Pseudo-Partisanentum.
Ein jeder hat sein Gewicht. Seine Geschichte. Und seine Front. Wir brennen wie wir können.
Vor etwas mehr als einem Monat, am 24. Februar 2022, ist Russland in der Ukraine einmarschiert. Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war, meint Journalist Maxim Trudoljubow im Exilmedium Meduza (die Seite ist aus Russland nur per VPN aufrufbar und wird außerdem technisch aufwändig gespiegelt). Mit dem Krieg würden auch die Geister der russischen und sowjetischen Vergangenheit wieder zum Leben erweckt: Die verdrängte und nicht aufgearbeitete Geschichte, so Trudoljubow, tritt im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder ans Licht.
Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war. Dieser Krieg ist der zum Leben erwachte Schuldspruch, der alles in sich vereint, wovor die russische Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließen kann.
Ihre Haltung dazu haben die Kreml-Machthaber mit der Verfolgung von Memorial demonstriert: Memorial ist eine für die Zivilgesellschaft des neuen Russlands wegweisende NGO, die in vielerlei Hinsicht Vorreiter war beim Versuch der Gesellschaft, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. „Memorial erzeugt mithilfe von Spekulationen über politische Repressionen ein falsches Bild von der Sowjetunion als einem terroristischen Staat“, äußerte bei den Verhandlungen einer der Staatsanwälte. „Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?“
Die Zeit heilt keine Wunden
Wichtig an den Worten des Staatsanwalts ist nicht die typische Verdrehung der Tatsachen (Memorial sprach nicht von Reue, es plädierte für eine juristische Bewertung der Verbrechen), sondern der „Siegerkomplex“: die Vorstellung, Macher des Sieges in einem Krieg gewesen zu sein, an dem sie selbst gar nicht beteiligt waren. In den Köpfen der russischen Führer musste dieser Krieg (in dem die Russen übrigens Seite an Seite mit Ukrainern und anderen Völkern kämpften) die anderen schrecklichen Kapitel der Vergangenheit irgendwie auslöschen – und zwar so, dass der russische Staat und die russische Gesellschaft das moralische Recht hätten, den Kopf oben zu halten.
Aber von der Vergangenheit distanzieren wollte sich nicht nur die russische Machtelite. Der Großteil der russischen Gesellschaft wollte das auch.
Immer wieder tauchte in öffentlichen Debatten Intellektueller zu historischen Themen die Frage nach der Verjährungsfrist auf. Sie wurde unterschiedlich formuliert, diente aber stets demselben Zweck: die Schärfe der Debatte zu mildern. Ja, die Kommunistische Partei und ihre „Einsatztruppen“ – die Geheimdienste – wurden nie in großem Stil verurteilt (bzw. gab es einen Versuch, der jedoch missglückt ist). Aber es ist doch schon so lange her! Warum sollte man ein Volk, das ohnehin schon vom täglichen Kampf ums Überleben zermürbt ist, noch zusätzlich spalten? Das Land von damals existiert nicht mehr, es gibt jetzt ein anderes, das aufgebaut werden will – also muss man in die Zukunft blicken und nicht in der Vergangenheit wühlen. Schließlich gibt es in Russland Gedenkstätten für die Opfer des Terrors, es wird ihrer in Kirchen gedacht, Bücher werden über sie geschrieben und Filme gedreht, und es gibt sogar ein staatliches Museum zur Geschichte des Gulag.
Diese Logik hat nun keinerlei Sinn mehr. Es hat sich gezeigt, dass die Zeit keine Wunden heilt. Man wird sich nicht nur vom Siegerkomplex des Kreml verabschieden müssen, sondern auch von anderen Einstellungen, die außerhalb des Kreml existieren und verhindern, dass man die eigene Vergangenheit in ihrer ganzen Schwere akzeptiert. Wir leben in einem riesigen Schrank voller Skelette, in einem Keller voller Leichen.
Verbrechen ohne Verjährung
Bis zum 24. Februar 2022 konnte man meinen, dass ein Grundpfeiler unserer Identität ein gerechter Krieg war: der Große Vaterländische Krieg. In einem Land, in dem Traditionen und Verbindungen zwischen Generationen und sozialen Gruppen immer wieder abgerissen wurden, war das Gedenken an den Krieg ein verbindender und einheitsstiftender Mythos.
Im Massenbewusstsein überwog die Geschichte des Krieges die Grausamkeit und den Zynismus anderer Kapitel der russischen Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich – die Menschen erinnern sich lieber an das Gute als an das Schlechte. Und Politiker ganz besonders: Viele Staaten legen in ihrer Erinnerungspolitik die Betonung auf die Siege und lenken die Aufmerksamkeit von den Niederlagen ab. Dabei gibt es in der Geschichte eines jeden Landes Niederlagen und schmachvolle Episoden. Jede Nation, jede Gesellschaft bewältigt den Schmerz der Vergangenheit auf ihre eigene Weise. Die russische Gesellschaft bewältigte die Schande durch das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Lange Jahre hat dieses Gedenken verhindert, dass wir unserer Vergangenheit ins Auge blicken. Der Albtraum, der jetzt geschieht, muss uns dazu bringen, es endlich zu tun.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Nachbarländer als Pufferzonen ohne Recht auf Souveränität behandelt. In unserer Vergangenheit und Gegenwart besteht die Bereitschaft, Gewalt gegen ganze Völker anzuwenden, wenn sie den Machthabern in Moskau illoyal erscheinen. Im Grunde handelt es sich um eine koloniale Politik gegenüber den Nachbarvölkern – und auch gegenüber dem eigenen.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet. Um Methoden war der russische – und besonders der sowjetische – Staat dabei nie verlegen.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart hat sich die Macht exorbitante Befugnisse verschafft, eine nicht durch Gesetze und Institutionen eingeschränkte Macht. Im Russischen Reich gab es noch Geschworenengerichte und eine unabhängige Strafverteidigung – der sowjetische Staat entledigte sich dieser Rechtsinstitutionen als „bourgeoise Überbleibsel“. Die sowjetischen Leader verfügten über eine „Legalität“, die zunächst revolutionär und später sozialistisch war, das heißt, sie rechtfertigte jede Handlung, die für den Aufbau des Kommunismus zweckdienlich war. Dieses System hatte nichts mit dem Schutz von Rechten oder Gerechtigkeit zu tun. In unserer Vergangenheit und Gegenwart stellt man die Zweckdienlichkeit über das menschliche Leben.
Die Methoden, derer sich die Behörden bedienten, sind bekannt: Repressionen, inklusive außergerichtlicher Hinrichtungen, Gefangenschaft und Zwangsarbeit, die Eintreibung landwirtschaftlicher Produkte und Enteignungen, die zu Hunger und Tod führten. Nicht zu vergessen die militärische Aggression gegen Nachbarländer, Übergriffe auf Zivilpersonen, Geiselnahmen, Folter, die Verfolgung von Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und die Deportation ganzer Volksgruppen. Diese Methoden benutzte die Sowjetunion sowohl auf dem eigenen Territorium als auch bei der Eroberung der Länder Ost- und Mitteleuropas in den 1940er Jahren – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Sie wurden in beiden Tschetschenienkriegen, in Georgien, in der Ostukraine und in Syrien angewendet – überall dort, wo Russland Gewalt ausübte. Dazu gehören zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keine Verjährungsfrist haben. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu lesen, das diese Verbrechen ausführlich behandelt.
Nicht nur in der Ukraine, gegen die Russland einen Angriffskrieg führt, sondern auch in Ungarn, in Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, in Estland, Finnland, in Tschechien und anderen Ländern, die in ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art ihre Erfahrungen mit Russland gemacht haben, spricht man über die vergangenen Verbrechen des russischen Staates so, als ob sie erst gestern begangen worden wären. Die Mehrheit dieser Länder nimmt heute Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Egal, wie die Kampfhandlungen ausgehen – vergessen wird nichts.
Methoden ohne Ziele
Jetzt kann kein Bürger, keine Bürgerin Russlands, kein einziger Mensch, der sich als Russe bezeichnet, mehr so tun, als wäre die Vergangenheit bloßer Gegenstand akademischer oder publizistischer Auseinandersetzungen. Die Vergangenheit wird gerade auf ukrainischem Boden reproduziert. Dass die Verbrechen des russischen Staates keiner rechtlichen Bewertung unterzogen und von keinem Gericht verurteilt wurden, hat den heutigen Krieg ermöglicht. Ermöglicht hat ihn das ungestrafte Davonkommen der Führer des russischen Staates.
Vielleicht glaubt Putin seiner eigenen Propaganda und stützt sich auf die Pseudorealität, die seine Propagandisten erdacht haben
Die, die jetzt im Namen Russlands Entscheidungen treffen, haben weder große Ziele noch verfügen sie über ein Wissen absoluter Wahrheiten, sie haben weder ideologische oder göttliche Legitimität, die sie so gerne simulieren. Das Einzige, wodurch sie die längst verlorene „große Idee“ – ob von einem Großreich oder vom Kommunismus – erfolgreich ersetzt haben, ist die Lüge. Die Organisatoren des Kriegs gegen die Ukraine haben beschlossen, dass ihnen zur Legitimierung des Krieges Inszenierungen und Fiktionen reichen.
Möglicherweise hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und stützt sein Vorgehen auf die Pseudorealität, die Propagandisten in seinem Auftrag erdacht haben. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so wichtig, ob er an etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls sehen wir, dass russische Beamte und Militärs ihr Vorgehen mithilfe primitiver Desinformation zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, die sterbenden Gebärenden seien Schauspielerinnen, in den Krankenhäusern würden sich Nationalisten verschanzen, und die ganze Ukraine werde von Nazis regiert.
Das heutige Russland hat nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat
Das heutige Russland hat als politisches Gebilde nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat. Die Methoden sind immer dieselben, nur wird jetzt nicht einmal mehr versucht, sie mit einem dekorativen ideologischen Schein zu rechtfertigen. Der russische Staat ähnelt unterdessen einem Zombie – ein Körper ohne Seele, der alles auf seinem Weg zermalmt und nicht einmal versteht, wozu er das tut.
„Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?“, schrieb Warlam Schalamow. Ja, es ist die zentrale Frage. Und je mehr Russen und Menschen, die sich als Russen begreifen, sich dessen bewusst werden, umso rascher wird der russische Staat für seine Verbrechen vor Gericht stehen. Ohne ein solches Gericht kann Russland weder seinen Bewohnern ein vollwertiges Zuhause bieten, noch kann es eine politische Entität werden, mit der ein vertrauensvoller Dialog möglich ist. Wenn die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit dem Namen „Russland“ wieder ein Teil der Welt werden will, dann muss die erste neue Institution, die nach dem Krieg geschaffen wird, ein Gericht über die Verbrechen des russischen Staates sein – in all ihren Ausprägungen, in der Vergangenheit und der Gegenwart.
Es darf nicht mehr die Logik der Verjährung gelten, die argumentiert, dass die Verbrecher nicht mehr am Leben seien und es kaum mehr lebende Zeugen gebe, also wen wolle man jetzt anklagen. Da finden sich welche. Diejenigen, die entschieden haben, die Ukraine anzugreifen, wären für diese Rolle durchaus geeignet. Das Gericht muss unabhängig vom Staat sein, sonst hat der Prozess keinen Sinn. Vor 30 Jahren ist ein Verfahren gegen die KPdSU gerade deshalb gescheitert, weil die Verfassungsrichter eben noch selbst Parteimitglieder gewesen waren und das Rechtsorgan von den staatlichen Strukturen nicht sauber getrennt war.
Mit einem wirklich unabhängigen Gericht würde Russland der Welt beweisen, dass es überhaupt eine Gesellschaft in Russland gibt
Wenn es der russischen Gesellschaft nach dem Krieg – erstmals in seiner Geschichte – gelingt, ein wirklich unabhängiges Gericht zu installieren, dann wird sie sich und dem Rest der Welt damit beweisen, dass es in Russland überhaupt eine Gesellschaft gibt. Das wichtigste Anzeichen dafür, dass es in Russland eine Gesellschaft gibt, wird dann genau das sein: Die Existenz als handelndes Subjekt, die eine rechtliche Bewertung von Handlungen des Staates und seiner Führer erlaubt. Wenn das gelingt, dann schaffen es die Russen vielleicht auch, andere Institutionen aufzubauen.
Man wird dabei wohl mit Institutionen beginnen müssen, die die Gewalt des Staates gegen den Menschen, gegen das eigene Volk sowie andere Nationen verhindern. Man wird dafür sorgen müssen, dass nie wieder jemand an die Macht kommt, der in Kategorien wie „einiges Volk“, „gemeinsames Schicksal“, „große Geschichte“ und ähnlichen grandiosen Verallgemeinerungen auch nur denkt. Und natürlich dürfen Politiker in der Zukunft keine Möglichkeit haben, Kriege zu führen, die auf ihren Fantasien beruhen. Ihnen müssen die Hände gebunden sein.
Das wird in einem Land, in dem Institutionen, Gesetze und sogar das Bildungssystem immer im Interesse einer zentralistischen Regierung und nicht im Interesse der Menschen gehandelt haben, extrem schwer werden. In einem Land, in dem die soziale Ordnung immer zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wurde. Der Erfolg dieses schwierigen Unterfangens ist alles andere als garantiert, aber ohne ihn hat Russland keine Zukunft.
Der chinesische Präsident Xi ist derzeit schwer gefragt: Die westlichen Staats- und Regierungschefs suchen das Gespräch und wollen Xi zu mehr Druck auf Russland bewegen. Der Präsident der Volksrepublik betont darin die Wichtigkeit der territorialen Unversehrtheit und dass China Bemühungen um einen Waffenstillstand in der Ukraine unterstütze. Gleichzeitig sagt Xi aber, die westlichen Sanktionen gegen Russland seien „schädlich für alle Seiten“ und implizit auch, dass Russlands Anspruch auf eigene „Einflusssphäre“ berechtigt sei. Wie lange kann sich China dieses Lavieren noch leisten? Wird die Volksrepublik Druck auf Russland ausüben, oder passt wirklich kein Blatt zwischen die Autokraten Xi und Putin? Und was haben Hongkong und Taiwan mit all dem zu tun? Ein Bystro mit dem Historiker Sören Urbansky – in acht Fragen und Antworten.
1. Der Kreml pflegt demonstrativ gute Beziehungen zu China, die russische Propaganda stellt Peking nicht selten als Verbündeten gegen den Westen dar. Wie viel ist an der russisch-chinesischen Freundschaft dran?
Die über 300 Jahre währende Beziehung zwischen China und Russland war schon immer geprägt von Licht und Schatten. Mit dem Machtantritt Xi Jinpings im Jahr 2012 gewann die Beziehung allerdings eine ganz neue Qualität: Sowohl auf rhetorischer Ebene der Staatschefs als auch auf der Ebene der jeweiligen Propaganda erklingen seitdem immer mehr lautstarke Solidaritäts- und Freundschaftsbekundungen. Die Krim-Annexion 2014 verlieh dieser Annäherung weitere Dynamik. Deutlich wurde es auch, als Putin im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking war – als erster Staatsgast seit zwei Jahren. Dabei haben die beiden Länder auch einen großen Gasdeal abgeschlossen, der wegen des Zeitpunkts durchaus auch als ein Signal an den Westen verstanden werden kann. Was die beiden Länder zusammenbringt, sind geostrategische Synergien. Der Westen, vor allem die USA, gilt als gemeinsamer Feind. Dies gilt sowohl für die „Sicherheitsinteressen“ als auch für das Weltbild: Beide Länder lehnen das freiheitlich-demokratische Modell faktisch ab, beanspruchen für sich aber, selbst Demokratien zu sein. Hinzu kommt, dass China und Russland etwa in Zentralasien gewissermaßen komplementär handeln: China verfolgt dort unter anderem mit dem Projekt Neue Seidenstraße Wirtschaftsinteressen, räumt Russland dabei aber die militärische Vorherrschaft ein. So begrüßte Peking auch den russischen Einsatz in Kasachstan Anfang 2022. Mit umgekehrten Vorzeichen gilt das auch für die Asien-Pazifik-Region: Auf internationaler Ebene unterstützt Russland stets Chinas Anspruch auf seine „Einflusssphäre“. Insgesamt versucht die Partnerschaft also eine Art Gegenpol zum Westen zu bilden: sowohl geostrategisch als auch ideologisch.
2. Und wie sieht es mit den Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder aus?
Das ökonomische Gleichgewicht hat sich in vergangenen 30 Jahren massiv verändert: Anfang der 1990er Jahre waren die Bruttoinlandsprodukte in etwa gleich, heute ist das chinesische BIP rund zehnmal so groß wie das russische. Gleichzeitig gibt es aber enorme Synergien: Auf der einen Seite liefert Russland Rohstoffe und hilft damit, den „Chinesischen Traum“ zu verwirklichen – einen Kern der Staatsideologie, eine Art säkulares Heilsversprechen, mit dem Xi seit 2012 hundert Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 2049 den Aufbau eines wohlhabenden sozialistischen Landes verheißt. Auf der anderen Seite profitiert auch Russland massiv vom Import chinesischer Produkte, die es selbst nicht herstellen kann. Trotz dieser engen Verflechtung würde ich aber sagen, dass es heute keine Allianz ist, sondern eher eine Partnerschaft. Es gibt eine große Überschneidung von Interessen, im Hinblick auf die Wirtschaftskontakte in den Westen vermeidet China aber eine zu enge Annäherung an Russland: Für die Verwirklichung des Chinesischen Traums ist der Westen schlicht wichtiger, allein Chinas Exporte in die EU und nach Großbritannien sind knapp zehnmal so hoch wie Chinas Ausfuhren nach Russland.
3. Wenn der Westen als gemeinsamer Feind gilt, was bildet dann die Klammer der Beziehung: Das Prinzip „Der Feind meines Feindes …“ oder eher eine gemeinsame antiwestliche Ideologie?
Ob es in Russland eine Staatsideologie gibt, ist fraglich: Eine Ideologie ist mehr oder weniger stringent und in sich schlüssig, die russische Propaganda bedient sich aber oft widersprüchlicher Versatzstücke aus der teilweise selbstkonstruierten Geschichte: von Orthodoxie über Imperium, Nationalismus, Großem Vaterländischen Krieg, Stalin bis hin zu kruden Verschwörungsmythen. In China wirkt demgegenüber seit Gründung der Volksrepublik 1949 ein ideologisches Korsett, in dem zwar starke Anpassungen stattfinden, das aber monopolistisch ist und systemimmanent auch durchaus bündig: heute vor allem in Hinsicht auf die Ziele Chinesischer Traum, Sozialismus chinesischer Prägung und Wiedererstarken der chinesischen Kultur und Nation. Das hat auch damit zu tun, dass es in China nie wirklich unabhängige Medien gegeben hat: Russland war bislang immer freier als China. Wesentliche – wenngleich graduelle – Unterschiede gibt es auch in der antiwestlichen Propaganda: Der russische Kampfbegriff von einem Werteverfall in „Gayropa“ ist in chinesischen Medien so nicht denkbar. Überhaupt legitimiert sich der Kreml weitaus mehr über das Feindbild als Xi: In der russischen Propaganda ist Russland eine von Feinden umzingelte „belagerte Festung“. China präsentiert sich vielmehr als eine Weltmacht und erhebt unter der Hand den indirekten Anspruch, eines Tages gar die unipolare Macht zu werden. Wo sich beide Länder massiv annähern, ist der Personenkult – wenngleich Xi und Putin sehr unterschiedliche Führerpersönlichkeiten sind und Xis Macht stärker in ein Kollektiv eingebettet ist: Durch die Aufhebung der Amtszeitbeschränkung in beiden Ländern können beide im Grunde bis zum Lebensende an der Macht bleiben. Eine weitere gemeinsame Klammer ist das Denken in Einflusssphären und der postimperiale Verlustschmerz: Chinas Haltung zu Hongkong und Taiwan kann man mit Russlands Vorgehen in der Ukraine und in Georgien vergleichen, nicht zuletzt allerdings aber auch vor dem Hintergrund, dass alle diese Länder freier und demokratischer sind als Russland und China – und damit auch als eine Gefahr für das eigene System wahrgenommen werden.
4. Auf der einen Seite haben Russland und China also geostrategische und ideologische Gemeinsamkeiten. Auf der anderen sitzt der Westen gegenüber China aber an einem weitaus längeren Hebel als Russland – das nicht selten als Juniorpartner in der Beziehung zu Peking gilt. Kann der Westen nicht diesen Hebel im russischen Krieg gegen die Ukraine betätigen?
Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass China Russland auf internationaler Ebene nie spüren lässt, dass es der Juniorpartner ist. Xi hofiert Putin und gibt auch für die russischen Medien stets das Bild ab, dass es eine enge Partnerschaft auf Augenhöhe sei. Durch diese außenpolitische Bestätigung legitimiert China die russische Führung nach Innen. Hinter verschlossenen Türen sieht es natürlich anders aus: Bei Gasverträgen etwa lässt China Russland durchaus spüren, wie die Kräfte eigentlich verteilt sind und erzielt für sich sehr gute Preise, höchstwahrscheinlich bessere als die, die westliche Unternehmen an Gazprom zahlen. So etwas wird aber nicht triumphierend präsentiert, offiziell pflegt Xi immer ostentativ das Bild der Ebenbürtigkeit, weil er weiß, wie viel es für die russische Führung im Inneren bedeutet. Chinesische Schützenhilfe für die russische Innenpolitik ist derzeit aber auch wichtig, weil Putin aus den besagten Gründen schlicht nützlich ist. Der Westen ist natürlich wirtschaftlich viel wichtiger, deshalb lautet die große Frage vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, wie die chinesische Kosten-Nutzen-Analyse ausfallen wird.
5. War China in Russlands Kriegspläne eingeweiht?
Es gibt Hinweise darauf, dass Putin Xi in seine Kriegspläne eingeweiht hatte und den Krieg erst nach den Olympischen Spielen begann, um Xi nicht die Feier zu vermasseln. Vermutlich ist man aber in China genauso wie in Russland davon ausgegangen, dass Russland diesen Krieg schnell gewinnt, dass es in etwa so ablaufen würde wie bei der Krim-Annexion. Hinzu kommt, dass die Ukraine einen wichtigen Pfeiler in der chinesischen Strategie der Neuen Seidenstraße bildet – aus diesem Grund kann dieser Krieg nicht in Pekings Interesse liegen. Der Westen kann auch viel mehr Druck auf China ausüben, etwa bei der Auslegung von Sekundärsanktionen – was letztendlich den weiteren Aufstieg Chinas gefährden könnte. Deshalb riskiert China derzeit extrem viel und wird es noch viel mehr tun müssen, je länger der Krieg andauert. Mit dem Fortschreiten des Krieges würden die Fliehkräfte für China zunehmen, das Land müsste sich weitaus deutlicher auf die Seite des Westens oder eben Russlands schlagen als jetzt. In beiden Fällen würde China viel verlieren. Deshalb dürfte es ein sehr dringendes Interesse Chinas sein, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.
6. Profitiert China nicht eher von dem Krieg? Russland findet ja derzeit kaum einen Absatzmarkt für sein Öl, da dürfte China doch mit Dumpingpreisen rechnen. Und wenn der Westen ein Öl- und Gasembargo verhängen sollte, dann hätte Russland ja fast nur noch China als nennenswerten Absatzmarkt.
Einerseits ja, China profitiert jetzt schon davon: Es ist bezeichnend, dass die großen Gasdeals zwischen den beiden Ländern zu Zeiten einer Krise in Russland abgeschlossen wurden: Vor dem Hintergrund westlicher Sanktionen 2014 und eben im Februar 2022. Wir kennen nicht die Preise, sie werden für China aber mit Sicherheit günstig sein. Andererseits nein: Das Pipeline-System ist äußerst starr, die Energieträger aus den für den westlichen Absatzmarkt erschlossenen russischen Quellen können nicht so einfach nach Osten umgeleitet werden, der Aufbau einer neuen Infrastruktur würde Unsummen verschlingen und wohl viele Jahre dauern. Fraglich ist auch, dass China solche Mengen kaufen würde wie zuvor der Westen. Außerdem wäre China dabei in einer Position, in der es die Preise diktieren könnte. Bei Erdöl sieht es ähnlich aus: Der Transport per Zug nach Osten aus den für den westeuropäischen Markt vorgesehenen Quellen rentiert sich nur bei einem sehr hohen Ölpreis. Dies ist aber auch ein Knackpunkt: China braucht relativ niedrige und stabile Preise, um das eigene Wirtschaftswachstum garantieren zu können. Allein schon aus diesem Grund kann es nicht in Pekings Interesse liegen, dass Russlands Krieg in der Ukraine lange andauert. Hinzu kommt aber auch die Möglichkeit der härteren Auslegung von US-amerikanischen Sekundärsanktionen gegenüber China – wohl das schärfste Schwert, das der Westen einsetzen könnte. Insgesamt laviert die Pekinger Außenpolitik derzeit zwischen der Betonung der Wichtigkeit des Prinzips der territorialen Integrität auf der einen und dem Verständnis für die russischen Ansprüche auf die „Einflusssphäre“ auf der anderen Seite. Je länger der Krieg fortdauert, desto wahrscheinlicher kommt aber der Kipppunkt: China würde dann Farbe bekennen müssen und sich entweder für den Westen oder für Russland entscheiden.
7. Wenn der Chinesische Traum schon so zentral ist für das Selbstverständnis der Volksrepublik – wäre es da angesichts der weitaus engeren wirtschaftlichen Bindung an den Westen nicht opportuner, sich für den Westen zu entscheiden?
Dass China in der Vergangenheit weitgehend rational und pragmatisch agiert hat, heißt ja nicht, dass es das auch künftig tun wird. Die meisten Russland-Experten haben doch auch Russland bis zu der Invasion als ein relativ rationales Regime eingestuft. Ganz abgesehen davon, dass der Westen wirtschaftlich in einem hohen Maße von China abhängt: Die Volksrepublik könnte bei etwaigen westlichen Sanktionen doch auch mehr auf das Feindbild Westen setzen als bisher. Die Staatsideologie müsste natürlich angepasst werden, den Machterhalt würde es aber auch angesichts des massiven Unterdrückungsapparats wohl nicht unbedingt gefährden. Peking hat sicherlich ganz genau das Vorgehen bei der russischen Machtvertikalisierung beobachtet. Die Volksrepublik war bislang zwar viel unfreier als Russland, einige Tasten auf der Legitimations-Klaviatur des Autoritarismus hat China im Gegensatz zu Russland aber noch nicht so intensiv bedient. Im Hinblick auf die Unterdrückung der Proteste in Hongkong hat Peking wohl auch Russlands zunehmende Repressionen studiert, aber auch die Krim-Annexion. Im Hinblick auf Taiwan dürfte es nun auch genauestens auf Russlands Krieg gegen die Ukraine schauen.
8. Die USA liefern neueste Waffen an Taiwan und Biden hat unlängst Taiwan militärischen Beistand zugesichert. Gleichzeitig geht der US-Präsident offenbar auf die zuvor geächteten Regime in Venezuela und Iran zu. Klingt zynisch, aber einzelne Analysten fragen mittlerweile, ob Taiwan da nicht zur Verhandlungsmasse werden könnte, um China davon zu überzeugen, sich von Russland abzuwenden.
Ich gebe nicht viel auf solche Einschätzungen. Wenn überhaupt etwas in die Richtung stattfindet, dann hinter verschlossenen Türen. Zudem ist Taiwan nur bedingt vergleichbar mit der Ukraine: Das Land ist eine Insel, also besser zu verteidigen, Taiwan hat ein extrem hochgerüstetes Militär – es wäre auch ein sehr blutiger Krieg, auf beiden Seiten. Der von Biden proklamierte militärische Beistand ist wahrscheinlich eine wohlkalkulierte Grauzone, ein Unsicherheitsfaktor, der für China vor dem Hintergrund des russischen Kriegs noch ausschlaggebender werden dürfte. Ich nehme an, dass Peking derzeit ganz genau die westlichen Sanktionen gegen Russland studiert. Eine solche Ent- und Geschlossenheit hat Xi höchstwahrscheinlich genauso wenig erwartet wie Putin. Dies dürfte auch im chinesischen Blick auf Taiwan eine Rolle spielen. Auch deshalb ist es jetzt wichtig, dass die Fliehkräfte für China mit der Dauer des Krieges zunehmen; das Land gerät zunehmend unter Druck, sich in dem Konflikt klar zu positionieren. Egal wie es sich dann entscheidet – China würde viel verlieren. Aus diesem Grund muss es in Pekings Interesse sein, dass der Krieg schnell beendet wird.
Swjatoslaw Wakartschuk ist Sänger und Frontmann der ukrainischen Rockband Okean Elzy, die im ganzen Land große Popularität genießt. Seit Beginn des Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, reist Wakartschuk durch das Land, um Konzerte zu geben. Er ist in der Metro von Charkiw aufgetreten, als die Menschen dort vor den Bombenangriffen Schutz suchten, hat vor dem mit Sandsäcken geschützten Denkmal von Herzog de Richelieu in Odessa gesungen oder sich mit Flüchtlingen in Lwiw getroffen.
Das belarussische Nachrichtenportal Zerkalo.io hat mit Wakartschuk, der bis 2020 auch politisch aktiv war, über seine Straßen- und Unterstützungskonzerte gesprochen, über sein Land im Krieg und auch über Belarus, wo er und seine Band ebenfalls sehr bekannt sind. Dazu gibt es ein paar Videos aus dem Repertoire von Okean Elzy.
Zerkalo: Wo sind Sie derzeit?
Swjatoslaw Wakartschuk: Ich war in Charkiw, Saporishshja, Cherson, Mykolajiw, Odessa und Kyjiw. Seit zwei Tagen bin ich in der Westukraine, in Lwiw. Ich habe Militäreinheiten, Freiwilligenzentren und Polizeistationen besucht. Morgen fahre ich in Städte, die näher an Kampfzonen liegen. Für diese Woche habe ich noch etwas Großes vor, ich kann aber aus Sicherheitsgründen keine Details zu meiner Reiseroute nennen. Ich habe schon Memes gesehen darüber, wie schnell ich durch die Ukraine fahre, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich: Wir schlafen wenig, stehen früh auf und kümmern uns sorgfältig um die Logistik.
Haben Sie Sicherheitspersonal dabei?
Ja, ein kleines Team, aber ich möchte nicht sagen, wer das ist.
Swjatoslaw Wakartschuk singt sein Lied „Wse bude dobre“ (Alles wird gut) für Ukrainer, die in den Westen ihres Landes geflohen sind.
Haben Sie bedacht, dass Ihre Ermordung oder Kriegsgefangenschaft für die russische Regierung ein Glücksfall wäre?
Krieg ist Krieg. Man denkt nicht daran, was mit einem selber passieren kann, sondern was aus unserem Land und unseren Kindern wird. Tut mir leid, wenn das pathetisch klingt, aber so ist es. Es muss einem klar sein, dass es derzeit nirgendwo in der Ukraine sicher ist. Man sollte nicht glauben, dass man in der Nähe der Front einem höheren Risiko ausgesetzt ist als sagen wir mal in Lwiw. Vor ein paar Tagen flogen Raketen in einen Bezirk von Lwiw. Davor wurde der Truppenübungsplatz Jaworiw in der Oblast Lwiw unter Beschuss genommen (laut regionalen Behörden kamen dabei 35 Menschen ums Leben, 134 wurden verletzt – Anm. d. Red.). Die Russen bombardieren die gesamte Ukraine, sie setzen alles ein, was geht. Sie schießen auf zivile Ziele und normale Leute, töten Frauen und Kinder, zielen auf Geburtskliniken und Altersheime. Anders als einen Nazismus des 21. Jahrhunderts kann ich das alles nicht nennen. In diesem Moment denkt man nicht an sich. Die Frage, ob mir jemand etwas antun kann, finde ich während eines Kriegs um unsere Unabhängigkeit – zumal ich Offizier bin (Leutnant – Anm. d. Red.) – fehl am Platz.
Was hat Sie auf dieser Tour am meisten erschüttert?
Glauben Sie mir – da gab es viel. Am meisten vielleicht das Kinderkrankenhaus in Saporishshja. Die Ärzte ließen mich auf die Intensivstation, wo sie vor meinen Augen Kinder versorgten, die in einem humanitären Korridor, der sie aus Mariupol evakuieren sollte, beschossen worden waren. Da war ein Mädchen namens Mascha, ein Teenie, ungefähr 14 Jahre alt. Ein paar Stunden vor meiner Ankunft hatten sie ihr ein Bein amputiert. Sie war in Tränen aufgelöst – aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie begriff, wie es jetzt mit ihr weitergeht. Ein junges, hübsches Mädchen, das plötzlich ein Bein verliert, nur weil irgendwelche wahnsinnigen Blutsauger im Kreml mit Filzstift auf der Karte ihre Angriffsziele markieren und einen Krieg vom Zaun brechen. Das ist einfach richtig furchtbar.
Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben
Im selben Krankenhaus traf ich einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Er spielte mit Autos und war physisch unversehrt. Aber das Kind hatte beide Eltern verloren. Er hat keine Mama und keinen Papa mehr … Das ist kaum auszuhalten. Da weißt du, dass du das niemals verzeihen wirst. Da kann die russische Propaganda sonst was verbreiten. Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben. Sie hören und sehen die Realität nicht. Vielleicht wollen sie es einfach nicht. Ich habe aufgehört, ihre Taten zu analysieren. Niemand wird das Russland jemals verzeihen. Und die Verantwortung wird nicht nur Putin tragen, sondern alle russischen Staatsbürger, die das zugelassen haben.
Der Song „Obiimy“ (Umarme mich) aus dem Jahr 2013 gehört zu den bekanntesten Liedern von Okean Elzy.
Ergeben sich Ihre Straßen-Auftritte zufällig?
Ehrlich gesagt: Nur ein Auftritt war geplant, alle anderen waren spontan. Sie glauben ja wohl nicht, dass das Klavier auf dem Bahnhof in Lwiw extra für mich aufgestellt wurde? Das stand schon vorher da, ich habe es gesehen und beschlossen loszuspielen. Oder in der U-Bahn von Charkiw: Die Gitarre haben Freiwillige aufgetrieben in der Hoffnung, dass ich irgendwas spiele. Sie brachten sie mir und sagten: „Hier.“ Da konnte ich natürlich nicht nein sagen. Der einzige geplante Auftritt war in einer Stadt in der Westukraine, wo es viele Freiwilligenzentren und Flüchtlinge gibt.
Worüber sprechen Sie mit den Leuten bei solchen Begegnungen?
Wir überlegen, wie wir siegen können und was wir dafür tun können, wie wichtig es jetzt ist, füreinander da zu sein. Ich bedanke mich bei den Menschen. Erzähle, was ich in anderen Städten gesehen habe. Versuche, auch physisch zu helfen. Unsere Crew bringt außerdem humanitäre Hilfe. Die einen brauchen Antibiotika, die anderen sitzen in den Metrostationen und freuen sich über Musik, und wieder andere brauchen beides. Einige Mitglieder der Band Okean Elsy leisten in Lwiw Freiwilligenarbeit, jeder macht sich nützlich. Alle bemühen sich, den Sieg herbeizuführen.
Was für Fragen stellen Ihnen die Menschen?
Fragen zu ganz einfachen, handfesten Dingen: Wie man in der Westukraine fußfasst, wie man irgendwo hinkommt, wie es bei uns aussehen wird, wenn der Krieg vorbei ist.
Sogar die, die Angst haben und durch den Krieg eher in eine Depression gefallen sind, wünschen der Ukraine einen baldigen Sieg. Aber die meisten Menschen sind positiv gestimmt. Möglicherweise hilft uns der Hass, der in unseren Herzen keimt, stark zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass dieser Hass nach unserem Sieg verschwindet.
Wofür machen Sie das alles?
Ich kann nicht anders. Das ist mein Land, ein anderes habe ich nicht. Und ich liebe es. Wahlfreiheit und Würde – das sind für mich die wichtigsten Werte im Leben. Ich sehe, dass die Ukraine sie zu ihren zentralen Werten gemacht hat und wir sie jetzt verteidigen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie ein russischer Soldat mit seinem Stiefel zertreten, und ich werde meinem kleinen Sohn nicht zeigen können, dass wir in unserem Land das erreicht haben, wonach wir gestrebt haben.
Okean Elzy gaben zwei Tage vor Ausbruch des Krieges ein spontanes Konzert auf einer unter Straßenmusikern beliebten Fußgängerbrücke in Kyjiw.
Sie sind oft in Belarus aufgetreten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von unserem Land?
Ich habe vom belarussischen Publikum immer Liebe und Unterstützung gespürt, keine Feindseligkeit. Für uns war eine Reise zu euch immer ein großes, freudiges Ereignis. Bis zu den Protesten 2020, danach sind wir nicht mehr in Belarus aufgetreten.
Es zerstört die Zukunft von Belarus, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt
Hat sich Ihre Einstellung nach dem Krieg verändert?
Ich hoffe, dass es in Belarus sehr viele echte Patrioten gibt, denen klar ist, dass es eure Zukunft zerstört, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt. Ich bitte die Belarussen nicht um der Ukraine willen, auf die Straßen zu gehen und Soldaten und Panzer zu stoppen. Macht das für Belarus, in eurem eigenen Interesse. Wenn Putin und Lukaschenko euch in einen blutigen Krieg schicken, werden eure Soldaten in der Ukraine getötet. Und niemand wird sich dafür entschuldigen.
Letzte Frage: Wird alles gut?
Da bin ich mir sicher, dass alles gut wird [das sagt er auf Ukrainisch, gleich dem Titel seines Liedes, s.o. – dek]. Wenn in der Ukraine das Gute und die Freiheit siegen, dann ist das gut für die ganze Welt, auch für euch, unsere Nachbarn. Das zu verstehen ist wichtig. Es lebe die Ukraine!
Die Novaya Gazeta mit ihrem Chefredakteur, dem Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, versucht auch in Kriegszeiten ihren eigenen Weg zu gehen und, so gut und so lange es geht, unabhängig zu berichten – auch aus dem und über den Krieg in der Ukraine. Zwar beugt sich die Novaya der Zensur, insofern, als sie gemäß der aktuellen Gesetzeslage nicht das Wort „Krieg“ verwendet, sondern „<…>“, auch einzelne Artikel hat die Novaya aus dem Netz genommen, und sie zensiert mitunter Berichte von Korrespondenten aus der Ukraine – all dies macht sie aber stets transparent. Ein Kompromiss, um unter Bedingungen immer stärkerer Desinformation und restriktiver Mediengesetze weiter unabhängig arbeiten und informieren zu können. Die Leser äußerten bei einer extra initiierten Umfrage Anfang März Verständnis und auch Zuspruch: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Manche schlugen gar vor, die ganze Absurdität zu perfektionieren und damit zu demaskieren, dass künftig am besten auch nur noch die Rede ist von: Lew Tolstois Roman „Spezialoperation und Frieden“.
Während immer mehr Medien blockiert werden und zahlreiche unabhängige Journalistinnen und Journalisten aus Angst um ihre Sicherheit das Land verlassen (laut Investigativmedium Agenstwo sind es mehr als 150, die bereits gegangen sind), scheint sich die Novaya noch auf einen gewissen „Sonderstatus“ verlassen zu können, den sie als Leuchtturm der unabhängigen Berichterstattung seit den 1990er Jahren genießt.
Kürzlich kündigte Muratow außerdem an, seine Nobelpreismedaille versteigern und den Erlös spenden zu wollen – für ukrainische Geflüchtete. Das gab die Novaya Gazeta in einer Meldung bekannt, in der sich auch eine Reihe weiterer Forderungen fanden – etwa die nach einem Waffenstillstand. Darüber hatte Muratow außerdem bereits Anfang März mit der Journalistin Katerina Gordejewa gesprochen, die auf YouTube ihren bekannten Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) betreibt.
Im Podcast erklärt Muratow, warum er mit dem Krieg gerechnet hat, inwiefern dieser nun nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. Und worauf er, Muratow, jetzt noch hofft – wider besseren Wissens.
Katerina Gordejewa: Haben Sie tatsächlich bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es Krieg geben könnte?
Dmitri Muratow: Wir haben schon im Vorfeld geahnt, dass es leider Krieg geben wird. Wir hatten in der Redaktion viele Besprechungen zu diesem Thema, untereinander, mit den Ressorts, mit allen. Uns war klar, dass es direkt nach Olympia losgeht.
Es war klar, dass Wladimir Putin bei einigen Auftritten völlig unmissverständlich all die Kränkungen aufgezählt hatte, die Russland, also Putin in Person, zugefügt worden waren. Es war klar aufgrund der Wortwahl – ständig war da die Rede von Nazis, Faschisten, dem Großen Vaterländischen Krieg, den Heldentaten unserer Vorfahren …
Es war klar, dass jener Krieg, der Große Vaterländische Krieg, für Putin nie aufgehört hat. Putin ist zu jung, um dabei gewesen zu sein, aber ich möchte die Vermutung äußern, dass Wladimir Putin jetzt danach strebt, seinen persönlichen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu erringen. Einen Sieg, der darin besteht, die Ergebnisse zu verteidigen, die er für richtig hält. So kämpft er dort jetzt gerade: als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Das ist meine Vermutung.
Aber wenn ich diese Aufrüstung des Bewusstseins sehe, manchmal übrigens eine durchaus humanistische – zum Beispiel das Unsterbliche Regiment, die Armeekathedralen als Orte des Gedenkens: Das alles ist zweifellos ein Leben in der Vergangenheit. Es geht darum, den Sieg zu erringen, als hätte es diesen Sieg nie gegeben.
Die Menschen, die Putin jetzt umgeben, bleiben die aus Angst bei ihm oder weil sie an das glauben, was er tut?
Ich habe gestern [das Interview wurde am 7. März veröffentlicht – dek] mit ein paar Mitgliedern des Machtapparats gesprochen, und ich kann mich nicht erinnern, wann sie … – ich will sie nicht Elite nennen, ich nenne sie Machthaber, Entourage, aber sicher nicht Elite, nicht nach dieser berühmten Sitzung des Sicherheitsrates, nachdem wir gesehen haben, wie sie zittern, wie viele von ihnen breitbeinig zum Podium gegangen sind … Weißt du, warum? Wegen ihrer Pampers, Katja. Also, ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren. Noch nie waren sich die Leute, die an der Macht sind und die mit ihr betraut sind, so einig – ich rede jetzt nicht vom Business, das sind verwandte Dinge, aber doch nicht dasselbe … Sie sind sich absolut einig. Sie teilen Putins Weltbild zu hundert Prozent.
Ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren
Präsident Putin hat sein eigenes Weltbild. Dieses Weltbild ist fast so unerschütterlich wie die ägyptischen Pyramiden, wo zwischen den Steinblöcken keine Nadel Platz hat. Sein Weltbild ist absolut klar: Russland ist eine Festung. Es ist ein isolationistisches Land, unendlich reich an Bodenschätzen, ein Land, das niemanden braucht, das endlich begreifen muss, dass der Westen der Feind ist, dass die Welt der Feind ist … Das ist sein Weltbild, und es hat um sich gegriffen, es hat die ganze Elite infiziert …
Jetzt haben Sie es doch gesagt!
Aus reiner Gewohnheit, weißt du …
Aber im politologischen Sinn ist das die Elite.
Ich weiß nicht … – ich bin nicht bereit, sie Helden oder Elite zu nennen … Mitstreiter vielleicht. Eine Elite, das sind Leute, die bis aufs Blut und weiter für das Glück ihres Landes ackern.
Das, was man Ehre und Heldenmut nennt.
Genau, also können wir das nicht sagen. Sie teilen ein und dasselbe Weltbild. Es gibt da überhaupt keine Spaltung. Die ganzen Theorien, die man uns überall aufschwatzen wollte und von denen man immer noch sagt: dass es zu einem Machtwechsel durch die Spaltung der Eliten kommen wird … Da ist keine Spaltung.
Aber Sie haben doch selbst gesagt: dass die Angst hatten, als sie vor dem Sicherheitsrat sprechen sollten.
Die hatten Angst, das Falsche zu sagen, sie waren schließlich zu einer Prüfung angetreten, und nicht alle hatten den Text auswendig gelernt. Aber jetzt ist allen alles klar.
Und alle teilen diese Ansichten?
Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt. Alles. Eine treuere Regierung hat es, glaube ich, noch nie gegeben.
Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt
Wie hat das alles angefangen, und was hat überhaupt die Ukraine damit zu tun? Das hat doch nicht erst 2014 angefangen?
Nein, das hat früher angefangen, wenn man bedenkt, wo Putin jetzt angekommen ist. Wenn du dich erinnerst: Russland hatte 2006 eine NATO-Vertretung in Brüssel, den NATO-Russland-Rat. Dort saßen diverse Vertreter, unter anderem übrigens Rogosin. Putin hatte damals ernsthaft vorgeschlagen, über einen Beitritt Russlands in die NATO nachzudenken, und war sehr erstaunt, als man ihm sagte, dass man dafür eine Art Probezeit braucht, Dokumente vorbereiten muss … Er war überzeugt, dass man so ein einmaliges Angebot [seitens Russland – dek] nicht ablehnen würde, aber man legte ihm Steine in den Weg. Und als er später vollkommen überzeugt war, dass man ihn betrügt – das heißt, dass der Westen Putin betrügt – da kam die Münchner Rede, in der 2007 absolut alles gesagt wurde, was wir jetzt und hier haben. Diese Rede wurde wohl kaum ernstgenommen. Nur von kleineren Regimes in Lateinamerika und in Kuba.
Sie wurde angehört, und sie hatte einen zweiten, besänftigenden Teil, aber die großen Politiker, selbst die Leader der europäischen Welt haben das nicht ernstgenommen. Sie hielten das für Rhetorik.
Aber im nächsten Jahr kam dann der Georgienkrieg, und Präsident Bush sagte zu Wladimir Putin das eine und zu Michail Saakaschwili etwas anderes. Und die Geheimdienste sind dafür da, alles Gesagte zu vergleichen. Seither glaube ich, dass das einer der wichtigsten Wendepunkte war, denn Russland hatte immer von einem Bekenntnis zu westlichen Werten geredet, von der Diktatur des Gesetzes, davon, wie offen wir seien, wie global die Welt sei. Das alles hat genau in diesem Moment aufgehört: „Man kann ihnen nicht glauben, sie verstehen nur Gewalt, Worte verstehen sie nicht.“ Ich spreche das als inneren Monolog, so wie ich mir den inneren Monolog der kollektiven Staatsmacht vorstelle.
Das heißt, die kollektive Staatsmacht fühlte sich vom Westen gekränkt?
Sehr gekränkt, zutiefst gekränkt, bis zum Umfallen gekränkt. Und dann passierte noch etwas: Putin wurde plötzlich klar, dass die Leute, die ihm was von Werten erzählen, eigentlich Preise meinen. Sieh doch mal, Putin hat massenweise repräsentative mächtige Leute aus dem Westen, westliche Politiker in die Aufsichtsräte der russischen Staatsunternehmen eingekauft.
Sie meinen die, die jetzt eiligst austreten …
Jetzt treten sie eiligst aus, aber genau so eilig sind sie damals eingetreten – so eilig, dass sie fast auf ihrer Schleimspur ausgerutscht wären. Der französische Premier, der deutsche Kanzler, italienische Politiker … Sie nahmen brav Platz, bekamen ihre …
… riesigen …
Ich weiß es nicht von allen genau, ich habe nicht alle Zahlen im Kopf, aber es ging um ein paar Millionen Dollar im Jahr. Und er, Putin, lacht sich kaputt. Er sagt: „Und diese Leute wollen mir was von Werten erzählen? Ihr wollt alle nur Kohle.“ Und er ist davon vollkommen überzeugt.
Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie
Ich glaube, er ist überzeugt davon, dass er ihnen die Freundschaft angeboten hatte und zurückgewiesen wurde, und jetzt sollen sie bitte nicht beleidigt sein. Das ist eine normale Denkweise, ich bin selbst in einem solchen Hinterhof aufgewachsen, das ist so eine ganz normale Hinterhoflogik von Achtklässlern: Sei jetzt bitte nicht beleidigt. Das ist ein krasser psychischer Bruch, auch jetzt in diesem für unser Land absolut kritischen Krisenmoment.
Denn was ist in der Nacht auf den 24. Februar passiert? Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie. Lang und ausführlich hat er seine Kränkungen aufgezählt.
Und es gibt noch ein Detail, auch das kam in der Rede vor: Mit wem soll man denn bitteschön verhandeln, die wechseln doch ständig? Das sind jetzt meine Worte, aber im Großen und Ganzen – sieh mal: Seit Putin an der Macht ist, gab es verschiedene Kanzler in Deutschland, mehrere Präsidenten in den USA, fast ein halbes Dutzend Präsidenten und Premiers in Italien und Frankreich … Sie wechseln die ganze Zeit, und wirklich, so nach dem Motto: Mit wem soll er da reden außer mit Gandhi? Gerade gewöhnst du dich an jemanden, und schon ist seine Amtszeit vorbei. Das ist doch wahrlich nicht vernünftig, oder? Einfach unvernünftig! Und plötzlich steht Putin da als der erfahrenste Politiker der Welt. Er ist knapp über 22 Jahre an der Macht, denn schon als Premierminister standen ihm mächtige Hebel zur Verfügung. Keiner von den europäischen und nordamerikanischen Politikern ist je so lange an der Macht gewesen. Er kennt sie alle in- und auswendig, und er glaubt denen absolut nichts, keinem von denen.
Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein
Er denkt ganz bestimmt: „Warum kümmert es euch denn jetzt plötzlich, dass wir mit diesem Krie…, ach, wie heißt das … mit dieser militärischen Spezialoperation zur Wiederherstellung in der Ukraine sind. … Vorher hat doch angeblich niemand etwas gemerkt – dass sie Janukowitsch gestürzt haben, dass seit acht Jahren im Donbass [Krieg ist].“ Und auf die Frage, ob nicht wir Russen es waren, die zuerst im Donbass einmarschiert sind, kommt immer die Antwort: „Alles hat damit angefangen, dass der Westen die Krim nicht anerkannt hat, aber da hat doch das Volk abgestimmt …“
Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein. Als die Überzeugung noch klein war, war es einfach eine Anhäufung von Kränkungen, aber als dann Iskander-, Bulawa- und Zirkon-Raketen ins Spiel kamen, wurde klar, dass man diese Kränkung durchaus anderen vorhalten kann.
Was meinen Sie: War Putin bewusst, dass bisher noch niemand einen Krieg gewonnen hat gegen ein Land, das diesen Krieg als Vaterländischen Krieg sieht? Als Beispiel dient hier die Sowjetunion [im Zweiten Weltkrieg – dek] oder auch Russland im Napoleonischen Krieg.
Mit dieser militärischen Wucht und Übermacht kann man das Land natürlich vorübergehend unterwerfen, es aufteilen … Einen westlichen Teil, der leben kann, wie er will, mit Lwiw als Hauptstadt, einen zentralen Teil, der natürlich unter russischer Schirmherrschaft stehen müsste, und dann würde man sehen, wer der wichtigste Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen wäre, und schließlich die Ost-Ukraine, die natürlich russisch sein muss. So ungefähr war der Plan. Aber es hat sich herausgestellt, dass da ein Mann mit Eiern in der Hose ist – Selensky, was kaum jemand geglaubt hat. Seine Zustimmungswerte waren vorher nach unten gegangen, also dachten unsere Propagandisten, das ukrainische Volk würde die russische Armee mit Blumen empfangen.
Aber jeder, der in den letzten Jahren auch nur einmal in der Ukraine gewesen ist, hätte doch sagen können, dass das nicht stimmt. Hat man Putin angelogen?
Das kann ich dir erklären. Das ist keine Lüge, das ist viel besser. Schau mal, unsere Regierung bestellt für ihren Boss Propaganda fürs Volk. Sie schaut zu, wie das Fernsehen die Aufgabe erledigt und beginnt allmählich selbst, das zu glauben, was sie in Auftrag gegeben hat, es ist ja im Fernsehen zu sehen. In der Psychologie nennt man das Selbstinduktion. Das ist einer der schwerwiegendsten Gründe: Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen. Sie glauben jetzt tatsächlich an das, was sie sich selbst ausgedacht haben.
Sie haben Echo Moskwy abgeschaltet, sie haben alle jungen und hoffnungsfrohen freien Medien mit diesem „Ausländische Agenten“-Gesetz ruiniert. Es gibt einen riesigen Exodus an Journalisten, Profis, Analytikern, Programmierern, Fachleuten für die Erforschung von Big Data in Russland. Einen gigantischen Exodus. Gigantisch. Du wirst bald sehen, wovon ich rede. Das sind dann meine persönlichen Verluste. So degradiert man ein ganzes Volk.
Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen
Sie haben ziemlich viele Kriege mit eigenen Augen gesehen. Von dem, was Sie jetzt beobachten – die Soldaten der russischen Armee, die russische Militärtechnik, die Soldaten der ukrainischen Armee, die ukrainische Militärtechnik –, können Sie sich da ein Bild vom Zustand der beiden Armeen machen?
Muratow: Damals in Karabach habe ich gesehen, wie das Donezker Einsatzregiment des seinerzeit noch sowjetischen Innenministeriums mit alten Panzern versuchte, die Berge hochzukriechen. Der Anblick war nicht so überzeugend.
In Afghanistan sah ich eine Armee, die zwar schon viel besser aufgestellt war, die aber nicht wusste, wofür sie kämpfte. Die kämpften dort nur für ihre Kameraden, nicht um irgendeine internationale Pflicht zu erfüllen, da hatte keiner einen Plan. Der Krieg lief hauptsächlich unter dem Motto: „Wir rächen unseren gefallenen Freund.“ Was wir dort überhaupt zu suchen hatten, diese Frage wurde gar nicht gestellt.
Ja. Lauter Grundwehrdienstler, die wurden beeidigt und los ging's. Die hatten nicht einmal alle das halbe Jahr Grundausbildung.
Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl
Die heutige Armee ist anders. Es gibt eigentlich zwei Armeen: die traditionelle russische und die Armee von Kadyrow. Kadyrows Armee ist auf Kampf gedrillt, die kämpfen gern, das ist ihr Lebensinhalt. Sie sind gut ausgerüstet, tragen die modernsten Kampfanzüge, die allerneuesten Ratniki. Sie haben im Tschetschenienkrieg viele, wie sie es nennen, Schaitanygefangen und den Umgang mit Waffen von Kindesbeinen an gelernt. Im Grunde versteht Kadyrow sein Land nicht als kleine subventionierte Region Russlands, sondern als Armee, deren Oberbefehlshaber er ist. Daher werden beim Signal des Kriegshorns „Putins Fußsoldaten“ tatsächlich zur Infanterie. Sie haben ein Motiv, nämlich, zu kämpfen.
Die traditionelle Armee hingegen hat kein Motiv. Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl. Das ist alles ziemlich streng hierarchisch strukturiert, wie üblich beim Militär. Und die Angst vor der Strafe des Tribunals, die Angst, dass der Kommandant unzufrieden ist, die treibt die Soldaten an, immer weiter. Aber das Motiv „die Heimat verteidigen“, das fehlt.
Halten Sie alles, was da passiert, gewissermaßen für ein Versagen Ihrer Strategie? Denn Sie waren doch einer, der in ganz schweren Zeiten versucht hat, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Sie konnten sowohl mit denjenigen reden, die auf Demonstrationen wollten, als auch mit denen, die für deren Genehmigung zuständig waren. Sie haben sich gekümmert, haben Leuten geholfen und so weiter. Denken Sie, dass diese Kompromisse dazu beigetragen haben, dass alles innerhalb einer Sekunde in sich zusammengestürzt ist?
Muratow: Ich habe keine Zeit für Social Media, dadurch habe ich viel Scheiße gar nicht mitgekriegt. Nur davon gehört. Gleichzeitig habe ich keinen einzigen Vorwurf gegen unsere Zeitung gehört. Mir wurden Vorwürfe gemacht, aber nicht der Zeitung. Zum Glück, war es nicht umgekehrt.
Was heißt überhaupt sich einigen oder zuhören? Eigentlich ist das meine Arbeit, ich habe ein zweites Signalsystem, also: reden, zuhören, reden, zuhören. Man muss sich die Argumente anhören, und man muss auf jeden Fall den Mund aufmachen, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu bewirken. Klar, man muss hinfahren und reden, um die Demonstranten freizubekommen. Aber ich glaube, diese Möglichkeit habe ich jetzt gar nicht mehr.
Offiziellen Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der Russen die Militäroperation … Muratow: Können Sie das wiederholen? Welchen Umfragen zufolge? Offiziellen. Muratow: Die wer durchführt? Das WZIOM. Muratow: Ist das WZIOM ein staatliches Institut? Ja. Muratow: Dann macht also der Staat mithilfe eines staatlichen Dienstes eine Umfrage für sich selbst, um seine eigene Position zu untermauern.
Sogar wenn wir das Ergebnis halbieren, sind es immer noch viele.
Muratow: Okay, einverstanden, aber sogar das WZIOM, kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel dagegen ist. Also sogar laut staatlicher Umfrage sind ein Drittel dagegen. Das sind, an der Gesamtbevölkerung bemessen, 50 Millionen. Ein Drittel. Immerhin ein Drittel. Ein Drittel! Das sind enorm viele!
Sogar wenn wir davon ausgehen, dass sie lügen, können wir uns immer noch vorstellen, dass der Teil, der dafür ist, und der Teil, der dagegen ist, egal wie groß, aber ungefähr gleich groß sind. Normalerweise führt das dazu, dass Sofakonflikte zu handfesten Auseinandersetzungen werden. Wie schätzen Sie diese Perspektive ein?
Muratow: Das würde ich gern anders beantworten. Es gab im Januar eine Umfrage von Lewada. Das sind telefonische Umfragen, Feldforschung. Es ist ja klar, dass die Leute Angst haben, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation des Präsidenten zur Wiederherstellung der Ordnung?“ Man hat die Telefonnummern der befragten Personen, weiß also auch, wo sie wohnen. Was sollen sie da schon sagen? Ja, sagen sie, ich bin dafür. Die haben doch Schiss, verdammt.
Stehen wir im Land am Rand einer großen Bürgerkonfrontation, die katastrophale Folgen haben wird?
Muratow: Ich denke nicht über einen Bürgerkrieg in Russland nach. Worüber ich ernsthaft nachdenke, ist die Frage, was diese verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenbringen kann. Total überzeugt bin ich von: Waffenstillstand …
Glauben Sie?
Muratow: Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können. Auf gar nichts. Worauf soll man sich denn jetzt noch einigen?
Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können
Unsere Korrespondentin Nadja Andrejewa ist jetzt in Saratow … Sie hat von einer irren Geschichte berichtet, ich werde den Namen des jungen Mannes nicht nennen … Am 24. wurde er getötet, die Nachricht über seinen Tod kam an seinem Geburtstag, am 25. Februar, wenn ich nicht irre. Die Familie ließ ein Grab ausheben und mit einer Plane abdecken, langsam stellte sich die Frage, wann denn die Leiche käme. Aber die war verlorengegangen. Und noch immer wartet dieses abgedeckte leere Grab in der Stadt Saratow [diesen Artikel, wie auch einige weitere, hat die Novaya Gazeta inzwischen gelöscht aufgrund der zensierenden Gesetzgebung, die eine Berichterstattung nur gemäß „offizieller Quellen“ erlaubt, bei „Falschinformation“ drohen bis zu 15 Jahre Haft – dek]. Deswegen braucht es einen Austausch der Gefallenen, humanitäre Korridore und Waffenstillstand.
Gut, aber halten Sie das für möglich?
Muratow: Nun, ich denke, nachdem nichts anderes möglich ist – niemand wird die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurücknehmen, niemand wird die Krim zurückgeben –, bleibt nur die Möglichkeit, nicht noch mehr Menschen zu opfern. Der Krieg wird so oder so zu Ende gehen, die Frage ist nur, wie hoch die Verluste sein werden.
Glauben Sie daran, dass unsere Kinder oder wenigstens unsere Enkelkinder mit ihren ukrainischen Altersgenossen ohne Hass oder Schuldgefühle werden reden können?
Muratow: In unserer Generation wird das nicht mehr möglich sein. In der Generation, die jetzt 20 oder 21 ist, geht das vielleicht noch, da herrscht eine andere Empathie. Die meisten jungen Leute sind kategorische Kriegsgegner, und die meisten von ihnen haben plötzlich innerhalb von zwei, drei Tagen kapiert, dass das das letzte iPhone war, dass der letzte Flug weg ist und sie die Länder, von denen sie geträumt und gelesen haben, nie zu Gesicht kriegen werden.
Das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen geträumt haben, dass ihnen in der Zukunft die Welt offensteht und dass auch Russland weltoffen ist
Aber das ist doch ein Scheißdreck im Vergleich zu den vielen Toten in der Ukraine …
Muratow: Nein, das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen von einer Zukunft geträumt haben, sie haben davon geträumt, dass man Russland in dieser Zukunft lieben würde, dass ihnen die Welt offensteht, dass auch Russland weltoffen ist, dass die Grenzen immer mehr verschwinden und nur mehr zu Ordnungszwecken und für den Zoll bestehen. Sie haben ganz bestimmt davon geträumt, würdige und gleichberechtigte Weltbürger zu sein, dass massenhaft Touristen kommen würden. Von einer Atmosphäre zwischen Russland und dem Rest der Welt wie zur Zeit der Fußball-WM, oder noch besser wie 2014 in Sotschi, vor der Annexion der Krim – davon hat diese junge Generation geträumt. Sie wollten eine schöne Welt, und keine, in der sie losrennen müssen, um für ihre Großmütter schnell noch die letzten Medikamente aufzukaufen.
Schämen Sie sich dafür, dass wir das nicht geschafft haben?
Muratow: Nein. Es tut mir nur unfassbar leid. Aber Scham fühle ich nicht. Ich schäme mich sicher nicht für das, was ich 30 Jahre lang gemacht habe. Es schmerzt mich, dass Anna [Politkowskaja] nicht mehr da ist, genauso wie [die Kollegen – dek] Jura [Schtschekotschichin], Igor [Domnikow] und Stass [Markelow], dass Nastja [Baburowa] und Natascha [Estemirowa] tot sind und dass der Krieg im Donbass Nugsar Mikeladse kaputtgemacht und letztlich umgebracht hat. Dafür verspüre ich Verantwortung und Schuld. Aber nicht für das, was wir tun.
Aber es ist uns nicht gelungen …
Muratow: Schau, manches ist doch gelungen, ein paar Jahre lang lief es gut, da ist uns doch was gelungen. Aber wie es ausgeht, in meinem Leben zum Beispiel … Das steht alles schon bei Jewgeni Schwarz, den ich sehr schätze: „Alles war gut, alles endet traurig.“ Leider kann ich dir, solange dort die Bomben fallen, nichts Aufbauendes sagen.
Aber ich finde andererseits auch, dass sich jetzt Gut und Böse sehr deutlich offenbart haben. Das sieht man sogar daran, wer in der UNO Russland unterstützt hat und wer nicht. Zwei, drei Diktatoren sind noch auf unserer Seite, aber der Rest der Welt, in dem die Menschen glücklicher leben als in Nordkorea, sieht das anders. Und das ist auch sehr viel wert. Ich hoffe sehr darauf, dass wir einen Waffenstillstand erreichen. Das ist alles. Mein Wunsch ist nicht groß, aber schwer erfüllbar.
Titelseiten gedruckter Zeitungen und Zeitschriften spielen seit jeher eine besondere Rolle im Journalismus. Das gilt unvermindert auch im Online-Zeitalter. In Russland ist es vor allem die unabhängige Novaya Gazeta, die nach wie vor auch als Printausgabe erscheint (allerdings in anderem Format und nicht mehr täglich), und mit ihrer schlagkräftigen wie feinfühligen Covergestaltung stets aufs Neue überrascht – selbst unter aktuellen Zensurbedingungen. dekoder präsentiert eine Auswahl aus der jüngsten Vergangenheit.
„Zombiekiste zeigt Risse live im Ersten Kanal“ (16.03.2022)
Marina Owsjannikowa hatte als Redakteurin des Staatssenders Erster Kanal während der Nachrichten ein Plakat hochgehalten – „Kein Krieg“ (das Wort zeigt die Novaya entsprechend der neuen Gesetzgebung nur verpixelt) und „Glaubt nicht der Propaganda – hier werdet ihr belogen“. Nach einer Geldstrafe droht ihr nun ein Strafverfahren – in den Sozialen Medien wird sie als Heldin gefeiert. Und Zombiekiste: Das ist ein anderes Wort für den Fernseher mitsamt den Staatskanälen.
„Ausgabe der Novaya nach allen Regeln des geänderten Strafgesetzbuchs in Russland“ (09.03.2022)
Der Krieg darf nicht Krieg genannt werden: Nach einer kurzfristigen Strafrechtsänderung drohen Haftstrafen bis zu 15 Jahren auf die Verbreitung von „Falschinformationen“ über Russlands „Militäroperation“ in der Ukraine. Zahlreiche unabhängige Medien schließen oder werden geblockt – die Novaya entscheidet sich, unter den Bedingungen der Kriegszensur weiter zu berichten. Vor dem Atompilz sind vier Tänzerinnen aus Tschaikowskis Schwanensee zu sehen: Während beim Putsch am 19. August 1991 Panzer durch Moskau rollten, zeigte das sowjetische Fernsehen klassische Musik und Ballettaufführungen. Schwanensee gilt seitdem als Chiffre für die Vertuschung der Wahrheit. Auch Doshdnutzte die Anspielung und verabschiedete sich mit ebendieser historischen Schwanensee-Aufführung vor seiner Sperrung am 3. März 2022.
„Russland. Bombardiert. Die Ukraine.“ (25.02.2022)
Einen Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erscheint die Novaya mit dieser Titelseite – die wegen der Zensurgesetze, die am 4. März von Putin unterschrieben wurden, im Archiv der Zeitung nur noch verpixelt zu sehen ist. Die Ausgabe erscheint zweisprachig – auf Russisch und Ukrainisch.
„Sie hat uns keine Wahlen gelassen“ (04.08.2021)
Ella Pamfilowa, einst auch in liberalen Kreisen geachtete Stimme für soziale Belange und Menschenrechte, leitet seit 2016 die Zentrale Wahlkommission Russlands, die zum Inbegriff für Wahlfälschungen wurde. Auch vor der Dumawahl 2021 steht sie massiv in der Kritik.
„Harte Nuss“ (14.09.2020)
September 2020, ganz Belarus ist erfasst von riesigen Protesten nach der gefälschten Präsidentschaftswahl. Machthaber Lukaschenko spricht immer wieder von Strippenziehern aus dem Westen und bemüht sich um Hilfe aus Moskau. Er präsentiert ein angeblich abgehörtes Telefonat zweier Agenten aus Berlin und Warschau mit Namen „Nick“ und „Mike“: Dem Gespräch zufolge wurde Nawalny gar nicht vergiftet und die ganze Geschichte nur geschaffen, um Putin von einer Einmischung in Belarus abzuhalten. Lukaschenko habe sich, so die Gesprächspartner, als „harte Nuss“ erwiesen. Die Episode sorgte in der Netzwelt für Spott und Hohn wegen ihrer zweifelhaften Glaubwürdigkeit.
„Ich war in der Hölle“, schreibt die ukrainische Journalistin Nadeshda Suchorukowa über ihre Heimatstadt Mariupol. Die Stadt, der sie inzwischen entkommen konnte, wird seit Tagen von der russischen Armee belagert und heftig beschossen – auch Wohnhäuser, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen. Die verbliebenen Bewohner sind abgeriegelt von der Außenwelt, von Strom, Wasser, Internet und Lebensmitteln. Die Stadt am Asowschen Meer gilt als strategisch wichtig zwischen den von Russland kontrollierten Donbas-Gebieten und der Krym.
Auf ihrer Facebook-Seite schildert Suchorukowa Erlebnisse aus der Belagerung – dekoder dokumentiert einen Ausschnitt daraus.
Die Leichen deiner Nachbarn und Bekannten holt niemand ab. Die Toten liegen in Hausfluren, auf Balkonen, in Höfen. Und du hast kein Fitzelchen Angst. Denn die größte Angst kommt beim nächtlichen Angriff.
Wisst ihr, was dem nächtlichen Angriff ähnelt? Der Tod, der alle Adern aus dir herauszieht. Schlafen darf man nachts nicht. Denn man träumt friedliche Träume. Du tauchst aus ihnen auf und fällst in den Alptraum.
Zuerst kommen Geräusche. Fiese metallische Geräusche, als würde jemand einen riesigen Zirkel drehen und die Entfernung zu deinem Schutzraum messen. Um ihn genauer zu treffen. Dann kommt die Rakete. Du hörst, wie ein riesiger Hammer auf das Metalldach schlägt, und dann ein fürchterliches Knirschen, als würden sie mit einem riesigen Messer die Erde aufschlitzen oder als würde ein gewaltiger Riese aus Metall in schmiedeeisernen Stiefeln über deine Erde gehen und Häuser, Bäume, Menschen zertreten. Du sitzt da und merkst, dass du dich nicht mal bewegen kannst. Du kannst nicht wegrennen, schreien nützt nichts, verstecken nützt nichts. Er findet dich sowieso, wenn er will.
Ist Putin verrückt geworden? Wenn man davon ausgeht, dass Rationalität mit interessengeleitetem Handeln einhergeht, dann scheint diese Frage tatsächlich nicht ganz unberechtigt. Einen Krieg loszubrechen, das eigene Land in eine massive Wirtschaftskrise und Armut zu stürzen – das unterminiert doch das Hauptinteresse eines jeden autoritären und kleptokratischen Regimes: den Machterhalt.
Wenn man das Regime als irrational und unzurechnungsfähig abstempelt, dann müsste man sich allerdings auch eingestehen, dass es mit den Mitteln der Politikwissenschaft nicht mehr analysiert werden kann. Eine solche Diagnose sollte man lieber einem Arzt überlassen.
Alleine deshalb ist die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Regimes eigentlich müßig, meint zumindest ein anonymer Experte. Er identifiziert vielmehr einige handfeste Anhaltspunkte dafür, dass das Regime doch rational ist. Er veranschaulicht die innere Logik des Systems Putin und zeigt, wie die Kriegsentscheidung sich in diese Logik fügt.
Die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, ist höchstwahrscheinlich eine der unheilvollsten, die russische Regierende jemals in der Geschichte getroffen haben. Für die meisten Beobachter und Analytiker kam sie noch dazu absolut überraschend – nicht einmal jene, die vor weiteren Verschärfungen der Situation gewarnt hatten, hatten ein so rasches Fortschreiten der Ereignisse mit katastrophalen Folgen für die Ukraine, für Russland und die ganze Welt erwartet. Den Experten stellt sich jetzt die Frage, warum die russische Führung genau diese Entscheidung getroffen hat, welche Berechnungen und Vorstellungen sie dazu motiviert haben.
Da man aktuell extrem wenig über die Mechanismen weiß, mit denen im Kreml strategische Entscheidungen getroffen werden, können sich derzeit viele Bewertungen und Vermutungen in der Praxis als falsch erweisen. Dennoch hat die Politikwissenschaft in der Forschung über außenpolitische Entscheidungen in unterschiedlichen Staaten in verschiedenen historischen Epochen einiges an Erfahrung gesammelt. Diese Erfahrung kann dabei helfen zu verstehen, wie die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, entwickelt und in die Tat umgesetzt wurde.
Ich möchte gleich sagen, dass es für diese Analyse nichts bringt, sich dazu verleiten zu lassen, Putin und seinem Umkreis die Rationalität abzusprechen und sich zu sehr auf die Emotionen zu konzentrieren, von denen diese sich leiten lassen. Jedenfalls wirken die meisten Schritte, die der Kreml sowohl vor als auch nach dem 24. Februar 2022 unternommen hat, durchaus rational, und es besteht in dieser Hinsicht kein Anlass, den Beginn der „militärischen Spezialoperation“ als Ausnahme zu betrachten. Vielmehr fügt sich diese Entscheidung durchaus in die allgemeine Logik der russischen Staatsführung ein. Das Unheilvolle besteht nicht in der Spezifik der russischen Ukraine-Politik, sondern in etwas viel Fundamentalerem. Dazu gehören (1) Merkmale des russischen Regimes, (2) Mechanismen der Verwaltung des russischen Staates, (3) falsche Vorstellungen von möglichen Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen und (4) eventuelle Fehleinschätzungen der Folgen des eigenen Vorgehens auf Grundlage der bisherigen Erfahrung.
Das Regime leidet unter der fehlenden Meinungsfreiheit mehr als die Bevölkerung
Es scheint, dass der wichtigste Faktor dieser fatalen Entscheidung im personalisierten Charakter des russischen Autoritarismus besteht. Autoritäre Regime leiden unter der fehlenden Meinungsfreiheit nicht weniger, sondern sogar mehr als die unter den autoritären Bedingungen lebende Bevölkerung. Der Mangel an alternativen Informationsquellen, die Unmöglichkeit, verschiedene Sichtweisen zu vergleichen und auf Basis ihrer Konkurrenz zu entscheiden, all das wirkt sich unheilvoll auf die Entscheidungsfindungen aus – solche Defekte bemängelten die sowjetischen Dissidenten schon vor mehr als einem halben Jahrhundert.
Zudem werden in vielen Autokratien Expertenposten besetzt nach dem Prinzip „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“: Bei der Vorbereitung von Entscheidungen tritt die Kompetenz der Beamten hinter ihrer Loyalität zurück. Das war in Russland im Bereich der Außenpolitik deutlich erkennbar, in der die Stimmen von radikalen Anhängern einer militärischen Konfrontation mit dem Westen zuletzt immer lauter wurden, während gemäßigte Sichtweisen kaum Gehör fanden. Die Geheimhaltung, mit der diese überaus wichtigen Entscheidungen vorbereitet wurden, hat ihren Qualitätsabfall nur noch verschärft.
Experten werden ausgetauscht nach dem Prinzip: „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“
Noch dazu unterscheiden sich personalisierte Autokratien (anders als in Einparteiensystemen oder gar Monarchien) dadurch, dass Entscheidungsfindungen nur wenig institutionalisiert sind, was der Willkür der politischen Führung fast unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet. Dazu genügt es, die Entscheidung zur „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine mit ihrem nächsten Äquivalent in der sowjetischen Geschichte zu vergleichen: dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei 1968. Dem damaligen Beschluss gingen zahlreiche Besprechungen und kollektive Diskussionen im Politbüro voraus, Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung sowie eine Rücksprache mit den osteuropäischen Bündnispartnern der UdSSR. Obwohl auch diese Entscheidung für unser Land unheilvoll war, konnte die sowjetische Regierung in Summe ihre Ziele in der Tschechoslowakei immerhin erreichen und für sich selbst ein Worst-Case-Szenario vermeiden.
Ein Beispiel des genauen Gegenteils war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan, aber diese Episode wies einen etwas anderen Charakter auf – diesen Beschluss fassten schwerkranke Regierende eines Landes, die damals zu kollektiven Diskussionen physisch nicht in der Lage waren.
Wie es um kollektive Diskussionen in der heutigen russischen Führungsriege steht, hat die Sitzung des Sicherheitsrats am 21. Februar 2022 zur Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sehr eindrücklich gezeigt: Von Diskussion konnte keine Rede sein, die Sitzung diente einzig der Zustimmung der Teilnehmer zu einer vorab getroffenen Entscheidung (die im Endeffekt ganz anders aussah als das, was am Ende der Sitzung öffentlich bekanntgegeben wurde [dass nämlich Russland die sogenannten LNR und DNR anerkenne – dek]).
„Bad governance“
Hauptziel und zentraler Inhalt der russischen Staatsführung ist es, Renten zu generieren. So wird ein hochwertiger Entscheidungsfindungsprozess im Land nur in einer Nische strategisch bedeutender „Effektivitätsinseln“ (zum Beispiel der Zentralbank) unter der Schirmherrschaft der politischen Führung beibehalten. Dass die allgemeine Staatsverwaltung eklatant an Qualität einbüßt, können diese „Effektivitätsinseln“ allerdings nicht aufhalten – eher umgekehrt: Im Wissen darum, dass die Zentralbank über ausreichend Gold- und Devisenreserven verfügt, um den Kurs auszugleichen, fühlen sich die Machthaber unverwundbar und wagen vehementere, aber weniger durchdachte Schritte.
Unter solchen Bedingungen leiden Außen- und Verteidigungspolitik stärker an den Lastern der „Bad Governance“ als viele andere Sphären. Sie bleiben abseits jeder zivilen Kontrolle und verhüllt vom Schleier des Staatsgeheimnisses, mit dem sich praktischerweise alle Fehleinschätzungen kaschieren lassen. Das motiviert die Chefs der entsprechenden Behörden, ihre Aufgaben um jeden Preis und möglichst schnell zu erfüllen, ohne an weitere Folgen zu denken (zum Beispiel die „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine, ohne Plan, wie ihr Territorium im Fall eines Erfolgs zu verwalten sei), und leere Versprechen zu geben. Da wundert es nicht, dass mögliche Kosten im Zusammenhang mit der „militärischen Spezialoperation“ im Vorhinein geringer oder gar nicht bedacht wurden. Wobei die „Arbeit an Fehlern“ noch mehr Verluste zu bringen droht.
Falsche Vorstellungen
Da es an echter Expertise mangelt und die Informationen eindeutig verzerrt sind, werden Vorstellungen über die Gegenseite oft konstruiert, indem Stereotype und Ängste vervielfacht werden. So projizierten die russischen Machthaber ihre Erwartung auf die Regierung der Ukraine: Dass die „amerikanischen Marionetten“ im Fall der Bedrohung zu ihren Herrchen rennen, diese dann aber aufhören würden, sie zu unterstützen (wie es 2021 in Afghanistan geschah). Auch eigene Phobien projizierten sie auf die Ukraine – unzählige Ideen, die Politiker Russlands jahrelang bei ihren öffentlichen Auftritten immer wieder formuliert haben und die wahrscheinlich zur Grundlage für strategische Entscheidungen geworden sind: Dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien, dass die Spaltung der Ukraine in West und Ost ewiglich und nicht zu beheben sei, dass in der Ukraine die breite Masse prorussisch eingestellt und nur das Establishment in der Hand von Nationalisten sei.
Sieht man etwas genauer hin, zeigt sich: Hinter diesen falschen Vorstellungen stehen unrealistische, rückwärtsgewandte weltanschauliche Erwartungen, die nicht nur der russischen Führung, sondern auch vielen anderen Politikern auf der Welt eigen sind. Sie basieren auf der Vorstellung, man könne in der modernen Welt eine frühere, verlorengegangene politische, soziale und internationale Ordnung wiederherstellen – während bei Donald Trump der entsprechende Slogan „make America great again“ lautete, erklang in Russland die Drohung „Wir können das wiederholen“. Es überrascht nicht, dass bei einer solchen Herangehensweise alternative Annahmen über die Lage im Ausland nicht ernsthaft diskutiert oder zumindest bei der Entscheidung ausgeklammert wurden.
Wiederholung der Vergangenheit
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine von der russischen Regierung als Extrapolation ihrer bisherigen Erfahrung mit der Angliederung der Krim 2014 verstanden wurde, die Putin laut eigenen Angaben im Alleingang beschlossen hatte. Man darf nicht vergessen, dass die Krim in den Augen der russischen Regierung eine Erfolgsgeschichte war: Die innenpolitische Unterstützung dieser Aktion fiel sehr stark aus, während die Ukraine nicht in der Lage war, sich dem Vorgehen des Kreml zu widersetzen, und die vom Westen auferlegten Kosten hielten sich in Grenzen.
Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer
Abgesehen vom Abschuss der malaysischen Boeing im Juli 2014 über dem Donbass interessierten sich die Establishments von Europa und Amerika nicht wirklich für Russlands Umgang mit der Ukraine, und mithilfe mächtiger Unterstützungsgruppen in den USA und in Europa konnte die russische Führung die schwersten Sanktionen, die dem Kreml drohten, ausbremsen. Diese früheren Erfolge weckten also die Erwartung, dass sich der Westen, der in den letzten Jahren diverse Misserfolge erlebt hatte – vom Brexit über den Sturm auf das Kapitol bis zur Flucht der USA aus Afghanistan – in einem unaufhaltbaren Niedergang befände und prinzipiell nicht zum entschlossenen Widerstand gegen Russland in der Lage wäre. Daher wurden die Dimensionen des Widerstands gegen die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine und international nicht so genau kalkuliert: Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer. Aber bald wurde klar: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Die Folgen der fatalen Selbstüberschätzung, die die russische Regierung bei der Entscheidung über die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine an den Tag gelegt hat, ließen nicht lang auf sich warten und bestimmten die weitere Entwicklung des Landes und der Welt. Doch noch ist unklar, welche Lehren die Machthaber in Russland daraus ziehen und ob ihre zukünftigen Entscheidungen nicht noch unheilvoller sein werden.
Kein einziger Staat weltweit ist derzeit mit so vielen Sanktionen belegt wie Russland. Über 6.000 einzelne Strafmaßnahmen – das sind mehr als gegenüber Iran und Nordkorea zusammen. Nun droht Russland der Bankrott, für die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist er nur eine Frage der Zeit.
Damit werden in Russland Erinnerungen an den Default des Jahres 1998 wach. Doch was bedeutet ein Staatsbankrott wirklich? Könnte er den Krieg stoppen, Russland in die Knie zwingen? Oder würden die Sanktionen dem System Putin womöglich gar in die Hände spielen? Ein Bystro mit Janis Kluge – in sieben Fragen und Antworten.
1. Russland steht vor dem Bankrott. Was bedeutet das?
Russland wird seine Verpflichtungen aus Staatsschulden und Anleihen nicht erfüllen – das hat allerdings weniger mit Russlands Zahlungsunfähigkeit, sondern vielmehr mit seiner Zahlungsunwilligkeit zu tun. Die russische Regierung hat unilateral Regeln beschlossen, auf welche Weise sie diesen Verpflichtungen nachkommt: Sie will die zu entrichtenden Zinsen zunächst auf eine Art Sperrkonto zahlen – und zwar in Rubel und nicht, wie vereinbart, in US-Dollar. Die vertragsgemäße Rückzahlung knüpft Russland an die Aufhebung von bestimmten Sanktionen: Die vom Westen teilweise eingefrorenen russischen Zentralbankreserven in Fremdwährungen sollen wieder aufgetaut werden. Russland verstößt also gegen die eigentlichen Vertragsgrundlagen und nimmt damit bewusst einen Default in Kauf: Einerseits will es damit politischen Druck aufbauen, damit seine eingefrorenen Finanzreserven (laut Finanzminister Anton Siluanow geht es um etwa 300 Milliarden von insgesamt 640 Milliarden US-Dollar) wieder aufgetaut werden, andererseits will der Kreml den Abfluss von Devisen reduzieren. Insgesamt wäre Russland mit seinen Exporten von Energieträgern (die in US-Dollar gehandelt werden) aber bestens in der Lage, die Zinszahlungen zu bedienen. Dass der Staat als zahlungsunfähig eingestuft wird, hat aber zur Folge, dass auch russische Konzerne unter Umständen als zahlungsunfähig gelten werden. Westliche Banken etwa, die russischen Unternehmen Kredite vergaben, müssten diese Werte wegen des Defaults abschreiben oder Wertberichtigungen durchführen. Einzelne westliche Institute können dadurch Probleme bekommen. Deshalb richten derzeit viele den Blick auf westliche Banken, die sich in Russland engagiert hatten.
2. Warum hat der Kreml seine Reserven eigentlich nicht vor dem Zugriff des Westens geschützt? Ist es ein Hinweis darauf, dass der Krieg nicht von langer Hand geplant war?
Russland hat schon 2018 begonnen, seine Reserven zu diversifizieren. Die Dollar-Abhängigkeit sollte reduziert werden: Was zuvor in US-Währung da war, wurde größtenteils in Euro, Yen oder das chinesische Renminbi umgeschichtet. Damals hat man aber offenbar nicht damit gerechnet, dass auch die Vermögenswerte in Yen und Euro eines Tage eingefroren werden könnten. Vermutlich ist der Kreml auch zunächst nicht davon ausgegangen, dass der Krieg so blutig und so umfassend werden würde und dass der Westen mit solch massiven Mitteln auf die Invasion reagiert. Aus heutiger Sicht scheint es absurd, dass Russland viele Jahre lang gespart und etwa eine Rentenreform durchgeführt hat, die politisch viel Kapital gekostet hat – all das, um eine Reserve aufzubauen, an die es heute nur teilweise drankommt: Geld, das für Krisenzeiten da sein sollte, ist jetzt schlicht nutzlos. Die Zentralbank hat sich da also eindeutig verkalkuliert. Da die wirtschafts- und finanzpolitische Elite des Landes offensichtlich nicht in die Kriegspläne eingeweiht war, ist es aber schwierig, ihr die Schuld dafür zuzuschieben.
3. Einige Beobachter sagen, dass die Reserven noch hoch genug seien, um mittelfristig auch den bisherigen Sanktionen gegen Russland trotzen zu können. Andere betonen, dass gegen Russland weitaus mehr Sanktionen verhängt worden sind als gegen den Iran, Nordkorea oder Venezuela. Das System Putin stehe also vor dem Kollaps. Was ist richtig?
Die Anzahl der Sanktionen sagt nicht viel über deren Härte aus. Der Iran ist heute immer noch härter sanktioniert als Russland. Bei der Verhängung von Sanktionen geht es um die Fragen, wie schnell sie wirken und wie viel Angriffsfläche es gibt. Wegen der enormen Abhängigkeit von der westlichen Technologie bietet Russland in der Tat sehr viel Angriffsfläche. Auch in Finanzfragen bietet Russland viel Angriffsfläche, weil es so gut in das globale Finanzsystem integriert war. Die Sanktionen wurden innerhalb weniger Tage verhängt. Deshalb ist es eine historische Situation: Noch nie wurde ein so großes Land innerhalb so kurzer Zeit so massiv mit Sanktionen belegt. Bei dieser Konstellation gibt es viele Variablen, weshalb nicht klar ist, wie es weitergeht.
Solange Russland allerdings Öl und Gas exportieren kann, wird es immer genügend Deviseneinnahmen haben. Hinzu kommt, dass die russische Zentralbank den Devisenabfluss aus dem Land massiv eingeschränkt hat: Ausländische Investoren etwa dürfen ihre Vermögenswerte in Russland derzeit nicht verkaufen. Außerdem importiert Russland nun kaum noch etwas und Menschen aus Russland können derzeit fast keinen Urlaub im Ausland machen. Der Devisenabfluss ist somit vermutlich relativ gering, genaue Zahlen dazu gibt es noch nicht. Der Devisenzufluss dürfte aber immer noch hoch sein, angesichts hoher Gas- und Ölpreise. Aus diesen Gründen kann man Russland nur bedingt mit dem Iran oder Nordkorea vergleichen. Es wird zwar eine massive Wirtschaftskrise in Russland geben, diese wird aber einen ganz anderen Charakter haben als in den Staaten, die man an den Rand der Zahlungsunfähigkeit schubsen kann. Nur eine massive Reduzierung der Deviseneinnahmen aus dem Energieexport kann Russland ernsthaft gefährden.
4. Der Rubel ist im Zuge der Sanktionen abgestürzt, der Ölpreis ist gestiegen. Da der Staatshaushalt in Rubel gerechnet wird, der Ölpreis aber in US-Dollar, hat der Staat derzeit mehr Einnahmen. Einnahmen, mit denen er auch den Krieg finanzieren kann. Wäre es allein aus diesem Grund nicht naheliegend, ein Öl- und Gasembargo gegen Russland zu verhängen, um den Krieg zu beenden?
Die derzeit im Krieg eingesetzte Militärtechnik ist ja schon etwas älter. Wenn man so will, haben wir diese Technik – und diesen Krieg – in den vergangenen Jahren vorfinanziert, als wir Öl und Gas aus Russland kauften. Der föderale russische Staatshaushalt, der für das Militär verantwortlich ist, speist sich zu einem großen Teil direkt und indirekt aus den Exporten von Energieträgern. Alles, was wir jetzt in diese Richtung tun würden, würde Russlands Fähigkeit, diesen Krieg weiterzuführen, nicht signifikant einschränken. Mit Sanktionen können wir den russischen Vormarsch in der Ukraine nicht stoppen. Wir können damit nur den Druck auf das System Putin erhöhen, damit es den Krieg selber stoppt. Mittel- bis langfristig können wir durch Sanktionen außerdem die militärischen Möglichkeiten Russlands in künftig denkbaren Kriegen oder militärischen Konflikten einschränken.
5. Laut Zentralbank soll die Inflation 2022 auf 20 Prozent klettern. Manche Analysten prognostizieren Schlimmeres: Sanktionen, so heißt es, können Massenarmut hervorrufen, Menschen auf die Straße treiben und zum Umsturz animieren. Können Sanktionen in solcher Weise die Regimestabilität gefährden?
Das Kalkül hinter so einem Denkschema ist ja, dass man durch Sanktionen eine zweite Front aufmacht – eine innenpolitische. Da gibt es zwei Argumente: „Rally 'round the flag“ – das Volk stellt sich hinter den Präsidenten – oder die Menschen beschuldigen die Machthaber für die wirtschaftlichen Probleme. Ich bin ein Anhänger der zweiten These. Die Erfahrung aus den Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014 zeigen, dass es für die Machthaber opportun schien, die Wirkungen der Strafmaßnahmen kleinzureden. Putin muss aus der Position der Stärke reden, wesentliche Wirkungen von Sanktionen auf die Wirtschaft zuzugeben hieße da ein Eingeständnis von Schwäche. In der Staatspropaganda wird berichtet werden, dass die Sanktionen zwar lästig sind, aber eigentlich kein großes Problem. Vor diesem Hintergrund dürfte sich aber bei den Menschen in Russland eine Diskrepanz auftun: Das Realeinkommen fällt ja schon kontinuierlich seit 2014, 2022 droht aber noch eine weitaus höhere Inflation als bei der optimistischen Prognose der Zentralbank. Eine hohe Arbeitslosenquote ist zudem nicht mehr ganz so unwahrscheinlich wie in vergangenen Jahren. Und damit auch fortschreitende Armut. Wenn den Menschen dann im Fernsehen etwas von der Wirkungslosigkeit westlicher Sanktionen erzählt wird, könnte sie das durchaus verärgern. Im berüchtigten russischen Bild vom Kampf des Fernsehens gegen den Kühlschrank könnte die Schere noch größer werden. Dass die Menschen ihre Verarmung aber nicht mit Sanktionen in Kausalzusammenhang stellen, sondern eher mit „denen da oben“ – das könnte den Effekt der „Rally 'round the flag“ reduzieren und für die Machthaber langfristig zum Problem werden.
6. Oft heißt es, dass die westlichen Sanktionen vor allem die Ärmsten in Russland treffen: durch Inflation würden sie noch ärmer. Ist das so, treffen Sanktionen am Ende die Falschen?
Nein, die Sanktionen werden in erster Linie die Menschen treffen, die westliche Güter kaufen und mehr ins Ausland verreisen. Diese Menschen erfahren die höchsten Einbußen in puncto Lebensstandard. Im Gegensatz zu den vorangegangenen sanktionsbedingten Krisen kann es diesmal aber zu mehr Arbeitslosigkeit kommen: Da der Westen nun den Export von Technologiegütern größtenteils gesperrt hat, können einige russische Fabriken nicht mehr produzieren. Eine Zeit lang kann es zwar funktionieren, dass der Staat etwa die Lohnausfälle kompensiert, wie lange er das aber im großen Stil machen kann, ist fraglich. Die Sozialleistungen werden derzeit zwar erhöht, sie bringen aber wohl nur den Ärmeren in kleineren Städten und Dörfern etwas. Die urbane Mittelschicht dürfte damit zu den größten Opfern der Wirtschaftskrise werden. Dabei waren Konsum westlicher Produkte und Reisen in den Westen eine Art integraler Bestandteil des Systems Putin. Derzeit ist noch nicht klar, ob es sich von nun an nur noch auf Repressionen stützt, in der bisherigen Form ist das Modell heute allerdings nicht mehr denkbar.
7. Sanktionen würden Russland nur stärker machen, behauptet Putin. Sein Kalkül: Die Importe sollen substituiert werden, durch Autarkie (und niedrigen Rubelkurs) könne sich Russland selbst mit allem versorgen, die russische Wirtschaft könne gar international konkurrenzfähiger werden. Ist an dieser These etwas dran?
Keine Volkswirtschaft kann heute Güter auf dem Stand der Technik alleine produzieren, nicht einmal die USA. Das sieht man beispielsweise am Flugzeugbau und in der IT-Branche: Die Einzelteile und das Knowhow kommen hier aus der ganzen Welt zusammen. Ohne Spezialisierung und Arbeitsteilung auf internationaler Ebene lassen sich auch solche Dinge wie Mikrochips nicht produzieren. Das heißt: Russland kann diese Dinge gar nicht replizieren, weil es eine kleine Volkswirtschaft ist und keine Erfahrung darin hat. Vor diesem Hintergrund haben die verhängten Sanktionen zur Folge, dass Russlands Wirtschaft schlicht primitiver wird und sich mehr und mehr in Richtung Petrostaat entwickeln wird. Seit dem 2014 proklamierten Kurs der Importsubstitution gab es in den russischen Staatsmedien häufig Erfolgsmeldungen: Russland, so hieß es, habe bei dem und dem Produkt 80, 90, 95 Prozent der Importe substituiert. Wenn aber auch nur ein Prozent des Produkts importiert werden muss, es durch Sanktionen aber nicht geht, dann wird es dieses Produkt in Russland schlicht nicht geben. Ich bin überzeugt, dass Putin die russische Wirtschaft für viel autarker hält als sie eigentlich ist. Er unterschätzt die Abhängigkeit vom Ausland. Aus diesem Grund glaube ich, dass die russische Führung es derzeit überhaupt nicht überblickt, wie tiefgreifend die kommende Wirtschaftskrise sein wird.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Janis Kluge Veröffentlicht am: 17. März 2022