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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #8

    Bilder vom Krieg #8

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Anastasia Taylor-Lind

    Anna Dedowa, 75, am Grab ihres Sohnes, der sich versehentlich mit einer Handgranate getötet hat, die er in der Nähe seines Hauses in Optyne, einem Dorf in der Region Donezk, gefunden hatte. Dieser Besuch am Grab im Jahr 2019, der von einem dort ansässigen Aktivisten organisiert wurde, ist ein seltenes Ereignis für sie. Denn der Friedhof liegt zwischen Awdijiwka und Donezk und ist wegen der Kämpfe und Landminen kaum zugänglich. Opytne, Juli 2019 / Foto © Anastasia Taylor-Lind

    Anastasia Taylor-Lind
    „Diese Menschen haben auch ein Leben jenseits des Krieges“

    [bilingbox]Ich arbeite jetzt seit acht Jahren im Donbass, immer zusammen mit der Autorin Alisa Sopova, die aus der Stadt Donezk stammt. Wir haben uns 2014 in Swjatohirsk kennengelernt, als Alisa dort als Übersetzerin arbeitete. Mittlerweile lebt sie in den USA und promoviert in Anthropologie an der Princeton Universität.
    Ich bin die Autorin dieser Fotografie und im Grunde ist Alisa die Co-Autorin, da wir unsere Berichterstattung für das Projekt 5K from the frontline immer zusammen gemacht haben. Derzeit ist es im Imperial War Museum in Manchester ausgestellt und wird im Februar 2023 nach London wandern.

    Die letzten fünf Jahre haben wir immer wieder dieselben Familien und Gemeinden besucht, die manchmal nur 30 Meter von militärischen Stellungen entfernt lebten. Die meisten Menschen, die wir kennen, sind inzwischen von zu Hause geflohen und zu Binnenflüchtlingen geworden. Einige Männer sind zur Armee gegangen.

    Das Bild von Anna ist aus dem Jahr 2019. Es war ihr erster Besuch am Grab ihres Sohnes. Der Sohn hatte eine Granate in seinem Garten gefunden, sie aufgehoben und wurde getötet. Der Friedhof selbst liegt inmitten eines Minenfelds. Tatsächlich gelangt man nur über eine schlammige Straße und dann über ein schwer vermintes Feld nach Opytne.

    Ich habe mehrere Menschen fotografiert, die gekommen waren, um die Gräber zu besuchen und zu pflegen. Wir haben uns dann entschieden, uns auf die Geschichte von Anna zu konzentrieren. Typischerweise fängt Alisa an, eine Geschichte zu schreiben, dann zeige ich ihr die Fotos und dann kombinieren wir die Wörter und Fotos und publizieren sie in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #5Kfromthefrontline.

    Wie immer bei kreativer Zusammenarbeit, ist die Urheberschaft von Text und Fotos eher fluide. Außerdem haben wir zwei Perspektiven: die Innensicht und die Außensicht.

    Ich lebe in einem Land, wo meine Familie seit einer Generation nicht direkt betroffen ist von Krieg. Mich interessiert sehr, wie wir Geschichten vom Krieg erzählen können auf eine Art, die Menschen bewegt, die das nie erlebt haben: Wie können wir Menschen helfen sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Krieg heute hierher kommen würde, auf die Straße draußen vor meinem Fenster? Welche Dinge würde ich mitnehmen, wie würde auch mein Hund ins Auto passen? Zum Beispiel.

    Alisa dagegen kommt aus der Stadt Donezk, musste 2014 zu Beginn des Konflikts fliehen und lebt jetzt in einem anderen Land. Aus dieser Perspektive, treibt sie – und im Ergebnis auch mich – die Frage um, wie wir diese Menschen respektvoll und nicht als andersartig zeigen können? Sobald der Krieg irgendwo hinkommt, wird das Leben der Menschen ziemlich schnell unangenehm und hässlich, doch das heißt nicht, dass wir die Menschen so zeigen müssen. Sie sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern auch Menschen mit einer Biographie und einem Leben jenseits des Krieges.

    Auch hinsichtlich unseres Publikums gibt es Dualität: Diese Bilder sollen von  Menschen betrachtet werden, die nicht wissen, was und wie Krieg ist. Aber wir wollen auch, dass die Menschen auf unseren Fotos diese Bilder sehen und sich darin wiedererkennen. 

    Fotografen können keine Kriege beenden. Aber natürlich spielen sie eine Rolle darin, besonders die Fotojournalisten. Letzten Monat war ich in einem Pressebüro in Charkiw und einer der Pressereferenten sagte mir, dass seit der russischen Invasion mehr als 7000 Presseakkreditierungen ausgegeben worden seien. Das ist nicht genug. Wir brauchen mehr als 7000 Journalisten, die die Geschichten erzählen, was in dem Land geschieht. So funktioniert das natürlich nicht – aber wenn man jede kleine Siedlung, die angegriffen wurde, nehmen und einen Fotografen, einen Schriftsteller und einen Fernsehjournalisten dorthin schicken würde, hätten wir nicht genug Journalisten. Es gibt so viele wichtige Geschichten zu dokumentieren – für die Nachrichten und als historische Dokumente.~~~„These are people with lives that extend beyond the events of war“

    I’ve been working in Donbas for eight years, always together with writer Alisa Sopova, who is herself from Donetsk city. We met in 2014 in Sviatohirsk back when Alisa was working as a translator. She now lives in the United States where she is finishing an anthropology PHD at Princeton University.

    I am the author of this photograph and Alisa is the co-author since we made all our reporting together for this project 5K from the frontline. It is currently exhibited at the Imperial War Museum in Manchester and touring to London in February 2023.
    Over the last five years we visited the same families and communities who lived sometimes as close as 50 meters from military positions. The largest battle in Europe since WW2 is currently taking place in Donbas. Most of the people we know have fled their homes and become IDPs. Some men have joined the military.  
    This picture of Anna is from 2019. It was the first time she’s visited her son’s grave. Her son found a grenade in his garden, picked it up, and was killed. And the graveyard itself lies in a minefield. In fact, you had to drive along a mud track, through a field that is heavily mined, in order to get to Opytne itself. 

    I photographed different people visiting and cleaning the graves, and we decided to focus on the story of Anna. Typically Alisa starts writing stories and then I show her the photographs and we match up these words and photographs to publish on social media with the hashtag #5Kfromthefrontline.

    As with all creative collaborations, in terms of authorship over the text and the photographs, there is some fluidity. And we have two perspectives: the insider and the outsider. 
    I live in a country where war hasn’t directly affected my family for one generation. And I am very interested in how we can tell war stories in a way that is engaging for people who’ve never experienced it. How we can help people imagine, what it might be like if war arrived here today, on the street outside my window? What of my things would I pick up and carry with me, how would I get the dog in the car too? for example.

    Whereas Alisa is from Donetsk city and had to flee at the start of the conflict in 2014 and now lives in another country. From that perspective, what she thinks very carefully about – and as a result, I do too – is how do we represent these people in a way that’s respectful and not othering? As soon as war arrives in a place, people’s lives become miserable and ugly pretty quickly, but that doesn’t mean we have to depict individuals in that way. They are not only victims of war, but also a person with a biography and a life that extends beyond the events of that war. 
    There’s also duality in terms of our audience: We want people who don’t know what war is like to see the pictures, but we also want the people in our photographs to see them and to recognize themselves in these images.

    Photographers can’t stop wars. But they certainly have a part to play in them, especially photojournalism. I was at a press office in Kharkiv last month and one of the press officers told me there have been more than 7000 journalist accreditations given out since the full scale Russian invasion. It’s not enough. We need more than 7000 journalists to tell the stories of what is happening in the country. I mean, of course, it doesn’t work like this but if you took every small settlement that had been attacked and assigned one photographer and one writer and one TV journalist to go there, we don’t have enough journalists. There are so many important stories to record – for the news and as historical documents.[/bilingbox]

    ANASTASIA TAYLOR-LIND

    ist eine britisch-schwedische Fotojournalistin, die über Frauen, Krieg und Gewalt berichtet. Sie fotografiert für das National Geographic Magazine, sie ist TED Fellow und Harvard Nieman Fellow 2016. Anastasia schreibt Gedichte über aktuelle Konflikte und über Erfahrungen, die sie nicht fotografieren kann. 

    BÜCHER UND AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
    UPCOMING  – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, London (ab 07.02.2023)
    ONGOING – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, Manchester (14.10.22-02.01.23)
    2022 – One Language [Gedichtband]
    2014 – MAIDAN – Portraits from the Black Square 

    PUBLIKATIONEN u.a. in National Geographic Magazine, Time, The New Yorker, The Wall Street Journal, The Guardian, Die Zeit.


    Foto: Anastasia Taylor-Lind
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Textprotokoll: dekoder-Redaktion
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf/dekoder
    Veröffentlicht am 20.10.2022

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  • „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    Bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine galt Russland Teilen der Linken weltweit als globale Friedensmacht. Putin war in dieser Erzählung eine Art Fahnenträger des Kampfs gegen den US-amerikanischen Imperialismus und die NATO. Mit einem starken Staat und angeblich starken Gewerkschaftsbewegungen habe Russland demnach außerdem gegen den neoliberalen Mainstream und die Vormacht der globalen Konzerne gekämpft. Nicht selten wurde Russland so als ein Gegenentwurf zur imperialistischen, militaristischen und kapitalistischen Grundordnung des Westens verstanden.

    Mit dem 24. Februar 2022 scheint sich unter vielen linken Bewegungen weltweit ein Umdenken abzuzeichnen. Auch die deutsche Partei Die Linke hat den russischen Angriff auf die Ukraine „aufs Schärfste“ verurteilt. An dem klaren Nein zu Waffenlieferungen wird gerüttelt. Gleichzeitig fordern Bundestagsabgeordnete wie Klaus Ernst das Ende der Sanktionen, Sahra Wagenknecht wittert einen „beispiellosen Wirtschaftskrieg“ gegen Russland, während andere zu Verhandlungen aufrufen – ohne jedoch an Russland zu appellieren, seine Truppen zurückzuziehen.

    Viele Linke weltweit würden immer noch einem verzerrten Russland-Bild anhängen, kritisiert der ukrainische Sozialist Taras Bilous. Für den Territorialverteidiger ist klar, dass man dabei den „Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten“ sollte, dass die Gründe dahinter komplexer sind. 

    Im Interview mit Meduza kritisiert Bilous Klischees über Russland und die Ukraine im Westen und ruft zu einem Kampf für eine „Demokratisierung der Weltordnung“ auf.

    In Russland weiß man ziemlich wenig darüber, wie die ukrainische Politik aufgebaut ist, normalerweise wird das Thema nur im Kontext „prorussisch – prowestlich“ diskutiert. Erklären Sie uns bitte, welchen Platz Sie und Sozialny Ruch [dt. „Soziale Bewegung“] darin einnehmen.

    Hier muss man zunächst sagen, dass es in der Ukraine genau wie in Russland eine systemische und eine nicht-systemische Politik gibt.

    Da ist einerseits die Politik, die im Parlament und im Fernsehen stattfindet – das sind Parteien, die von Oligarchen gesponsert werden. Dann gab es – und gibt es teilweise noch – die alten Linksparteien wie die KPU. Ob man sie links nennt oder nicht, ist ein Thema für sich, aber sie hatten in vergangenen Jahren überhaupt keinen Einfluss mehr. Sie haben ihre Wählerschaft schon vor dem Maidan und den Gesetzen zur Entkommunisierung verloren, und als sie dann noch die repressiven Gesetze von Janukowitsch unterstützten, wanderten auch die Mitglieder massenweise ab.

    Eine Ebene darunter gibt es die Zivilgesellschaft. Auch da gibt es Parteien, aber die haben sich von unten gebildet und schaffen es normalerweise nicht ins Parlament.

    Der realistischste Weg für Aktivisten, ins Parlament zu kommen, ist über Listen von Politikern wie Swjatoslaw Wakartschuk. Wir haben versucht, unsere Partei registrieren zu lassen, aber es stellte sich heraus, dass das mit unseren bürokratischen und finanziellen Ressourcen zu schwierig ist. Andererseits schaffen es die Parteien, die im Parlament sitzen, in der Regel nicht, die Leute auf der Straße zu mobilisieren. Wie zum Beispiel die Partei Batkiwschtschina von Julia Timoschenko, die einfach Fahnenträger engagierte und bezahlte Demos veranstaltete. Genau wie die Partei der Regionen und die ganzen anderen. Aktivistische Organisationen kommen zwar nicht in die Regierung, aber dafür sind sie imstande, von unten Druck auf sie auszuüben.

    Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt

    Die russischen Polittechnologen, die die Wahlen in der Ukraine vor Ort beobachtet haben, dachten, sie hätten unsere Politik verstanden – zumindest die, die vor Selensky da war; seit seiner Präsidentschaft hat sich vieles verändert. Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt, darunter das der Freiwilligen-Organisationen, die seit Beginn des Krieges [2014] gegründet wurden. Ja, ein Teil von ihnen ging aus bereits bestehenden zivilgesellschaftlichen Institutionen hervor, aber viele wurden quasi von Null auf von einfachen Menschen und regionalen Leadern aufgebaut, die davor überhaupt nichts mit Politik zu tun hatten. Das haben die russischen Polittechnologen nicht kapiert.

    Was genau machen Sie, oder besser gesagt, was haben Sie bis zum Krieg gemacht?

    Mein Linksaktivismus hat auf dem Maidan begonnen: Zwischen 2014 und 2019 war ich im Rahmen der Projekte Neuer Donbass und Gemeinsam bauen wir die Ukraine auf sowie mit anderen Freiwilligeninitiativen im Donbass unterwegs, beteiligte mich am Wiederaufbau von Schulen und anderen Gebäuden, die durch die Kampfhandlungen zerstört wurden, arbeitete mit Kindern. Und weil sich meine Tätigkeit mehr und mehr vom Aktivismus auf den redaktionellen Bereich verlagerte, habe ich angefangen, Artikel zum Thema Donbass zu schreiben. Zum Beispiel über den Luftangriff auf das regionale Verwaltungsgebäude der Oblast Luhansk – ein Thema, das in der ukrainischen Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert wird; offiziell wurde dementiert, dass der Angriff von ukrainischer Seite erfolgt sein könnte. Dann gab es einen weiteren [Angriff] auf die Ortschaft Stanyzja Luhanska (bei dem zwölf Zivilisten getötet wurden – Anm. Meduza), für die in all den Jahren niemand die Verantwortung übernommen hat. Ich habe viel zum Thema der zivilen Opfer des Kriegs im Donbass auf beiden Seiten geschrieben.

    Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet

    Aber alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht. Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet. Unter den heuchlerischen Rufen vom „Genozid an der Donbass-Bevölkerung“, mit denen der Einmarsch gerechtfertigt wurde, vernichtete die russische Armee Sewerodonezk, Popasna, Mariupol und all die anderen Städte im Donbass. Sie warfen den Ukrainern vor, die Minsker Vereinbarungen nicht zu erfüllen, und schwiegen über die eigenen Verstöße. Jetzt sagen sie, der Westen sei bereit, „bis zum letzten Ukrainer“ zu kämpfen, und mobilisieren selbst zwangsweise die Männer in der LNR/DNR, um sie als Kanonenfutter an die Front zu schicken.

    Alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht

    Was unsere Organisation Sozialny Ruch [kurz: Sozruch – dek] angeht, so beschäftigen wir uns im weitesten Sinn mit sozialen Fragen. Der Leiter der Organisation Witali Dudin ist Jurist für Arbeitsrecht. Manche unserer Aktivisten arbeiten in Gewerkschaften. Ein paar Monate vor dem Einmarsch haben wir beispielsweise in Kyjiw eine Demo gegen die Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr veranstaltet. Wenn wir nicht selbst etwas organisieren, arbeiten wir mit anderen Gruppierungen zusammen – wir unterstützen zum Beispiel Umwelt- oder feministische Initiativen und nehmen an den Märschen zum 8. März teil. Außerdem haben wir in Kyjiw Gedenkveranstaltungen für Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa durchgeführt.

    Auf einer dieser Veranstaltungen sind Sie mit einem Plakat erschienen, auf dem stand: „Löst das Asow-Regiment auf“.

    Daran erinnern sich die Leute bis heute. Ehrlich gesagt, wenn ich gewusst hätte, was dieses Jahr passiert, dann ich bin mir nicht sicher, ob ich das gemacht hätte. Das Asow-Regiment wurde 2014 von Leuten gegründet, die zumindest in der Vergangenheit neonazistische Ansichten vertreten hatten. Aber schon 2014 waren bei weitem nicht alle Asow-Kämpfer Neonazis, um so weniger in den Jahren danach, als die Führung gewechselt hatte und sich viele junge Leute einfach deshalb anschlossen, weil das eine der einsatzfähigsten Einheiten in der Ukraine war. Die russische Propaganda kann heute so viele Bilder von einzelnen Kämpfern mit [neonazistischen] Tattoos zeigen, wie sie will, aber zum Regiment gehören über tausend Soldaten, darunter sind Menschen mit ganz unterschiedlichen Ansichten.

    Was genau sind die Stereotype über die Ukraine, gegen die Sie ankämpfen?

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen – ungefähr von „alles furchtbar“ bis „finden wir ganz gut“. Es gibt Stalinisten – über die braucht man nicht zu reden, da ist alles klar. Obwohl es auch da ganz vernünftige gibt. Mich hat eine stalinistische Partei in Indien überrascht, die die russische Aggression gegen die Ukraine mithilfe von Stalin-Zitaten kritisiert hat.

    Aber für mich sind die Fälle wichtiger, in denen Menschen mit vermeintlich progressiven Ansichten, von denen man eigentlich Unterstützung oder wenigstens eine adäquate Position erwarten würde … zum Beispiel [Noam] Chomsky oder [Jeremy] Corbyn … Eine offene Unterstützung Russlands ist aber eine Randerscheinung, und wenn, dann findet man sie eher in Lateinamerika als im Westen. Im Westen trifft man öfter auf eine quasi neutrale Position – wir verurteilen den Krieg als solches, aber auch nicht mehr.

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen

    Das ist zum Beispiel die DiEM25, eine Organisation, die von Yanis Varoufakis ins Leben gerufen wurde. Oder die Progressive Internationale, die auf ihre Initiative hin gemeinsam mit einzelnen Mitgliedern des Teams von Bernie Sanders gegründet wurde. Als der Krieg losging, erklärten die polnische Linkspartei Razem [dt. „Gemeinsam“] und unsere Zeitschrift den Austritt aus dieser Vereinigung. Deren Position ist nämlich: Krieg ist sehr schlecht, wir rufen zu Verhandlungen und einem schnellstmöglichen Ende der Kampfhandlungen auf.

    Das nächste Level [linker Positionen] ist es, die russische Aggression offen zu verurteilen und einen Rückzug der Truppen bis an die Grenzen vor dem 24. Februar zu fordern, aber keine Waffenlieferungen [an die Ukraine] zu unterstützen. Das ist ja schön und gut, aber – was dann? Mit welchen Mitteln will man [diese Ziele] erreichen? Das ist die Position von Die Linke, aber die schwankt – [die Jugendorganisation] unterstützt die Waffenlieferungen bereits, obwohl die offizielle Position der Partei immer noch dagegen ist.

    Überhaupt sind die Stimmungen im linken Milieu stark abhängig vom jeweiligen Land. Die skandinavischen Linken haben sehr schnell die richtige Position eingenommen – sowohl die Sozialdemokraten als auch die Radikalen. Sie verhalten sich viel adäquater als die südeuropäischen Linken – Griechenland und Italien sind da ganz schlimm. Im deutschsprachigen Raum macht sich der Generationenkonflikt stark bemerkbar – wie man am Beispiel der Linkspartei sieht, in der die Jugend für die Waffenlieferungen ist; nicht ausnahmslos natürlich, aber bei der älteren Generation sieht es damit viel schlechter aus. In den englischsprachigen Ländern gibt es einen solchen Riss eher nicht.

    Die Stimmungen im linken Milieu sind stark abhängig vom jeweiligen Land

    Was die Stereotype angeht, zum Beispiel, dass der Maidan ein von den USA unterstützter rechter Putsch war, beinahe ein faschistischer Staatsstreich und dergleichen. Da fragt man sich, ob diese Leute überhaupt ein adäquates Bild von der Ukraine und von Russland haben. Manchen ist vielleicht klar, dass Russland ein kapitalistischer Staat mit einem reaktionären Regime ist, sie hegen aber unter dem Einfluss von Russia Today gewisse Illusionen, dass es in Russland angeblich eine starke Gewerkschaftsbewegung gebe. Na ja, und so Sachen halt.  

    In Diskussionen mit westlichen Linken höre ich oft das Argument, dass die NATO während des Kalten Krieges die Ultrarechten unterstützt und benutzt hätte. Aber der Kalte Krieg ist seit 30 Jahren vorbei, und gerade das Beispiel, dass sich die USA in Syrien mit den sozialistischen syrischen Kurden verbündet haben und nicht mit irgendwelchen anderen Kräften, zeigt meiner Meinung nach, wie weit sich die US-amerikanische Außenpolitik mittlerweile von der Logik des Kalten Kriegs entfernt hat. Gleichzeitig ignorieren diese Linken die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat.   

    Dann kommen sie noch auf solche Ideen, dass das ukrainische Regime die Linken unterdrücken würde. Das ist ein Problem für sich – den westlichen Linken zu erklären, dass es, wenn sie Parteinamen wie Progressive Sozialistische Partei der Ukraine lesen, sich um etwas ganz anderes handelt, als sie erwarten würden. Diese Natalja Witrenko (Parteichefin der Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine) hat mit Alexander Dugin zusammengearbeitet, die beiden führten eine offen rassistische Wahlkampagne. Jedenfalls gingen alle Parteien mit vermeintlich linken Namen, die verboten wurden, in diese Richtung.  

    Diese Linken ignorieren die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat

    Die westlichen Linken kritisieren an der Ukraine zum Beispiel oft den politischen Einfluss der Oligarchen. Aber was für praktische Schlüsse ziehen sie daraus? Ich weiß selbst sehr gut, dass in der Ukraine eine schlechte Regierung mit einer neoliberalen Politik an der Macht ist. Wir haben vor dem Krieg dagegen gekämpft, wir müssen auch jetzt dagegen kämpfen – etwa, wenn die Arbeitsrechte beschnitten werden sollen. Mir sind viele Defizite der ukrainischen Gesellschaft, der Staatsmacht und der Politik bewusst, aber das heißt ja nicht, dass man die Verteidigung gegen die russische Aggression nicht unterstützen soll. 

    Aber woher kommen diese Klischees? Ist das alles der Einfluss der russischen Propaganda, oder gibt es noch weitere Faktoren? Russia Today hat sich ja bekanntlich gezielt auf diese Gruppe konzentriert – viele ihrer Frontmänner waren linke Aktivisten, sie hatten etliche Medienprojekte wie Podcasts, die sich konkret an ein linkes Publikum im Westen richteten. 

    Ich glaube, man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten. Ein markantes Beispiel ist Slavoj Žižek. Bis vor Kurzem schrieb er auf Russia Today Texte über Edward Snowden usw. Nach dem 24. Februar hat er jede Zusammenarbeit mit RT eingestellt und nimmt jetzt durchaus sinnvolle Positionen [bezüglich der Ukraine – Anm. Meduza] ein. 

    Man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten

    Das Schlimmste, was die russische Propaganda anrichtet, ist, dass sie ein verzerrtes Bild der postsowjetischen Realität vermittelt. Dazu haben die westlichen Linken weder eigene Erfahrungen noch Informationsquellen oder ein Verständnis davon, was hier passiert. Und weil sie den Mainstream-Medien nicht vertrauen, landen sie oft bei der russischen Propaganda als Hauptinformationsquelle. 

    Doch die westlichen Linken brauchen kein Russia Today, um den amerikanischen Imperialismus, die Hegemonie, die unipolare Welt und die NATO abzulehnen. Sie haben genug eigene Gründe dafür. Die ältere Generation hat oft schon zur Zeit des Kalten Krieges an den Protesten gegen den Vietnamkrieg oder andere Operationen der USA teilgenommen, die jüngere hat sich angesichts des Irak-Kriegs formiert. Wobei viele die Idee einer multipolaren Welt ganz unkritisch sehen, anstatt sich zu überlegen, wie man die Weltordnung demokratisieren könnte. Für sie wird ihre NATO-Gegnerschaft einfach zu einem Teil ihrer Identität, statt dass sie ein konkretes politisches Problem angehen und im Rahmen einer linken Strategie zu lösen versuchen. Sogar die, die die Ukraine und Waffenlieferungen einhellig unterstützen, unterscheiden sich manchmal nur dadurch, dass sie für die Auflösung unterschiedlicher militärischer Allianzen eintreten, unter anderem der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). 

    Na gut, angenommen, man löst die NATO auf und auch die OVKS, was ist dann eine Alternative in der internationalen Politik und wie verhindert man dann, dass die starken Staaten den schwächeren ihren Willen aufzwingen? Der Sicherheitsgarant der osteuropäischen Staaten ist ihre NATO-Mitgliedschaft, der von Armenien – seine Mitgliedschaft in der OVKS. Ich bin selbst kein Fan der NATO, ich finde, dass Militärbündnisse, in denen imperialistische Staaten dominieren, kein gutes Instrumentarium zur Aufrechterhaltung der weltweiten Sicherheit sind. Aber das heißt nicht, dass die NATO einfach irgendein globales Übel ist.   

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen

    Dahinter steckt meiner Vermutung nach ein Problem mit der geopolitischen Logik. Jemand hat mir zum Beispiel klipp und klar geschrieben, dass wir Russland als Gegengewicht zu den USA brauchen. In dieser Logik der Opposition wird aber eigentlich Putins Regime, solange es besteht, die NATO noch zusätzlich stärken, wie wir an den Folgen der Invasion in der Ukraine sehen. 

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen, und dafür kann man Widersprüche zwischen verschiedenen Ländern nutzen. Aber eine multipolare Welt, in der jeder imperialistische Staat seine Einflusssphäre hat und seine imperialistische Politik fährt – das ist eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Das kann uns wirklich gestohlen bleiben.    

    Eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein

    Diese Denkweise rührt wohl hauptsächlich daher, dass die Linken in den letzten Jahrzehnten auf dem absteigenden Ast waren, was nicht förderlich war für ihr politisches Denken und ihre Strategien. Das merkt man sogar an jenen, die [bezüglich der Ukraine] eine sinnvollere Position einnehmen. Sogar viele unserer Partner im Westen verschwenden mehr Zeit damit, die richtige Haltung zu finden und andere zu überzeugen, als sich zu überlegen, was man praktisch tun könnte, um auf die Situation Einfluss zu nehmen.  

    Zum Beispiel finde ich, eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein. Aber viele wollen das überhaupt nicht diskutieren, weil die UNO eben ein Gremium ist, in dem imperialistische Staaten dominieren. Tja, aber was ist die Alternative?

    Wie schätzen Sie das Potenzial der russischen Antikriegsbewegung ein? 

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann. Aber dann haben sie gesehen, dass stattdessen manche anfangen, gesellschaftliche Tendenzen in der Ukraine zu kritisieren – vor etwa einem Monat hat sich ein Schriftsteller darüber beschwert, dass die Ukrainer die russische Kultur abschaffen und Puschkin-Denkmäler stürzen (gemeint ist ein Kommentar von Leonid Bershidski in The Washington Post – Anm. Meduza). Aber mit so etwas sollte sich die russische Intelligenzija heute überhaupt nicht beschäftigen. So werden sie die Situation ganz bestimmt nicht zum Besseren wenden. Wenn sie Zugang zu westlichen Medien haben, sollten sie den lieber dazu nutzen, die westliche Öffentlichkeit von einer mutigeren und entschiedeneren Handlungsweise zu überzeugen. Wenn die Ukrainer Waffen fordern, ist das sowieso klar, was sonst, aber wenn die russische Opposition Waffen fordert, hat das einen ganz anderen Effekt.

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann

    Ich weiß natürlich, dass die politischen Perspektiven von jemandem, der sich so äußert, in Russland gleich Null sind. Doch seit dem 24. Februar hängen sämtliche Perspektiven einer Demokratisierung Russlands von der militärischen Niederlage Russlands ab und davon, wie schnell das passiert. Auch als Deutschland mit den Waffenlieferungen monatelang gezögert hat, waren es die Russen, die das hätten beschleunigen können. Ich weiß, dass es manche versucht haben, aber für die Ukrainer war das zu wenig. Das wäre wirklich notwendiger gewesen als Texte darüber, wie die Ukrainer Puschkin verunglimpfen. Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch. 

    Statt die Folgen des Kriegs zu beklagen, sollten wir lieber versuchen, das Problem an der Wurzel zu packen. Wer ukrainischen Flüchtlingen hilft, ist toll, keine Frage. Das ist eine sehr wichtige Arbeit, die irgendjemand machen muss, und wer sie macht, darf nicht einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt sein. Innerhalb der ganzen russischen Antikriegsbewegung ist für mich der Feministische Antimilitaristische Widerstand das positivste Beispiel, weil sie völlig frei sind von imperialistischen Komplexen aller Art. 

    Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch

    Andererseits verstehe ich, dass ihre Tätigkeit in Russland jetzt nicht sehr effektiv ist. Proteste können in Russland momentan nur die Zahlen der politischen Gefangenen erhöhen, der Nutzen ist überschaubar. Deswegen sollte die Frage, wie man sich unter konkreten Bedingungen verhält, lieber von denen beantwortet werden, die sich unter diesen Bedingungen befinden. Etwas anderes sind die Anarchisten, die auf den Eisenbahnschienen Sabotage betreiben. Ich weiß schon, dass es nicht viele sind, die sich zu solchen Aktionen entschließen, aber bislang ist das eine der besten Methoden, das Ende dieses Kriegs zu beschleunigen, weil das unmittelbar auf Russlands Kampffähigkeiten einwirkt. 

    Mir scheint, viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird. Da geht es gar nicht um Selensky – der ist in diesem Punkt nur Erfüllungsgehilfe des Volkes. Nach dem, was Russland angerichtet hat, ist die absolute Mehrheit der Ukrainer gegen Zugeständnisse. Sie bereiten sich schon auf einen Winter ohne Gas und Strom vor. Dass die Fortsetzung des Krieges weitere Verluste bedeuten wird, ist allen klar, aber die Ukraine ist bereit, bis zum Sieg zu kämpfen.

    Viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird

    Russland kann nicht siegen, und der einzige Grund, warum dieser Krieg weiter andauert, ist, dass da so ein erbärmlicher Zwerg in seinem Bunker nicht zugeben kann, dass er es mit dem Befehl zum Einmarsch in die Ukraine verbockt hat. Wenn Russland verliert, verliert er die Macht, und diesen Moment schiebt er hinaus, indem er sein Land in einen immer größeren Abgrund zieht. Je früher aber Russland seine Niederlage anerkennt und seine Truppen abzieht, desto besser ist es für die Russen.

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  • „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

    Die Aufregung war groß, als Alexander Lukaschenko nach einem neuerlichen Treffen mit Wladimir Putin in Sankt Petersburg ankündigte, einen regionalen Truppenverband zusammen mit dem russischen Militär aufstellen zu wollen. Würde der belarussische Machthaber, nachdem er sich über Monate offensichtlich dem Druck des Kreml entzogen hat, doch eigene Truppen in den Angriffskrieg gegen die Ukraine entsenden? 

    Der belarussische Verteidigungsminister Viktor Chrenin versuchte, den Sorgen und Befürchtungen, gerade von ukrainischer Seite, Wind aus den Segeln zu nehmen. Er sagte: „Wir wollen nicht gegen Litauer kämpfen, oder Polen, oder Ukrainer.“ Allerdings senden die belarussischen Machthaber seit Monaten widersprüchliche Signale, denn Lukaschenko unterstützt den russischen Krieg nicht nur mit seiner aggressiven Rhetorik, die der des Kreml in vielerlei Hinsicht ähnelt, sondern auch, indem Russland das belarussische Territorium bis heute für den Abschuss von Raketen in Richtung Ukraine nutzt.

    Die Ankündigung einer gemeinsamen Truppe hielt Lukaschenko, wie man es von ihm kennt, recht schwammig. Was aber steckt hinter dieser Ankündigung? Wie ist sie zu bewerten? Welche Taktik verfolgt Lukaschenko? Und ist sie gleichzusetzen mit einer Entsendung eigener Truppen in die Ukraine? In einem Telegram-Beitrag gibt der belarussische Politanalyst Wadim Mosheiko Antworten auf diese Fragen.   

    Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff. Die Alarmisten helfen Putin, der mit verschiedenen demonstrativen Aktionen versucht, sein „Das ist kein Bluff“ zu untermauern.

    Die Angriffe auf ukrainische Städte, Wohnhäuser und Infrastruktur mit zivilen Opfern, das ist zwar immer furchtbar, aber auch nicht neu oder überraschend. Das ist eine Taktik, die Russland bereits eingesetzt hat, und die nichts am Verlauf des Krieges geändert hat.

    Lukaschenkos Erklärungen folgten der absolut gleichen Logik. Seine „Aufstellung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands“ sind sehr allgemeine Worte, die letztendlich eine Verlegung unterschiedlicher Kräfte beschreiben, mehr aber auch nicht. Von einem Einmarsch der belarussischen Armee war keine Rede; eine Aufstellung ist kein Angriff.

    Die einzig konkrete Ankündigung (und auch die eine recht mickrige) war das Versprechen, dass „in nächster Zeit“ russische Soldaten in Belarus aufgenommen und dort stationiert werden, „nicht in großer Zahl“, aber auch „nicht nur tausend Mann“. Auch das ist leider nichts Neues: Seit Beginn des Krieges ziehen sowieso russische Militärangehörige nach Belarus, und zwar zu dem Zeitpunkt und in der Stärke, wie es ihnen beliebt, und das Regime Lukaschenko gewährt ihnen dabei logistische Unterstützung. Hier verweise ich erneut auf meine Drei Prinzipien, die Lukaschenkos Verhalten im Krieg beschreiben:

    1) Wenn ein Stillhalten von Lukaschenko ausreicht, damit der Kreml von Belarus aus agieren kann, dann bekommen und machen die Russen, was sie wollen und wann sie es wollen. Um beispielsweise Flugzeuge der russischen Luftwaffe in den belarussischen Luftraum zu lassen, damit sie die Ukraine angreifen, reicht es, wenn Lukaschenko nicht stört. Das Gleiche gilt für die Ankunft russischer Raketenwerfer, mit denen ukrainische Städte beschossen werden. Die werden so oft und zu dem Zeitpunkt eintreffen, wie es Russland beliebt, und so lange, wie Russland über ausreichend Ausrüstung und Munitionsvorräte verfügt. Unabhängig davon, ob sich derzeit solche russische Streitkräfte in Belarus befinden, was Lukaschenko gesagt hat, oder ob Kyjiw das Kabinett Tichanowskaja anerkennen wird und so weiter.

    2) Wenn von Lukaschenko eine technische Unterstützung verlangt wird, die seine politische Position nicht gefährdet, dann wird er dem Kreml bei allem behilflich sein. Das betrifft die gesamte Logistik, angefangen bei den Flughäfen über die Straßen und Gleisverbindungen, die Behandlung verletzter russischer Soldaten in belarussischen Krankenhäusern bis hin zur Reparatur russischen Kriegsgeräts in belarussischen Fabriken und Werkstätten. Für Minsk würde das alles keine größere Schuld und keine zusätzlichen Sanktionen bedeuten, und es würde an der öffentlichen Meinung in Belarus oder der Ukraine nichts Wesentliches ändern. 

    3) Falls von Lukaschenko konkrete Entscheidungen im militärischen Bereich verlangt werden, ohne die die Dinge nicht in Gang kämen, dann würde er sie nicht treffen und nichts würde geschehen. Ohne einen Befehl des Oberkommandos (und des Oberkommandierenden Lukaschenko) werden die Offiziere der belarussischen Streitkräfte nicht dazu übergehen, auf Befehle aus Moskau zu hören und einen Angriff unternehmen. Ohne Lukaschenkos Befehl werden die belarussischen Mehrfachraketenwerfer vom Typ Polones keinen Beschuss der Ukraine beginnen. Und ohne einen Befehl von Lukaschenko wird es keine Mobilmachung geben. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine Eskalation von Seiten Lukaschenkos grundsätzlich ausgeschlossen ist. Doch seine Angst, sich Russland entgegenzustellen ist, gepaart mit seinem Unwillen, noch tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden, wobei er sich die eigene Grube immer tiefer gräbt (indem er die ohnehin überaus hohe Abhängigkeit von Russland weiter vergrößert).

    * * *

    Wenn jetzt irgendwann ein paar Tausend russische Soldaten in Belarus eintreffen sollten, wäre das nichts Gutes. Es wäre aber auch nichts Neues und würde weder am Verlauf des Krieges noch an der Position von Lukaschenko oder Belarus etwas ändern.

    Auf solche Dinge muss natürlich auf diplomatischer Ebene und bei der NATO reagiert werden, es ist ein Schritt in eine schlechte Richtung, der unbedingt zu bedenken ist. Aber die belarussische Armee wird hier und jetzt nicht in den Krieg eintreten, also sind auch panische Rufe wie „Ein Wolf, ein Wolf!“ unangebracht.

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  • „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    An den Grenzübergängen Russlands zu Estland und Lettland bilden sich derzeit lange Schlangen von Flüchtenden, die teilweise tagelang bei Minusgraden ausharren müssen: Es sind ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die aus den von Russland annektierten Gebieten kommen. 
    Meduza hat mit einzelnen von ihnen gesprochen – und auch mit Helferinnen und Helfern, die sich dort inzwischen eingefunden haben. Diese Augenzeugen schildern katastrophale Zustände auf russischer Seite und ein absichtliches Hinauszögern seitens der russischen Grenzbehörden. 

    Wie das litauische Portal Delfi informiert, wurden am Donnerstag, 6. Oktober, einzelne Wohnungen von freiwilligen Helfern in der Oblast Pskow durchsucht. Delfi sowie Spiegel Online berichten außerdem über zahlreiche Zurückweisungen ukrainischer Flüchtlinge aus den von Russland besetzten Gebieten auf estnischer Seite. 


    „Grenzübergang Kunitschina Gora (Bezirk Petschorski, Oblast Pskow). Ukrainer. Vermutlich sind warme Speisen und Getränke willkommen, ebenso Heizöfen.“ / © Telegram-Kanal Pskowskaja Realnost

    „Wir haben begriffen, dass sie uns für Vieh halten“

    Andrej, ukrainischer Flüchtling (Name auf seinen Wunsch geändert)

     

    Es gab für uns nur noch einen Weg [aus den russisch besetzten ukrainischen Gebieten] in die Ukraine – über Wassiliwka in der Oblast Saporishshja. Er wurde kurz vor dem 23. September und den Pseudoreferenden geschlossen. Männer zwischen 18 und 35 Jahren durften nicht mehr [aus der Oblast] ausreisen. Wir vermuteten, dass sie [die russischen Behörden] als nächstes anfangen würden, die Männer einzukassieren [zu mobilisieren], und beschlossen, lieber nicht darauf zu warten. Manche gehen auf die Krim, aber in Russland ist es unheimlich – da gibt es mehr Militärs als normale Menschen.

    Ich bin mit meiner Frau und unserem Kind am 25. September aus dem besetzten Gebiet [in der Oblast Saporishshja] auf die Krim ausgereist, von dort aus sind wir nach Sankt Petersburg und dann weiter nach Iwangorod [an der russisch-estnischen Grenze – dek], wo wir andere ukrainische Flüchtlinge kennengelernt haben.

    Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch

    Am 30. September kamen wir am Grenzübergang an. [In der Schlange] standen ungefähr zehn Leute. Wir dachten: „Super, dann sind wir schnell durch.“ Dann stellte sich heraus, dass die Russen wollten, dass sich die Leute der Reihe nach in Listen eintragen und schon 60 vor uns draufstehen. Die Listen werden eingesammelt, die Personalien in eine Datenbank eingetragen und die Menschen der Reihe nach aufgerufen. Alle diese 60 Menschen waren am 29. September angekommen, nur acht waren an diesem Tag durchgelassen worden. Um es gleich zu sagen: Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch, sechs bis acht Menschen alle vier bis sechs Stunden.

    Selbst wenn du mit einem kleinen Kind anstehst, wirst du nicht vorgelassen. Ich blieb an der Grenze, um Wache zu schieben – die Lage veränderte sich alle 15 Minuten. Meine Frau und unser Kind habe ich ins Hotel geschickt, in dem auch die anderen Familien wohnten.

    Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad

    Russen und Esten passieren die Grenze innerhalb von fünf Minuten. Einer [der Russen] stellte sich in die Schlange mit den Flüchtenden und regte sich auf: „Was ist denn hier los? Muss ich jetzt hier anstehen?“ Er fluchte. Die Grenzbeamtin zeigte auf die Schlange mit den Russen und sagte zu ihm: „Beruhigen Sie sich mal, da stehen die normalen Leute.“ Da begriffen wir, dass sie uns für Vieh halten. Außerdem waren alle, die [im Kontrollpunkt] saßen, durchgefroren und erkältet. Wir wurden [einfach so] nach draußen gejagt, zum Beispiel weil sie um vier oder sechs Uhr morgens die Böden wischen mussten. Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad. Es war kalt. Dazu [kommen] der Stress und die weite Reise.

    Sie nehmen dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm

    Alle mussten durch die Filtration [auf russischer Seite]. Erst saßen wir im Kontrollpunkt und warteten, dass wir drankamen. Sie nahmen uns die Pässe ab, überprüften sie und holten uns [dann], um unsere Fingerabdrücke zu nehmen. Etwa alle vier Stunden wurden sechs bis sieben Leute aus der Liste [für die Filtration] abgeholt, nicht mehr. Um nicht getrennt zu werden, fragten [Familienangehörige, die nicht alle auf einer Liste standen], ob sie zusammen durchgehen können. Die Grenzbeamten verneinten und sagten, sie würden die vorlassen, die alleine anstehen. Also mussten die Familien Leute vorlassen und weitere vier bis sechs Stunden warten, bis sie an die Reihe kamen.

    In der Filtrationszone nehmen sie dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm. Keine Ahnung, wo sie überall reingeguckt haben, vielleicht haben sie es auch verwanzt – es ist alles möglich. Wir bekamen unsere Handys nach 15 bis 30 Minuten wieder, andere erst nach mehreren Stunden.

    Sie sagen Dinge wie: ‚Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?‘

    Nachdem dir das Handy abgenommen wurde, geht es zum Verhör. Sie wollen wissen: „Was ist bei Ihnen los? Wie war Ihr Leben in der Ukraine vor diesen ganzen Ereignissen? Warum wollen Sie nicht in Russland bleiben?“ Sie fragen nach den Eltern, Schwestern, Brüdern. Sagen Dinge wie: „Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?“ Stellen provokante Fragen. Manche wurden gefragt: „Wie finden Sie unseren Präsidenten?“ Naja, diesen Putin. Am Ende wurden wir durchgelassen.

    Die estnische Grenze passierten wir innerhalb von 30 Minuten. Jetzt sind wir in Estland. In den Nachrichten lese ich, dass sie in Melitopol und Cherson schon die Männer einkassieren [im Zuge der Mobilmachung – dek]. In die Ukraine wollen wir erst zurück, wenn es wieder ruhig ist. Meine Familie hat Angst vor den Explosionen, bei uns [in der Stadt] wird täglich geschossen. Im Moment überlegen wir, wohin wir jetzt fahren.


    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    Anna, freiwillige Helferin an den russischen Kontrollpunkten Kunitschina Gora und Schumilkino an der russisch-estnischen Grenze

    Die Menschen, nicht nur Flüchtlinge, fahren zwischen den Grenzübergängen hin und her, stellen sich in verschiedenen Schlangen an und schauen, wo die Umstände besser sind. Es gibt viele Autofahrer und Fußgänger. Ganze Busladungen kommen an. Die Anzahl der Menschen [an den Grenzübergängen] ändert sich ständig, aber es sind immer mindestens 300 bis 400. Es ist ganz unterschiedlich, [allein] in Schumilkino haben wir [einmal] etwa 1000 Menschen gezählt. Manchmal kommt zum Beispiel ein Bus von der Krim, setzt die Leute irgendwo im Nichts [an der Grenze] ab, und sie stellen sich alle auf einmal an.

    Diese Situation hat sich vor anderthalb Wochen angebahnt. Den Notruf bekamen wir am Mittwoch, 28. September: Es wurde von riesigen Schlangen berichtet, vor allem Fußgänger. Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig. Als wir mit der ersten Partie humanitärer Hilfe ankamen, gab es unter den Wartenden bereits Menschen, die seit über drei Tagen anstanden.

    Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig

    Manche kommen auch mit privaten Fuhrunternehmen. Einige mieten für einen Aufpreis einen Bus, der sie an die Grenze bringt und dann zwei Tage dort steht – da drin können sie sich wenigstens aufwärmen und schlafen. Auf der anderen Seite wartet entsprechend ein zweiter [Bus eines europäischen Unternehmens], aber wer [vorher] wie lange [an der Grenze] stehen muss, weiß niemand.

    Seit Donnerstag, 29. September, helfen wir den [Flüchtlingen] aktiv. Wir arbeiten in fünf Richtungen: warmes Essen und Heißgetränke, warme Kleidung, Schutz vor Regen, Übernachtungsmöglichkeit und Evakuierung auf anderem Weg.

    Als klar wurde, dass wir es nicht [allein als Freiwillige] schaffen, gingen wir an die Öffentlichkeit und riefen die Leute zur Mithilfe auf. Jetzt gibt es Menschen, die sich organisieren und [Lebensmittel an die Grenze] bringen. Viele von ihnen helfen schon lange, aber plötzlich waren viel mehr Ressourcen nötig als früher.

    Vor Müdigkeit und Kälte sind die Kinder in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber. Die Freiwilligen und andere Einwohner [der umliegenden Städte] nehmen die Menschen bei sich auf, damit sie sich aufwärmen können, in erster Linie Frauen mit Kindern. Aber auch wenn jemand anderes um Hilfe bittet, versucht man ihm zu helfen. Manche haben Angst, zu uns nach Hause zu fahren, um dort zu übernachten, aber dann beruhigen sie die Leute, die schon bei uns waren oder ihre Angehörigen mitgeschickt haben.

    Die Kinder sind in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber

    Ich habe das Gefühl, dass die [städtischen und regionalen] Behörden nicht wollen, dass die einfachen Bewohner zu viel von den Ereignissen mitbekommen. Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden. Es handelte sich um ältere Menschen. Eine Frau starb in Petschory [Oblast Pskow, in der Nähe der estnischen Grenze – dek], den Tod einer anderen Frau meldete ein Mann aus der Schlange in Ubylinka [an der russisch-lettischen Grenze – dek]. Wo der dritte Fall war, weiß ich nicht mehr. Ein anderer Mann erlitt einen epileptischen Anfall und wurde mit dem Krankenwagen geholt. Und das sind nur die Fälle, von denen wir wissen.    

    Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden

    Viele [Flüchtende aus der Ukraine] bedanken sich und sind verwundert, dass es in Russland Freiwillige gibt. Trotz der vielen Arbeit unterstützen wir uns gegenseitig. Wir umarmen uns oft. Wenn sie weinen, muss ich auch weinen. Die Möglichkeit, ihnen zu helfen, ist für mich das ganze halbe Jahr schon eine echte Rettung. Jetzt ist der Strom der Menschen dünner geworden und die Lage hat sich etwas stabilisiert. 

    Sehr oft arbeiten die Flüchtenden, denen wir hier helfen, später als Freiwillige, wenn sie auf der anderen Seite der Grenze sind. Angehörige von Leuten, die es herausgeschafft haben, fragen uns, wie sie für uns Geld spenden oder sonst helfen können. Es gibt Menschen, die nie gedacht hätten, dass jemand einen Unbekannten ins Haus lassen könnte, um zu helfen.

    Das ist ein Ozean aus Wahnsinn, in dem die Menschen sich verzweifelt abstrampeln. Plötzlich findet einer jemandes Hand und hält sie. Alle klammern sich aneinander und es bildet sich ein stabiles Floß. Dadurch helfen die Menschen, das Menschliche zu bewahren und sich im Kampf mit den Schrecken des Krieges über Wasser zu halten. Leider ist der Preis, der für eine solche Entwicklung und ein solches gegenseitiges Verständnis, für die Idee von Freiwilligenarbeit und gegenseitiger Hilfe gezahlt werden musste, viel zu hoch.


    „Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann“


    Alina, Flüchtende. Aus dem von Russland besetzten Cherson hat sie ihr Weg über die Krim nach Sankt Petersburg geführt. Sie hat die russisch-estnische Grenze bei Iwangorod überquert.

    Wir [meine Familie und ich] konnten bis zuletzt nicht weg. Alle dachten, dass sich etwas ändern würde. Alle sagten mir: „Fahr doch, was sitzt du hier noch rum?!“. Wir konnten uns nicht durchringen. Das Entscheidende war dann das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig. Uns war klar: Wenn das Referendum stattfindet und so abläuft, wie es die andere Seite [Russland] will, dann wird hierher [nach Cherson] keiner [von uns] zurückkehren.

    Das Entscheidende war das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig

    [An der russisch-estnischen Grenze] versuchten wir herauszufinden, wer der letzte [in der Schlange] ist. Als Antwort wurden wir in eine Liste eingetragen. Dann fragten wir, wie viele abgefertigt werden. Sie sagten, dass heute bisher nur zwei durchgelassen wurden. Die Schlange ist hundert Menschen lang; es ist schon nach Mittag. Da wurde uns klar, wie lange wir hier stehen müssen.

    Es gibt sehr viele Kinder und Rentner. Das Einzige, was uns gefreut hat, war, dass Männer und Frauen über 60 außer der Reihe durchgelassen wurden. Wenn aber ein Mann oder eine Frau über 60 mit ihren Kindern unterwegs ist, die, sagen wir mal, 40 Jahre alt sind, dann bleiben sie bei ihren Kindern, weil sich niemand in einer solchen Situation trennen will. Ein weiteres Problem sind die Kinder, [an der Grenze] gibt es Winzlinge von drei Monaten.

    Ein Problem sind die Kinder, es gibt Winzlinge von drei Monaten

    Ich weiß nicht, warum das so ist, aber an Toiletten fehlt es am russischen Grenzübergang völlig. Die gibt es dort auf dem Gelände einfach nicht. Vielleicht gibt es im Gebäude eine; die Mitarbeiter brauchen sie wohl. Doch für Besucher, für Wartevolk wie uns, gibt es keine. Ich habe mitbekommen, wie eine Frau eine Mitarbeiterin danach fragte. Die antwortete: „Wir haben hervorragende Bio-Toiletten, gehen Sie zum Gewässer [beim Grenzübergang] oder in die Büsche.“ Nebenan steht noch ein verlassenes Gebäude, mit dem wir uns in dieser Hinsicht „vertraut“ gemacht haben; früher gab es dort irgendein Geschäft, doch hängt da jetzt ein Schild: „geschlossen“.

    Weil uns der Bus einfach abgesetzt hat [und wieder weggefahren ist], haben wir an der Grenze entweder auf der Straße gestanden oder waren im Gebäude. Vielen Dank an die Frauen, die dort arbeiten. Sie kamen und sagten: „Frauen und Kinder, kommen Sie und wärmen Sie sich auf. Die Männer bleiben auf der Straße, weil nicht genug Platz ist.“ In das kleine Zimmer passten aber nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke. Wir haben auf den Fensterbänken gesessen, auf dem Boden, auf den Koffern.

    In das kleine Zimmer passten nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke

    Eine Nacht mussten wir draußen verbringen. Auf der Bank konnte man nicht sitzen, da war der Wind zu kalt, der vom Wasser herüberwehte. Also versuchst du, dichter am Gebäude zu sitzen, dort ist es ein klein bisschen wärmer. Da störst du die Leute, die mit ihren Koffern herauskommen, denn du versperrst den Weg. Ich hätte natürlich [ab und zu] in dieses Zimmer gehen können, aber da gab es absolut keinen Platz. Ich stellte mich neben die Tür, um mir die Hände zu wärmen, dann ging ich wieder weg.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer

    Es gab überhaupt kein Wasser [am Grenzübergang]. Wir haben es in der Stadt gekauft, als wir das, was wir mitgebracht hatten, leergetrunken hatten. Und die Freiwilligen haben geholfen; sie brachten Wasser in Plastikflaschen und heißes Wasser. Essen hatten wir zuvor schon bekommen, aber die Freiwilligen brachten auch Bouillon, Gebäck, Kuchen und Printen vorbei.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer. Du weißt: Was auch passiert, sie helfen dir von A bis Z, selbst nachts. Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann.


    „Die Lage hat sich seit Beginn der ‚Referenden‘ bis zum Anschlag zugespitzt“

    Iwan, Freiwilliger an der russisch-lettischen Grenze (Name auf seinen Wunsch geändert)

    Wenn es früher nur an zwei Grenzübergängen Schlangen gab (in Buratschki und Ubylinka), kommt es in den letzten zwei Wochen nun überall zum Kollaps. 

    Die Lage mit den Schlangen an den fünf Grenzübergängen im Gebiet Pskow hat sich seit Beginn der „Referenden“ bis zum Anschlag zugespitzt. Die fahren selbständig oder gegen Bezahlung mit Hilfe von privaten Fuhrunternehmen zu den Grenzübergängen für Fußgänger. Während Neue ankommen, sind ihre „Vorgänger“ noch nicht rüber [über die Grenze]. Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten; manchmal werden [nur] drei, vier Autos pro Tag abgefertigt.

    Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten

    In Iwangorod hat sich eine Zwei-Tage-Schlange aufgelöst, das bedeutet aber nicht, dass sich nicht wieder eine bildet. Anscheinend haben die Mitarbeiter des russischen Zolls nach dem Selbstmordversuch [eines ukrainischen Flüchtlings] dann schneller gearbeitet. Diejenigen, die Schlange stehen, sagen allerdings, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten. Dabei warten viele dort, fast alles Flüchtende. Russen mit Touristenvisa werden nicht rausgelassen, wer aber aus geschäftlichen, familiären oder arbeitstechnischen Gründen oder wegen Immobilienangelegenheiten ein Visum hat, wird recht zügig abgefertigt. Sie kommen dabei vor den Flüchtenden an die Reihe.

    Diejenigen, die Schlange stehen, sagen, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten

    Neben dem Grenzübergang können keine Zelte oder Stellen zum Aufwärmen errichtet werden, weil das Grenzgebiet ist. Die Leute, die Mitgefühl haben, können sich nicht darum kümmern, weil das [Errichten solcher Stellen] verboten ist. Diejenigen, die den Flüchtenden helfen wollen, haben nicht genug Kraft, um „den Brand zu löschen“: Es gibt zu wenig Freiwillige und sehr viele Flüchtende. Nicht weit vom russisch-estnischen Übergang Kunitschina Gora gibt es wenigstens das Mariä-Entschlafungs-Kloster in Petschory. Es wird erzählt, dass die Flüchtenden dort mit Essen versorgt wurden, aber jetzt wohl nicht mehr. Im Großen und Ganzen gibt es nichts, wo die Menschen hinkönnen – all diese Grenzübergänge liegen praktisch auf der grünen Wiese.

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  • „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    Juri Dud ist einer der bekanntesten russischen YouTuber, der in seiner Sendung vDud zunächst vor allem Musikgrößen, schnell aber auch Akteure aus unterschiedlichsten – auch politischen – Lagern vor die Kamera holte. Inzwischen ist auch Juri Dud zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. YouTube ist in Russland allerdings nicht blockiert, seine Sendung erreicht Aufrufe in Millionenhöhe. 

    Über acht Millionen Aufrufe verzeichnet auch das Interview, das Dud im August mit Alexander Baunow führte. Der ehemalige Diplomat Baunow war Chefredakteur von Carnegie.ru, des russischen Onlinemediums vom Moskauer Zentrum des US-amerikanischen ThinkTanks Carnegie. Das Zentrum musste am 8. April seinen Betrieb einstellen, die Seite Carnegie.ru funktioniert seitdem nur noch als Archiv. Zuvor waren dort Experten ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung zu Wort gekommen. 

    Kurz nach dem 24. Februar hat auch Alexander Baunow Russland verlassen und lebt nun im Exil. Im Interview mit Juri Dud spricht er darüber, wie Russland in den Autoritarismus schlitterte, warum Putin teilweise auch im Westen Zuspruch findet, und gibt Antwort auf die Schlüsselfrage des postsowjetischen Russlands: W tschom sila? Worin liegt die Kraft?

    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung." – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung
    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung.“ – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung

    Juri Dud: 2001 war Wladimir Putin hier [in Griechenland]. Du warst damals Mitarbeiter der russischen Botschaft in Athen und hast die Rede geschrieben, die er gehalten hat. Du sagtest, dass etwa 80 Prozent des Textes aus deiner Feder stammen. Zwei Zitate: „Wir … haben den Autoritarismus in seiner schweren Form durchlebt und eine Immunität gegen ideologische Unfreiheit entwickelt, eine Immunität, die auch für die alten Demokratien von Nutzen sein kann. In den vergangenen zehn Jahren haben wir einen schwierigen Weg zurückgelegt und die einzigartige Erfahrung gesammelt, wie man einen Staat und ein politisches Leben aufbaut. Das russische Volk hat einen demokratischen Staat aufgebaut. Der Mechanismus der freien Wahlen funktioniert auf allen Ebenen. Die Grundfesten des Föderalismus sind erstarkt. Russland hat eine Zivilgesellschaft bekommen.“ Und das zweite Zitat: „Ohne Demokratie, ohne die konsequente Integration in globale Prozesse können wir uns heute eine erfolgreiche Zukunft für Russland nicht vorstellen.“ Wie klingt das für dich jetzt, 21 Jahre später? 

    Alexander Baunow: Wie das wunderschöne Russland der Zukunft. Ich habe mich geirrt, wir beide haben uns geirrt … Ich glaube, dass er in dem Moment das gesagt hat, was er denkt, denn niemand hätte ihn dazu gebracht, etwas zu sagen, das er nicht denkt. Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung. 

    Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung

    Vor 20 Jahren dachte ich, die „autoritäre Impfung“ wäre zuverlässig, eine Spritze, die dich so etwas nie wiederholen lässt. Aber offenbar stimmt das nicht, im Gegenteil, die Menschen gehen aus autoritären Perioden mit einem gebrochenen Willen zur Diskussion hervor. Sie werden leider nicht geimpft, sondern vergiftet. Das eine ist eine Impfung, das andere eine Überdosis, der Körper muss gegen das Mittel ankämpfen, weil das Immunsystem nicht mehr dagegen ankommt. Offenbar hat es unser Immunsystem nicht geschafft. Die Dosis war zu hoch.

    Stimmt es, dass Putin hier [in Griechenland] ziemlich populär ist?

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen. Diese Funktion erfreut sich in der ganzen nicht-westlichen Welt großer Beliebtheit.
    Der Reichtum auf der Welt ist ungleich verteilt. Der Teil der Welt, der ärmer ist als der andere, sucht eine Erklärung dafür. Die Erklärung besteht meistens in einem: Wir sind besser. Die Zynischeren, Dreisteren, die ohne Werte – haben uns betrogen, sie haben uns irgendwo unterwegs geschnitten und überholt. Und jetzt beuten sie uns aus. Es braucht jemanden, der die Situation wieder geradebiegt. Jemanden, der den Reichen erklärt, dass sie zwar die Macht haben, aber wir die Wahrheit. Das macht Putin weltweit so populär – es geht darum, dass da jemand kommt, ein Land, das „denen“ in unserem Namen sagt: Ihr seid nicht reicher als wir, weil ihr besser seid, sondern schlechter.

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen

    Das hatte merkwürdige Auswirkungen. Denn diese Position ist sehr attraktiv für jemanden, der gelobt werden möchte. Und schauen wir uns den frühen Putin an: Wo sucht er dieses Lob? Natürlich im Westen. Er gratuliert Bush zum Wahlsieg, schließt Militärstützpunkte. Und auf der anderen Seite haben wir die linke Intelligenz in Griechenland oder Frankreich, in Lateinamerika, in der arabischen Welt und die sagt ihm: „Wie konntet ihr Russen das mit der Großmacht so vergeigen? Ihr wart doch das Gegengewicht zu diesen Amerikanern, jetzt kennen die gar nichts mehr, wir können uns gar nicht retten. Wie konnte das nur passieren?“

    Dann kommen noch die aus Osteuropa, traumatisiert durch die Teilung Polens, die Besetzung des Baltikums, den Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die sagen: „Die Russen sind grausam, wir kennen sie gut. Jede russische Staatsmacht ist böse. Holt sie nicht zu uns in den Westen. Rettet uns vor ihnen. Stellt lieber die Berliner Mauer weiter östlich wieder auf.“

    Und schließlich gibt es noch die Inder, Chinesen, Griechen … die Bevölkerung der ärmeren, nicht-westlichen Entwicklungsländer, die sagen: „Wo bleibt ihr denn? Wir vermissen euch!“ Und drängen in diese Richtung. Und wenn du, sagen wir mal, eine Position auf dem Globus suchst, die dich von der Masse abhebt, die dich wichtig macht, bedeutend, deine Eitelkeit befriedigt, die Eitelkeit deines Landes, deiner Nation, dann lässt du dich allmählich, Stück für Stück davon überzeugen, dass dir das selbst auch gefällt. Aber die Hauptsache ist, es gibt jemanden, der überzeugt werden will, und du fängst an, auf diese globale Nachfrage zu reagieren.

    Dann ist also der Hauptgrund für Putins Beliebtheit, dass er sich auf Kosten von Komfort und Sicherheit des eigenen Volkes gegen Amerika stellt?

    Es gibt einen guten Marker, der das veranschaulicht. Wenn man zwei Balken in Umfrage-Grafiken miteinander vergleicht, sieht man, dass nicht Russland populär ist, sondern Putin in seiner Funktion als Gegenspieler des Westens. Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Finden Sie Russland als Land gut? Nein, nein und nochmal nein. Putin als Gegengewicht zum Westen, als jemand, der es quasi im Namen der Wahrheit auf sich nimmt, diese verlogenen, verfressenen [Westler] zu bestrafen, ist beliebt, aber in Russland leben wollen wir nicht.

    Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Nein, nein und nochmal nein

    In den 1990er Jahren diskutierten wir mit den Griechen, die sagten: „Warum ist eure Supermacht auseinandergefallen, wie konntet ihr das so verkacken?“. Was haben wir bitteschön verkackt? Wir mussten für Essen anstehen, versteht ihr das denn nicht? Das will nicht in deren Kopf, dass wir vielleicht ein Gegenpol zu Amerika waren und die Welt bipolar, aber das alles auf Kosten des Sowjetmenschen, der für Lebensmittel Schlange stand.

    Ich möchte mit dir über die russische Diplomatie sprechen. Wie beurteilst du das, was jetzt daraus geworden ist?

    Unser Thema ist ja: Wir wollen so sein wie Amerika, ebenbürtig. Sie haben Belgrad bombardiert, auch wir können Städte bombardieren, sie sind im Irak einmarschiert, auch wir können irgendwo einmarschieren. Aber schauen wir uns den diplomatischen Hintergrund bei dieser Geschichte an. Ein Großteil der Welt war sich einig, dass Milošević und Hussein schlecht sind. Du kannst sie gut finden, zu Opfern erklären, das ist deine Sache, aber die Vorbereitungen liefen so ab, dass der größte Teil der Welt sie für böse hielt. Jetzt behauptet die russische Diplomatie steif und fest, die Regierung in Kyjiw sei illegitim und habe die Macht in der Ukraine durch einen Staatsstreich an sich gerissen. Wer auf der Welt außer Russland denkt das? Ich habe das Gefühl, die russische Diplomatie ist nicht einmal selbst davon überzeugt, denn seit den Ereignissen von 2014 wurden [in der Ukraine] mindestens zwei Mal Präsidentschafts- und Parlamentswahlen durchgeführt. Es ist also eine gewählte Regierung. Das ist das Eine. 
    Das Andere: Als die Amerikaner in den Irak und in Jugoslawien einmarschierten, standen große internationale Koalitionen hinter ihnen. Du kannst diese Kriege schlimm finden, sogar schrecklich, aber das waren ganz reale alliierte Mächte, eine reale Koalition aus zahlreichen legitimen, voneinander unabhängigen (in manchen Punkten vielleicht nicht, aber dennoch) Staaten.

    Und der Erfolg der Diplomatie bemisst sich danach, wie viele Verbündete du hast?

    Ja, Verbündete und Freunde. Russland hat heute keine Verbündeten, höchstens Fans. Russland ist eine Art Gladiator, oder vielmehr ein Zirkusathlet in der Manege. Und es verwechselt die Anfeuerungsrufe der Masse mit einer Allianz.

    Es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen

    Wir haben gesagt, dass die Dritte Welt, die Entwicklungsländer, die linke Intelligenz in Italien, Spanien, Griechenland, Lateinamerika den USA den Stinkefinger zeigen will, und sie dasjenige Land anfeuert, dessen Leader sich dazu erdreistet. Aber in Wirklichkeit sehen wir, dass die Griechen geschockt sind – denn es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen. Und hierin unterscheiden wir uns von den Griechen, Italienern und Spaniern: Sie haben Mitgefühl, echte Empathie. Sie leiden wirklich mit.

    Und wir nicht?

    Ich glaube, nein. Ich meine nicht die Intelligenzija mit ihrem Feingeist, sondern den durchschnittlichen Fernsehzuschauer. Der durchschnittliche Fernsehzuschauer hat oft nicht einmal mit seinem Landsmann Mitleid, der vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Rückholung der ureigenen russischen Gebiete erfordert es eben, dass wir unsere ureigenen russischen Menschen opfern. Was soll’s, wir haben schon Schlimmeres gesehen. Aber die Griechen haben Mitgefühl mit den Leidenden. Deshalb: Stinkefinger hin oder her, aber wenn sie sehen, wie das in Wirklichkeit ist, wie Amerika im Osten der Ukraine bestraft wird, dann heißen sie das nicht gut. Man sollte die Fan-Stimmung in den nicht-westlichen Ländern nicht überbewerten. Das sind keine Stimmungen von Alliierten, das sieht man sehr gut an den formell Verbündeten Russlands in der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.

    Außerdem hat sich niemand für den Krieg ausgesprochen, abgesehen von Lukaschenko. 

    Ja, und der ist sowieso schon involviert. Von seinem Gebiet aus sind ja die Truppen im Norden der Ukraine eingefallen. Alle anderen sind nicht für den Krieg. Erstens beteiligen sie sich nicht, zweitens halten sie sich möglichst raus. Drittens reißen sie sich nicht mal besonders darum, wirtschaftlich zu helfen.

    Du hast gesagt, in Russland assoziiert man Demokratie mit Entbehrungen, weil mit der Demokratie damals die hungrigen 1990er ins Land zogen. Verstehe ich dein Konzept richtig, dass daran auch der Westen schuld ist, weil man es versäumt hat, für das postsowjetische Russland eine Art Marschall-Plan zu machen?

    Ich würde nicht von Schuld sprechen, ich würde es Kurzsichtigkeit nennen. Der Erste Weltkrieg wurde mit einem bezüglich Deutschland, Ungarn und Österreich nicht sehr vorausschauenden Frieden beendet. Die Weimarer Republik, die Teilung Ungarns, wie das alles gelöst wurde, das erzeugte für Jahre im Voraus revanchistische Stimmungen und versetzte nicht nur irgendwelchen Imperialisten einen Stich, sondern den Durchschnittsbevölkerungen von Österreich, Deutschland und Ungarn. Wenn wir das sagen, rechtfertigen wir nicht den Nationalsozialismus, sondern versuchen die Gründe zu verstehen, warum in Deutschland gerade diese Kräfte an die Macht kamen.

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte. Es gab zwar die eine oder andere Geste, irgendwelche Versuche der Beteiligung, der Einbeziehung Russlands in den Klub der großen westlichen Staaten, ein paar Respektserweisungen, von der finanziellen Unterstützung durch den IWF mal abgesehen, all das gab es sehr wohl. Aber offenbar fehlte die Konsequenz und die strategische Dimension. 

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte

    Das heißt, Russland verschwand als Bedrohung. Gott sei Dank. Es verschwand und war vergessen. Idealerweise hätte man dafür sorgen müssen, dass die Demontage des sowjetischen Imperiums und die Errichtung einer Mehrparteien-Demokratie mit einem wirtschaftlichen Wachstum einhergehen. 

    Was hätte es dafür gebraucht? Einfach einen landesweiten Geldregen?

    Das mit dem Geldregen wäre auch schwierig gewesen … Na ja, irgendwas hätte man sich überlegen müssen. Es hätte ein paar relativ naheliegende Dinge gegeben. Zumindest die Staatsschulden hätte man erlassen können, die ja in den 1990ern abgestottert wurden. 

    Aber da wird wieder abgewogen: Ist es euch eher schade ums Geld oder habt ihr eher Angst, dass sich alles zum Schlechten wendet? Damals war es ihnen schade ums Geld, und Angst hatten sie keine. Hätten sie geahnt, was aus Russland in den nächsten 30 Jahren wird, wären sie freigiebiger gewesen. Damals wollten sie einfach kein Geld in ein nebulöses, undurchschaubares Land fließen lassen, in dem es sich irgendwie in Luft auflösen, in den Tschetschenienkrieg gesteckt oder sonstwie gestohlen werden konnte. Und überhaupt, vor allem: wozu? Der Feind war ja entschärft. Und man hatte nicht das Gefühl, dass dieser Feind wieder gefährlich werden könnte. Das war kurzsichtig. 

    Wenn wir in die Gegenwart zurückkehren, dann gibt es einen plausiblen Plan für die Ukrainer. Zwar schon mit ein paar verwaschenen Konturen, doch was sagt der Westen zur Ukraine? Erstens werden wir euch helfen, euren Staat vor der kompletten Zerstörung durch den mächtigen Nachbarn zu bewahren. 
    Zweitens werden wir euch so gut es geht helfen, vor allem die nach dem 24. Februar 2022 besetzten Gebiete zurückzuerobern. Des Weiteren werden wir …

    … euch Geld geben … 

    … euch Geld geben für den Wiederaufbau oder die Russen dazu zwingen, euch Geld für den Wiederaufbau zu geben. Und wir verleihen euch jetzt sofort den EU-Kandidatenstatus, geben euch damit einen Riesenvorschuss. Und wieder – auch jetzt wieder: kein Plan für Russland. 

    ‚Und dann sehen wir weiter‘ ist kein Plan.

    Was bekommt Russland zu hören? Erst mal müsst ihr raus aus der Ukraine. Okay, gut. Ihr müsst Reue zeigen. Alles andere wird von der Radikalität der Emotionen jener abhängen, die diesen ganzen Horror beobachten: Ihr werdet drei Generationen Buße tun, ihr werdet zwei Generationen Buße tun, ihr werdet eine Generation Buße tun. Buße ist das Eine, aber ein Plan für ein übles Land ist etwas anderes. Dass Russland etwas sehr Böses tut, daran besteht kein Zweifel. Das ist eine Feststellung. Und was ist der nächste Schritt? Für die Ukraine gibt es nämlich klar formulierte Vorschläge. Für Russland nur: Stürzen wir Putin, Putin wird sterben, Putin muss weg, und dann sehen wir weiter. „Und dann sehen wir weiter“ ist kein Plan.

    Was meinst du, was erwartet Wladimir Putin? Was für eine Zukunft?

    Ich glaube, wenn er keine ernsten gesundheitlichen Probleme hat, dann erwarten ihn ein paar Jahre ausklingende Herrschaft über dieses isolierte, aufgepeitschte Russland. 

    Hast du eine Antwort auf die Frage, was nach ihm kommt?

    Nach ihm kommt die Modernisierung. Entweder plötzlich oder allmählich. Weil er künstlich die Zeit anhält. Sie zieht sich in die Länge, danach werden wir sie einholen müssen. Dieser aufgepeitschte Zustand ist sehr erschöpfend, sowohl für die Bevölkerung als auch für die Elite. Denn dieser Zustand bedeutet, dass der Preis jeder falschen Entscheidung sehr hoch ist. Du und ich, wir sind sozusagen unabhängige Menschen, mit unabhängigen Berufen. Unser Kriterium ist der Erfolg, auf die eine oder andere Art.
    Das Kriterium eines Menschen, der Teil des Systems ist, ist es, keins auf den Deckel zu kriegen. Davon ausgehend trifft er seine Entscheidungen. Deswegen heißt es, innerhalb des Systems wird Eigeninitiative bestraft. Und wann erhöhen sich die Chancen, von oben eins auf den Deckel zu kriegen? Natürlich in einer aufgeheizten Situation, weil der Preis für einen Fehler dann steigt, der repressive Faktor ebenfalls erhöht wird und die Brutalität der Repressionen zunimmt. Auch die Elite einer aufgepeitschten Nation leidet: Sie wird härter kritisiert, trägt mehr Verantwortung, und auch hier ist der Preis für falsche Entscheidungen höher. Auch die Elite ist lieber entspannt. 

    Du hast Russland verlassen. Wann war das?

    Ich habe Russland Ende Februar verlassen. Das war zunächst eine geplante Reise, ich musste nach Kasachstan und kam dann zurück nach Moskau. Nach meiner Rückkehr bemerkte ich, dass ich mich nicht sehr wohl fühle in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden. Aus zwei Gründen: Erstens entsteht eine Dissonanz zwischen dem Alltag, dem normalen Leben, und jenem abnormalen Verhalten, das sich das eigene Land erlaubt. Ich glaube, viele sind vor dieser Dissonanz geflüchtet, wenigstens für ein paar Wochen, um mit sich ins Reine zu kommen. 

    Ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden

    Und zweitens: Es ist ein Raum ohne Regeln, weil das Gefühl von Berechenbarkeit komplett verschwunden ist, seit unser Staat diese zwar angekündigte, aber trotzdem ungeahnte Tat begangen hat. Und wenn du siehst, dass dein Staat nach logischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf das eigene Wohlergehen und das Glück seiner Bevölkerung unberechenbar agiert, dann fühlst du dich extrem unsicher. Einfach, weil du in einem Raum landest, in dem es keine Regeln gibt und keine rote Linien. Weil die wichtigste rote Linie, na ja, abgesehen von der atomaren, im Grunde schon überschritten ist.

    Meine letzte Frage: Worin liegt die Kraft?

    In der Liebe. 

    Warum?

    Na ja … Freiheit ohne Liebe ist zu Furchtbarem fähig, Bildung ohne Liebe führt zu keinen richtigen Entscheidungen, Intellekt ohne Liebe ist auch nur eine kalte Maschine. Das wäre meine durchaus evangelistische Antwort … 
    In der Antike gab es eine geistige Klammer – die Ilias. Darin gibt es eine […] Episode, in der Hektor getötet wird und sein Vater Priamos sich als Hirte verkleidet und den verfeindeten Achilles in seinem Schiffslager aufsucht. Er tritt an seinen Feind Achilles heran und bittet ihn um die Leiche seines Sohnes. Diese Leiche hat Achilles gerade geschändet. Also, da kommt dieser Vater, Oberhaupt des feindlichen Staates wohlgemerkt, den Achilles eigentlich sofort verhaften und töten lassen müsste. Aber nicht nur, dass Achilles Priamos nicht tötet, sondern er händigt ihm auch die Leiche aus und begleitet ihn voller Mitgefühl von seinem Lager zurück in die feindliche Stadt. 
    Das Erste, was ein griechischer Junge oder ein griechisches Mädchen also lernt, wenn er oder sie diesen fundamentalen Text, dieses Kernstück ihrer Kultur liest, ist, dass ihre Feinde Menschen sind, mit denen man mitfühlen kann, die genauso lieben, denen man sogar helfen muss und die mit einem selbst auf derselben ontologischen Stufe stehen. Kein „wir sind die Guten, die Fremden sind böse“, kein „wir haben die fiesen Trojaner besiegt und können das jederzeit wiederholen und feiern jedes Jahr den Sieg“. Die Botschaft dieses grundlegenden Textes lautet: Auch wenn du einen Feind hast, weißt du, wer er ist. 

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  • Repression in Zahlen

    Repression in Zahlen

    Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ändert auch Russland selbst: Mit der Aggression nach Außen nimmt auch die Repression im Inneren zu. Dies belegen nicht zuletzt die Zahlen, die die Menschenrechtsorganisation OWD-Info permanent aufbereitet und im August in einem eigenen Report vorgestellt hat. Diesen hat das Exilmedium Meduza zusammengefasst und konstatiert: „Im Land wurde eine de facto-Diktatur errichtet“.

    Die Menschenrechtsorganisation OWD-Info bietet seit 2011 direkten Beistand und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und politische Repressionen. 2021 haben russische Behörden die Seite von OWD-Info blockiert und die NGO auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. 

    Das ist der aktuelle Stand [27.09.2022] der Festnahmen, den OWD-Info bei Protesten in ganz Russland zählte, nachdem Wladimir Putin in einer Fernsehansprache am 21. September die „Teilmobilmachung“ verkündet hatte. 

     

    Vom 24. Februar bis zum 17. August 2022 wurden laut OWD-Info in Russland insgesamt mindestens 16.437 Personen bei Antikriegs-Demonstrationen festgenommen. Dabei kann es sich um größere öffentliche Kundgebungen oder auch um Einzelproteste gehandelt haben. 62 Festnahmen erfolgten allerdings nach solchen Aktionen, 138 aufgrund von Antikriegs-Posts in Sozialen Netzwerken und 118 wegen „Antikriegs-Symbolik“.

    Mit Stand vom 24. September zählt OWD-Info 282 Angeklagte in Prozessen gegen Kriegsgegner, bis zum 24. August waren es 224. Die Menschenrechtsorganisation listet außerdem einzeln auf, nach welchen Paragraphen die Anklagen jeweils erfolgten. Einer der Angeklagten ist etwa der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg Jewgeni Roisman.

    Wenn es um Verfahren wegen „Diskreditierung der Armee“ geht, stützt sich OWD-Info auf Daten von Mediazona. Demzufolge gab es im ersten halben Jahr seit Beginn des Angriffskriegs insgesamt 3807 Verfahren nach dem verschärften Paragraphen. Die meisten davon in den ersten drei Monaten.

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    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

  • Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Knapp acht Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eskaliert Russland die Situation weiter: In einer TV-Ansprache hat Wladimir Putin am 21. September eine „Teilmobilmachung“ verkündet. Offiziell 300.000 Reservisten will der Kreml in den Krieg schicken. Der Begriff „Teilmobilmachung“ ist im Gesetzestext allerdings dehnbar, was die Drohkulisse noch zusätzlich verstärkt. 

    Hinzu kam aus Moskau am Dienstag die Ankündigung, die russisch (teil)besetzten Gebiete der Ukraine durch sogenannte „Referenden“ quasi zu annektieren. Damit würde Russland insgesamt rund ein Fünftel des ukrainischen Territoriums zum eigenen Staatsgebiet erklären. Sollte die NATO (durch ihren Helfershelfer Ukraine) das selbsterklärte russische Territorium angreifen, würde Russland sich notfalls auch mit Atomwaffen verteidigen, warnte Putin in seiner TV-Ansprache – das, so der Kreml-Chef, sei kein Bluff.

    Manche Beobachter bewerten diese Schritte als Bereitschaft zu einem „totalen Krieg“, andere verweisen auf militärische Erfolge der Ukraine und sehen Putin in die Ecke gedrängt: Die Eskalation sei eigentlich ein Signal zur Verhandlungsbereitschaft und der Versuch, eine für Russland möglichst günstige Position zu schaffen. 

    Auf dem Portal Carnegie politika fragt der Analyst Alexander Baunow, warum Putin die neue Eskalationsstufe zündet und welche Folgen sie womöglich nach sich ziehen wird.

    Innerhalb eines Tages hat die Duma [am 20. September] ohne jede Vorbereitung oder Ankündigung in zweiter und dritter Lesung Änderungen im Strafgesetzbuch eingeführt. Diese sehen harte Strafen während einer Mobilmachung vor, falls sich jemand dem Wehrdienst entzieht, sich nicht meldet, sich dem Feind ergibt oder Befehlen verweigert.

    Gleichzeitig haben alle ganz oder teilweise durch russische Truppen besetzten ukrainischen Gebiete die Bitte geäußert, umgehend „Referenden“ über eine Angliederung an Russland durchzuführen. Bereits jetzt – ebenso rasant – werden konkrete Daten genannt: schon Ende dieser Woche.

    Die inoffiziell für den Abend [des 20. Septembers] angekündigte Ansprache von Wladimir Putin wurde auf den Morgen verschoben. Dahinter könnten die letzten Zuckungen eines Apparat-internen Tauziehens gestanden haben, oder die letzten diplomatischen Bemühungen der westlichen Regierungschefs angesichts des Übergangs in ein neues Stadium – nächtliche Anrufe aus Berlin, Paris, Washington. Oder bloß die Arbeit an der Rede [ausgestrahlt am Morgen des 21. Septembers], die Putin für historisch hält und die dennoch förmlich und trocken geriet, bedrohlich und beschwichtigend zugleich – mit einem Feind, der vor den Toren steht, einer Mobilmachung, die nur in Teilen stattfindet, und einem Verteidigungsminister Schoigu, der schon alles irgendwie erklären wird.

    „Referenden“ und „Teilmobilmachung“: Wozu?

    Die Kombination aus all dem ist eine Botschaft an den Westen: Ihr habt es gewagt, in der Ukraine gegen uns zu kämpfen, dann versucht jetzt mal, in Russland selbst gegen uns zu kämpfen (besser gesagt, in dem Gebiet, das wir zu russischem Gebiet erklären). In der Hoffnung, dass er es nicht wagen wird.

    Gleichzeitig ist es ein Angebot, den Konflikt dort oder in etwa dort zu beenden oder einzufrieren, wo die Frontlinie jetzt verläuft: Ihr wolltet die alten, milderen Bedingungen nicht akzeptieren, also müsst ihr nun mit den harten leben, und die, die dann folgen, werden noch härter sein. In der Hoffnung, dass sie Angst bekommen.

    Innenpolitisch bewirken diese drei Ereignisse, dass aus einer „Spezialoperation“ auf fremdem Territorium die Verteidigung russischen Bodens wird. Das verleiht den Machthabern traditionell fast unbegrenzte Rechte gegenüber der Bevölkerung. Auch wenn dieser Abklatsch von einem allumfassenden Volkskrieg, für den es keinen ersichtlichen Grund gibt, ein riskantes Unternehmen bleibt, wird man die entsprechenden Instrumente zunächst nur sparsam einsetzen.

    Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe

    Das Überschreiten der russischen Grenze durch ausländische Truppen, wo immer sie verläuft (auch wenn sie morgen woanders verlaufen sollte als gestern), gibt Putin sicherlich das formale Recht und quasi die moralische Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe. Die „Spezialoperation“ zum Krieg zu erklären, Maßnahmen zur Mobilmachung zu ergreifen, ukrainische Objekte zu attackieren, die man vorher nicht zu attackieren gewagt hat, und überzeugender mit Atomwaffen zu drohen.

    Diese Entscheidung führen viele auf die angebliche Unterstützung und Zustimmung zurück, die Putin von den großen nicht-westlichen Ländern beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand bekommen habe. Wahrscheinlich war es jedoch eher umgekehrt: Putin hat von den größten nicht-westlichen Ländern das Signal bekommen, [den Krieg] möglichst schnell zu beenden. Und aufzuhören, in ihrem Namen zu sprechen, da er sie damit mit jener Schwäche und Inkompetenz beschmutzt, die Russland demonstriert hat, das sich zur militärpolitischen Avantgarde der nicht-westlichen Welt erklärt.

    Wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg

    Alles deutet darauf hin, dass die zeitlichen, personellen, materiellen und diplomatischen Ressourcen der „Spezialoperation“ zur Neige gehen. Putin unternimmt nun einen entschlossenen Schritt, um alles schnell zu beenden, indem man Gewinne und Verluste festhält. Und wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg, in der Hoffnung, dass die Bürger diesen für legitimer halten und man freie Hand für alle weiteren Entscheidungen hat. Das Problem ist, dass Russlands Gegenspieler nicht finden, dass Russland aus diesem Krieg überhaupt mit einem Gewinn hervorgehen sollte.

    „Spezialoperation“ vs. Krieg

    Seit Anbeginn des Krieges wurde der wesentliche Konflikt innerhalb der russischen Staatsmacht nicht zwischen einer Friedens- und einer Kriegspartei ausgetragen – die Stimmen gegen den Krieg und sogar die zugunsten eines Kompromisses wurden schnell zum Schweigen gebracht. Der Konflikt bestand zwischen der Kriegspartei und der Partei der Spezialoperation. Man könnte auch sagen, die Parteien des kleinen vs. großen Erfolgs, oder die Parteien des professionellen Kriegs vs. die Parteien des Volkskriegs.

    Die Partei der Spezialoperation orientierte sich an den Erfahrungen Russlands in Südossetien, der Krim und Syrien und richtete sich darauf, das Kämpfen um den Erfolg den Profis zu überlassen. Der Krieg sollte an der Peripherie des nationalen Lebens verbleiben, während das Leben innerhalb des Landes insgesamt so weitergehen sollte wie zuvor.

    Lange Zeit erschien es der russischen Führungsriege günstiger, den Anschein des normalen Lebens zu wahren und die Marktwirtschaft und die Konsumgesellschaft als beste Garanten für die Überwindung der Sanktionen anzusehen. Das könnte sich nun ändern.

    Russische Offizielle sagen recht häufig, was sie tatsächlich denken. Wenn Putin behauptet, Russland führe gegen die Ukraine keinen Krieg, sondern unternehme dort eine begrenzte „Spezialoperation“, hat er im Rahmen seines Koordinatensystems nicht gelogen. Russland hat mit einem Teil seiner Streitkräfte Kriegshandlungen unternommen, nicht durchweg alle Ziele angegriffen, hat Flächenbombardements vermieden und vor allem nicht seine Wehrpflichtigen-Armee hinzugezogen.

    Beim Wort Krieg erscheinen in den Köpfen der Durchschnittsrussen, zu denen auch Putin gehört, Bilder aus den Filmen und Wochenschauen über den Zweiten Weltkrieg. Daher dachte die russische Führung nach wie vor, dass sie etwas anderes macht, auch wenn die Folgen der Spezialoperation immer mehr an jene Bilder erinnern.

    Das ist die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job

    Bis vor Kurzem noch konnte man Putin als Vertreter, wenn nicht gar als Chef der Partei der Spezialoperation bezeichnen. Nachdem er sämtliche früheren Gleichgewichte zerstört hat, sorgt er jetzt, auf den Ruinen der Apparate, für ein Gleichgewicht zwischen denen, die übrig blieben. Sein ganzer Hintergrund als ehemaliger Geheimdienstler hat ihn zu einer „Spezialoperation“, und nicht zum Krieg greifen lassen. Schließlich ist das die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job.

    Die Invasion in die Ukraine wurde auch deshalb nicht als Krieg, sondern als „Spezialoperation“ bezeichnet, weil sie nicht auf mehrere Jahre angelegt war. Wir haben gesehen, dass Putin in den verschiedensten Situationen nicht in Jahren denkt, sondern in „Spezialoperationen“, gewöhnlich mit einem Zeitrahmen von maximal ein paar Monaten. Da gab es die „Spezialoperation“ um seinen Einzug in den Kreml 1999/2000, die Operationen zur Vernichtung von NTW und YUKOS, die „Operation Nachfolger“ 2008, die Rückkehr an die Macht 2011/12, die „Nullsetzung“ seiner früheren Amtszeiten sowie der Zweite Tschetschenienkrieg und die Annexion der Krim. All diese „Spezialoperationen“ fanden in einem Zeithoritonz von höchstens einem halben Jahr statt. Es gibt keinerlei Zweifel, dass der Zeitraum für die Invasion in die Ukraine ähnlich geplant war; das haben Regierungsvertreter offen angedeutet.

    Im Sommer war ein halbes Jahr vorbei, der Erfolg jedoch ausgeblieben. Das hat ganz von selbst eine Suche nach neuen Lösungen in Gang gesetzt, die über eine „Spezialoperation“ hinausgehen. Doch selbst in dem Moment, da die Schwierigkeiten an den Fronten offensichtlich wurden, hatte es Putin nicht eilig, den Krieg ganz nach oben auf die Agenda des russischen Staates zu setzen und ihn auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten – und hat ihn der operativen Peripherie überlassen.

    Die Niederlage gegen die ukrainische Armee bei Charkiw gab den Anstoß zum Sieg der Partei einer allgemeinen Mobilmachung und eines Volkskriegs. Diese Niederlage hätte dazu nötigen können, die „Referenden“ über eine Angliederung der eroberten Gebiete an Russland aufzuschieben oder gänzlich abzusagen. Schließlich ist der Verlust eines Teils des eigenen Landes eine sehr viel größere Schmach als der Verlust fremder Gebiete mit unbestimmtem Status.

    Putin hat sich aber für das Gegenteil entschieden. Die allgemein verbreitete Sicht der Bevölkerung in Russland auf die eigene Geschichte besagt, dass Russland zwar einen militärischen Misserfolg erleiden könnte, wenn es mit begrenzten Kräften jenseits seiner Grenzen kämpft, dass es aber in einem Volkskrieg auf eigenem Boden stets siegreich ist. Das ist der Kerngedanke dieses simplen Kniffs: Wir machen die eroberten Gebiete juristisch zu unserem Land, es war ja eh einst unser Land, und der Sieg wird unser sein.

    Nicht die Beute ist das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen

    Russische Stimmen haben verkündet – und je militanter sie sind, desto häufiger war das der Fall –, dass die Ziele der „Spezialoperation“ auf jeden Fall erreicht werden. Diese Formulierung ist deshalb bequem, weil die genannten Ziele derart schwammig und unbestimmt sind, dass man sie flexibel ändern kann. Wenn es nicht gelingt, die ganze Ukraine einzunehmen, kann man sich auch mit dem Süden und Osten begnügen. Wenn es dort nicht klappt, kann man sich auf das Territorium der Gebiete Donezk und Luhansk beschränken. Gelingt auch das nicht, und so stellt sich die Lage gerade dar, muss man das nehmen, was man hat, indem man den Status seiner Beute anhebt und sie zu neuen Regionen Russlands erklärt. Schließlich ist nicht die Beute das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen, also zu demonstrieren, dass mit Russland nicht zu scherzen ist und dass Russland darauf ein Anrecht hat.

    In den letzten Wochen ist selbst diese fiktive Errungenschaft verloren gegangen. Um sie wiederzuerlangen, legt Putin wieder einmal die Latte höher und hofft, dass die anderen aussteigen und nicht so hoch gehen. Wenn er damit wiederum falsch liegt, wird er beweisen müssen, dass er auch dieses Mal nicht geblufft hat. Das könnte er möglicherweise auf noch zerstörerischere Weise tun.

     

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    FAQ #7: Russlands Referenden: Warum nur Schein – und wozu?

  • Zitat #15: „Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen das Hirn“

    Zitat #15: „Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen das Hirn“

    Kurzfristig anberaumte Schein-Referenden in den russisch (teil)besetzten Gebieten der Ukraine, neue Strafgesetze im Eilverfahren, die im Fall von Kriegszeiten und Mobilmachungen gelten sollen – und schon wenige Stunden später verkündet Wladimir Putin eine sofortige „Teilmobilmachung“.

    Für viele Beobachter ist klar, dass die Ergebnisse der sogenannten „Referenden“ über den „Beitritt“ zu Russland schon feststehen, dass das Stakkato der Ereignisse ein (weiteres) Zeichen für Nervosität des Regimes, und dass der Begriff „Teilmobilmachung“ dehnbar ist. Andere Beobachter fragen nach möglichen Folgen der neuen Eskalationsstufe für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine oder auch, ob sie die russische Gesellschaft selbst noch weiter spalten könnte.

    Tatsächlich häufen sich im Runet Berichte, dass viele Menschen sich derzeit darüber informieren, wie man der Einberufung entgehen kann. Kurzfristige Flüge ins Ausland sind ausgebucht, in den Sozialen Medien entlädt sich lautstarker Widerstand, und es gibt erste Proteste gegen die „Teilmobilisierung“. In einem wütenden Twitter-Thread macht auch die unabhängige russische Journalistin Olga Beschlej ihrem Ärger Luft.

    Die gesamte Rede Putins ist reinstes Gaslighting und psychische Gewalt den Bürgern Russlands gegenüber. Ich träume von dem Tag, an dem die Menschen kapieren, WIE sie betrogen wurden und WIE DOLL man sie belogen hat und dass sie und das ganze Land die letzten zehn Jahre in der ausgedachten Realität und dem nicht existierenden Imperium eines gekränkten Mannes gelebt haben.

    Putin schreibt absolut all seine aggressiven Handlungen anderen zu! Das ist unerträglich anzuschauen

    Er verdreht einfach alles, aber auch wirklich alles: Er war es, er und seine Regierung haben alles dafür getan, dass die NATO an die Grenzen Russlands kam, dass die Ukraine GEZWUNGEN war sich zu verteidigen, dass der Westen Waffen an die Ukraine lieferte, denn er hat einen Krieg losgetreten und schreckte alle mit Drohungen. Und absolut all seine aggressiven Handlungen schreibt er anderen zu! Das ist unerträglich anzuschauen und zu lesen.

    Und es ist unerträglich, dass Menschen das glauben, denn es nicht zu glauben, macht Angst. In welche verfickte Zeit sind wir hineingeraten! Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen doch förmlich das Hirn.

    Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen doch förmlich das Hirn

    Ich warte sehr auf das Ende dieses Kriegs. Ebenso fieberhaft warte ich auf das Ende der Lüge, wenn eben jene Mauer dieser erstickenden Lügerei, mit der er ganz Russland eingekesselt hat, endlich zusammenbricht. Himmel, wird das wehtun. Doch nicht nur die Russen, die ganze Welt kann dann wieder leichter atmen.

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  • „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine sofortige „Teilmobilmachung“ verkündet. Seine Rede war zunächst für den Dienstagabend angekündigt gewesen, das russische Staatsfernsehen strahlte sie schließlich am Mittwochmorgen, 21. September, aus.

    Wenige Stunden zuvor hatte die Duma noch Änderungen im Strafgesetzbuch beschlossen, die im Falle von „Kriegszeiten“ und „während einer Mobilmachung“ gelten sollen und verschärfte Strafen vorsehen: Demnach drohen für Fahnenflucht bis zu zehn Jahre, für Kriegsdienstverweigerung bis zu drei Jahre Haft. Beobachter werteten dies als ein weiteres Anzeichen für eine Mobilmachung in Russland. Bislang galt diese in Russland nicht, was an der Front zunehmend für Probleme sorgte: Recherchen der Novaya Gazeta Europe zufolge werden mitunter sogar Strafgefangene rekrutiert.

    Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive hatte den Kreml massiv unter Druck gesetzt. Schon unmittelbar danach wurde das Wort „Krieg“ deutlich häufiger in Polittalkshows des Staatsfernsehens benutzt. Dies heiße allerdings nicht, dass der Kreml keine Kontrolle mehr über das offizielle Narrativ habe, erläuterte etwa dekoder-Gnosist Jan Matti Dollbaum auf 3sat Kulturzeit. Wohl aber könne das bedeuten, „dass das Narrativ sich ändert – dass es eine breitere Bevölkerungsmobilisierung vorbereiten soll“. 

    Dieses Szenario ist nun in Teilen eingetreten – die Teilmobilisierung betrifft offiziell erstmal Reservisten, dass damit auch Wehrdienstleistende in den Krieg geschickt werden, gilt unter manchen Beobachtern als wahrscheinlich. 

    Zugleich hat Russland am gestrigen Dienstag sogenannte „Referenden“ in den Kriegsgebieten DNR, LNR, Cherson und Saporishshja angekündigt. SWP-Expertin Sabine Fischer sieht darin auf Twitter Russlands Versuch, den Status Quo einzufrieren, weitere ukrainische Militäraktionen in den Gebieten als Angriff auf „russisches Territorium“ zu deklarieren und vor allem den Westen zu testen, wie weit dieser (ggf. auch angesichts weiterer nuklearer Drohungen seitens Russlands) an Waffenlieferungen und Unterstützung für die Ukraine festhält. 

    Ebenfalls auf Twitter hat der Soziologe Grigori Judin vergangene Woche kritische innerrussische Töne eingeordnet und Putins eigentliches Dilemma skizziert: Nämlich die Frage, wie lange er in Russland überhaupt eine Alltagsnormalität aufrechterhalten kann angesichts des Krieges, den Russland in der Ukraine führt. Wie lange der „Spagat“ zwischen einer entpolitisierten Mehrheit und einer mobilisierten radikalen Minderheit noch gelingt – die Antwort auf diese Frage könne entscheidend sein für die Dauer von Putins Regime.

    Der Thread von Grigori Judin ist auf Englisch verfasst. dekoder hat ihn dennoch übersetzt: Mit Grigori Judin spricht eine wichtige Stimme des kremlkritischen russischen Diskurses, der sich aufgrund der Zensur in Russland zunehmend auch in die sozialen Medien verlagert hat. Es spricht zudem ein Wissenschaftler, den dekoder mehrfach aus unabhängigen russischen Medien übersetzt hat. 

    Es gibt in Russland drei unterschiedliche Gruppen:

    1) Die Radikalen (15-25 Prozent) – eine beträchtliche, extrem laute Minderheit, die den Krieg aktiv unterstützt, sich einbringt, die Nachrichten verfolgt und in einigen wenigen Fällen sogar an die Front geht. Sie sind das Publikum von Militärbloggern, diversen Telegram-Kanälen und Vampiren wie Wladimir Solowjow oder Olga Skabejewa.

    2) Die Nicht-Einverstandenen (20-25 Prozent) – eine beträchtliche Minderheit, die den Krieg kategorisch ablehnt. Ihre Sichtweise ist in den in Russland ansässigen Medien verboten und wird generell unterdrückt.

    3) Die Laien (50-65 Prozent) – die passive, völlig entpolitisierte Mehrheit, die mit Politik und dem Krieg nichts zu tun haben will.

    Die Laien

    Die Laien bilden die Masse der Jasager, die sich für den Krieg aussprechen, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation oder sind Sie ein Landesverräter, der mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft gehört?“

    Die Laien schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw

    Sie sind diejenigen, die sorglos ihr Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben. Das ist natürlich beklagenswert, doch die Kehrseite davon ist, dass sie auch keinesfalls gewillt sind, sich irgendwie selbst aktiv am Krieg zu beteiligen. Sie schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw (viele von ihnen könnten nicht einmal sagen, wo die Stadt eigentlich liegt).
    Die offiziellen Radio- und Fernsehnachrichten schützen sie vor solchen Informationen. Nicht unwichtig: Als das Fernsehen begann, harte Kriegspropaganda zu verbreiten, sanken die Einschaltquoten – die Laien wollten weiter ihre Seifenopern, Ernährungsberatung und Stand-up-Comedy sehen, keine langweilige Frontberichterstattung. 

    Die Radikalen

    Für die Radikalen war die ukrainische Gegenoffensive dagegen ein echter Schlag. Sie überboten sich mit Schuldzuweisungen und machten die Militärführung, einander und selbst Putin für diese Niederlage verantwortlich. Erstmals gibt es hitzige Diskussionen zwischen ihnen. Die Tonlagen reichen von relativem Optimismus („wir sollten uns um Putin scharen und Rache nehmen“) bis zu völligem Fatalismus („der Krieg ist verloren, das ist nicht zu ändern“). Was sie eint: Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft und eine aggressivere Kriegsführung. Sie sind sich einig, dass es für Russland ein Leichtes gewesen wäre, die Ukraine zu erobern, aber aus irgendeinem Grund (Verrat, Unfähigkeit, Großzügigkeit) führt es den Krieg mit gebundenen Händen. 

    Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft

    Diese Diskussion ist bemerkenswert. Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist. Es ist kaum zu überschätzen, wie viel Bedeutung dieser Mythos für Russland hat. Der Glaube, dass Putin sich am Ende sowieso durchsetzt, lähmt jedes eigenständige Handeln. Die Radikalen sind wütend auf die Laien, weil die ihr gewohntes Leben weiterführen, während Soldaten sterben, um das Überleben des von der NATO attackierten Landes zu sichern. Die Laien sind wütend auf die Radikalen, weil die versuchen, ihnen im Alltag Politik aufzudrängen, zum Beispiel durch die Einführung von Kriegspropaganda an den Schulen. 

    Risse im Narrativ?

    Manche haben Boris Nadeshdins Aussagen im russischen Fernsehen [der ehemalige Duma-abgeordnete Nadeshdin sagte auf NTW, Putin sei schlecht beraten worden, Russland könne den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen – dek] als Anzeichen für Risse im vorherrschenden Narrativ gewertet. Das sind sie jedoch nicht. Nadeshdin ist ein alter Liberaler aus den 1990ern, ein Weggefährte von Boris Nemzow. Nemzow entschied sich, eine echte Opposition gegen Putin auf die Beine zu stellen (mit düsterem Resultat). Nadeshdin dagegen beschloss, nach Putins Regeln einer Pseudo-Opposition zu spielen und trat einer seiner Marionetten-Parteien bei. Der Vorteil dieser Strategie ist, dass man regelmäßig als Prügelknabe in die TV-Shitshows eingeladen wird. So verschafft man sich landesweite Bekanntheit (das nützt bei Wahlen!). Nadeshdin war jedoch ganz offen von Anfang an gegen diesen Krieg, und er ist auch klar gegen Putin – das kann man im russischen Fernsehen nur nicht laut sagen. Seine Einstellung hat sich durch die jüngsten militärischen Rückschläge nicht geändert. Auch die mutigen Äußerungen lokaler Abgeordneter, die ein Amtsenthebungsverfahren Putins fordern, sind kein Zeichen für eine Veränderung. Diese Leute gehören zu den Andersdenkenden und haben schon vorher nach Kräften gegen den Krieg protestiert. Ihr Aufruf ist eine Abschiedsgeste – nun endete ihre Amtszeit, viele dürfen nicht einmal erneut kandidieren.

    Eine totale Mobilmachung ist für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nicht mehr tolerierbar

    Trotzdem ist die Lage für Putin prekär. Er braucht die Passivität der Laien, aber auch das Engagement der Radikalen. Deshalb bietet er zwei widersprüchliche Narrative an – eines vom Krieg um Russlands Existenz und ein anderes, wonach alles weiterläuft wie gewohnt. Die Forderung der Radikalen nach einer totalen Mobilmachung ist jedoch für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nach den Niederlagen an der Front nicht mehr tolerierbar. Putin hat darauf bisher mit einer gezielten Mobilmachung reagiert – er rekrutiert unter den Radikalen und lässt die Laien in Ruhe. Diese Strategie lässt sich noch eine Weile fortsetzen, aber durch die militärischen Niederlagen wird sie zunehmend erschwert. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin der Forderung nachgibt, jetzt die Generalmobilmachung zu verkünden. Dazu wäre erst eine politische Mobilisierung nötig. Doch dafür ist der Zeitpunkt ungünstig. Selbst die Freiwilligen gehen in die Ukraine, weil sie davon ausgehen, dass sie sich einer siegreichen Armee anschließen und Geld verdienen – und nicht, um sich mit einem starken Gegner zu messen. Unter Wehrdienstleistenden wird die Begeisterung noch geringer sein. 

    Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein

    Kurz: Der Spagat zwischen der Entpolitisierung der Gesellschaft und gleichzeitiger Mobilisierung ihres radikalen Teils wird für Putin angesichts des drohenden großen Rückschlags immer schwieriger. Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein. Die Radikalen werden sie rundheraus als das bezeichnen, was sie ist. Und die Laien werden ihm nicht verzeihen, dass er ihr tägliches Leben in Mitleidenschaft gezogen hat. Die militärische Niederlage in einem Krieg, bei dem er das ganze Land aufs Spiel gesetzt hat, wird Putin nicht überleben.

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  • Alla Pugatschowa positioniert sich gegen den Krieg – Reaktionen

    Alla Pugatschowa positioniert sich gegen den Krieg – Reaktionen

    Mit nur einem Post auf Instagram löste sie ein kleines Erdbeben aus: Alla Pugatschowa, die Grande Dame der sowjetisch-russischen Popmusik, verurteilt darin erstmals öffentlich den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und bittet das Justizministerium, sie in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen – aus Solidarität mit ihrem Ehemann, dem berühmten Comedian Maxim Galkin, der seit Freitag in dem Register geführt wird. Galkin hatte sich schon früher gegen den Krieg geäußert und daraufhin seine Sendung im staatlichen Ersten Kanal verloren. Nun beschuldigt ihn das Justizministerium, angeblich von der Ukraine finanziert zu werden.

    „Er ist ein ehrlicher, ordentlicher und aufrichtiger Mensch, ein wahrer und unbestechlicher Patriot Russlands, der seiner Heimat ein Aufblühen und ein friedliches Leben wünscht, Meinungsfreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Geächteten machen und das Leben der Bürger erschweren“, schreibt Pugatschowa über ihren Mann. Der Post wurde hunderttausendfach gelikt und geteilt.

    In russischen Staatsmedien wurde meist nur der vordere Teil zitiert – und die Distanzierung vom Krieg ignoriert. In den Sozialen Medien und unter den Kommentatoren unabhängiger Medien erhielt Pugatschowa dagegen viel Beifall mit ihrer öffentlichen Positionierung. dekoder zeigt ausgewählte Reaktionen.

    Foto © Alexander Miridonow/Kommersant
    Foto © Alexander Miridonow/Kommersant

    Kirill Martynow: „Der Selensky für das patriarchale Russland“

    Pugatschowa wird in breiten Teilen der Gesellschaft geschätzt – für Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, wäre sie daher eine geeignete Kandidatin für die nächste Präsidentschaftswahl:

    [bilingbox]Die Präsidentschaftskampagne „Pugatschowa 2024” mit dem Symbol der roten Rose und dem Slogan „Eine Million rote Rosen für den Frieden” ist so einfach, dass Sie sich nichts anderes mehr ausdenken müssen. Alla Borissowna, Sie sind der Selensky für das patriarchale Russland.~~~Президентская кампания Пугачевой-2024 с символикой алой розы и слоганом „миллион алых роз за мир“ это так просто, что даже придумывать ничего не нужно. Алла Борисовна, вы Зеленский патриархальной России.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Eine Million Rosen von Alla Pugatschowa (1982)

    The New Times: Putin ist eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Pugatschowa

    Alla Pugatschowa ist unbezweifelt eine Autorität von epochaler Bedeutsamkeit. Dazu gibt es sogar einen Witz aus Sowjetzeiten, an den Andrej Kolesnikow in seiner Kolumne für The New Times erinnert:

    [bilingbox]Einer der bekanntesten Witze aus der Zeit der Stagnation: „Frage: Wer ist Leonid Iljitsch Breshnew?“ Antwort: „Eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa.“ Alla Borissowna hat als Frau der Epoche sowohl Breshnew als auch Andropow, als auch Tschernenko überlebt. […] Und nun gibt es einen Neuzugang in der Truppe der unbedeutenden politischen Figuren aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa – diesen hohen Status hat sich Wladimir Wladimirowitsch Putin verdient.~~~Один из самых известных анекдотов времен застоя: «Вопрос: Кто такой Леонид Ильич Брежнев. Ответ: Мелкий политический деятель эпохи Аллы Борисовны Пугачевой». Алла Борисовна в статусе женщины-эпохи пережила и Брежнева, и Андропова, и Черненко, […] И вот отряду мелких политических деятелей эпохи А.Б. Пугачевой прибыло — этого высокого статуса удостоился Путин В.В.[/bilingbox]

    erschienen am 19.09.2022, Original

    Sergej Medwedew: Warum kann sie nicht die Ukraine nennen?

    Bei aller Zustimmung ist der Politologe Sergej Medwedew über den Wortlaut gestolpert – und glaubt, dass sich Pugatschowa hätte noch mehr erlauben können:

    [bilingbox]Wie alle freue ich mich über die Geste der Primadonna, doch wundere ich mich über ihre Motivation. Besteht das Problem etwa im „Tod unserer Jungs” und in der „Erschwerung des Lebens der russischen Bürger”? Sie kann sich ja alles Mögliche erlauben, auch den Gebrauch der Wörter „Krieg” und „Ukraine”. Tja, wahrscheinlich reicht das für das Publikum. Politisch ist das eine wichtige Äußerung, staatsbürgerlich eine wahrhafte Tat, und menschlich bin ich nicht ihr Richter und Redakteur, es stieß mir bloß auf. ~~~Я, как и все, рад жесту примадонны, но ее мотивация меня удивляет. Разве проблема в „гибели наших ребят“ и в „утяжелении жизни российских граждан“? Уж она-то может позволить себе, что угодно, включая слова „война“ и „Украина“. Впрочем, наверное, для аудитории хватит и этого. Политически это важное высказывание, граждански это поступок, а человечески я ей не судья и не редактор, просто резануло слух.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Alla Pugatschowa mit ihrem Song Primadonna im Finale des Eurovision-Songcontest 1997

    Ekaterina Schulmann: Wer nicht alles für die Ukraine arbeitet …

    Die nach Deutschland emigrierte Politologin Ekaterina Schulmann witzelt auf Telegram über den Vorwurf des Justizministeriums, dass Pugatschowas Mann Galkin und andere „ausländische Agenten“ angeblich von der Ukraine finanziert werden:

    [bilingbox]Wo hat die Ukraine denn das Geld her, um all diese Einzelpersonen zu finanzieren, die zu ausländischen Agenten erklärt wurden? Das ist ja kein Land, das ist ein Eldorado. Gordejewa arbeitet für sie, Galkin, Morgenshtern, Chodorkowski, Tschitschwarkin, Makarewitsch, Simin und sogar Belonika – die alle werden von der Ukraine bezahlt. Und das auch noch in Kriegszeiten, wo es ja noch so viele andere Ausgaben gibt. Wäre jetzt Frieden, dann könnte die Ukraine da wohl den ganzen Kreml aufkaufen.~~~Слушайте, а откуда у Украины денег столько на финансирование всех этих физлиц-иностранных агентов? Не страна, а какое-то Эльдорадо. И Гордеева на них работает, и Галкин, и Моргенштерн, и Ходорковского с Чичваркиным, и Макаревича, и Зимина и целую Белонику – всех Украина содержит. И это в военное-то время, когда других расходов полно. В мирное, наверное, вообще Кремль целиком скупит. [/bilingbox]

    erschienen am 16.09.2022, Original

    Alexander Baunow: „Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros“

    „Heimat ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss“, rief Rocklegende Juri Schewtschuk bei einem Konzert im Mai. Alexander Baunow, ehemals Chefredakteur von Carnegie.ru, beschreibt auf seiner Facebook-Seite, was für ihn Heimat bedeutet:

    [bilingbox]In den 1980er Jahren stellte ich mir nicht die Frage, was Heimat war: Pugatschowa, Grebenschtschikow, Makarewitsch, Zoi oder die Mitglieder des Politbüros? Warum sollte es jetzt eine Frage sein? Verwundert sehe ich, wie bei einigen, darunter ganz jungen Menschen, diese Frage aufkommt. Quält euch nicht, die Antwort ist längst da, obwohl man sie natürlich noch einmal geben kann, wenn man sich nicht das Vergnügen nehmen lassen will, die Frage selbst zu beantworten. Die Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros.~~~В 80-е у меня же не было вопроса родина – это Пугачева, Гребенщиков, Макаревич, Цой, или это члены политбюро? А сейчас почему он должен быть? С удивлением вижу, как у некоторых, в том числе младше годом рождения, этот вопрос возникает. Не надо мучиться, ответ давно дан, хотя можно дать его еще раз, не отказывая себе в удовольствии отвечать на этот вопрос самостоятельно. Родина это не члены политбюро.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Alla Pugatschowa und Udo Lindenberg singen gemeinsam Wozu sind Kriege da? (1987)

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    Viktor Zoi

    Musik der Perestroika