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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Vor über einem Monat startete Russland den Angriffskrieg in der Ukraine. Die ganze Welt verfolgt heute quasi in Echtzeit die Kämpfe um Mariupol und Charkiw, sieht die Morde an der Zivilbevölkerung in Butscha. Und in Russland? Wie nehmen dort die Menschen die Ereignisse wahr – gerade auch angesichts der massiven Propaganda und Zensur? Wie wirkt sich all das auf die Umfragewerte aus?

    Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Umfrageinstituts Lewada-Zentrum, analysiert auf Riddle aktuelle Umfrageergebnisse, wonach mehr als 80 Prozent den Krieg in der Ukraine befürworten.



    Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Befragten den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine unterstützt. Dabei ist die Mehrheit – 53 Prozent – „eindeutig dafür“, während 28 Prozent angeben, „eher dafür“ zu sein. Rund 14 Prozent der Russen sind dagegen, weitere sechs Prozent wussten es nicht.

    Die Unterstützung ist groß, aber nicht homogen

    Etwa die Hälfte der Bevölkerung lässt sich zur Gruppe der eindeutigen Befürworter zählen – sie zweifeln nicht an der Richtigkeit des Geschehens, weisen Kritik an der russischen Führung sowie den Streitkräften zurück, und die Ereignisse erfüllen sie mit Stolz auf ihr Land. In dieser Gruppe ist die Haltung besonders entschlossen, die Befragten sind am ehesten bereit, das Ganze als einen „Kampf gegen Nationalisten“ zu sehen, als „notgedrungene Maßnahme“, „Präventivschlag“ und „Verteidigung gegen die NATO“. Sie stellen die Berichterstattung der staatlichen Medien praktisch nicht infrage, glauben bereitwillig den Erklärungen von Wladimir Putin, der in dieser Gruppe die größte Unterstützung hat. Die Befragten dieser Kategorie betonen, das Geschehen sei nichts anderes als eine „Spezialoperation“, weil „wir nichts erobern, sondern [die Ukraine – dek] von Nazis und Faschisten befreien“, weil dort sonst „alles dem Erdboden gleichgemacht und niemand überleben würde“ oder „weil Wladimir Wladimirowitsch das so sagt. Und ich glaube ihm.“

    Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen

    Unter den Befragten, die das Vorgehen des russischen Militärs „eher befürworten“, ist die Unterstützung weniger eindeutig, es gibt gewisse Vorbehalte: Im Vergleich zur ersten Gruppe werden hier doppelt so häufig Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen angesichts der Ereignisse genannt, das Gefühl von Stolz ist deutlich geringer ausgeprägt. Für diese Gruppe ist die „Spezialoperation“ in erster Linie durch den Wunsch motiviert, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Sie verfolgen die Ereignisse nur halb so oft, die Unterstützung für die Regierung ist hier, genau wie das Interesse an Politik insgesamt, geringer. In dieser Kategorie sind Aussagen wie diese typisch: „Ich würde das gerne nicht unterstützen, aber es muss sein, es gibt keinen anderen Ausweg mehr … Acht Jahre lang haben sie Luhansk und Donezk bombardiert … Mir wäre lieber, es gäbe keinen Krieg und die, die das Sagen haben, würden das Problem friedlich lösen … Aber es funktioniert nicht“, kommentierte eine Teilnehmerin bei der Umfrage im März ihre Antwort.

    Wie auch bei Wahlforschungen lässt sich auch hier ein großer Teil der Befragten zum sogenannten „Sumpf“ zählen: Typischerweise vertreten sie weniger eindeutige Ansichten und tendieren dazu, sich der vorherrschenden öffentlichen Meinung anzuschließen und der offiziellen Linie. Ein Teil tut das nach dem Motto: „Nicht, dass noch was passiert.“ Aber zu sagen, dass sie alle „in Wirklichkeit“ anders denken, eigentlich in der Opposition sind und nur Angst haben zu antworten, wäre falsch. Sie sind immer noch dafür, wenn auch mit Einschränkungen.

    Eine Generationenfrage?

    Unter den Gegnern der „Spezialoperation“ sind überproportional viele junge Menschen (obwohl es nicht nur die junge Generation ist), Menschen, die in Moskau und in anderen Metropolen leben, und solche, die sich über das Internet und Telegram-Kanäle informieren. In dieser Gruppe finden sich deutlich weniger ältere Menschen, Fernsehzuschauer und Putin-Anhänger. Das ist der Teil der russischen Bevölkerung, der weniger abhängig ist vom Staat, eine kritischere Einstellung gegenüber der russischen Regierung vertritt, gegen die Verfassungsänderungen 2020 gestimmt hat, die Opposition unterstützt und 2021 auf die Straße gegangen ist. Diese Menschen sind besser in die globale Welt integriert, sie haben Europa bereist und sind dem Westen gegenüber positiver eingestellt. Man kann also sagen, dass in der Haltung zur sogenannten „Spezialoperation“ im Grunde dieselben Widersprüche hervorgetreten sind, die in der russischen Gesellschaft schon lange bemerkbar sind.

    Für diejenigen, die nicht einverstanden sind mit den Ereignissen, kommt die Situation in der Ukraine einer Katastrophe gleich: Sie sprechen davon, dass man die menschlichen Opfer, den Tod von Zivilisten und die Zerstörung nicht hinnehmen dürfe; sie verurteilen die Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates. Vor allem junge Respondenten sprechen sich häufig grundsätzlich gegen jedes militärische Vorgehen aus. Den Konflikt mit der Ukraine und dem Westen empfinden sie als Zerstörung von Zukunftsperspektiven, persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Entwicklung des Landes als Ganzem, als Abgeschnittenwerden von der globalen Welt. Es ist kein Zufall, dass unter den Emigranten der neuen Welle so viele junge, politisch aktive, englischsprachige Russen sind, deren Arbeit nicht an den Staat gebunden war.

    Meinungsstabilität

    Die verfügbaren Daten zeigen im Verlauf, dass die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ anfangs geringer war: Sie lag etwa bei zwei Drittel (zwischen 65 und 68 Prozent). Bis zu einem Viertel der Befragten gab an, dagegen zu sein. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Haltungen in ihren Grundzügen bereits Mitte Februar, also noch vor dem Beginn des bewaffneten Konflikts, feststanden. Damals waren drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die USA und die Ukraine für die Eskalation verantwortlich seien, nur ein Drittel äußerte Sympathien für die Ukraine. Die Unterstützung für Wladimir Putin lag laut Umfragen Mitte Februar bei 71 Prozent (Ende März waren es schon 83 Prozent). 

    Diese Zahlen spiegeln das Verhältnis der zwei Lager wider, die sich in den Umfragen von Anfang März gezeigt haben: Zwei Drittel waren bereits einverstanden mit der offiziellen Interpretation der Ereignisse und unterstützten die „Spezialoperation“, rund ein Viertel war dagegen. Die Veränderungen in der öffentlichen Meinung innerhalb des letzten Monats sind sichtbar, aber nicht gravierend.

    Russland vom Westen umzingelt

    Zumindest teilweise erklärt sich diese Meinungsstabilität damit, dass sich die Nachrichten zu den Ereignissen in der Ukraine in ein längst feststehendes Weltbild der Befragten einfügen. Diese Vorstellungen hatten sich über Jahre durch politische Präferenzen, Alltagserfahrungen und die jeweils konsumierten Informationskanäle geformt. So besteht für einen Großteil der Befragten, vor allem innerhalb der älteren Generation, kein Zweifel daran, dass der Westen unter der Führung der USA schon lange versucht, Russland zu schwächen und mit Militärstützpunkten zu umzingeln. Durch das Prisma der russisch-amerikanischen Feindschaft wurden sowohl der Georgienkrieg 2008 als auch der Ukraine-Konflikt 2014, die Militäroperation in Syrien und jetzt die „Spezialoperation“ betrachtet. Junge Menschen und Großstädter, die das Internet nutzen, vertreten solche Ansichten weitaus seltener.

    Nachrichten aus der Ukraine, die sich in das bestehende Weltbild einfügen, werden bereitwillig akzeptiert. Alles, was dem widerspricht – egal, wie schrecklich die Nachrichten sein mögen –, wird kategorisch als Lüge und feindliche Propaganda abgetan. In dem Maße, wie sich der internationale Konflikt verschärft, spitzt sich die Logik von „Freund oder Feind“ in Bezug auf die russischen und die ausländischen Medien zu. 

    Propaganda und Zensur 

    Bezeichnend sind hier Aussagen von Teilnehmern der Fokusgruppen, die die Kampfhandlungen unterstützen: „Wenn man sich die ausländischen Fernsehsender so anschaut – an Stelle des Durchschnittsamerikaners würde ich auch sagen: Was macht Russland da? Ich meine, es gibt so viel Desinformation!“ „Gut, dass sie Echo Moskwy zugemacht haben … Diesen Dreck kann man sich ja nicht anhören … Das ist ja echt  eine Zombiekiste.“ 

    Vor dem Hintergrund der „Spezialoperation“ wächst das Vertrauen in die staatlichen Fernsehkanäle, weil „man jetzt wirklich offizielle Informationen braucht“. 2014 war die Situation ganz ähnlich. Unter solchen Bedingungen sind die Meinungen zu den Ereignissen sehr beständig und können sich  wohl kaum schnell ändern. Wenn unabhängige Medien gesperrt und Kritik an den russischen Streitkräften unter Strafe gestellt wird, verändert das nicht so sehr die öffentliche Meinung, sondern zementiert die bereits bestehende (schließlich benutzt ein Viertel der russischen Bevölkerung bereits VPN).

    Krim-Effekt 2.0

    Im März konsolidierte sich die öffentliche Meinung: Die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ nahm zu, während die Zahl ihrer Kritiker abnahm. Schon zu Jahresbeginn hatten wir erwartet, dass eine Militäraktion zu steigenden Zustimmungswerten für die Staatsorgane führen würde. Die Unterstützung für den Präsidenten, die Regierung, die Duma und die Regierungspartei wuchs (die Umfragewerte der anderen Parteien zeigten keine wesentliche Veränderung). All das ähnelt der Situation von 2014. Rasch wuchsen nach der Krim die Zustimmung für die Staatselite und das Vertrauen in den nächsten Tag sowie das Vertrauen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln würden.

    Rally-’round-the-Flag-Effekt

    Psychologen erklären, dass in bedrohlichen Situationen von außen, unter Sanktionen und steigendem internationalen Druck Schutzmechanismen aktiviert werden: Das Vertrauen in die Politik steigt, das soziale System wird gerechtfertigt – der sogenannte Rally-’round-the-Flag-Effekt tritt ein, moralische Verantwortung wird abgelehnt, und zwar mithilfe von Enthumanisierung („die Herrscher der anderen Länder sind durchgedreht“), Schuldzuweisung („sie sind selbst schuld“) und Abwälzen der Verantwortung („was können wir denn dafür, wir treffen doch nicht die Entscheidungen“). Unsere Umfragen zeigen, dass die Vorstellung, man könne „sowieso nichts ändern“, sowohl unter den Befürwortern als auch unter den Gegnern des Militäreinsatzes verbreitet ist. Dieses Gefühl erlaubt, das Geschehen nicht an sich heranzulassen, sich an die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, sich noch weiter ins Privatleben zurückzuziehen und von den Nachrichten über zivile Opfer und die Zerstörung ukrainischer Städte abzuschirmen.

    Die Zustimmungswerte waren vor dem Hintergrund der eskalierenden internationalen Spannungen bereits seit Ende letzten Jahres angestiegen. So lag die Zustimmung für den Präsidenten im November noch bei 63 Prozent, Mitte Februar bei 71 Prozent und im März bereits bei 83 Prozent. Dabei ist die Unterstützung des Regimes praktisch deckungsgleich mit der Unterstützung der „Spezialoperation“. Rund 90 Prozent von Wladimir Putins Anhängern befürworten auch die „Spezialoperation“, unter den Kritikern des Präsidenten sind es nur ein Drittel.

    „Jetzt müssen wir dahinterstehen“

    Die Unterstützung für den Präsidenten ist wiederum, genau wie die Unterstützung der „Spezialoperation“, nicht homogen. So geben rund 45 Prozent an, „absolut einverstanden“ mit dem Vorgehen des Präsidenten zu sein – das sind doppelt so viele wie noch im Januar. Ein fast genauso großer Teil (38 Prozent) ist „eher einverstanden“, wobei die Unterstützung weniger entschlossen ist. Aber der internationale Konflikt zwingt die Menschen dazu, Partei zu ergreifen. Oft hört man Aussagen wie: „Jetzt müssen wir dahinterstehen, in Kriegszeiten darf man nicht dagegen sein!“; „Ich bin nicht mit allem einverstanden … Meine Rente ist klein, unsere Lebensbedingungen sind … Viele Vergünstigungen kommen bei uns nicht an … Aber Putins Politik ist richtig, gegen Russland werden überall Intrigen geschmiedet“; „Im Nachhinein denke ich, dass man die Führung zu Unrecht mit Dreck übergossen hat. Sie haben schließlich ihre Arbeit gemacht. Peskow, Rogosin, Schoigu – alle hat man in den Schmutz gezogen, ständig haben sie ihre Datschen und Häuser gefilmt“ und so weiter. Genau wie vor acht Jahren führen der internationale Konflikt, der zunehmende Druck und die Sanktionen des Westens dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich um die Führung des Landes konsolidiert. Auch wenn es natürlich solche gibt, die ihre Unterstützung deklarieren, um auf Nummer sicher zu gehen.


    Die Euphorie von 2014 bleibt aus

    Aber es gibt auch Unterschiede zu 2014. Die wachsende Zustimmung wird nicht von Euphorie begleitet. So wurde die russische Gesellschaft angesichts der Krim von einer ganzen Reihe positiver Gefühle erfasst: Stolz, Freude und das Gefühl, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte. Lediglich drei Prozent sprachen von Besorgnis und Angst. Heute sind die Gefühle deutlich gemischter: Im März überwog unter den Befragten zwar der „Stolz auf das Land“, besonders in der Gruppe der absoluten Befürworter, rund ein Drittel der Befragten äußerte aber auch „Angst und Sorge“, und zwar nicht nur unter den Gegnern (wenn auch dort in höherem Ausmaß). Begeisterung und Freude angesichts der Ereignisse in der Ukraine empfinden nur marginale Gruppen. Aber auf das Ausmaß der Unterstützung insgesamt wirken sich diese Stimmungen nicht aus.

    Kann man diesen Zahlen trauen?

    Die hohen Zustimmungswerte für die sogenannte „Spezialoperation“ und die russische Regierung sorgten bereits für Streit, inwiefern man diesen Zahlen überhaupt glauben kann. Kritiker der Umfragen sprechen davon, dass die Angst und der Unwille zur Teilnahme an Umfragen unter dem Druck auf Andersdenkende, durch die Androhungen von Strafen für die Diskreditierung der Streitkräfte und andere repressive Maßnahmen innerhalb der letzten Wochen stark zugenommen hätten. Unsere Erhebungen konnten das bisher nicht belegen.

    Ein wichtiger Faktor für die Qualität von Meinungsumfragen ist die Erreichbarkeit bzw. der Anteil der erfolgreich durchgeführten Interviews. Um diesen Faktor zu bestimmen, greifen wir in unseren Umfragen auf die Methode der American Association for Public Opinion Research (AAPOR) zurück. Unseren Erhebungen zufolge hat sich dieser Faktor in den letzten Monaten weder bei Haustür- noch Telefonumfragen verändert. Die Situation der Feldforschung ist zum Teil angespannt, vereinzelt kommt es sogar zu Konflikten zwischen Befragten und Interviewern (vor allem, wenn sie unterschiedliche Positionen vertreten), aber die Arbeit geht weiter.

    Unsere Erfahrung zeigt, dass es schwer ist, an die ganz junge Generation heranzutreten, bei Telefonumfragen gibt es da eine zusätzliche Quote. Aber auch das ist kein neues Phänomen, und mithilfe einer Auswertung der Umfrageergebnisse nach Geschlecht, Alter und Bildungshintergrund lässt sich die Unterrepräsentation der Meinung von Jugendlichen ausgleichen. Von einem plötzlichen Anstieg der Angst unter den Befragten kann man zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht sprechen. Man muss die Situation weiterhin genau beobachten.

    Umfragen spiegeln nur das Bild wieder, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind

    Interessant sind die Versuche, die Aufrichtigkeit der Befragten mithilfe von Umfrageexperimenten zu messen. Aber mit der Interpretation der Ergebnisse muss man vorsichtig sein, es braucht weitere Untersuchungen. Auf den ersten Blick decken sich die Zahlen, die man mithilfe solcher Versuchsanordnungen erhält, mit denen der uneingeschränkten Unterstützung der Kampfhandlungen. Aber das bedeutet nicht, dass die „Unterstützung mit Einschränkungen“ auf Falschaussagen der Befragten beruht. Wie weiter oben geschildert, gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die die Menschen dazu bringen, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Alles auf die Angst zu schieben, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Abgesehen davon sollte man in Umfragen nicht die Antwort darauf suchen, was die Menschen „wirklich denken“. Meinungsumfragen erfassen nur das, was die Befragten bereit sind, dem Interviewer mitzuteilen – das heißt, sie spiegeln nur das Bild wider, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind.   

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  • RIA Nowosti: Programm zur „Entukrainisierung“?

    RIA Nowosti: Programm zur „Entukrainisierung“?

    Für den russischen Propagandisten Timofej Sergejzew ist das Problem klar: Die Ukrainer seien größtenteils „passive Nazis“. Lösung: Umerziehung, Repressionen und Zensur. Das ist, zusammengefasst, laut Sergejzew, Was Russland mit der Ukraine tun muss. Sein gleichnamiger Artikel, der am 3. April auf RIA Nowosti erschien – zeitgleich mit Bekanntwerden der Gräueltaten an Zivilisten in Butscha –, sorgt international für viel Aufsehen. 

    Für Manche ist es das Manifest des (missionarischen) Putinismus, andere sehen darin den ideologischen Leitfaden für den russischen Krieg gegen die Ukraine. Nicht zuletzt wird er auch als ein Programm für den Genozid an Ukrainern gelesen, zur „Endlösung der Ukrainerfrage“. Laut dem Leserzähler von RIA hatten den Text bis Mitte April schon fast anderthalb Millionen Menschen angeklickt (in der Zwischenzeit wurde der Zähler genullt).

    Wer aber ist Timofej Sergejzew? Wie wichtig ist er für das System Putin? Spricht er gar im Namen des Kreml? Wie wurde sein Text in Russland selbst rezipiert? Und in welchem Zusammenhang steht er zu den russischen Verbrechen in der Ukraine?

    dekoder bringt kontextualisierte Ausschnitte aus dem Text und Kommentare aus der Debatte russischer Liberaler in den sozialen Netzwerken.

    Das Veröffentlichungsdatum: In welchem Zusammenhang steht der Artikel zum Massaker in Butscha? 

    [bilingbox]Bereits im April letzten Jahres schrieben wir über die Unausweichlichkeit einer Entnazifizierung der Ukraine. Wir brauchen keine nazistische Bandera-Ukraine als Feind Russlands und Instrument des Westens, um Russland zu vernichten. Jetzt hat die Frage der Entnazifizierung eine praktische Dimension angenommen.
    Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein wesentlicher Teil der Bevölkerung – wahrscheinlich die Mehrheit – unter dem Einfluss des Nazi-Regimes steht und in seine Politik hineingezogen wird. Das heißt, wenn die Hypothese „das Volk ist gut – die Regierung böse“ nicht mehr greift. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik und all ihrer Maßnahmen, ihr Gegenstand ist die Tatsache selbst. ~~~Еще в апреле прошлого года мы писали о неизбежности денацификации Украины. Нацистская, бандеровская Украина, враг России и инструмент Запада по уничтожению России нам не нужна. Сегодня вопрос денацификации перешел в практическую плоскость.
    Денацификация необходима, когда значительная часть народа — вероятнее всего, его большинство — освоено и втянуто нацистским режимом в свою политику. То есть тогда, когда не работает гипотеза "народ хороший — власть плохая". Признание этого факта — основа политики денацификации, всех ее мероприятий, а сам факт и составляет ее предмет.[/bilingbox]

    So beginnt Sergejzews Artikel Was Russland mit der Ukraine tun muss, der nur wenige Tage nach der Aufdeckung der russischen Verbrechen in Butscha auf der Seite der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti erschienen ist. In welchem Zusammenhang steht der Artikel zum Massaker? Schiebt der Autor eine Roadmap hinterher oder liefert er eine Ideologie, um das Verbrechen zu rechtfertigen? Die offizielle Haltung des russischen Verteidigungsministeriums zu der Gräueltat von Butscha ist: Das sei alles vom Westen inszeniert, eine weitere „ukrainische Provokation“. 
    Vielleicht war das Vorgehen orchestriert, vielleicht nicht, vielleicht ist der Artikel Baustein der üblichen Desinformationsstrategie, die folgendem Muster entspricht: Es werden so viele (sich teilweise widersprechende) Geschichten zu einem Ereignis geliefert, dass Zweifel entstehen – am Ende erscheint dann nichts als wahr und alles als möglich. 

    Der Autor jedenfalls stellt keinen direkten Zusammenhang zu den Gräueltaten in Butscha her, er erwähnt die Ereignisse nicht. Er spricht vor allem davon, dass die Ukraine eine „totale Lustration“ brauche. Der im Russischen etablierte Begriff bezeichnet eine politische Säuberung belasteter Kader, benutzt wird er vor allem im liberalen Diskurs: historisch im Sinne der Aufarbeitung der sowjetischen Diktatur und aktuell in der Debatte um das Russland nach Putin
    Will Sergejzew den Begriff Lustration umpolen, gar Deutungshoheit darüber erlangen, indem er ihn, einmal auf den Kopf gestellt, in den offiziösen Diskurs einführt? Denn Sergejzew greift im Weiteren (ungewollt?) den liberalen russischen Diskurs auf, in dem es um die Frage geht, ob allein Mitglieder des Systems Putin sanktioniert werden sollen oder auch die gesamte Gesellschaft Russlands – allerdings kehrt er auch diese Debatte um, indem er sie auf die Ukraine anwendet

    [bilingbox]Neben der [ukrainischen – dek] Führungsspitze trägt die Schuld auch der Großteil der Bevölkerungsmasse, die zu passiven Nazis und Komplizen des Nazismus geworden ist. Sie haben das Nazi-Regime unterstützt und gefördert. Eine gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn man die unvermeidlichen Strapazen eines Krieges gegen das Nazi-System auf sich nimmt, der unter größter Vorsicht und Behutsamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird. Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repressionen (Unterdrückung) des nazistischen Gedankenguts und durch strenge Zensur nicht nur in der politischen Sphäre, sondern notwendigerweise auch in Kultur und Erziehung erreicht wird. ~~~Помимо верхушки, виновна и значительная часть народной массы, которая является пассивными нацистами, пособниками нацизма. Они поддерживали нацистскую власть и потакали ей. Справедливое наказание этой части населения возможно только как несение неизбежных тягот справедливой войны против нацистской системы, ведущейся по возможности бережно и осмотрительно в отношении гражданских лиц. Дальнейшая денацификация этой массы населения состоит в перевоспитании, которое достигается идеологическими репрессиями (подавлением) нацистских установок и жесткой цензурой: не только в политической сфере, но обязательно также в сфере культуры и образования.[/bilingbox]


    Was wird gesagt – und wie?

    Die Taktik der Verdrehung und Umpolung ist ein probates Mittel der russischen Außenpolitik: So sei etwa die Angliederung der Krim, wie Außenminister Lawrow schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ausführte, mit der deutschen Wiedervereinigung vergleichbar, bei der, so setzte er hinzu, habe allerdings nicht einmal ein Referendum stattgefunden.  

    Auch Sergejzew bedient sich offenbar dieser Umpolungstaktik. Journalist Andrej Loschak kommentiert:

    [bilingbox]Dieser Text ist die Krönung des Orwellschen Absurden, in das Russland sich tief eingegraben hat.

    Wir haben schon oft gehört, dass „Verbote“ jetzt als „Freiheit“ gelten und „Krieg“ als „Frieden“. Jetzt kommt ein neues Oxymoron dazu: „Entnazifizierung“ ist Nazismus – denn im Grunde schlägt der Autor des Artikels vor, auf den „befreiten“ Gebieten Konzentrationslager zu errichten, in denen die Ukrainer jahrzehntelang gewaltsam russifiziert werden sollen. Vergleichbares machen die Chinesen bereits seit vielen Jahren mit Uiguren und Tibetern. Die gewaltsame Russifizierung heißt im Artikel euphemistisch „Enteuropäisierung“. Die Ukrainer sollen offenbar alle Anzeichen der westlichen Zivilisation ablegen und werden wie die russischen Soldaten: Sie sollen plündern, saufen, stehlen, morden, den Zaren lieben, sich aus der Politik heraushalten, jedem wahnsinnigen Befehl ohne Widerspruch gehorchen und vor allem niemals, unter keinen Umständen, selbständig denken. Und wenn die Ukrainer das in zwanzig Jahren gelernt haben, dann wird man sie feierlich Russen nennen. ~~~Это произведение  – вершина оруэлловского абсурда, в который погрузилась Россия. Мы уже много слышали о том, что запреты – это свобода, а война – это мир, теперь новый оксюморон: денацификация – это нацизм. По сути, автор материала предлагает на "освобожденных" территориях строить концлагеря, где украинцев на протяжении десятилетий будут подвергать процессу насильственной русификации. Что-то похожее китайцы уже много лет делают с уйгурами и тибетцами. Насильственная русификация в статье элегантно названа "деевропеизацией". То есть, украинцам видимо предлагается избавиться от всех признаков западной цивилизации, дойти до такого же скотского состояния как российские солдаты-мародеры, бухать, грабить, убивать, любить царя, не лезть в политику, безропотно подчиняться любым безумным приказам и, главное, никогда и не при каких условиях не думать самостоятельно. Когда через 20 лет украинцы этому научатся, их можно будет торжественно назвать русскими.[/bilingbox]

    Auch der Historiker Andrej Subow sieht in Sergejzews Traktat ein Programm, …

    [bilingbox][…] einen Aufruf zum Genozid am ukrainischen Volk und zur Vernichtung der ukrainischen Kultur. Als Historiker war es meine Pflicht Mein Kampf und die Protokolle der Weisen von Zion zu lesen. Der bei RIA Nowosti am 5. April erschienene Artikel ist böser, verlogener und verbrecherischer als diese beiden. ~~~призыв к геноциду украинского народа и уничтожению украинской культуры. Мне по долгу историка приходилось читать и Майн Кампф и Протоколы сионских мудрецов. Статья, опубликованная в РИА Новости 5 апреля, злобней, лживей и преступней обоих этих одиозных текстов. [/bilingbox]


    Das Medium: Wer liest RIA Nowosti?

    RIA Nowosti ist Teil der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, die als eine wesentliche Säule der russischen Staatspropaganda gilt. Laut Similarweb ist die Website im Traffic-Ranking des Runet die Nummer Eins der Nachrichtenanbieter, monatliche Reichweite – rund 260 Millionen Klicks im März 2022, etwa 85 Prozent davon aus Russland. 

    Laut Umfragen vom April 2022 beziehen 70 Prozent der Menschen ihre Informationen allerdings vorwiegend aus dem Fernsehen, auch bei der Frage nach dem Medienvertrauen rangieren Onlinemedien (für 30 Prozent die primäre Nachrichtenquelle) weit abgeschlagen dahinter. Sicher dürfte sein, dass die Leser von Sergejzews neuestem Text nicht nur aus Russland stammen: Auch im Ausland – in der Ukraine, aber auch in Deutschland und den USA – fand er viel, wenn auch negative, Aufmerksamkeit. 


    Wer spricht? 

    Auf RIA Nowosti sind bislang seit 2014 rund 30 Artikel von Timofej Sergejzew veröffentlicht, keiner davon hatte je nur annähernd so viele Klicks wie der vom 3. April. Die meisten seiner Texte handeln von der Ukraine oder von Russland und seinem Verhältnis zu den (feindlich gesinnten) USA. Solche Texte variieren das Narrativ von der Ukraine als Söldner des Westens, die gemeinsam Russland schaden wollen.

    Tatsächlich ist das Jahr 2014 – das Jahr, in dem Russland die Krim angliederte und der Krieg im Osten der Ukraine begann – ein Schlüsseljahr der russischen Propaganda: In diesem Jahr sind zahlreiche neue Formate von Polit-Talkshows entstanden, bestehende Talkshows bekamen deutlich mehr Sendezeit, der beliebte (Sonntag-)Abend mit Wladimir Solowjow im Staatssender Rossija 1 erscheint seitdem täglich außer samstags. Die Ukraine ist entsprechend häufiges Thema in diesen Polit-Talkshows, die laut Umfragen von 60 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal wöchentlich geguckt werden. 
    Sergejzew ist unterschiedlichen Quellen zufolge Mitglied im Sinojew-Klub der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, aus dem die Polit-Talkshows oftmals ihre Gäste rekrutieren – und dürfte der russischen Öffentlichkeit eher aus dem omnipräsenten Staatsfernsehen bekannt sein.

    So listet Timofej Sergejzew in seiner Biographie zahlreiche Referenzen zur Ukraine: Als Polittechnologe soll er unter anderem 2004 das Wahlkampfteam von Viktor Janukowitsch beraten haben und 1999 im Wahlkampfteam von Leonid Kutschma gewesen sein. Er ist als Drehbuchautor des Films Matsch (2012) genannt. Der Spielfilm spielt im von der Wehrmacht okkupierten Kiew von 1942 – seine Ausstrahlung wurde in der Ukraine 2014 wegen einseitiger Darstellung und „russischer Propaganda“ verboten.  

    Außerdem, so suggerieren seine Autorenportraits, entstammt er der sogenannten Methodologen-Schule. Um die Methodologen ranken sich viele Mythen: Für die einen handelt es sich dabei um eine Denkschule, die den politischen Kurs Russlands bestimmt: zu den prominentesten Methodologen wird der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko gezählt, auch der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin und der ehemalige sogenannte Kreml-Chefideologe Wladislaw Surkow sollen dazu gehören. Die anderen halten sie für eine Art intransparente Sekte, über die sich nichts Konkretes sagen lässt, der aber durchaus einiges zugemutet werden könne. 

    Auch über die Philosophie der Methodologen gibt es keine einhellige Meinung: Manche halten sie für Scharlatanerie, andere verkürzen das Denkschema nicht selten auf eine Art Social Engineering. Nicht zuletzt wird den Methodologen auch das Konzept des sogenannten Russki Mir zugeschrieben. 


    Narrative und Tonalitäten: Worin liegt das propagandistische Potential einer „Entnazifierung”?

    In seiner ideologisierten Form wird das Kulturkonzept nicht selten auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Der Kampf gegen das Nazi-Deutschland lässt sich vor diesem Hintergrund als eine Art Ursprungsmythos der sogenannten russischen Welt lesen. 

    Vielleicht knüpft Sergejzew hier an, wenn er in seinem Artikel knapp 90 Mal den Wortteil -nazi- benutzt, vowiegend im Zusammenhang mit der Formel Entnazifizierung der Ukraine. Da die Ukrainer für ihn eine Kollektivschuld tragen, müsse die Entnazifizierung total sein: In letzter Konsequenz, so schlussfolgert er, werde sie also eine Entukrainisierung sein müssen. Das Präfix Ent-/de- taucht insgesamt über 40 Mal auf, auch in analog oder parallel benutzten Begriffen der Enteuropäisierung und Entkolonialisierung. 

    „Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie. […] Die Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einfluß, wenn sie ständig wiederholt wird, und zwar möglichst mit denselben Ausdrücken.“ In Psychologie der Massen beschrieb der französische Denker Gustave Le Bon 1895 damit die Mittel, „um der Massenseele eine Idee einzuflößen“. Rezipiert wurde Le Bon auch im Nationalsozialismus, insgesamt wurde sein Werk laut einzelnen Historikern nicht selten als ein Leitfaden zur Wirkungssteigerung der Demagogie gelesen. 

    Sergejzews Artikel strotzt nur so vor Wiederholungen und haltlosen Behauptungen. Zentral ist dabei die Formel Nazismus

    Und tatsächlich lässt sich im Laufe des Krieges eine gewisse Begriffserweiterung in der russischen Propaganda feststellen: So sagte eine ihrer wichtigsten Protagonistinnen, die Chefredakteurin des staatlichen Auslandssenders Margarita Simonjan vor kurzem auf NTW: „Wir haben unterschätzt, wie tief der Nazismus die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hat.“ 

    Soziologe Grigori Judin hat schon früh vor einer solchen Ausdehnung des Begriffsinhalts gewarnt. Auf Twitter skizziert er, wie dies nun vor sich geht: 

    [bilingbox]Die anfängliche Sichtweise war, dass Nazis in der Ukraine die Macht ergriffen haben, während die Durchschnittsukrainer einfach Russen sind […]. Das hieß, dass diese Entnazifizierung durch einen Regimewechsel zu bewerkstelligen wäre und die Ukrainer befreit werden müssten. Offensichtlich ist dieses Konzept gescheitert, als die Ukrainer begannen, mutig Widerstand zu leisten. Eine ganz natürliche Schlussfolgerung ist, dass die Ukrainer offenbar schwer vom Nazismus infiziert sind.

    Also heißt Befreiung Säuberung.~~~The narrative mounted by Putin from the first days of war focuses on “de-nazification” of Ukraine. […] This meant “de-nazification” could be completed through regime change & Ukrainians should be liberated. Obviously, this conception failed when Ukrainians started resisting bravely. A natural conclusion from that: Ukrainians turned out to be deeply infected by Nazism.

    Therefore, liberation means purification.[/bilingbox]

    Eine solche Säuberung ist bei Sergejzew ein „gerechter Krieg“. Die orwellsch-anmutenden Umpolungen sind nicht seine Erfindung, sondern fester Bestandteil der langjährigen russischen Propaganda-Praxis. Demagogische Methoden wie wortgewaltige Behauptungen und Wiederholungen kann man auch bei den Propagandisten Wladimir Solowjow und Dimitri Kisseljow finden. Margarita Simonjan wiederum verbreitet die Behauptung, dass der Nazismus die gesamte ukrainische Gesellschaft durchdrungen habe. Was ist dann überhaupt neu an Sergejzews Artikel? Journalist Stanislaw Kutscher kommentiert:

    [bilingbox]Erstens rechtfertigt und legalisiert er in der Theorie jegliche Kriegsverbrechen, indem er 1) jeden zu einem Nazi erklärt, der eine Waffe in die Hand nimmt und 2) den Begriff „passive Nazis“ einführt, denen eine „gerechte Strafe“ gebührt und zu denen ein „Großteil der Volksmasse“ gehört. Wenn ein geschulter Patriot, der einen solchen Text gelesen hat, nicht einfach nur dokumentarische Beweise zu Gesicht bekommen, sondern nach Butscha geführt und dort mit der Nase auf die sterblichen Überreste friedlicher Bürger gestoßen würde, dann nennt er das Geschehene nicht Kriegsverbrechen, sondern gesetzmäßigen Teil des Kampfs mit dem passiven Nazismus.

    Zweitens kann dieser Text, der wie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Entnazifizierung der Ukraine geschrieben ist, ohne Weiteres als Anleitung zur Entnazifizierung einer jeden Gesellschaft gelesen werden, die tatsächlich mit dem Virus des Nazismus infiziert ist und einen Krieg im Namen einer menschenverachtenden Ideologie führt. […] Wer anderen eine Grube gräbt … Noch nie klang dieses Sprichwort passender und verheißungsvoller.~~~Во-первых, он по сути оправдывает и в теории легализует любые военные преступления, поскольку 1) объявляет нацистами всех, взявших в руки оружие и 2) вводит понятие "пассивных нацистов", которые подлежат "справедливому наказанию", и которыми является "значительная часть народной массы". Если "подкованному патриоту", прочитавшему такой текст, не просто показать документальные свидетельства, а вывезти в Бучу и ткнуть лицом в останки мирных жителей, он назовет случившееся не военным преступлением, а закономерной частью борьбы с пассивным нацизмом. Во-вторых, этот текст, написанный как пошаговая инструкция денацификации Украины, легко может быть использован как инструкция по денацификации любого общества, действительно зараженного вирусом нацизма и ведущего войну за человеконенавистническую идеологию. […] Не рой другому яму. Никогда еще эта поговорка не была столь уместной и не звучала столь зловеще.  [/bilingbox]


    Für wen spricht der Autor?

    Sie wirken „emotional unterstützend auf eine bereits vorherrschende Stimmung, die durch (…) Politiker geschaffen wurde und beeinflussen die öffentliche Meinung“ – so beschreibt Magdalena Kaltseis in ihrer Gnose Wesen und Auftrag der russischen Polit-Talkshows. Dies kann auch für einen Propaganda-Text wie den Timofej Sergejzews gelten. Er ist Ausdruck einer zunehmend enthemmten Rhetorik in Propaganda und Politik – die mit der verschärften kriegerischen Aggression, den Massakern in Butscha, Kramatorsk und Mariupol einhergeht. Ob Sergejzew dabei im Auftrag des Kreml spricht, sein Text auf Geheiß von oben entstand oder publiziert wurde, ist unklar und muss es bleiben. In jedem Fall ist er im Geist des Kreml verfasst.

    dekoder-Redaktion

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  • Was können wir denn dafür?

    Was können wir denn dafür?

    Ist das wirklich nur Putins Krieg? Inwiefern tragen auch gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger Russlands eine Mitschuld – solche, die mit der Politik im Land in der Regel gar nichts zu tun haben wollen? Mariupol, Butscha, Kramatorsk: Zeugnisse von Tod und Zerstörung, von immer neuen Gräueltaten in der Ukraine werfen diese Fragen stets aufs Neue auf.

    Anton Dolin fühlt sich derzeit an Ereignisse aus der Zeit der Jahrtausendwende erinnert, als aus dem jungen Premierminister Wladimir Putin plötzlich der neue Präsident des Landes wurde. Nach den wilden 1990er Jahren trat Putin als Garant für Stabilität auf. Der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag lautete: Der Kreml sorgt für wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. In einem vielbeachteten Kommentar auf Facebook schreibt der Journalist und Filmkritiker jedoch: Das Ungeheuerliche gab es bei Putin schon von Anfang an. Die kollektive Schuld, so Dolin, liegt darin, dass es toleriert wurde.

     

    Wo beginnt Putin? 
    Dort, wo er sein Ende gefunden hat. Genauer gesagt dort, wo er heute angekommen ist und uns alle hingeführt hat.

    Ich will vorausschicken: Ja, ich bin Filmkritiker und kein Politikanalyst. Doch es hat sich ergeben, dass ich von 1997 bis 2002 Korrespondent des Informationsdienstes von Echo Moskwy war. Im Pressepool von Putin – damals noch Premierminister und [nach Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 – dek] kommissarischer Präsident – reiste ich mit ihm durchs Land. Arbeitete nach der Explosion des Wohnhauses auf der Kaschirskoje Chaussee in den Trümmern. Berichtete über Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und erhielt sogar von der Zentralen Wahlkommission eine Urkunde für tüchtige Arbeit.  
    Was dann kam, sollte, wie mir scheint, allgemein bekannt sein. Doch aus irgendeinem Grund ist es nicht für alle offensichtlich, selbst jetzt nicht.

    Putins Macht und seine Politik stehen auf vier Fundamenten, die in den ersten beiden Jahren seines Aufstiegs gelegt wurden.

    1. Operation „Nachfolger“

    Wer durch eine „Spezialoperation“ Präsident wurde, wer nicht gewählt, sondern durch eine Verschwörung der Eliten eingesetzt wurde, der kann nicht an demokratische Wahlen glauben. Das und nur das ist der Grund für die Fälschungen und die Verachtung der Wähler seit über 20 Jahren.  

    2. Die Explosionen der Wohnhäuser 1999

    Wie gesagt, ich war dort. Natürlich sind Zeugen und Experten nicht dasselbe. Es fehlt mir an Informationen, um mit Sicherheit den FSB für diese Übeltat (Explosionen von Wohnhäusern in mehreren Städten mit über 300 Toten und etwa 2000 Verletzten) verantwortlich zu machen und nicht die tschetschenisch-arabischen Söldner unter der Führung von Emir Ibn al-Chattab. Doch die Geschichte mit dem Rjasaner Zucker („FSB-Übungen“, bei denen Agenten Säcke mit Hexogen in den Hausflur schleppten) konnte bis heute niemand überzeugend erklären. Naja, und an das Schicksal des Experten in dieser Angelegenheit – Alexander Litwinenko – können sich vermutlich alle erinnern.

    Aber versuchen wir mal uns nicht auf das „Wer ist schuld?” zu konzentrieren, sondern auf das „Wer hat davon profitiert?” Die Terroristen haben nichts gewonnen; es gab von ihnen keine Androhungen, sie haben keine Verantwortung übernommen und keinerlei Forderungen gestellt. Putin und der FSB jedoch hatten in der Folge verängstigte, geeinte Wähler, ein überzeugendes Motiv für den Zweiten Tschetschenienkrieg, sprunghaft in die Höhe geschnellte Umfragewerte für den Silowik-Premierminister [Putin – dek] und einen diskreditierten Moskauer Bürgermeister Lushkow, der als Hauptkonkurrent bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl galt. 
    Warum hielten über all die Jahre eigentlich viele klar denkende Menschen die Version „der FSB sprengt Wohnhäuser“ für verschwörungstheoretischen Quatsch? Etwa, weil derartige Übeltaten nicht ins Bild der korrupten Bürokraten-Gauner-Diebe passen? Genauso haben sie auch nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine angreift. „So einer ist Putin nicht.“ Nun ja. 
    (Ich erwarte mit Schrecken „ukrainische Terroranschläge“ in Russland. Von unseren Leuten.)

    3. Der Zweite Tschetschenienkrieg

    Den Emotionen der Massen, ihrem Schrecken und ihrer Rachsucht ein Ventil geben, den gordischen Knoten des unlösbaren Konflikts zerschlagen, na und einfach einen „kleinen siegreichen“ organisieren. Nach offiziellen Angaben gab es 1000 zivile Opfer – nach denen von Amnesty International 25.000. 

    Vieles ist wiederzuerkennen: Die Bombardierungen des dicht besiedelten Grosny, das praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Geheimhaltung der Verlustzahlen. Die strenge Kontrolle der Berichterstattung über den Konflikt in allen Medien. Das Verbot, Tschetschenen in der Presse zu Wort kommen zu lassen. Die Entmenschlichung des Feindes: Es gab keine Menschen, sondern ausschließlich „Kämpfer“, sie wurden nicht getötet, sondern „liquidiert”. Es war kein Krieg, sondern eine „antiterroristische Operation“. Und natürlich das von den Russen geliebte „im Klo abmurksen“.

    Ich erinnere mich gut an einen Streit mit einem ehemaligen Schulkameraden und Journalistenkollegen über diesen Krieg. „Es wurden dort tausende Menschen umgebracht!“, sagte ich. „Nicht Menschen, sondern Banditen-Gesindel“, parierte er kategorisch. Ich war erschüttert und erzählte ein paar Monate später auf dem Geburtstag eines Freundes einem anderen Kumpel (der heute erfolgreicher Kommunist und Anti-Putinist ist) von diesem Dialog. Der wiederum verwandelte meine Geschichte in eine Kolumne just über meine „Demokraten-Schizophrenie“. Jetzt erinnere ich mich, dass ich dort milde als „der gute Mensch aus einem schlechten Radiosender“ bezeichnet wurde. 
    Überhaupt etablierte und verbreitete sich der Ausdruck „Demokraten-Schizo“ genau in dieser Zeit. So nannte man die, die in den Tschetschenen Menschen sahen. 

    4. Die Zerschlagung von NTW

    Die Zerstörung des unabhängigen Fernsehsenders, der fähig war, Gegenkandidaten zur amtierenden Regierung wirksam zu unterstützen – das war der wichtigste Schritt des frühen Putins. Damals zeigte sich auch, dass sich Putin nicht im Geringsten von Demonstrationen und Protesten beeindrucken lässt. Plus seine Erklärung der Politik durch Wirtschaft: „ein Streit unter Wirtschaftssubjekten“ und basta. Damals begann der Weg, der im März 2022 mit der vollständigen Vernichtung aller Medien endete, die auch nur ein Deut an Unabhängigkeit besaßen.  

    All das gab es von Anfang an

    Nichts Neues. Kein bisschen. 
    Verachtung der Demokratie;
    Erbarmungslosigkeit gegenüber dem eigenen Volk;
    Entmenschlichung und Dämonisierung eines anderen Volkes;
    Hass auf die Meinungsfreiheit.
    Erstens, zweitens, drittens, viertens.
    All das gab es von Anfang an, als derart viele in Putin den vielversprechenden Jungpolitiker sehen wollten.

    Ich erinnere mich haargenau an einen Parteitag der Union der Rechten Kräfte im Vorfeld der Wahl (auch da bin ich gewesen), wo viele einflussreiche Liberale – die Mehrheit, wie es damals schien – dazu aufriefen, Putin zu unterstützen. Laut gegen ihn äußerte sich nur einer: der Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Jaja, ein „Demokraten-Schizo“. 

    Über Putins Evolution zu diskutieren hat keinen Sinn. Wichtig ist eine andere Frage: Warum hat die Gesellschaft (nicht nur die russische) mit all dem seinen Frieden gemacht und das als normal empfunden, was heute die ganze Welt in Grauen versetzt? 

    Hier ist eine mögliche Antwort auf die für viele Russen so quälende Frage: „Was können wir denn bitteschön dafür?“ Unsere Schuld liegt darin, dass vielen von uns aus diversen Gründen vor 20 Jahren zulässig schien, was heute ungeheuerlich scheint.
    (Und es scheint nicht nur so: Es ist ungeheuerlich.)

    Ich persönlich fühle mich schuldig dafür, dass ich 2001, nachdem ich all das gesehen hatte, nur abwinkte und entschied, Filmkritiker zu werden. Womöglich war das falsch.

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  • „Der Sport befindet sich nicht jenseits der Politik“

    „Der Sport befindet sich nicht jenseits der Politik“

    Der Fußball in der Ukraine ist nochmals verstärkt seit dem Beginn der Maidan-Revolution Ende 2013 eng mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Land verbunden. Die organisierten Fanszenen des Landes stellten sich bei den Demonstrationen nicht nur in Kiew schützend vor die protestierenden Menschen. Viele Fans aus den Ultra-Szenen schlossen sich mit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine den Freiwilligenbataillonen an, wieder andere organisierten Netzwerke, um die damals schlecht ausgerüstete Armee und die Bataillone mit Waffen, Lebensmittel, Ausrüstung und medizinischer Hilfe zu versorgen. Der Fußball, der immer noch stark durch die Eigentümerschaft der Oligarchen geprägt ist, geriet auch aufgrund des Krieges in eine tiefe Krise, Zuschauerzahlen sanken dramatisch, zahlreiche Traditionsvereine wie beispielsweise der FK Dnipro gingen bankrott.

    Mit dem Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, finden sich Fußballer, Spieler, Trainer und Fans auch mitten in den dramatischen Ereignissen wieder. Stadien wie das Juri Gagarin-Stadion in Tschernihiw und Trainingsanlagen wurden zerstört. Viele Fans, aber auch Trainer, Profifußballer und ehemalige Spieler kämpfen in der Armee oder auf Seite der Territorialverteidigung. Wie beispielsweise Igor Belanow, 1986 als „Europas Fußballer des Jahres“ ausgezeichnet. Oder der aktuelle Trainer des in Transnistrien ansässigen Vereins Sheriff Tiraspol Jurі Wernidub. Auch unter den Sportlern gibt es bereits Verluste. Witali Sapylo and Dmytro Martynenko waren die ersten Opfer, sie wurden in der ersten Woche der Invasion getötet.

    Oleg Dulub ist Trainer des FK Lwiw, der in der höchsten Spielklasse des Landes vertreten ist. Der Belarusse ist ein bekannter Fußballcoach. Er führte den belarussischen Verein Krumkatschy (dt. Die Raben) – einer der wenigen Vereine in Belarus, die als Privatinitiative entstanden sind – 2016 zum Aufstieg in die höchste Spielklasse. In der Ukraine trainierte er Karpaty Lwiw und Tschornomorez aus Odessa und aktuell den Verein aus Lemberg. 

    In einem Interview für das belarussische Medium Nasha Niva berichtet Dulub, wie er die Ukraine infolge des Krieges verlassen hat, warum das Land sein zweites Zuhause ist und was er in Lwiw nach Beginn der russischen Invasion erlebt hat. Er erklärt auch, wie er zu den Sport-Sanktionen gegen Russland und seine Heimat steht und warum der Sport kein unberührter Ort abseits der Politik sein kann. 

    Nasha Niva: Ist Ihnen die Entscheidung schwer gefallen, das Land zu verlassen?

    Oleg Dulub: Die ist spontan gefallen, ich hatte nicht vor, die Ukraine zu verlassen. Ich kam wie gewöhnlich zum Platz, und dort wurde mir und Wassili Chomutowski [dem belarussischen Torwarttrainer des FK Lwiw] gesagt, dass wir schleunigst weg müssten, weil bald belarussische Truppen in die Ukraine einmarschieren. Wenn das passiert, würde uns die EU vielleicht nicht mehr reinlassen.

    Es gab gute Gründe, diesem Tipp zu vertrauen. Außerdem sahen wir ja, was rundum vor sich ging. Unsere ukrainischen Spieler mussten sich zum Beispiel bei bei der Einsatzleitung der Territorialverteidigung melden und sich dort eintragen. Wir haben gefragt, was wir Ausländer denn tun sollen? Die Leute vom Verein telefonierten herum und sagten uns dann: Fahrt schnell weg! Auch wenn ich es immer noch bedaure, dass ich die Ukraine verlassen habe, weil die Mannschaft dort geblieben ist und ich dort immer gut behandelt wurde.

    Wie sind Sie ausgereist?

    Der Club hat uns geholfen. Wir fuhren mit einem Auto mit belarussischen Kennzeichen. Vor uns fuhr ein Fahrzeug vom Verein zur Begleitung, und an allen Kontrollpunkten ging es durch den grünen Korridor.

    Was waren für Sie die stärksten Eindrücke?

    Vor allem die Menge an Menschen. Wir hatten im Voraus die Warteschlangen an den Grenzübergängen gecheckt; bis zwei Uhr nachmittags war niemand da, keine Autos, keine Flüchtlinge. Als wir aber ankamen, da hatte schon der Flüchtlingsstrom eingesetzt. Beeindruckt im positiven Sinne hat mich, wie der Grenzübertritt organisiert war, wie gut die ukrainischen und polnischen Grenzbeamten gearbeitet haben. Auf der anderen Seite der Grenze, in Polen, wollten viele Männer in die Ukraine fahren, um sie zu verteidigen.

    Es ist nur schwer zu vermitteln, was wir im Vorfeld der Grenze gesehen haben. Eine Schlange von fünf Kilometern, aus Frauen und Kindern, die von Männern begleitet waren. Sie haben die Frauen und Kinder zur Grenze gebracht und sind dann umgekehrt, um ihr Land zu verteidigen.

    Ich würde die Ukraine als mein zweites Zuhause bezeichnen

    In Warschau erlebte ich dann eine besondere Situation. Ich erreichte mein Hotel am Flughafen, „all inclusive“. Hinter mir saß ein älterer Mann, ihm war anzusehen, dass er die Kleider anhat, in denen er von zu Hause losgegangen war. Dieser Mann war sehr verwirrt, als ob er zum ersten Mal in einem solchen Hotel ist und nicht weiß, was er tun soll. Vom Aussehen her schien er Bauer zu sein. Der Hotelmanager ging zu ihm und bot ihm Kaffee oder Tee an, der Mann verstand ihn nicht. Eine junge Frau wird gerufen, die Russisch spricht und ihm nochmal Kaffee oder Tee anbietet. Der Mann schaut sie an und sagt: „Ich habe Hunger.“ Das heißt, da wurde jemand einfach aus seiner normalen Umgebung gerissen und über die Grenze gebracht. Das hat mich sehr ergriffen. Ich kann verstehen, was für ein Stress das für ihn ist.

    War die Ukraine für Sie ein Zuhause?

    Ich würde sie als mein zweites Zuhause bezeichnen, besonders jetzt, wo ich zum zweiten Mal gekommen bin, um in der höchsten ukrainischen Liga zu arbeiten. Die Haltung gegenüber uns [als Trainerteam – dek] ist jetzt eine ganz andere, denn die Leute haben gesehen, wie wir 2016/17 beim ersten Mal in der Ukraine gearbeitet haben. Sie haben für uns die besten Bedingungen geschaffen, im Alltag und fürs Training. Es versteht sich, dass es bei der Arbeit unterschiedliche Momente gibt. Aber so ist Fußball, alles gut.

    Ich will noch etwas zur Haltung der Menschen in der Stadt sagen, besonders bei unserer zweiten Ankunft. Ich war angenehm überrascht, dass mich die Leute in Lwiw erkannten; sie kamen auf mich zu, grüßten mich, wünschten viel Erfolg. Und das, obwohl die meisten in der Stadt Fans von Karpaty sind [der Verein hat sich 2021 aufgelöst – Anm. Nasha Niva]. Vielleicht kennen mich die Leute gerade deshalb, weil ich Karpaty 2016 von ganz unten hochgeholt habe.

    Wie steht es jetzt um Lwiw?

    Die ausländischen Spieler haben das Land verlassen, aber die Ukrainer sind alle in Lwiw. Sie sind verpflichtet, in der Territorialverteidigung zu arbeiten, beim Abladen der humanitären Hilfsgüter mitzuhelfen. Anschließend trainieren alle gut organisiert, gehen in die Trainingshalle und spielen Fußball.

    Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!

    Wie haben Sie den 24. Februar erlebt?

    Ich erinnere mich an den Abend davor. Wir waren mit dem Trainerteam im Hotel etwas essen und redeten über die Lage und den drohenden russischen Einmarsch. Wir waren uns einig, dass in einer solchen Situation kein normaler Mensch einen Krieg anfängt, weil der nicht zu gewinnen ist. Wir gingen ganz ruhig schlafen, und so gegen halb sechs kriege ich einen Anruf auf Viber. Die Jungs aus Belarus melden sich und fragen: „Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!“

    Ich geh‘ ins Internet, schau mir die Rede eines gewissen Genossen über den Beginn der sogenannten Spezialoperation an. Ich dachte sofort an die Zeilen aus dem Lied: „[Am 22. Juni] // Genau um vier Uhr // Wurde Kyjiw bombardiert // Uns wurde gesagt, // Dass jetzt Krieg ist“. Die Rede ging ja um fünf Uhr Moskauer Zeit raus, und in Kyjiw war es da vier. Ich sah sofort viele Parallelen zu jenem Krieg, zu 1941.

    Um 12 Uhr hatten wir eine Versammlung und danach ein Gespräch mit der Vereinsleitung. Rund drei Stunden saßen wir noch auf der Anlage rum, dann fuhren wir ins Hotel zurück.

    Wie sehr spürt man in Lwiw, dass jetzt Krieg ist?

    Lwiw ist im Hinterland, und alle Kampfhandlungen werden vom Hinterland aus unterstützt. Und was ich in dieser Stadt gesehen habe, hat mich verblüfft, zutiefst berührt. Zum einen sah ich lange Schlangen vor den Musterungsbehörden. Da standen Männer, die versuchten sich zur Armee zu melden, aber nicht genommen wurden. Es hieß, alle Einheiten seien schon komplett, es gebe aber nicht genug Waffen.

    Ein paar Tage später begann vor den Musterungsbehörden die Sammlung von Sachen für die Flüchtlinge. Ich erinnere mich an Berge von Essen und Kleidung. Und weitere fünf Tage später gab es in Lwiw die ersten Kontrollposten. Das kam sehr unerwartet: Du kommst abends von der Anlage und es ist nichts zu sehen. Morgens willst du dann zur Anlage und stehst plötzlich vor einem Kontrollposten. Gleichzeitig waren die Schlangen vor dem Militärkommissariat nicht verschwunden. Da standen sehr viele Männer, die nach Kyjiw wollten, um die Stadt zu verteidigen.

    Rund eine Woche nach Kriegsbeginn erklärte der Bürgermeister von Lwiw, dass sich alle Männer zwischen 18 und 60 für eine Beteiligung an der Territorialverteidigung registrieren lassen müssen, auch die Spieler des Vereins.

    Wie haben Sie die Zeit von Kriegsbeginn bis zur Ausreise verbracht?

    Ich musste mich irgendwie [vom Krieg] ablenken. Ich habe natürlich die Nachrichten geschaut, hauptsächlich CNN und ukrainische Sender. Ich sah jetzt weniger russische und belarussische Programme. Insbesondere nach den Beiträgen über den Angriff auf das Verwaltungsgebäude in Charkiw, als die Belarussen sagten, die Ukrainer hätten sich selbst in die Luft gejagt.

    Ich bekomme ja aus verschiedenen Quellen Informationen, was tatsächlich in der Ukraine vor sich geht. Der Manager unseres Vereins war in Butscha, im Zentrum der Kämpfe, eingeschlossen unter der Erde. Er hat erzählt, was die sogenannten russischen „Befreier“ getan haben, und das erinnert mich an das Vorgehen der Faschisten im Zweiten Weltkrieg.

    Bei der Menge an Informationen könnte man verrückt werden

    Vor rund drei Tagen gab es da den Jungen, dessen Vater vor seinen Augen erschossen wurde. Der Junge selbst wurde verletzt. Sie haben ihm in den Kopf geschossen. Dieser Junge war der Freund der Tochter unseres Managers, er kennt das Kind und die Eltern, die ums Leben kamen.

    Irgendwann am zweiten oder dritten Tag der Bombenangriffe rief ich diesen Manager an, und er schaltete auf Video. Ich sah, wie da die Leute im Luftschutzkeller saßen. Ziemlich schwer, jemanden in dieser Situation etwas zu fragen. Makarewitsch hat das gut gesagt: Wenn jemand im Krieg war, erinnert er sich nicht gern daran.

    Auch einer unserer Scouts war in Butscha. Andere Scouts waren in Charkiw und in Saporishshja und erzählten, wie dort die Häuser mit direktem Beschuss bombardiert werden, mit den Mehrfachraketenwerfern Grad, mit Granaten und so weiter.

    Nach all diesen Nachrichten und Telefonaten sind Wassili Chomutowski und ich zur Anlage gegangen und haben dort einiges erledigt. Bei der Menge an Informationen konnte man verrückt werden. So viel Negatives. Ich sah die Erschütterung der Menschen, ich weiß, dass der Sohn unseres Scouts seit den Bombenangriffen ständig Schluckauf hat, und wie sehr sich die Haltung dieses Mannes gegenüber Russen und Belarussen verändert hat.

    Haben Sie selbst irgendeine Anfeindung erlebt?

    Was Lwiw angeht, da gab es nichts. Weil man mich hier sehr gemocht hat. Der einzige Nachteil war, dass einige Tage nach Kriegsbeginn meine Geldkarte gesperrt wurde, weil die Konten von Russen und Belarussen eingefroren werden sollten. Das war für mich okay, schließlich ist das Land im Krieg, und da geht es zur Sache.

    Hat diese Zeit ihre Wahrnehmung von den Ukrainern verändert?

    Nur zum Positiven. Ich habe eine geeinte Nation gesehen. Für sie ist dieser Krieg so wie der Große Vaterländische Krieg für die Sowjetunion: Die Menschen sind durch das gemeinsame Ziel vereint, diesen Krieg zu gewinnen. Mich hat auch erstaunt, wie sich die ukrainischen Sportler verhalten haben. Sie standen mit wenigen Ausnahmen zusammen. Andrij Bohdanow, ein Fußballer von Kolos, legte den Eid ab, nahm die Maschinenpistole und zog in den Krieg; und es gibt noch mehr solcher Beispiele.

    Vor dem Krieg schienen die Ukrainer nicht sonderlich geschlossen hinter Selensky zu stehen. Aber wie er sich dann nach Kriegsbeginn verhalten hat! Die Lage ist kritisch, man müsste eigentlich weg, und er sagt: Nein, ich werde mit der Waffe in der Hand kämpfen. Und das hat sich auf die Bevölkerung übertragen. Die Nation hat sich um Selensky zusammengeschlossen.

    Hat sich Ihre Haltung zu Russland jetzt geändert?

    Ja, meine Beziehung zu Russland hat sich sehr verschlechtert. Wie sich die sogenannten Befreier verhalten … So kann man im 21. Jahrhundert nicht vorgehen. Sie vernichten ganze Städte zusammen mit der Zivilbevölkerung, einfach nur deshalb, weil diese Städte russischsprachig sind, aber die Menschen die Soldaten dort nicht mit Salz und Brot empfangen. Man muss verstehen, dass die Ukraine ein freies Land ist und die Ukrainer nur sehr schwer zu versklaven sind. Eher sterben sie, aber sie werden niemals mehr Sklaven sein.

    Ich denke nicht, dass sich der Sport jenseits der Politik befindet

    Was denken Sie über die Sanktionen gegen russische und belarussische Sportler?

    Ich verstehe überhaupt nicht, warum diese Sanktionen für Empörung sorgen. Diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, sagen: Nun, der Sport steht jenseits der Politik. Wer hat sich bloß diesen Satz ausgedacht? Jeder Sport, und sei es im Kleinsten, spiegelt trotzdem das Geschehen in der Gesellschaft wider. Erinnern wir uns nur an die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland. Wozu haben die Deutschen sie gebraucht? Um die Überlegenheit der arischen Rasse zu zeigen. Die Olympischen Spiele in Moskau und Sotschi haben dazu gedient, mit Hilfe des Sports die Überlegenheit der Sowjetunion bzw. Russlands zu zeigen.

    Meiner Meinung nach sollte ein Land, dass im 21. Jahrhundert im Herzen Europas einen Krieg entfacht hat, bestraft werden. Ich sage nicht, dass die Sportler am Krieg schuld sind: Die großen Markenfirmen verlassen das Land, den Banken wird der Zugang zu SWIFT gesperrt und so weiter. Der Sport steht hier an vorletzter Stelle.

    Ich denke nicht, dass sich der Sport jenseits der Politik befindet. Jeder Sportler ist auch Bürger seines Landes. Während der Proteste 2020 haben einige Sportler eine sehr bequeme Haltung eingenommen, nach dem Motto: Wir beschäftigen uns ausschließlich mit Sport und mischen uns nicht in die Politik ein. Dabei geht es doch gar nicht um Politik! Als die Menschen 2020 getötet wurden und wo jetzt Menschen umgebracht werden … Da geht es um menschliche Haltungen und nicht um Politik. Wir reden hier nicht davon, wen du wählst, ob die Roten, die Gelben, die Weißen oder die Grünen, sondern darum, ob du Mord gutheißt oder nicht.

    Die Ukraine hat gezeigt, dass je weiter ein Sportler oben steht, desto stärker die Einsicht in die Bedeutung der eigenen Persönlichkeit ist. Mir scheint, das hängt alles zusammen.

    Belarussische Sportler haben einen regimefreundlichen Brief unterzeichnet, russische Sportler sind zu regimefreundlichen Veranstaltungen gegangen. Haben sie alle die Sanktionen verdient?

    Für mich ist die Antwort klar: Sie haben es verdient. Natürlich können sie sagen, sie hätten sich nicht für sowas interessiert und hätten einfach nur trainiert … Wissen Sie, es gab da den tschechischen Schriftsteller Julius Fučik, den haben die Nazis 1944 hingerichtet. Als er im Gefängnis war, hat er das Buch Reportage unter dem Galgen geschrieben, in dem er beschreibt, was mit ihm geschah. Da gibt es einen guten Satz, den kenne ich auswendig: Fürchtet euch nicht vor Feinden, die können höchstens töten, fürchtet euch nicht vor Freunden, die können höchstens Verrat üben, fürchtet euch vor gleichgültigen Leuten, denn durch ihre schweigende Zustimmung geschehen die fürchterlichsten Verbrechen der Welt.

    Die schlimmsten Menschen auf der Welt, das sind wirklich die schweigenden Duckmäuser. Ich respektiere jede Position, verstehe das aber so, dass jeder zumindest eine haben sollte. Jeder Mensch ist einmalig, aber vor Gott sind alle gleich. Es ist ja nicht so, dass jemand als Präsident geboren wird. Nein, du wirst zunächst als Mensch geboren, erst dann erringst du ein Amt.

    Ist der Sport in Belarus noch am Leben?

    Amateursport, ja, der lebt. Der Profisport aber, die Wettbewerbe mit den besten Athleten der Welt, diese Möglichkeit wird es für belarussische und russische Sportler nicht mehr geben. Daher wird der Sport in diesen Ländern auf das Niveau von Freizeitsport absinken, wenn er nur wegen der Gesundheit betrieben wird. Erklären Sie mir doch bitte, wer den belarussischen Sport noch braucht, von dem sich nach 2020 die Fans abgewandt haben und dem die internationale Bühne versperrt ist?

    Die Ideologen.

    Die Ideologie muss demonstrieren, dass die belarussische Nation den anderen Nationen überlegen ist. Aber wie willst du das zeigen, wenn du dich nicht mit den besten Sportlern messen kannst? Du spielst nicht gegen Bayern München oder Liverpool, sondern gegen Mannschaften mit dem Niveau von Smolewitschi oder Mikaschewitschi. Das ist das Niveau von Betriebssportmeisterschaften. Was hat das mit Ideologie zu tun? Die verliert da den Sinn.

    Es wird gesagt: Hebt die Sperre auf, und wir zeigen euch, dass wir gute Sportler haben. Die Sperre wird aber nicht aufgehoben und man wird weiter im eigenen Saft schmoren. Es gibt einen guten Spruch: Wenn du ein Löwe sein willst, musst du auch mit Löwen kämpfen – nicht mit Katzen oder Mäusen, sondern eben mit Löwen! Die Löwen, das sind hier die besten Sportler der Welt, und wenn du gegen die spielst, dann wirst du besser.

    Fußball ist mehr als nur eine Sportart

    Glauben Sie an die Zukunft von Belarus?

    Ja. Die Genossen, die da jetzt am Ruder sind, die kommen und gehen. Ich hoffe, dass das Land bald frei sein wird.

    Machen Sie jetzt irgendwelche Pläne für Ihr Leben?

    Nun, ich versuche herauszufinden, wie ich die Mannschaft trainieren soll, wenn die ukrainische Meisterschaft weitergeht. Ich denke, wir werden nur ein paar Wochen zum Trainieren haben und dafür, wieder, zumindest teilweise Kondition zu kriegen.

    Gibt es eine Chance, dass die Meisterschaft schon bald weitergeht?

    Das hoffe ich sehr. Man muss wissen, dass Fußball in jedem Land mehr ist als nur eine Sportart. In Spanien wurde unter Franco versucht, den Fußball wiederzubeleben, um zu zeigen, dass im Land alles wieder normal sei. Ich denke, das erste, was die Ukraine machen wird, wenn sich alles wenigstens ein bisschen wieder eingerenkt hat, ist eine Fortsetzung der nationalen Meisterschaft.

    Als der Krieg begann, habe ich nachgeschaut, wann die sowjetische Meisterschaft nach dem Großen Vaterländischen Krieg weiterging. Und: Das erste Spiel fand am 13. Mai 1945 statt, wenige Tage nach Kriegsende. Da haben wir‘s.

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    In einem russischen Gerichtssaal spricht ein junger Mann, ein Journalist. Im Prozess, der ihm gemacht wird, bleibt ihm das Schlusswort, um sich noch einmal zu den Vorwürfen zu äußern. Er entscheidet sich stattdessen – wie viele in Russland, die wissen, dass das Urteil zumeist schon im Vornherein feststeht – in dem Schlusswort über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. 

    Er spricht vieles offen aus, über das man in Russland aufgrund repressiver Gesetze nicht sprechen darf: Er nennt den Krieg einen Krieg, erzählt von bombardierten Krankenhäusern, von getöteten Zivilisten, eingeschlossenen Städten. 
    Der Journalist heißt Wladimir Metjolkin und er gehört zu Doxa, einer Studierendenzeitschrift in Moskau. Gemeinsam mit drei seiner Kollegen – Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch und Alla Gutnikowa (deren Schlusswort ebenfalls häufig geteilt wurde in Social Media) – hat er bereits fast ein Jahr Hausarrest und einen Gerichtsprozess hinter sich. Das Urteil soll am heutigen Dienstag, den 12. April 2022, gefällt werden. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Haft.


    Der Fall Doxa beginnt im Jahr 2021 – ein Jahr des Shifts in Russland, in dem der Druck gegen unabhängige Akteure und auch Medien immer stärker wurde. Das Vergehen der Doxa-Redakteure: Sie hatten in einem Video im Januar 2021 von politischem Druck an den Universitäten berichtet, hatten Drohungen thematisiert, Studierende könnten von der Uni fliegen, sofern sie es wagten, zu Unterstützerprotesten für Kremlkritiker Alexej Nawalny zu gehen, der damals nach seiner Nowitschok-Vergiftung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt war. 

    Dieses Video wurde ihnen als „verbrecherisch“ ausgelegt, als Protestaufruf mit „Gefahr für Leib und Leben“ von Minderjährigen. Dass sie seither von der russischen Justiz verfolgt werden, hat ihr Leben radikal verändert: Wer von ihnen noch an der Uni war, musste sie verlassen. Wer bereits in den Beruf eingestiegen war, hat den Job verloren. Während des Arrestes wurden pro Tag nur zwei Stunden Ausgang gewährt, begleitet von zahlreichen weiteren Verhören, wie die Doxa-Redaktion berichtete. 

    Das besagte Video beendete Doxa damals mit den Worten „Die Jugend sind wir, und wir werden gewinnen“. Während ihr Fall in den vergangenen Wochen auf das Urteil zulief, hat Russland einen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begonnen. 

    In seinem Schlusswort vor Gericht am 1. April spricht Doxa-Redakteur Wladimir Metjolkin darüber, wie die Zukunft der Jugend in Russland aus seiner Sicht mit der des ganzen Landes und dem Krieg im Nachbarland zusammenhängt. Dabei kommt er auf den Satz von damals zurück. dekoder hat sein Schlusswort in voller Länge übersetzt:


    Update vom 12. April 2022, 16 Uhr MEZ: Wie Mediazona mitteilt, lautet das Urteil 2 Jahre Sozialstunden; 3 Jahre lang dürfen die Vier außerdem nicht als Administratoren von Internetseiten fungieren.

    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa
    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa

    „Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt, doch die Jugend sind wir – und wir werden garantiert gewinnen“, so lautete der von Alla gesprochene Schlusssatz in unserem Video, das wir vor über einem Jahr veröffentlicht haben. Wegen des Videos wurde ein Verfahren gegen uns eingeleitet, und deshalb stehen wir heute hier in diesem Gerichtssaal. Der Satz besteht aus zwei Teilen, in meiner Rede möchte ich auf beide einzeln eingehen. 

    Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt. Die Metapher des Kriegs gegen die Jugend und deren Bedeutung bedarf eigentlich keiner langen Erklärung: Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft – man hat sie uns genommen. Wenn du jung und anständig bist, dich persönlich weiterentwickeln, einen guten Abschluss und ehrliche Arbeit willst, wenn du auch nur irgendwelche Ambitionen hast, wird dir geraten, Russland zu verlassen – je eher, desto besser. 

    Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft

    Heute, ein Jahr nach Prozessbeginn, können wir voller Wut und sogar Hass sagen, dass es um diese Dinge noch viel schlechter steht. Die Staatsmacht hat im Wortsinne einen Krieg erklärt. Es geht jetzt nicht mehr um den metaphorischen Krieg gegen die Jugend, sondern um einen bestialischen, zerstörerischen Krieg gegen die Ukraine und deren friedliche Bewohner. Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben. Ich hatte es auch vergessen und dieser Tatsache nicht mehr die nötige Bedeutung beigemessen. Doch jetzt erinnern sich alle, nachdem Russland am Morgen des 24. Februar nach einer irrsinnigen nationalistischen Rede von Wladimir Putin Kiew bombardiert hat.

    Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben

    Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hatte vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in sein Haus in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. 
    Die Staatsmacht hat Boris Semjonow den Krieg erklärt, einem 96-jährigen Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Er trägt einen Orden für die Befreiung Prags, wo er sich jetzt wieder als Geflüchteter befindet, weil er wegen der Bombardierung zur Flucht aus der Oblast Dnipropetrowsk gezwungen war. Dort wartet er auf eine Wohnung, obwohl ihm auch in Berlin Hilfe angeboten wurde, wo er in Ruhe seinen Lebensabend verbringen könnte.

    An dieser Stelle unterbricht die Richterin Anastassija Tatarulja den Angeklagten, aber er fährt fort.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird und in dem mehr als 90 Prozent aller Gebäude zerstört wurden. Die Einwohner von Mariupol sterben, haben kein Wasser und keine Nahrung, sie beerdigen ihre Angehörigen direkt in den Innenhöfen der Wohnhäuser, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. Sehen Sie sich die Fotos an, sie sind in internationalen Medien zahlreich zu finden. 

    Die Staatsmacht hat den Frauen und Kindern den Krieg erklärt. Russland bombardiert wahllos Wohngebiete und zerstört Schulen, Krankenhäuser, Geburtskliniken. Das bestätigen Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen auf der ganzen Welt. Täglich sehen wir massenhaft Fotos und Videos aus der Ukraine, wir können diesen Krieg regelrecht online beobachten. Nur einer scheint die Kriegsberichte immer noch in Aktendeckeln vorgelegt zu bekommen.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird

    Die Staatsmacht hat sogar jenen den Krieg erklärt, die diesen Krieg mit ihren Händen für sie führen müssen. An der Front landen unter anderem Wehrdienstleistende. Sie wollen nicht kämpfen, ergeben sich, landen in Gefangenschaft und führen keine Panzerangriffe durch, manche wissen nicht mal richtig, wie man das Kriegsgerät bedient. Die Soldaten werden chaotisch an verschiedene Frontabschnitte verteilt (wobei von einer Verkürzung der Frontlinie die Rede war, wollen wir hoffen, dass es so ist), sie sterben einen schrecklichen Tod – verbrennen bei lebendigem Leib in Panzerkolonnen. 

    In den ersten Tagen des Angriffs wussten russische Soldaten nicht einmal, wo sie waren und wohin sie fuhren – das belegen viele Protokolle und Zeugenberichte. Sie wurden schlichtweg zur Schlachtbank geschickt, ohne anständige Kleidung, Verpflegung oder Deckung.

    An dieser Stelle wird Metjolkin abermals von der Richterin unterbrochen. „Ich finde, es besteht sehr wohl ein direkter Zusammenhang, deswegen fahre ich fort“, erwidert er. 

    Ich kenne aus erster Hand den Bericht einer Frau, deren wehrdienstleistender Neffe in einem sowjetischen Panzer Baujahr 1974 schläft. Wir hören Berichte von Soldaten, deren Leichname nicht überführt und anständig beerdigt werden. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern. Die ukrainische Seite würde sie abholen lassen, aber Russland schweigt.

    Leichname der russischen Soldaten werden nicht überführt. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern

    Die Staatsmacht hat den Aktivisten und Journalisten den Krieg erklärt, die offen über die Ereignisse sprechen wollen, weil es unmöglich ist, darüber zu schweigen. In einem Jahr wird man uns fragen, was wir in dieser Zeit getan haben, wie wir versucht haben, es zu verhindern. Wir werden der nächsten Generation Rede und Antwort stehen müssen. Inzwischen sind die Repressionen in vollem Gang: Es laufen über 200 administrative und einige Strafverfahren. Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur. Die Staatsmacht versucht, uns weiterhin einzuschüchtern, indem sie unter anderem auf die Wiedereinführung der Todesstrafe anspielt. Es gibt die Menschen, die nicht schweigen, aber viele sind wir nicht.

    Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur

    Jetzt zum zweiten Teil des oben genannten Satzes. Die Jugend sind wir, und wir werden garantiert gewinnen. Was bedeutet das? Ich möchte weg von der gängigen Standardinterpretation dieser Worte als Generationenkonflikt, bei dem die Jungen immer die Alten ablösen, die Alten ausgemustert werden und dadurch vermeintlich alles besser werden soll. Das würde zu kurz greifen.

    Meiner Ansicht nach geht es bei diesen Worten darum, dass sich die Zukunft nicht aufhalten lässt. Wir wissen nicht, wie sie aussehen wird, momentan ist das schwer zu sagen. Aber das Putin-Regime wird zweifellos früher enden, als es der (noch Haupt-)Akteur will. Mit seinem Versuch, lebenslang Präsident zu sein, ruiniert er das ganze Land.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte – jener „tausendjährigen Geschichte“, wie sie die Propaganda so gerne nennt. Eine Grundannahme dieses Diskurses ist die Behauptung, Russland habe immer nur gerechte und Befreiungskriege geführt.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte

    Ich will mich nicht in historischen Details verlieren – die Fotos, die nach dem 24. Februar 2022 in Kiew, Mariupol und Cherson gemacht wurden, sprechen für sich. Sie genügen, um zu begreifen, dass das Narrativ von den Russen als Befreiern hinfällig geworden ist. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen – mit Streumunition und Minenbomben. Die Russen reagieren darauf wie sie können, aber sie können wenig. Dafür reagiert die Welt umso stärker. Das Leben in Russland hat sich seit dem Beginn des Krieges rasant verschlechtert, und das wird lange so bleiben. Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung – alles ist zerstört. Alles ändert sich im Lauf der Zeit, aber jetzt gerade beschleunigt ein Einzelner mit seinen wahnwitzigen Aktionen die Veränderungen massiv.

    Das Narrativ von den Russen als Befreiern ist hinfällig geworden. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen

    Zum Thema „Entnazifizierung“: Russland hat den Buchstaben Z als ein Symbol des Kriegs gewählt, in dem viele zu Recht ein halbes Hakenkreuz erkennen. In manchen Ländern will man dieses Zeichen bereits gesetzlich mit den Nazi-Symbolen gleichsetzen. Anders kann man es auch gar nicht nennen – ein neues Hakenkreuz, ein neuer Hitlergruß. In Z-Formation werden in Russland Studenten, Schüler und sogar Kindergartenkinder aufgestellt.    

    Die russischen Propagandisten haben die gesamten acht Jahre seit 2014 über Nazis in der Ukraine gewettert: Zuerst seien sie auf dem Maidan aufgetreten und dann plötzlich an die Macht gekommen. Man hat uns Bilder von Fackelzügen gezeigt, die tatsächlich gruselig aussahen. Aber wo sind diese ukrainischen Ultrarechten jetzt? Die vereinigten Rechten haben es mit gerade mal zwei Prozent bei den letzten Wahlen nicht einmal in die Rada geschafft. Einzelne nationalistische Veteranen des Kriegs in der Ostukraine konnten sich unter Poroschenko einen Platz in der Politik oder einen Posten in den Sicherheitsbehörden verschaffen, aber von einem maßgeblichen Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren kann nicht die Rede sein. Wolodymyr Selensky hatte bereits Kurs aufgenommen auf eine Versöhnung der ukrainischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerung des Landes.

    Wir brauchen eine Entnazifizierung und Dekolonialisierung Russlands

    Wir haben die ukrainischen Nationalisten schon sehr sehr weit überholt. Wir sind es, die eine Entnazifizierung und eine Dekolonialisierung Russlands brauchen. Und eine Absage an den imperialistischen Chauvinismus, an den Spott über Sprachen, Kulturen und Symbole anderer Länder und anderer Völker Russlands. Fehlende Empathie gegenüber deinen Nachbarn – das genau ist der Grund, warum Kriege beginnen. 

    Wir fahren nach Jerewan oder Tbilissi und erwarten, dass man dort Russisch mit uns spricht, erwarten einen Service wie in Moskau, erwarten, dass sich alle über uns freuen. Wir betrachten diese Orte als Scherben des großen Russland. Genau das ist imperialistisches Denken. Wie alle sehen, tut Russland seinen Nachbarländern nichts Gutes. Wir müssen viel mehr darüber reflektieren, was es heißt, Russen zu sein. Und wir müssen jetzt maximal streng mit uns selbst sein.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert, und nun hat unser Land einen Krieg entfacht, den allerschrecklichsten seiner Geschichte. Wir müssen diese Fehler beheben. Wir müssen einsehen, dass jetzt nichts wichtiger ist als die Politik. Politik, verstanden als eine Teilnahme am eigenen Leben, als Selbstbestimmung, als Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, als Sorge um das, was rundherum passiert. All das ist die Grundlage, auf der wir eine neue russische Gesellschaft aufbauen müssen. Die Flucht in die heimeligen Sphären von privaten Interessen und Konsum hat unsere autoritäre Gesellschaft in die Katastrophe geführt. Das muss aufhören und darf sich nie mehr wiederholen.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert

    Die Gemeinschaft der Aktivisten, Journalisten und Wissenschaftler, zu der ich mich zählen darf, weiß, was sie zu tun hat. Wir sind bereit, hart zu arbeiten, geduldig zu sein und zu hoffen – die Veränderungen werden kommen, aber wir müssen uns alle gemeinsam darauf vorbereiten. Und dafür müssen wir in Freiheit sein. 

    Ich möchte den letzten Satz des Videos ein bisschen korrigieren, Alla möge mir verzeihen, wir haben den Text ja, soweit ich mich erinnere, zusammen verfasst. Ich hätte ihn lieber so: Die Staatsmacht hat den friedlichen Menschen den Krieg erklärt und stellt jetzt eine massive Bedrohung dar. Aber die tatsächliche Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen garantiert stoppen.

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  • Totale Aufarbeitung?

    Totale Aufarbeitung?

    „Auch wenn es schrecklich klingt: Mir macht nicht so sehr der Krieg selbst Angst, sondern vielmehr wie er in Russland wahrgenommen wird.“ Auf diese Formel bringt der Politologe Wladimir Pastuchow den Rückhalt des Präsidenten Putin in der russischen Gesellschaft. Dieser liegt laut aktuellen Umfragen bei über 80 Prozent. Obwohl der Wert von Meinungsumfragen in autoritären Regimen strittig ist, ist für den Politologen damit implizit klar, dass dieser Rückhalt grundlegend ist für das System Putin – dass der Krieg erst dadurch möglich wurde.

    Zahlreiche Analysten haben den Kitt dieses Rückhalts in vergangenen Jahren als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. 

    Das dadurch entstandene Weltbild gelte als unumstößlich, meint Pastuchow. Aus diesem Grund müsse das Übel an der Wurzel gepackt werden: Jede Verbreitung von Gedanken, die irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen, müsse zum absoluten Tabu werden. Die ideologische Aufarbeitung müsse total sein.

    Systematische Einschränkung des Pluralismus zwecks Aufbau eines liberal-demokratischen Staates? Heiligt der Zweck die Mittel? Pastuchows Analyse sorgt in liberalen Kreisen Russlands für hitzige Diskussionen. Sein Text ist am 23. März in der Novaya Gazeta erschienen. Fünf Tage bevor die Zeitung bekannt gab, ihre Arbeit bis Ende des Kriegs einzustellen. 

    Es liegt mir fern, dem Präsidenten Plagiat vorzuwerfen. Aber neu ist an dem, was Putin heute sagt, nur die Tatsache, dass es Putin sagt. All diese Ideen sind Zersetzungsprodukte der kommunistischen Ideologie, die erst jahrzehntelang im Untergrund der sowjetischen Stagnation vor sich hin gerottet und dann nutzlos in den Hinterhöfen der „wilden 1990er“ herumgelegen haben.

    Nichts fällt einfach so vom Himmel. Die neue Paranormalität ist nicht das Resultat von Putins Fantasie. Die Mythologie der „Spezialoperation“ ist weder eine kreative Schöpfung Putins noch seiner Administration. Sie kam von außen in den Kreml hinein, wurde vom Zerrspiegel der russischen postkommunistischen Macht reflektiert und dann wieder in die Außenwelt zurückgeworfen – nämlich als das Konzept der Russischen Welt, die einem Stör ähnelt – und zwar nicht zweiten, sondern nur dritten Frischegrades.

    Die drei Quellen bzw. drei Bausteine des Putinismus

    Diese ziemlich flache Erdscheibe ruht – wie auf alten russischen Stichen – auf drei Walen: dem orthodoxen Fundamentalismus, der Slawophilie und dem Stalinismus (einer radikalen Version des russischen Bolschewismus). Schon die Aufzählung dieser „geistigen Wurzeln“ zeigt, dass man diese Ideologie nicht auf der Müllkippe gefunden hat (obwohl das vielen genau so vorkommt), sondern als Rutenbündel, dessen Wurzeln ganz tief, bis in die dunkelsten Keller der russischen Geisteskultur zurückreichen. Und ich glaube, genau aus diesem Grund hat die Propaganda dermaßen eingeschlagen.

    Aus dem Untergrund ins Lushniki-Stadion

    Die Perestroika war die Benefizgala einer „Neuauflage“ der russischen Westler. Alle anderen Geistesströmungen wurden zunächst in den Hintergrund geschoben und nach 1993 ganz in den Untergrund gedrängt. Dort degenerierten sie und zersplitterten zu Sekten: Gumiljow-Anhänger, Stalinisten, radikale Orthodoxe und andere. Sie hatten eigene Propheten wie Kurginjan, Dugin oder Prochanow (und noch viele, viele mehr), die sie als Heilige verehrten. Unter Druck geraten, begannen sich diese Geistesströmungen aktiv zu vermischen, und heraus kamen die bizarrsten, abwegigsten Kombinationen, zum Beispiel orthodoxe Stalinisten oder linke Eurasisten.

    Sie hätten noch jahrzehntelang so vor sich hinrotten können, aber Anfang des 21. Jahrhunderts fand sich ein Großabnehmer für diesen ganzen Sondermüll – in Person der neuen Macht.

    Parallel dazu war nämlich in der Politik ein anderer Prozess vonstatten gegangen: Eine kleine, aber eingeschworene Gruppe von „Petersburgern“ hatte kraft nur teilweise zufälliger Umstände fest die Zügel der Macht an sich gerissen und brauchte für ihre politischen Ambitionen dringend einen ideologischen Überbau. Da sie selbst alle Merkmale einer esoterischen politischen Sekte aufwies, tendierte sie naturgemäß zu einer sektiererischen Weltanschauung. Aus diesem Grund gab es von Anfang an eine gegenseitige Anziehung zwischen den „Petersburgern“ und dem „orthodoxen Untergrund“. Die Frucht dieser Liebe ist das Oxymoron der Putin-Ära: die „orthodoxen Tschekisten“ – und ihr Manifest, das zwischen 2005 und 2010 anonym herausgegebene mehrbändige Werk Projekt Russland.

    Bis 2012 blieb der „Geheimbund der Schwerter und Pflugscharen“ allerdings weitgehend unbekannt. Die Kontakte fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die außerehelichen Ideen, die aus ihnen geboren wurden, versuchte der Kreml nicht an die große Glocke zu hängen. Erst nach der gescheiterten Revolution von 2011 bis 2013 wurde der Schleier gelüftet. Den russischen Machthabern, die seit Anfang der 1990er Jahre nach einer Massenideologie gesucht hatten, wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit durch goldenen Sand gelaufen waren. Sie mussten nichts erfinden, es stand quasi alles schon bereit. Also hat der Kreml die „russischen Eurasier“ behutsam aus dem Dreck gefischt, sie gewaschen, gestriegelt und ihnen eine Krone aufgesetzt.

    Der Effekt übertraf die kühnsten Erwartungen. Das orthodox-slawophile Mantra, das in der russischen Geisteskultur tatsächlich nicht weniger tief verwurzelt ist als das Westlertum, schlug wie eine Granate ein beim Volk, das durch jahrzehntelanges Chaos zermürbt und durch Gewalt korrumpiert war und den Schock des plötzlichen Zusammenbruchs des Imperiums noch nicht überwunden hatte. In seiner dekadentesten, bis ins Absurde getriebenen Form trat der russische Eurasianismus aus dem Untergrund empor und geradewegs auf die Bühne von Lushniki.

    Das Symbol der Kreml-Religion

    Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kremlideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen. Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven.

    Die Überlegenheit der russischen Nation

    Wie die meisten anderen Theorien dieser Art basiert sie auf einer hypertrophierten Vorstellung von der Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der man Züge eines einzigartigen und unvergleichlichen historischen Subjekts verleiht. Diese These hat zwei Vektoren: einen äußeren und einen inneren. Der innere Vektor impliziert die Anerkennung des bedingungslosen Vorrangs der Nation vor dem Individuum. Der äußere – die Anerkennung einer absoluten Überlegenheit der russischen Nation gegenüber allen anderen Nationen und Völkern. In ihrer tragikomischsten Form kommt diese These in den Worten eines der wichtigsten Hofideologen [des ehemaligen Kulturministers Wladimir] Medinski zum Ausdruck, der behauptete, die Russen hätten ein zusätzliches Chromosom.

    Minderwertigkeit der anderen Nationen

    Einer der Eckpfeiler der neuen Ideologie ist die These, dass nur die russische Nation in der Lage sei, einen vollwertigen souveränen Staat zu bilden. Den meisten anderen Nationen spricht der Kreml diese Fähigkeit ab und betrachtet sie lediglich als „Stellvertreter“ der USA, die nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten. Besonders minderwertig sei in dieser Hinsicht die Ukraine, deren Staatlichkeit nach Meinung des Kreml künstlich sei und ausschließlich dank der Unterstützung von außen bestehe.

    Die Existenz eines natürlichen Feinds

    In der Vorstellung der Kremlideologien hat die russische Nation einen Blutfeind: die Angelsachsen. Wie es sich für einen mythischen Feind gehört, bilden auch die Angelsachsen eine mythische Kategorie. Wenn es sich dabei um die modernen Briten und, von ihnen abgeleitet, die Amerikaner handeln soll, dann sind das wohl eher Normannen, die seinerzeit die Angelsachsen auseinandergetrieben und assimiliert haben, aber wen kümmern schon die Details. Je weniger real die Angelsachsen sind, desto besser eignen sie sich als natürliche Feinde.

    Ihre Projektion innerhalb des Landes ist die „fünfte Kolonne“, die sich von einer politischen Kategorie nun zu einer ethnisch-kulturellen gewandelt hat: Das sind alle, die den Angelsachsen geistig nahestehen. Die Haupt-Handlanger der Angelsachsen sind jetzt den Umständen entsprechend die Ukrainer, aber das ist eine rein funktionale Entscheidung, an ihrer Stelle könnte jeder andere stehen.

    Die Ukraine als Heiliger Gral

    In der Tradition von Solschenizyn und anderen Eurasiern misst der Kreml der Kontrolle über die Ukraine besondere, mythische Bedeutung zu. Die von niemandem rational begründete These, dass das Russische Reich nicht existieren kann, wenn nicht die Ukraine dazugehört, wird als unbedingtes Axiom akzeptiert und ist grundlegend für alle geopolitischen Konstruktionen des Kreml. Die Ukraine ist nach seinem Verständnis sowohl heilige Messen wert als auch eine „Spezialoperation“, die man im Zentrum Europas als letzte und entscheidende Schlacht inszenieren kann.

    Das Recht auf Krieg

    Allein die Existenz eines heiligen Ziels rechtfertigt den Krieg als Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Beigemischt wird Nietzsche mit einer Prise Dostojewski: „Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht?“. In der Vorstellung des Kreml bedeutet „können“ sowohl „das Recht dazu haben“, als auch „müssen/sollen“. Die neue Ideologie ist in dieser Hinsicht eine Apotheose jenes Kults der Stärke, der jahrelang die esoterische Religion des Petersburger Clans war. Der Militarismus der neuen Ideologie ist keine Notwendigkeit, sondern ihr innerster Kern.

    Die Idee von der Normalität des Krieges

    Die Rehabilitation des Krieges nicht nur als mögliches, sondern als das wirksamste Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele ist die natürliche Fortsetzung der Philosophie der Gewalt. Die apokalyptisch-mythische Vorstellung, dass der Krieg ohnehin unvermeidlich ist, weil die USA ihn entfesseln würden, um ihren unabwendbaren finanziellen und moralischen Bankrott zu verhindern, verstärkt den eigenen Militarismus, und sogar den Willen, als Erster anzufangen, weil man sich davon irgendwelche illusorischen Vorteile ausrechnet.

    Die Macht der Ideologie 

    Der ohrenbetäubende Erfolg der militaristischen Propaganda, den wir heute von Moskau bis in die entlegensten Winkel des Landes beobachten können, ist keineswegs zufällig oder spontan. Er wurde nur möglich, weil der Kreml tatsächlich im Besitz einer umfassenden und perfekten „ideologischen Massenvernichtungswaffe“ ist. Die Ideologie des russischen Hypernationalismus hat es geschafft, die Eliten im Kreml zu vereinen, und zwar nicht von außen, sondern von innen heraus, nicht durch Furcht, sondern durch den Glauben. Ich vermute, dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich mit diesem Virus infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens.

    Dabei ist nicht gesagt, dass alle auf dieselbe primitive Weise glauben, in jener karikierten Form, in der die Solowjows und Kisseljows uns diese Irrlehre darbringen. Es kann auch eine ausgefeilte Philosophie sein. Diese neue Ideologie wird künftig bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen, die individuellen Unterschiede und Interessen der einzelnen Führer dagegen eine immer kleinere. Entsprechend werden der Militarismus und die Aggressivität des Regimes nur zunehmen. Es wird versuchen, sämtliche verfügbaren Räume auszufüllen, die man ihm lässt, solange, bis es auf eine andere Kraft stößt, die es nicht imstande ist zu bezwingen.             

    Wie holen wir Russland zurück?

    Mitte der 1990er Jahre veranstalteten die legendären [Wissenschafts-]Urgesteine, Saslawskaja und Schanin in Moskau die unter Intellektuellen sehr beliebte Reihe Wohin steuert Russland?. Bei diesen Treffen warnte ich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit davor, dass Russland absolut nicht dorthin steuere, wo die Anwesenden es haben wollten, und dass alles mit einer neuen UdSSR enden würde. Heute, da Russland schließlich genau dort angelangt ist, stellt sich eine neue Frage, und zwar, ob man es von dort zurückholen kann. Offen gesagt, Beispiele für eine erfolgreiche Rückkehr von diesem Ort mit drei oder sechs Buchstaben gibt es in der überschaubaren historischen Vergangenheit nur wenige, und wenn, dann kehrten die Betreffenden im Schlepptau eines fremden Panzers zurück.

    Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Der Zustand nämlich, in dem sich die russische Gesellschaft heute befindet. Wir beobachten einen emotionalen Flächenbrand, der nicht ewig andauern kann. 

    Es gibt zwei Szenarien, wie man diese Fackel zu einem Ewigen Licht machen könnte, doch beide sind im heutigen Russland nur schwer vorstellbar. 

    Im ersten Szenario wird die Flamme mit fremden Ressourcen genährt – so wie Nordkorea von China. Aber so viel kann China gar nicht schultern.

    Im zweiten Szenario kann man sich wärmen, indem man selbst Stück für Stück abbrennt – die Variante der stalinistischen Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert auf Kosten der ausgebeuteten russischen Bauernschaft betrieben wurde. Das Problem ist allerdings, dass alle Bauern schon vor hundert Jahren enteignet wurden und es in Russland niemanden mehr gibt, den man massenhaft ausrauben könnte. 

    Bleibt also nur die Option, relativ schnell (wenige Monate bis Jahre) auf diesem Scheiterhaufen des „kalten“ Bürgerkriegs zu verbrennen. Übrig bleibt: ein Aschehäuflein mit Resten schwelender ziviler Apathie. Ich kann nicht vorhersagen, wie genau das Regime unter dieser Asche begraben werden wird, aber genau dieses Szenario halte ich mittelfristig für das wahrscheinlichste. Wobei ich den nuklearen Staub, der aus dem Kremlfernsehen rieselt, jetzt mal ausklammere. Könnte natürlich auch sein, dass da jemand kollektiven Selbstmord begehen will, dann kann man ihn schlecht davon abhalten, aber Selbstmörder bauen keine Paläste

    Auf praktischer Ebene stellt sich bereits heute die Frage, wie wir Russland weniger anziehend machen, entmagnetisieren werden, wenn erstmal die Sektierer vom Kreml abgelassen haben. Der wichtigste Schluss, den die noch heißen Spuren nahelegen, ist folgender: So abstoßend die „russischen Typen“ auch sein mögen, die „russischen Ideen“ sind noch grauenerregender. 
    Das russische Volk lebt innerhalb einer totalitären Matrix, die sich von Epoche zu Epoche reproduziert. Diese Matrix wird von den russischen Ideen erzeugt. Wie viele Zähne hat man sich an der nie erfolgten Aufarbeitung in den 1990er Jahren ausgebissen, und noch mehr werden es bei der noch bevorstehenden Aufarbeitung der 2030er (oder vielleicht schon 2020er) Jahre sein. 
    Die ideologische Aufarbeitung muss total sein. Nachdem die russische Mentalität nach holistischen, mystischen und totalitären Gesinnungen regelrecht süchtig ist, wird man in Russland die Verbreitung von allen Ideen verbieten müssen, die sich ähnlich, symmetrisch oder identisch zu jenen verhalten, die in ihrer Steigerung zu einer Rechtfertigung der „Spezialoperation“ geführt haben. Jede Verbreitung von Gedanken, die direkt oder indirekt, unmittelbar oder mittelbar irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen – egal ob Orthodoxie, Kommunismus, Stalinismus, Nationalismus oder sonst irgendetwas –, jeder Versuch, solches Geistesgut in staatlichen oder außerstaatlichen Sphären zu verbreiten, muss ein absolutes Tabu werden. 
    Angesichts der Komplexität des Problems sind zuallererst zwei Maßnahmen zu ergreifen: 

    Entkirchlichung

    In Russland muss eine strikte Antiklerikalisierung durchgeführt werden, in erster Linie – aber nicht nur – durch eine umfassende und reale Trennung der Kirche als solcher und speziell der orthodoxen Kirche von Schule und Staat. Die russisch-orthodoxe Kirche muss als Institution, die sich mit ihrer Unterstützung und Rechtfertigung des Terrors endgültig diskreditiert hat, organisatorisch und ideologisch entstaatlicht werden. Sie muss sämtliche staatlichen Subventionen verlieren und ihrer Gemeinde überantwortet werden, die ihr Stimmrecht in kirchlichen Fragen zurückerhalten muss. Vielleicht entsteht dann anstelle der pyramidenförmigen Hierarchie der Russisch Orthodoxen Kirche ein echter demokratischer Kirchenverband, ein Zusammenschluss von freien Pfarreien, die sich selbst verwalten und ausschließlich über ihre Mitglieder finanzieren. 

    Entkommunisierung

    Im Land muss endlich eine vollständige und konsequente Entkommunisierung (und nicht nur Entstalinisierung) stattfinden. Die Propaganda kommunistischen Gedankenguts muss verboten, die Ideen selbst müssen als menschenverachtend entlarvt werden. Alle politischen Organisationen, die den Kommunismus offiziell predigen und irgendeine Form von Terror rechtfertigen, müssen verboten werden. Das gilt auch für alle zeitgenössischen Derivate des Kommunismus, einschließlich der eurasischen Utopien von Alexander Dugin und Alexander Prochanow, der neurussischen Passionen von Wladislaw Surkow, der Reenactments von Strelkow und alles, was auf dem Grabhügel des russischen Kommunismus sonst noch so blüht. 

    Kommt Ihnen das unrealistisch vor? Heute – ja. Morgen wird es Realität sein. Das Pendel der russischen Geschichte hat zu weit ausgeschlagen. Um es aus seiner gottverlassenen Lage wieder herauszuholen, braucht es harte, vielleicht sogar grausame Entscheidungen, die uns gestern noch unnötig und undenkbar erschienen. Die Zeit der halben Sachen ist vorbei. Wenn wir diese Entscheidungen treffen, müssen wir daran denken, dass es nicht so sehr die bösen Menschen, sondern böse Ideen waren, die Russland in diese historische Sackgasse getrieben haben. 

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  • Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

    Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

    Der Süden der Ukraine – ein halbmondförmiger Bogen zwischen den Hafenstädten Odessa und Mariupol sowie die nordöstlich davon gelegenen Gebiete Donezk und Luhansk – ist in Wladimir Putins verzerrtem Geschichtsbild russländische Erbmasse. Als er im April 2014 nach dem Ausbruch des Krieges im Osten der Ukraine plötzlich mit Bezug auf diese Gebiete von Noworossija (dt. Neurussland) zu reden begann, sagte der Begriff nur eingeweihten Spezialist:innen und Russlandhistoriker:innen etwas. Im Rückblick jedoch war diese Wortwahl ein erstes Indiz dafür, dass sich der Machthaber im Kreml auf einen historischen Feldzug begeben wollte. Worum handelt es sich dabei? Welche Geschichte hat diese Region? Wie kann diese Geschichte gelesen werden? Und welche Bedeutung kommt Noworossija als politischem Kampfbegriff zu? 

    Deutsche Karte von Noworossija von 1855 / Illustration © Wikipedia, gemeinfrei

    In seinem von der theoretischen Erörterung zum kriegstreibenden Pamphlet gewandelten Artikel Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer vom Juli 2021 bezeichnet der russische Präsident die Gebiete der heutigen Ukraine als „südwestliche Teile des russländischen Imperiums“ im 19. Jahrhundert. Sie hätten aus drei Teilen bestanden: Malorossija (dt. Kleinrussland), die Krim und Noworossija (dt. Neurussland).1 Malorossija ist eine historische, bis auf die byzantische Zeit zurückgehende Bezeichnung für die Gebiete links des Dnjepr sowie nach den Teilungen Polens auch der rechtsufrigen Ukraine. Noworossija dagegen ist ein Begriff mit vergleichsweise jüngerer Geschichte. Seit dem 18. Jahrhundert war das Gebiet von Noworossija ein sozial- und wirtschaftspolitisches Laboratorium für das russländische Imperium. Heute ist es eine Kampfvokabel, die von russischen Großmachtfantasien über das Territorium der souveränen Ukraine zeugt und dabei bewusst mit Verkürzungen und Halbwahrheiten operiert.

    Ausbau der imperialen Macht

    Die Gebiete der nördlichen Schwarzmeerküste wurden am Ende des 18. Jahrhunderts in gewaltsamen Eroberungszügen dem Osmanischen Reich entrissen. Mit dem Frieden von Küçuk-Kaynarca (1774) wurde das Schwarze Meer unter der Herrschaft von Katharina der Großen vom osmanischen Binnen- zum internationalen Gewässer und sein nördliches Ufer zum russländischen Einflussgebiet.2 Was die traditionelle russische Geschichtsschreibung oft euphemistisch als „Zum-Teil-Russlands-Werden“ oder „Aneignung“ beschreibt, war in Wirklichkeit der forcierte Aufbau einer militärischen Sicherungszone zur Festigung und zum Ausbau der eigenen imperialen Macht. Der Begriff Noworossija fügte sich in die imperiale Meistererzählung von der prometheischen Schaffenskraft der Zarin Katharina der Großen und ihres Statthalters, Grigori Potjomkin, ein: Demzufolge waren die Gebiete zwischen den Flüssen Terek im Nordkaukasus und Dnjestr – die westliche Grenze der heutigen Ukraine – weitgehend unbesiedelte Gebiete, die erst durch den Aufbau staatlicher Administration und durch die Gründung von Städten zu wirtschaftlichen und kulturellen Leuchttürmen werden konnten. 

    Diese Perspektive verstellt jedoch den Blick darauf, dass die Gebiete der Südukraine auch schon lange vor der russischen Eroberung besiedelt waren. Auf diesem Territorium lebten verschiedene nomadische und sesshafte Gesellschaften, die mitunter bereits staatliche oder proto-staatliche Formationen ausprägten. Dazu gehörten die turkstämmigen Chasaren, das Krim-Khanat und das Osmanische Reich. Der nördliche Teil am Unterlauf des Dnjepr war das Gebiet der Saporoger Kosaken. Sie bildeten im 17. Jahrhundert eine weitgehend autonome Staatsformation und suchten sich in wechselnden Allianzen zwischen Osmanischem und Russländischem Reich zu behaupten. 1775 entschied Katharina die Große, die Saporoger Sitsch – so hieß diese Staatsformation – gewaltsam zu zerschlagen und beauftragte Grigori Potjomkin mit dieser Aufgabe. Der Kosaken-Anführer, Petro Kalnyschewski, wurde auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer deportiert, wo sich in der Klosterfestung ein Gefängnis für politische Gegner befand, und das Eigentum der Sitsch konfisziert. Noworossija hatte bis zur gewaltsamen Einverleibung durch das Russische Reich also verschiedene Geschichten: eine ukrainische, osmanische, krimtatarische oder chasarische Geschichte. Eine nicht minder wichtige – die russische – kam hinzu und eröffnete ein weiteres Kapitel, das sich über ein Jahrhundert erstreckte. 

    Sozialpolitisches und ökonomisches Laboratorium Russlands

    Mit der Eingliederung der eroberten Gebiete wurde das Gouvernement Noworossija ab 1796 während sechs Jahren zu einer Verwaltungseinheit des Reichs. Nach 1802 blieb es ein Bestandteil im Namen des Gouvernements Neurussland und Bessarabien. In dieser Zeit wandelte sich die nördliche Schwarzmeerküste vom militärischen Frontgebiet zum sozialpolitischen und ökonomischen Laboratorium Russlands. Noworossija wurde nun zur Verheißung, zum Modell einer möglichen Entwicklung des gesamten Imperiums. 
    Noch Katharina die Große strebte gezielt die Ansiedlung von ausländischen Kolonisten an und gestand den lokalen Gouverneuren weitreichende Entscheidungsbefugnisse zu. Sie tolerierte, dass das Territorium zum Anziehungspunkt für entflohene Leibeigene wurde – auf dem Gebiet von Noworossija befanden sich wesentlich weniger Menschen in Leibeigenschaft als in den anderen Territorien des Reiches. Insbesondere die Hafenstädte, allen voran Odessa, erlebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Boom mit sprunghaftem Anstieg der Bevölkerungszahlen. Der florierende Handel zog Menschen unterschiedlicher Herkunft an. Die Bevölkerung von Noworossija war multiethnisch und in den Dörfern und Städten lebten Russen, Ukrainer, Griechen, Deutsche, Armenier, Italiener, Roma und viele andere Tür an Tür. Auf diese Weise entstanden hier weltoffene Orte des Austauschs, von dem das Imperium ökonomisch profitierte. In Noworossija wurde aus dem Getreide der Schwarzerdegebiete ein weltweit begehrtes Handelsgut, das die Staatskassen füllte und den Wohlstand des Reiches mehrte. Der Hof in Sankt Petersburg stimulierte diese einträgliche Einnahmequelle durch die Einrichtung von Freihafen-Systemen, die einen zollfreien Umschlag von Waren ermöglichten.3

    Diesen ersten Boom unterbrach der Krimkrieg jedoch auf abrupte Art und Weise. Russland kämpfte dabei auch gegen England und Frankreich, die in den Krieg an der Seite des Osmanischen Reiches eingetreten waren. Nach der militärischen Katastrophe, die dieser Krieg für Russland war, initiierte Alexander II. nicht nur die Großen Reformen, sondern setzte auch eine stärkere Anbindung der Gebiete von Noworossija an das imperiale Zentrum durch – mit weniger Entscheidungsbefugnisssen vor Ort. Mit der Auflösung des Generalgouvernements 1874 verschwand auch der Begriff Noworossija aus der offiziellen politischen Sprache. Das Gebiet hatte viel von seiner ursprünglichen Eigenständigkeit verloren und die lokale Administration wurde noch stärker in die ministeriale Bürokratie des Reiches eingegliedert. 
    Nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg stärkten die sowjetischen Machthaber durch ihre vom Paradigma der korenisazija (dt. Einwurzelung) geprägte Nationalitätenpolitik die „Ukrainisierung“ der neugegründeten Ukrainischen SSR. Um dieses Staatsgebilde – wenigstens an der Oberfläche – vom zaristisch-imperialen Konstrukt abzuheben, verboten die Bolschewiki den Gebrauch der Bezeichnungen Noworossija und Malorossija für die Gebiete der neu gegründeten Ukrainischen SSR.

    These einer „dreieinigen Nation“

    Die Rede von Noworossija und Malorossija, die Putin in seinem Artikel und in mehreren Fernsehansprachen bemühte, verweist nur in Teilen auf diesen historischen Kontext. Vielmehr handelt es sich um eine klare historisch-politische Position, die im 19. Jahrhundert entstand: Damals reagierten einflussreiche konservative Befürworter des von Petersburg regierten Vielvölkerreichs auf den entstehenden ukrainischen Nationalismus, indem sie die These einer „dreieinigen Nation“ bestehend aus Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen propagierten.4 Staatlichkeit sei dieser These zufolge nur im Verbund denkbar, und die Abspaltung einer Bevölkerungsgruppe bedrohe Russland als Ganzes. Diese Vorstellung teilte auch der russische Philosoph Iwan Iljin, der Russland als „jungfräulichen Körper“ betrachtete. Wer zu diesem Körper gehöre, das sei nicht Sache von Individuen, sondern die russische Kultur bringe „brüderliche Verbundenheit“ überall dort, wo Russland herrsche. Die Idee einer eigenständigen Ukraine war Iljin zutiefst fremd, und so wundert es nicht, dass Putin den seit den 1990er Jahren wiederentdeckten Denker zum Hausphilosophen machte und sich in seinen Ansprachen auf ihn bezog.5 
    Putin zufolge ist die Region um die Städte Charkiw (das nie Teil von Noworossija war), Luhansk, Donezk, Cherson, Mykolajiw und Odessa im 19. Jahrhundert nicht Teil der Ukraine gewesen, sondern erst in den 1920er Jahren von der sowjetischen Regierung an die Ukraine „gegeben“ worden. Russland habe diese Territorien aus verschiedenen Gründen „verloren“, die von Putin ungenannt bleiben.6 Mit dieser Aufzählung und der vermeintlich geschichtswissenschaftlich informierten Dreiteilung der Ukraine in die Gebiete Malorossija, Krim und Noworossija unterschlägt Putin nicht nur, dass auch andere Bezeichnungen für das historische Gebiet der Ukraine gepflegt wurden – so unterschied man zu bestimmten Zeiten beispielsweise auch zwischen linksufriger Malorossija und rechtsufriger Ukrajina, die Region um Charkiw war eine eigenständige Region namens Sloboda-Ukraine – sondern macht auch ganz konkret seinen Anspruch auf diese Region geltend. Dieser Gebrauch des Begriffs Noworossija reduziert die historische Komplexität dramatisch, indem er selektiv Episoden aus der Geschichte auswählt, aber von anderen schweigt. Diese verkürzte, ja mitunter verzerrte Sichtweise konstruiert eine Linearität der Geschichte, die eine russische Aggression gegen die Ukraine als Korrektur eines historischen Irrtums erscheinen lässt. Sie geht mutwillig über die heutige ukrainische Gesellschaft in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Lebenswirklichkeit hinweg und mutet ihr die Vergangenheit als gegebenes Schicksal zu. 

    Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas

    Um die Sprengkraft seiner auf ein „russländisches Erbe“ verkürzten revisionistischen Behauptungen muss Putin 2014 gewusst haben. Die pro-russischen Separatisten in den Gebieten Donezk und Luhansk griffen diesen neuen Sprachduktus auf und benannten die aus ihren Gebieten gebildete Konföderation als Föderativen Staat Noworossija. Sie hofften auf weitere Anschlüsse durch orchestrierte separatistische Bewegungen und die darauf folgenden Referenden zur Loslösung von der Ukraine. Allerdings blieben diese namentlich in Charkiw und Odessa aus. Im Minsker Abkommen einigten sich die Konfliktparteien darauf, Noworossija nicht mehr als Bezeichnung eines politischen Subjekts zu verwenden, um den Konfliktherd auf die durch eine Demarkationslinie fixierten Separatistengebiete zu begrenzen. Das Scheitern des Projekts Noworossija im Jahr 2014 zeigte der politischen Inanspruchnahme der Geschichte seine Grenzen auf: Entscheidend war damals, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in den ehemaligen Gebieten von Noworossija an ihrer Zugehörigkeit zur Ukraine und an der Unabhängigkeit dieses Staates festhalten wollte und keine Lust hatte, sich von Putin belehren zu lassen. Und auch 2022 scheint sich die Bevölkerung von Odessa und Charkiw vehement gegen einen Anschluss an Russland zu wehren.

    Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas verschwand aber nicht aus dem offiziellen politischen Diskurs. Putins Rede und der von ihm entfachte Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlichten erneut die toxische Kraft des Begriffs Noworossija, der die legitime Staatlichkeit der Ukraine in Frage stellt und es ermöglicht die Geschichte für die eigenen ideologischen Zwecke in Geiselhaft zu nehmen. 


    1. Putin, Wladimir (12.07.2021): On the Historical Unity of Russians and Ukrainians; Baumann, Fabian (2001): Einseitiger Einheitswunsch – Putins neueste Geschichtslektion, in: RGOW, 9/2001, S. 3-5 ↩︎
    2. Kappeler, Andreas (2014): Kleine Geschichte der Ukraine, München, S. 106-112 ↩︎
    3. King, Charles (2011): Odessa: Genius and Death in a City of Dreams, New York, S. 39f./70 ↩︎
    4. Miller, Alexei (2003): The Ukrainian Question: The Russian Empire and Nationalism in the Nineteenth Century, Budapest; Hillis, Faith (2013): Children of Rus’: Right-Bank Ukraine and the Invention of a Russian Nation, Ithaca ↩︎
    5. Snyder, Timothy (2018): The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America, New York, S. 23 ↩︎
    6. Direct Line with Wladimir Putin vom 17.4.2014 ↩︎

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    Russlands Präsident Wladimir Putin versucht, an die Großmachtrolle der Sowjetunion anzuknüpfen. Ihren Zusammenbruch bezeichnete er als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Außenpolitisch betrachtet er Belarus und die Ukraine als „russische Einflusssphäre“ – das eine Land wurde zum Aufmarschgebiet für russische Truppen, gegen das andere führt er Krieg, um sich Einfluss zu sichern. 
    Doch wie nah sind sich die politischen Systeme Russlands und der früheren Sowjetunion? Wo liegen Kontinuitäten und Parallelen in der Ideologie, wo sind zentrale Unterschiede? Was sind die spezifischen Charakteristika des politischen, des putinschen Regimes in Russland?
    Dem geht der Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder in einem Bystro mit sieben Fragen und Antworten nach.

    1. In Russland ist das politische System heute zugeschnitten auf den starken Mann im Kreml. Inwiefern ähnelt das den Strukturen der alten Sowjetunion, mit Generalsekretär und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Machtzentrale?

    2. In der früheren Sowjetunion war der Kommunismus die herrschende Ideologie. Ist das gegenwärtige Russland ideologisch getragen? Oder wurde das Vakuum anders gefüllt?

    3. Wo bedient sich Putin alter Politikstile aus Sowjetzeiten? Wo und inwiefern verhalten sich auch andere politische Akteure nach sowjetischen Mustern, wie zum Beispiel die Gouverneure in den Regionen? Und: wo nicht?

    4. Die Repression nimmt seit Jahren zu – lässt sich das mit einer Periode aus der Sowjetära vergleichen? Was sind ganz eigene Spezifika?

    5. Verbot von Memorial International, das Sperren und Schließen von Medien, die Festnahmen von tausenden Protestierenden – Wie viel sowjetisches Erbe steckt in einem solchen Umgang mit unabhängigen Akteuren und Kritikern?

    6. Was ist der Kern russischer Außenpolitik? Und beobachten Sie dabei einen Rückgriff auf Strategien aus der Sowjetära? 

    7. Die Sicherheitsstrukturen, allen voran der FSB, sind eine zentrale Stütze der Macht für Präsident Putin. Wie fest sind diese Eliten der Sicherheitsapparate heute verankert? Und wie wirkt sich das politisch beziehungsweise gesellschaftlich aus? 


    1. In Russland ist das politische System heute zugeschnitten auf den starken Mann im Kreml. Inwiefern ähnelt das den Strukturen der alten Sowjetunion, mit Generalsekretär und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Machtzentrale? 

    Der Kreis der Entscheidungsträger ist heute viel kleiner als zu Sowjetzeiten nach Stalins Tod – selbst wenn es um den Generalsekretär der KPdSU immer einen Führerkult gegeben hat. Personalistische Politik, wie wir sie heute in Russland erleben, meint informelles Regieren, die Kompensation von politischer Programmatik durch eine Führungsperson (die Person als Programm), die Legitimation des Regimes und die Inszenierung von Macht über die Führungsperson Putin. Über den medialen Führerkult werden zudem autoritätshörige Mentalitäten mobilisiert. Die extreme Personalisierung hat zur Folge, dass es keine „Checks and Balances“ mehr gibt und das System anfällig für fehlerhafte oder erratische Entscheidungen ist. Informationen werden nicht mehr professionell verarbeitet, sondern gefiltert. Nach oben dringt nur durch, was dem Weltbild des Führers entspricht. Schon der verdeckte Krieg im Donbass im Frühjahr 2014 und der Versuch, das Krim-Szenario zu wiederholen, war ein Beispiel für ineffektive Vorbereitung und Durchführung. Erneut zeigt sich dies im Krieg gegen die Ukraine seit dem 24.2.2022:

    Wunschdenken und ein immer höherer Einsatz, um die widerspenstige Wirklichkeit den Wünschen anzupassen, bestimmen das Verhalten. Zu Sowjetzeiten gab es im Politbüro mehr Kontroversen als heute im Kreml. 
    Russland ist nicht zum sowjetischen Einparteiensystem mit dem garantierten Herrschaftsmonopol der KPdSU zurückgekehrt. Zu Sowjetzeiten dirigierte die Partei den Staat, heute dagegen hält sich die Exekutive dafür eine Partei, die nur als Wahlmaschine und Loyalitätsnachweis dient, aber keine politisch-programmatische Führungsrolle wahrnimmt.  
    Der Zugang zu Putin ist unter Corona-Bedingungen nochmals extrem eingeschränkt worden. Vermittelte Putin in seinen ersten beiden Amtszeiten noch zwischen verschiedenen Interessengruppen innerhalb des Kreml, so lässt sich jüngst eine immer stärkere Beratungsresistenz erkennen. Das hat allerdings auch zur Folge, dass hinter dem Rücken des Präsidenten die Spannungen insbesondere unter den Sicherheitsapparaten zunehmen. 

    2. In der früheren Sowjetunion war der Kommunismus die herrschende Ideologie. Ist das gegenwärtige Russland ideologisch getragen? Oder wurde das Vakuum anders gefüllt?

    Die Ideologie des politischen Regimes in Russland ist nicht mehr kommunistisch, sondern eine eklektische Mischung aus Staatsanbetung, Großmachtfantasien, Antiamerikanismus und Antiliberalismus, großrussischem Nationalismus, Orthodoxie und Militarismus. Weite Teile der russischen Eliten leben in einer Retro-Zukunft. Der Blick ist auf die Wiedererrichtung einer untergegangenen Welt gerichtet. Die Retro-Zukunft verhindert, dass Russland sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellt – dem Klimawandel, der Energiewende, der künstlichen Intelligenz, der Zukunft der Städte, der Massenmigration und dem Ende des Geldes, wie wir es kennen. 
    Im Kern handelt es sich um ein autoritäres Kontrollregime mit einem aggressiven Großmachtanspruch: Dieser Großmachtanspruch gründet sich auf die Atomwaffen, den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, die Vormachtstellung im eurasischen Raum und eine führende Rolle beim weltweiten Öl- und Gasexport. Einige Beobachter glauben, dass Russland schlicht verdecken will, dass China als vormaliges Entwicklungsland in drei Jahrzehnten Russland wirtschaftlich und technologisch gnadenlos abgehängt hat. Das Militär bleibt dabei der einzig verbliebene Ausdruck systemischer Wettbewerbsfähigkeit. 

    3. Wo bedient sich Putin alter Politikstile aus Sowjetzeiten? Wo und inwiefern verhalten sich auch andere politische Akteure nach sowjetischen Mustern, wie zum Beispiel die Gouverneure in den Regionen? Und: wo nicht? 

    Kontinuitäten zum sowjetischen Modus operandi sind nach der Jelzin-Ära reaktiviert worden. Dazu gehören der Ausbau der Macht der Sicherheitsapparate, die Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive, die Degradierung der Duma zum Akklamationsorgan und die Rehabilitierung der Sowjetgeschichte und ihrer Symbolik. Der Nationale Sicherheitsrat fungiert als Quasi-Politbüro. 
    Parallelen gibt es heute auch zum „bolschewistischen“ Verhaltenskodex: das heißt beim Rückgriff auf die Politik der Angst, der Repression, der Mobilisierung von Feindbildern und der Verwandlung der Innenpolitik in einen Abwehrkampf gegen überall vermutete Gefahren und Bedrohungen. Insbesondere seit der Rückkehr von Kremlkritiker Alexej Nawalny im Januar 2021 ging der Repressionsapparat flächendeckend gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, gegen politische Stiftungen und selbst Historiker vor, die sich der Verwandlung von Geschichte zur Staatsreligion verweigern. Noch massiver ist dies seit dem Krieg gegen die Ukraine, sei es bei den wenigen Antikriegsprotesten oder gegen die letzten unabhängigen Medien im Land, einige wurden geschlossen, zahlreiche Journalisten und auch andere unabhängige Akteure haben das Land verlassen.
    Anders als zu Sowjetzeiten müssen die Gouverneure heute auf Stimmungen in ihrer Region Rücksicht nehmen, was während der Corona-Pandemie etwa dazu führte, dass Regeln in den Regionen unterschiedlich umgesetzt werden. Und: Im stark monopolistisch und von Oligarchen geprägten Kapitalismus Russlands geben die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht mehr wie zu Sowjetzeiten vor, Herrschaft zugunsten der „Arbeiter und Bauern“ auszuüben; die Verquickung von öffentlichen Ämtern und privater Bereicherung wird sogar weitgehend offen ausgelebt, selbst wenn die Enthüllungen von Nawalny dann doch schmerzten.

    4. Die Repression nimmt seit Jahren zu – lässt sich das mit einer Periode aus der Sowjetära vergleichen? Was sind ganz eigene Spezifika?

    Die Repression und Radikalisierung des putinschen Regimes resultiert aus der Macht der Sicherheitsapparate, die mittlerweile eine „Carte blanche“ erhalten haben. Zu den Gründen der Radikalisierung gehören die Krise des Petro-Staat-Modells, die Polarisierung des öffentlichen Diskurses, die sprachlich-kulturelle Verwandlung von Politik in Krieg und die Militarisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Während zunächst auf eine apolitische Demobilisierung der Gesellschaft und den Appell an nationalpatriotische Mentalitäten gesetzt wurde, kulminiert im Krieg gegen die Ukraine eine nationalistische Mobilisierung. Politik wird nur noch als Krieg gedacht. Der Modus operandi des Kadyrow-Regimes in Tschetschenien – Auftragsmorde, Herrschaft durch Paramilitärs – breitet sich nun auch in ganz Russland aus. Zwar ist die Repression keinesfalls mit dem Terrorjahr 1937 vergleichbar, doch ist der Abschreckungseffekt hoch. Der Krieg gegen die Ukraine zwingt nun noch mehr als ohnehin schon entweder in die äußere oder in die innere Emigration, dies trifft mittlerweile sogar bisherige Systemgünstlinge, die bei Kritik ebenfalls nicht mehr sicher vor Repression sind. 

    Weil das politische System unter Putin als erstarrt gilt, werden häufig Parallelen zur Ära der Stagnation unter Breshnew gezogen. Im heutigen Russland gibt es allerdings noch beträchtliche finanzielle Rücklagen im Nationalen Wohlstandsfonds. Zudem sind die Selbstbereicherungsanreize für höhere Beamte heute weitaus größer. Infolge der neuen, harten Sanktionen und der fast umfassenden Isolation Russlands in den internationalen Beziehungen kann jedoch die bisherige Geschlossenheit der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten aufbrechen. 

    5. Verbot von Memorial International, das Sperren und Schließen von Medien, die Festnahmen von tausenden Protestierenden – Wie viel sowjetisches Erbe steckt in einem solchen Umgang mit unabhängigen Akteuren und Kritikern?

    Putin betreibt seit mehr als zehn Jahren eine Art präventiver Konterrevolution, um ernstzunehmende politische Konkurrenz klein zu halten. Deshalb wurde der begrenzte Pluralismus immer weiter eingeschränkt, der „elektorale Autoritarismus“, den es vor allem in den 2000er Jahren gab, hat sich zu einem offen-autoritären Regime entwickelt. 
    Das Jahr 2021 markiert auch deshalb eine neue Qualität, weil die Zulassung von Alternativkandidaten und Beobachtern zu bedeutenden Wahlen nicht mehr nur durch systematische Schikanen eingeschränkt, sondern faktisch abgeschafft wurde. Zur Reanimierung sowjetischer Muster gehört außerdem die umfassende Kontrolle des öffentlichen, ja sogar zunehmend des privaten Raumes. Das Regime unter Putin belebt die stalinistische Angst- und Repressionskultur wieder, überall werden Verräter, Spione, fünfte Kolonnen und Defätisten vermutet. 

    Zu den größten Gefahren für die Regimestabilität gehört es aus der Sicht des Kreml, wie zu Zeiten von Gorbatschow, einer nicht kontrollierbaren Regimeliberalisierung den Weg zu bereiten. So ist die Perestroika für das heutige offizielle Russland ein Schreckgespenst, ebenso ein „Maidan“ oder eine „farbige Revolution“, das heißt Massenproteste wie beim Arabischen Frühling, in der Ukraine, in Belarus oder jüngst in Kasachstan. Eine Mobilisierung auf der Straße, aber auch durch soziale Netzwerke, wie sie zum Beispiel von Nawalnys Team über Jahre hinweg noch gegen Widerstände und Hürden organisiert werden konnte, ist gegenwärtig nicht mehr möglich. Und doch dürften die Kriegsverluste in der Ukraine, die Verwüstungen und die Massenflucht sowie die Unfähigkeit, ein militärisches Besatzungsregime zu errichten, auf Russland zurückwirken. Selbst wenn das russische Militär sein Zerstörungswerk in der Ukraine fortsetzen kann, wird es ein Pyrrhussieg sein. 

    6. Was ist der Kern russischer Außenpolitik? Und beobachten Sie dabei einen Rückgriff auf Strategien aus der Sowjetära? 

    Der Repression nach innen entspricht die außenpolitische Aggressivität, die Androhung und Anwendung von Gewalt. Auch das zeigt der Angriff auf die Ukraine. Die Betriebsweisen im Innern und in den Außenbeziehungen nähern sich an. Die russische Elite sieht das Land dabei als eurasische Vormacht, als Gewinner des vermeintlichen Einflussverlustes der USA und der EU, aber auch als Bollwerk gegen islamischen Fundamentalismus. Russlands politische Führung sieht das globale Erstarken illiberaler beziehungsweise anti-demokratischer Regime als „Niedergang des Abendlandes“, als Vorzeichen eines historischen Sieges über den Westen, oder als verspätete Revanche für die Auflösung der UdSSR. Die Wahrnehmung des Westens als schwach, uneinig, scheinheilig, dekadent, letztlich nur materiell interessiert und auf Konfliktvermeidung bedacht hat Putins Aggression mit ermöglicht. Insofern ist Putins aggressive Außenpolitik nicht nur Reflex auf die Missachtung des Völkerrechts durch westliche Staaten (insbesondere im Irakkrieg), sondern auch einer Politik, die von Werten redete, aber oft genug den Interessen der Gas- und Ölindustrie sowie der Exporteure den Vorrang einräumte.

    Die russische Außenpolitik ist anti-liberal, aber nicht ideologisch-fundamentalistisch wie zu Sowjetzeiten. Kontinuitäten sind gleichwohl vielfältig: Dazu gehört etwa die Instrumentalisierung der Außenpolitik für innenpolitische Zwecke, die Fixierung auf das Feindbild USA und auf (vermeintliche) Einmischung der NATO-Länder in innere Angelegenheiten, der Nahe Osten als Einflusssphäre, die Gegnerschaft zu demokratischen Gesellschaften, die Begrenzung der Souveränität von „Verbündeten“ wie Belarus und das Schmieden von Allianzen mit den Gegnern der USA. 
    Dem Kreml geht es um exklusive Einflusszonen und um die Einhegung der NATO. Russland will einen „Cordon sanitaire“, eine Pufferzone. Dass frühere Vasallen aus dem Warschauer Vertrag zur NATO übergelaufen sind, dürften russische Sicherheitspolitiker als anhaltende Schmach empfinden. Die Vorstellung einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO dürfte einigen Silowiki noch gruseliger erscheinen als eine Destabilisierung nach dem Muster der Perestroika. 

    7. Die Sicherheitsstrukturen, allen voran der FSB, sind eine zentrale Stütze der Macht für Präsident Putin. Wie fest sind diese Eliten der Sicherheitsapparate heute verankert? Und wie wirkt sich das politisch beziehungsweise gesellschaftlich aus? 

    In vielen postsozialistischen Staaten hat es eine Säuberung, das heißt Entlassung von führenden Vertretern der Sicherheitsapparate oder zumindest eine normative Abkehr von den sozialistischen Repressionsorganen gegeben. In Russland jedoch ist dies sowohl personell, institutionell als auch vergangenheitspolitisch ausgeblieben. Vom KGB gibt es eine ungebrochene Kontinuitätslinie zum heutigen FSB. Die Silowiki und die Heerscharen an mittleren und höheren Staatsbediensteten sind die entscheidenden Träger des Systems Putin und der im Land verschärften Repression. Namhafte Kritiker des Präsidenten wurden am Anfang der Putin-Ära ins Exil getrieben (Beresowski 2000, Gussinski 2000), dann ins Gefängnis gesteckt (Chodorkowski 2003), der Föderalismus wurde umgehend abgeschafft, es folgten Morde oder versuchte Morde (Politkowskaja 2006, Litwinenko 2006, Estemirowa 2009, Nemzow 2015, Skripal 2018, Khangoshvili 2019, Nawalny 2020). Die politischen Morde sind teilweise von Schergen des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow ausgeführt worden, die formal jedoch dem russischen Innenministerium unterstehen. 
    Bei keinem dieser Morde wurde der ultimative Auftraggeber dingfest gemacht. Ob die Spur zu Putin führt, ob es eine Generalermächtigung gibt, unliebsame Opponenten umzubringen, oder ob die Sicherheitsorgane eigenmächtig handeln, wird erst durch Historiker entziffert werden können. Aber es ist das System, das politische Morde ermöglicht, Gelegenheiten schafft und stets eine rechtliche Ahndung hintertreibt. Das Erbe der Sowjetunion besteht dabei einerseits in der überproportionalen Rolle der Sicherheitsapparate im politischen System. Andererseits ist die zivile Kontrolle, die früher von der KPdSU wahrgenommen wurde, heute schwächer. Anders gesagt: Früher waren die Sicherheitsapparate ein Staat im Staat, heute sind sie der Staat. Eine Stalinisierung des politischen Systems unter der Einwirkung des Krieges ist wahrscheinlich: Die Sicherheitsapparate werden unter Druck gesetzt zu liefern, was der Diktator Putin von ihnen verlangt. Da dies unmöglich ist, werden voraussichtlich immer mehr Führungsoffiziere als Schuldige geopfert – oder abtrünnig werden. 

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autor: Andreas Heinemann-Grüder
    Veröffentlicht am 05.04.2022

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    Straßen voller Leichen, Folterspuren, gefesselte Hände, Schüsse in den Hinterkopf – die Bilder aus der ukrainischen Stadt Butscha lösen weltweit Entsetzen aus: Wie kann so etwas überhaupt sein, im 21. Jahrhundert? 

    Mit der Rückeroberung der Stadt bei Kyjiw bot sich den ukrainischen Soldaten ein Bild des Schreckens: Es gibt erdrückende Hinweise, dass die russische Armee ein grausames Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hat. Zahlreiche ukrainische Politiker sprechen von Völkermord, auch einzelne Politiker im Westen sehen dafür handfeste Anzeichen.

    Russland weist jede Verantwortung für das Massaker von sich: Die Bilder, so heißt es aus dem Verteidigungsministerium, seien eine weitere „ukrainische Provokation“. Für viele unabhängige Stimmen aus Russland fügt sich das Blutbad jedoch ins große Bild: Folter, Vergewaltigungen, Morde – all das sei etwa in russischen Gefängnissen schon seit geraumer Zeit alltäglich. Insgesamt, so der Politologe Sergej Medwedew, sei die Kultur der Gewalt und Straflosigkeit eine gesellschaftliche Norm in Russland. Auch für den Soziologen Grigori Judin sind die Gräueltaten in Butscha mehr als Kriegsexzesse. Das erklärt er in einem Twitter-Thread, den dekoder ins Deutsche übersetzt hat.

    Leider bin ich von den Gräueltaten im besetzten Butscha nicht überrascht. Die Menschen unterschätzen das Narrativ, das in Russland aufgebaut worden ist, um den Krieg zu rechtfertigen. Für die meisten Beobachter klingt das so jenseitig, dass sie es allzu leicht abtun. Aber es funktioniert.

    Das Narrativ, das Putin von den ersten Kriegstagen an angelegt hat, dreht sich um die „Entnazifizierung” der Ukraine. Der Nazismus gilt in Russland (wie überall anderswo) als das absolut Böse. Es gilt jedoch als Böses von außen – Russland ist per Definition frei vom Nazismus (wir haben ihn besiegt!).

    Daraus folgt, dass der Nazismus ein externer Feind ist, den es um jeden Preis zu besiegen gilt. Die anfängliche Sichtweise war, dass Nazis in der Ukraine die Macht ergriffen haben, während die Durchschnittsukrainer einfach Russen sind – bloß mit dummen Ideen bezüglich ihrer Identität und einer albernen Sprache.

    Das hieß, dass diese Entnazifizierung durch einen Regimewechsel zu bewerkstelligen wäre und die Ukrainer befreit werden müssten. Offensichtlich ist dieses Konzept gescheitert, als die Ukrainer begannen, mutig Widerstand zu leisten. Eine ganz natürliche Schlussfolgerung ist, dass die Ukrainer offenbar schwer vom Nazismus infiziert sind.

    Also heißt Befreiung Säuberung. Dazu habe ich mich ausführlicher geäußert.

    Und genau in dieser Art haben sich die Äußerungen offizieller Redner in letzter Zeit geändert. So sagt Margarita Simonjan zum Beispiel: Wir haben unterschätzt, wie tief der Nazismus die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hat. Nun bedeutet Befreiung Säuberung.

    Das wirkt sich auf die Handlungsweisen der Bodentruppen aus. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein russischer Soldat, der eine ukrainische Stadt besetzt (ich weiß, das ist ein unangenehmes Gedankenexperiment). Welche Einteilungen und Unterscheidungen würden Sie im Umgang mit der lokalen Bevölkerung vornehmen?

    Ihre Grundannahme ist, dass dieses Land von Nazis besetzt ist und dass Sie hier sind, um es zu befreien. Natürlich leisten die Nazis Widerstand; die, die Widerstand leisten, sind Nazis. Ihre primäre Aufgabe ist es, die Nazis von den armen Ukrainern zu separieren und die Stadt vom Nazismus zu säubern.

    Deswegen sehen wir in der Nähe von Mariupol schon Filtrationslager im Einsatz. Der Filtrationsprozess wird laut Berichten an vielen Orten innerhalb Russlands vollzogen. Das wiederum bedeutet, dass das ganze Konzept der Filtration vorgeplant war. Noch einmal: Das Narrativ der Reinheit ist an dieser Stelle zentral.

    Und deswegen habe ich ernsthafte Zweifel, dass diese Gräueltaten einfach nur Kriegsexzesse sind. Jeder Krieg befördert das Schlimmste im Menschen zu Tage, speziell wenn die Befehlshaber skrupellose Übeltäter sind. Die systematischen und konsequenten Handlungen sind jedoch mehr der Art und Weise geschuldet, wie der Krieg gerechtfertigt wird, als dass sie auf Affekte wie Rache zurückzuführen sind.

    Wenn Sie den Eindruck haben, diese Reinheitslogik erinnere Sie an Nazi-Gedankengut, dann ist da meiner Meinung nach viel Wahres dran. Ich werde wahrscheinlich einen weiteren Thread dazu schreiben, warum Russland wahrscheinlich nicht immun ist gegen Nazismus.

    Ich fürchte, das Schlimmste steht noch bevor. Ich hoffe, ich irre mich.

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