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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #10

    Bilder vom Krieg #10

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Maxim Dondyuk

    Dieser Junge war eines der ersten Kinder, die Opfer der russischen Bombenangriffe auf Kyjiw wurden. Seine Eltern und seine Schwester kamen während eines Bombenangriffs ums Leben. Der Junge wurde schwer verwundet ins Kinderkrankenhaus gebracht. Da die Ärzte seinen Namen zunächst nicht kannten, führten sie den Patienten als „Unbekannter #1“ / Foto © Maxim Dondyuk, 28.02.2022, Kyjiw

    Maxim Dondyuk
    „Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden“

    [bilingbox]Es war die zweite Nacht, nachdem Russland seinen großflächigen Angriffskrieg begonnen hatte, als dieses Foto entstand. Es zeigt das erste Kind in Kyjiw, das Opfer der russischen Bombenangriffe wurde. Der Junge, sechs Jahre alt, geriet im Zentrum von Kyjiw unter Bombardement, er war zusammen mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner Schwester im Auto. Seine gesamte Familie starb noch vor Ort. Der Junge wurde auf die Intensivstation gebracht. Er hatte keine Dokumente bei sich, da seine Eltern direkt in die Leichenhalle eines ganz anderen Krankenhauses gebracht worden waren. Keiner kannte den Namen des Jungen oder sein Alter, so nannte man ihn einfach „Unbekannter #1“. 

    Der Arzt wollte erst nicht, dass ich dieses Foto mache. Aber ich sagte: Wir müssen das zeigen. Wir müssen zeigen, was Russland tut. Sie töten nicht nur Soldaten in diesem Krieg, sondern auch Familien und Kinder. Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden. Als der Arzt die Decke abnahm, sah der Junge aus wie Christus. Es war so symbolisch. Erst nach ein paar Tagen teilten mir die Ärzte mit, dass er Semjon hieß und am Tag, nachdem ich das Foto gemacht hatte, verstorben war. Für mich zeigt dieses Bild das Gesicht des Krieges.

    Manchmal fragen mich Leute, warum ich mich entschieden habe, Kriegsfotograf zu sein. Die Wahrheit ist, dass ich keiner bin und auch nie einer sein wollte. Aber dies ist mein Land, und ich habe das Gefühl, es ist meine Pflicht, diesen historischen Moment einzufangen für die Gegenwart und für die Zukunft. Es ist sehr schwer, den Krieg zu dokumentieren, wenn er in deinem Land stattfindet, in deiner Stadt, wenn deine Freunde dabei ums Leben gekommen sind, wenn Russland deine Stadt eingenommen hat, wenn du all das siehst. Es ist völlig anders, als wenn du von einem anderen Land in einen Krieg kommst und dann wieder zurückkehrst.
    Du fühlst dich traurig, du spürst Aggression sogar gegenüber der ganzen Welt. Warum passiert uns das, warum macht irgendein großes Land einfach, was auch immer es möchte, und das nun schon seit fast einem Jahr. Und all dieser Schmerz, all diese Gefühle, sie wiegen sehr schwer, sie sind zerstörerisch. Ich lege meine Gefühle in die Fotografie. All diese Erfahrungen – Wut, Angst, Enttäuschung, Schmerz, Tränen, Freude. So werden Fotografien mit Leben gefüllt. Je mehr Gefühle du erfährst, desto stärker wird deine Kunst, sei es Fotografie, Malerei, Literatur oder Musik. Deswegen kann objektiver Fotojournalismus, der jede Subjektivität und jegliche Gefühle leugnet, sehr oft einfach langweilig sein – informativ, aber ohne emotionalen Aspekt.

    Meistens nutze ich zwei unterschiedliche Bildsprachen, um den Krieg abzubilden. Für mein persönliches Projekt, ein Buch oder Ausstellungen, verwende ich eine poetische, wenn man so will ästhetischere Bildsprache. So können die Menschen in das Bild eintauchen, eine längere Zeit darüber sinnieren. Ich möchte, dass sie nachdenken, sich etwas vorstellen, wahrnehmen. Denken Sie mal an Schlachtenbilder in Museen – die eignen sich nicht für schnelles Draufgucken. 
    Aber wenn ich für eine Zeitschrift arbeite, dann versuche ich zu schockieren. Denn die Leser haben nur eine Sekunde und ich versuche, einfach – BAMM, sie zu stoppen, zum Innehalten zu bewegen. Es soll wie ein Schrei sein, mittels der Farbe oder der Bildkomposition.~~~It was the second night after Russia started the full-scale invasion when I took this picture. It shows the first affected child in Kyiv from bomb attacks by Russia. He, a child 6 years old, fell under the shelling in the center of Kyiv, in the car with his father, mother, and sister. His whole family died right there. The boy was taken to intensive care. He was without documents since his parents were sent immediately to the morgue, to a completely different hospital. No one knew the boy’s name or his age, that’s why he was simply called the “Unknown #1”. First, the doctor didn’t want me to take this picture. But I said, we have to show this. We have to show what Russia is doing, killing not only soldiers but also families and children in this war. This boy stands for thousands of children being killed. When the doctor removed the blanket, the child looked like Christ. It was so symbolic. Only after a couple of days, the doctor told me, his name was Semyon, and he passed away the day after I took this picture. To me, this picture shows the face of war. 

    Sometimes people ask me why I decided to be a war photographer. The truth is I’m not and never intended to be. But this is my country now and I feel that this is my duty to capture this historical moment for the present and the future. It is very difficult to document the war when it happened in your country, in your city, when your friends died, when Russia captured your city, when you see all this. It’s completely different than when you come to war from another country and then return back. You feel sad, you even feel aggression towards the whole world, why this happened to us, why some big country is doing whatever it wants and has been doing it for almost a year now. And all this pain, all these emotions, they are very heavy, they are destructive. I put my emotions into photography. All that I experience – anger, fear, disappointment, pain, tears, joy. Thus, photographs are filled with life. The more you experience any feelings, the stronger your art, whether it be photography, paintings, literature, or music. That’s why very often objective photojournalism, which denies subjectivity, and emotions, can be simply boring, informative, but without an emotional aspect.

    Mostly I use two different visual languages covering the war. For my personal project, for the book or exhibitions, I use more poetic, aesthetic (if you want so) language, so people could immerse in the photograph, and contemplate it for a long period of time, I want them to think, to imagine, to perceive. Think of battle scenes in museums – these are not for a rush viewing. But working for a magazine, I try to shock because their readers have only 1 second and I try to just, boom, make them stop. It should be like screaming, with color or with some composure.[/bilingbox]

    Foto: Maxim Dondyuk
    Gesprächsprotokoll und Übersetzung aus dem Englischen: Tamina Kutscher
    Konzept und Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 21.02.2023

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  • Mörder mit Tapferkeitsorden

    Mörder mit Tapferkeitsorden

    „Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus.“ Allem Anschein nach sagt diese Worte auf einem Videomitschnitt Jewgeni Prigoshin, Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner, dem die ukrainische Generalstaatsawaltschaft Kriegsverbrechen vorwirft. 

    Das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus. Anfang Januar haben Journalisten den Präsidentensprecher gefragt, ob Prigoshin recht hat, dass einige Häftlinge-Söldner begnadigt wurden: Peskow wich einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne.

    Es ist nicht bekannt, wie viele Gefängnisinsassen in den russischen Krieg gegen die Ukraine gezogen sind und wie viele begnadigt wurden. Die Journalistin Nina Abrossimowa hat für Holod und Nowaja Wkladka mit einem von ihnen gesprochen: Stanislaw Bogdanow aus Weliki Nowgorod wurde wegen brutalen Mordes zu 23 Jahren Haft verurteilt. 2022 zog er in den russischen Krieg und kehrte ohne Bein aus der Ukraine zurück. 

    Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Gewalttaten.

    Im Oktober 2022 bekam die Rentnerin Olga Pawlowa von mehreren Bekannten denselben Link geschickt zu einem zweiminütigen Video. Fünf Männer sitzen abends auf dem Dach eines Hotels und unterhalten sich. Zwei von ihnen fehlt ein Bein, einem ein Fuß, einem ein Arm. Der einzige unversehrte Gesprächsteilnehmer ist der Gründer der Söldnergruppe Wagner Jewgeni Prigoshin.

    „Aus der TschWK Wagner entkommt man nur als Rentner oder im Zinksarg”, sagt Prigoshin und lacht. „Alles klar, was soll schon sein, alles in Ordnung, oder?”
    „Ja, alles in Ordnung”, antwortet der junge Mann ohne Bein im grauen Hoodie. „Von so etwas hier hätte ich in meiner Situation nur träumen können. Im Fernsehen sehen und träumen.”
    „Wie lange hättest du noch sitzen müssen?”, fragt Prigoshin interessiert nach.
    „Zehn hatte ich schon, 13 musste ich noch. Viel.”
    „Du warst – so nennt man das – ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld.”

    Du warst ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld

    Pawlowa wird übel. Der „Gesetzesbrecher” – Stanislaw Bogdanow – hat vor zehn Jahren ihren Bruder totgeschlagen. Sie hatte die Leiche gefunden und danach das Haus von den Blutspuren befreit. Das Gericht hatte den Mörder zu 23 Jahren Strafkolonie mit strengem Regime verurteilt. Nun sitzt er auf einem Rattansofa, im Hintergrund die nächtliche Stadt, auf seinem Hoodie prangen Orden.

    Am nächsten Tag veröffentlicht die Nachrichtenagentur RIA FAN, die Prigoshin gehört, ein weiteres Video: dieselben vier verletzten Männer bekommen der Reihe nach rote Samtkästchen mit Tapferkeitsorden und Gedenkanstecker der Söldnergruppe Wagner für ihre Verwundungen, Urkunden vom Chef des Nationalen Zentrums für Verteidigungsverwaltung, Pässe und Begnadigungsbescheinigungen; das alles findet, wie die Nachrichtenagentur mitteilt, im Krankenhaus von Luhansk statt. In einem kurzen Interview nach Überreichung der Auszeichnungen teilt Bogdanow mit, dass er das Bein während eines nächtlichen Beschusses verloren habe: „Ein Geschoss traf meinen Kumpel, das zweite mein Bein.”

    Gibt es jemanden, der euch aus der Zone holen kann?

    Mit der Anwerbung von Strafgefangenen für den Krieg gegen die Ukraine hatte die Söldnergruppe Wagner im Sommer 2022 begonnen. Auf dem Video aus Joschkar-Ola, das Mitstreiter von Alexej Nawalny veröffentlichten, kam Prigoshin persönlich und versprach den Verurteilten, dass man sie nach einem halben Jahr Vertragsdienst begnadigen würde. „Zur Frage nach den Garantien und dem Vertrauen: Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Was meint ihr?“, sagt der Geschäftsmann auf dem Videomitschnitt. „Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus. Nur bringe ich euch nicht unbedingt lebendig zurück.“ Neben dem Versprechen auf Freiheit gab es das auf Entlohnung: Die Häftlinge sollten genauso viel bekommen wie die regulären Wagner-Kämpfer und eine „Sargprämie“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [gut 60.000 Euro – dek] im Falle des Todes an der Front. Laut Olga Romanowa von der Organisation Rus sidjaschtschaja meldete sich in verschiedenen Kolonien im Durchschnitt jeder Fünfte für den Dienst in der Wagner-Gruppe.

    Auch Stanislaw Bogdanow, der wegen Mordes in der Strafkolonie IK-7 Pankowka in seiner Heimatstadt Nowgorod einsaß, unterzeichnete den Vertrag. Schon Anfang August fand er sich in den Schützengräben bei Luhansk wieder, wurde jedoch bald verwundet – und traf sich einige Wochen später mit Prigoshin in Gelendshik.

    Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum?

    Mitte November bekam ich eine Nachricht von Bogdanow im sozialen Netzwerk VKontakte: „Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum? Ich bin keine bekannte Persönlichkeit, meine Vergangenheit interessiert niemanden. Jetzt werden sie Dreck über mich verbreiten. Egal, was ich sage oder schreibe, es wird sowieso alles verdreht. So viele Jahre sind vergangen und alles umsonst. Ich werde mich nicht bemitleiden. Was war, das war, man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ja, ich habe lange gesessen, und das hat mich geprägt, ich bin geduldiger geworden und kann gut mit der Traurigkeit umgehen. Es war meine Entscheidung, mich der Wagner-Gruppe anzuschließen, niemand hat mich dazu gezwungen.“

    Eine halbe Stunde später folgte noch eine Nachricht: „Ich habe nicht vor, in mein altes Leben zurückzukehren. Ich werde nur nach vorne sehen, so wie man es mir beigebracht hat, und ich werde die Jungs nicht vergessen. Sie bleiben in meiner Erinnerung, sie waren bis zum Ende bei mir, und ich werde an sie denken, solange mein Herz schlägt. … Hören Sie auf zu urteilen. Ich habe das gemacht, um mein Land zu verteidigen, um etwas zu ändern, ich habe nichts zu verlieren, ich würde auch mein Leben hergeben, wenn es sein muss. Aber nur für den Sieg unseres Landes …“

    Ich schlug Bogdanow vor zu telefonieren. Er schickte mir seine Nummer.

    Bogdanow verkehrte in Kreisen, wo „fast jeder kriminell war”

    Bogdanow und sein Opfer Sergej Shiganow lebten in Nowgorod ganz in der Nähe voneinander, aber sie kannten sich nicht und wären wahrscheinlich auch keine Freunde geworden. Der 32-jährige Sergej war junger Richter, trug eine Taschenuhr mit Kettchen, wünschte sich die Wiedereinführung der Monarchie und las Fantasyromane. Eines der Zimmer in seiner Wohnung hatte er im viktorianischen Stil dekoriert: dunkle Möbel, Seidentapete, an den Wänden Deko-Schilde und -Schwerter. „Es sah nicht unbedingt aus wie ein Rittersaal aus dem 14. Jahrhundert, aber sehr interessant“, sagte ein Zeuge, der einmal dort zu Besuch war.

    Der 25-jährige Bogdanow verkehrte in Kreisen, in denen laut seiner Aussage „fast jeder kriminell war: manche hatten gesessen, andere waren auf Bewährung draußen, wegen Raubüberfällen, Vandalismus“. Er selbst hatte Anfang der 2010er Jahre bereits viereinhalb Jahre Haft wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, Vandalismus, Raubes und Autodiebstahls abgesessen. Er fuhr ohne Führerschein Auto: „Wenn sie mir [das Auto] wegnehmen – auch egal.“ Arbeitete auf dem Bau. Trank billiges Bier. Weil er nuschelte, nannten ihn seine Bekannten Mjamja.

    Am Sonntag, den 23. September 2012, fuhr Bogdanow in die Ortschaft Krestzy, eine Autostunde entfernt von Nowgorod: Er sollte Freunden auf einer Baustelle aushelfen. „Als ich hinkam, hingen sie gerade mit ein paar Mädels rum. Ich hab mitgemacht. Natürlich hab ich auch ein paar Bier getrunken.“

    Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt

    Auch Richter Shiganow fuhr an dem Abend nach Krestzy: Er lebte und arbeitete dort, Familie hatte er keine. Die Wochenenden verbrachte er lieber in seiner Wohnung in Nowgorod und kehrte zum Anfang der Arbeitswoche zurück in das Haus, das er von seiner Großtante geerbt hatte.

    Gegen 23 Uhr kam Shiganow bei seinem Haus an. Der betrunkene Bogdanow und sein Freund saßen gerade ganz in der Nähe im Auto. Als Shiganow versuchte, das Tor aufzuschließen, klemmte es, und er fragte die beiden Männer nach Hilfe. Bogdanow sprang über den Zaun und schob den Riegel nach oben. Shiganow bat seine neuen Bekannten rein. Dann, erzählt Bogdanow, habe ihn der Richter gefragt, ob er schon mal gesessen hätte und warum – und daraufhin wohl gesagt, er möge doch bitte nichts aus seinem Haus klauen. Das brachte Bogdanow laut eigener Aussage auf die Palme. „Er hat noch so dumm gegrinst, dachte wohl, er geht aufs Klo und ich räum in der Zeit seine Bude leer“, erinnert er sich. „Da hab ich diesen Schürhaken genommen und ihm den Schädel eingeschlagen. Er stand natürlich wieder auf: Er war 1,95, einen Kopf größer als ich, und 40 Kilo schwerer. Was sollte ich mit ihm machen? Den Rest erledigte ich von Hand.“

    Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens

    „Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt. Ich war selbst überrascht. Als hätte mir der Teufel auf die Schulter geklopft und gesagt: ‚Komm, Stas, mach jetzt, schlag ihn tot, niemand braucht den Typen auf dieser Erde!‘, erzählt Bogdanow weiter. „Sie wissen doch, wie der sich aufgeführt hat, oder? Wie diese Richter durch die Gegend fahren? Rasen besoffen, fahren die Leute tot – und kommen davon. Das wissen Sie doch, oder? Haben Sie diese Videos gesehen? Wie die in diesen schicken Bars sitzen? Und dann mit einer Knarre rausgehen und einfach jemanden abknallen?“ Als ich erwiderte, dass von Shiganow nichts dergleichen bekannt sei, antwortete Bogdanow, dass er „ja grad erst so einer geworden“ sei: „Außerdem, wer weiß, vielleicht hat er kleine Mädchen vergewaltigt.“

    Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens, indem er seine Versuche aufzustehen oder sich irgendwie zu einigen, mit dem Schürhaken unterband. Bogdanow fand weder Geld noch Schmuck, zwang Shiganow aber unter Folter dazu, die PIN-Codes zu seinen Bankkarten rauszugeben. Den tödlichen Schlag versetzte Bogdanow ihm mit einer Hantel: Ließ sie dreimal aus der Höhe seiner Körpergröße auf dessen Kopf fallen.

    „Erst wollte ich das Bügeleisen nehmen, aber das hat scharfe Kanten, und die Hanteln waren rund“, erklärt Bogdanow ungerührt. „Ich dachte, ich sollte lieber nicht alles mit Blut vollspritzen, und schlug ihn mit der Hantel. Naja, um sein Gehirn nicht überall zu verteilen.“

    In der Strafkolonie IK-7 verbrachte Stanislaw Bogdanow zehn Jahre: Das Gericht verurteilte ihn zu 23 – selbst für Mörder ein hartes Strafmaß –, weil er Wiederholungstäter war und die Tat mit einem Raubüberfall einherging.

    Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin

    Vom Beginn des *** (der „Spezialoperation“) erfuhren sie in der Strafkolonie über den Fernsehsender REN-TV. Bogdanow war den Nachrichten gegenüber skeptisch. „[Dort wurde gesagt, dass] das Verteidigungsministerium vorrückt, jeden Tag um zwei, drei Kilometer. Ich zählte das zusammen und da kam für mich raus, dass wir schon bis Polen gekommen sein müssten, bis Warschau“. Als dann Jewgeni Prigoshin in die Strafkolonie kam und den Häftlingen vorschlug, in den Krieg zu ziehen, meldete sich Bogdanow sofort. „[Ich wurde gefragt,] warum ich das will“, erinnert er sich an das Gespräch, das nach seinen Worten mit Prigoshin selbst stattfand. „Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin, außer zu diesem Leben hier.“

    Die Kolonieverwaltung erlaubte den Häftlingen nicht, persönliche Sachen mit in den *** (die „Spezialoperation“) mitzunehmen. „Die Leute vom FSIN [dem Föderalen Strafvollzugsdienst – dek] sagten: ‚Ihr dürft nichts mitnehmen, nur ein paar Schachteln Zigaretten‘,“ erzählt Bogdanow. „Und als wir [auf der Wagner-Basis] ankamen, bekamen wir zu hören: ‚Warum habt ihr nichts dabei? Sind die denn dort völlig verrückt geworden?‘ Sie mussten dann natürlich alles für uns kaufen. Handtücher, Seife und Zahnpasta. Socken und Unterhosen. Wir bekamen gute Kleidung. Zwei Paar Stiefel, Jacken, drei Anzüge. Und Sportschuhe. Da gab es überhaupt keine Probleme. Die Jungs fingen an zu streiten: „Scheiße, wir geh’n da als Kanonenfutter hin, oder?“ Ein anderer sagte: „Was laberst du denn von Kanonenfutter, die haben viele Millionen in uns reingesteckt, schau mal unsere krasse Ausrüstung!“

    Während der einwöchigen Ausbildung hatte er zum ersten Mal ein Sturmgewehr in der Hand

    Während der Ausbildung bei Wagner lernte Bogdanow, mit einem Sturmgewehr zu schießen; er hatte da zum ersten Mal eines in der Hand – er war nicht bei der Armee gewesen. Auch war er noch nie einen ganzen Tag bei Hitze mit einer Schutzweste herumgelaufen. Erholung gab es keine. Wo genau er ausgebildet wurde, erzählt Bogdanow nicht. Seinen Angaben zufolge dauerte die Ausbildung eine Woche; ein anderer Häftling, der zusammen mit Bogdanow ausgezeichnet wurde, sagte gegenüber der RIA FAN, dass sie „praktisch einen Monat lang“ trainiert wurden.

    Am 31. Juli wurde Bogdanow zusammen mit anderen Häftlingen aus seiner Strafkolonie (rund 200, sagt er) in die Ukraine geschickt. Dort wurden sie im Gebiet Luhansk eingesetzt. Bogdanow sagt, seine „Arbeit“ bestand darin, „etwas zu schlafen, sich aufzurappeln und vorzurücken“.

    „Wir waren vorbereitet, aber nicht darauf, dass derart auf uns eingedroschen wird“, erzählt er. „Wenn da was aus dem Nichts angeflogen kommt, heilige Scheiße! Da ist es schwer, auch nur einen Tag zu überleben. Es gab da Leute, die kamen an und waren einen Tag später schon nicht mehr am Leben. Da muss man sich jeden Schritt überlegen.“

    Bogdanow selbst hielt sich acht Tage an der Front. Am Abend des 7. August, sagt er, habe die ukrainische Seite seine Gruppe mit Panzern beschossen: In der Dunkelheit sah er etwas grell aufblitzen, dann riss ihm ein Granatsplitter die Wade ab – sie hing nur noch an einer Sehne. Bogdanow schrie laut auf: „Dreihunderter!“ (das bedeutet „Verletzter“). Er wurde verbunden und man rief die Rettungsgruppe. Er machte sich Sorgen, dass man ihn nicht herausholen würde. Er sagt, dass seine Einheit am Morgen des selben Tages erst dort Position bezogen hatte und der Weg dorthin noch nicht gesichert war: Überall lagen schwer zu erkennende Schmetterlingsminen. Ihm kam der Gedanke, ob er sich nicht besser erschießen sollte, um nicht mehr die Schmerzen ertragen zu müssen. Er hielt es aber aus, bis dann seine Leute mit der Trage kamen.

    Sein Leben nach der Verwundung bezeichnet Bogdanow als „Märchen“

    Im Krankenhaus in Luhansk wurde Bogdanow das Bein unterhalb des Knies amputiert. 
    Sein Leben nach der Verwundung beschreibt Bogdanow als „unvorstellbar” und „wie im Märchen“. Im November war er mit anderen verwundeten Wagner-Söldnern in der Reha, nämlich in einem Sanatorium im Dorf Witjasewo bei Anapa. Sie waren in Zweibettzimmern untergebracht, lebten auf einem umzäunten Gelände, durften aber zum Einkaufen (solange es nicht um Alkohol oder Energiedrinks ging) oder zum Strand gehen.

    Irgendwann wurde für die verwundeten Söldner ein Ausflug organisiert. Sie gingen im Alten Park in Kabardinka zusammen mit anderen Touristen spazieren. Das hat Bogdanow gefallen: „Wir sind ja solche Jungs, wir sitzen unser ganzes Leben im Knast, keiner hat je was anderes gesehen.“ Für alle Fälle fügt er hinzu, dass die Gruppe „niemanden angefallen hat“.

    Die Reha-Ärzte haben Bogdanow auf eine Prothese vorbereitet. Seit dem 24. November hat er sich nicht mehr gemeldet; ob die Operation stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Sein verhärteter Stumpf mit tiefen Narben wurde mit Elektroschocks gelockert, ihm wurden Videos mit Übungen gezeigt, die er im Sportstudio beim Sanatorium machen konnte. Die ganze Zeit über erhielt der ehemalige Häftling von der privaten Militärfirma Sold ausgezahlt: 200.000 Rubel im Monat [rund 3000 Euro – dek].

    „Ich bau mir ein Leben auf, was denkst denn du!“, sagte Bogdanow, als ich ihn fragte, was er mit dem Geld vorhat. „Jetzt ist Schluss mit dem Klauen, jetzt muss ich Geld verdienen, ein Haus bauen und von vorn anfangen. Ich geh‘ auf den Friedhof, zum Grab von diesem Richter, werde nicht mal trinken, sondern einfach eine Weile sitzen und mich bei ihm entschuldigen. Wir hatten zusammengesessen, getrunken, es kam zum Streit und ich habe ihn umgebracht. ‚Verzeih, Bruder‘, das werde ich ihm sagen!“

    „Und bei seiner Mutter oder seiner Schwester wollen Sie sich nicht entschuldigen?“

    Bogdanows Antwort war, dass das nichts ändern würde. „Das würde alles wieder aufreißen, damit würde ich es nur verschlimmern. Vielleicht würde sie [die Mutter] sterben? Das Herz [macht es vielleicht nicht mit]. Dann bringen sie mich wieder hinter Gitter und beschuldigen mich, dass ich sie vergiftet oder erschlagen habe.“

    Der Alptraum wiederholt sich in klein

    Olga Pawlowa erzählt, dass Sergej Shiganows 83-jährige Mutter nach dem Tod ihres Sohnes in dessen Wohnung gezogen ist. Alle Sachen, die dem ermordeten Richter gehörten, lässt sie an ihrem Platz; ihre eigenen Mäntel hängt sie auf den Balkon.
    „Sie rührt nichts an und lässt auch mich nicht“, sagt Shiganows Schwester. „Sie bringt es nicht übers Herz, etwas wegzugeben. Ich frage nicht nach. Immer heißt es sofort: ‚Das gehört Serjosha.‘ Am Anfang hat sie mich sogar [gerufen]: ‚Serjosha! … Ach Gottchen, Olga!‘ Hat uns verwechselt.“

    „Als das jetzt wieder hochkam – und dass er [Bogdanow] zurück ist, da hatte ich wieder dieses Bild im Kopf mit dem Blut auf dem Boden und der Leiche“, setzt Pawlowa fort. „Als ob sich der Albtraum in klein wiederholte.“

    Der Mutter hat sie die Neuigkeit nicht erzählt, sie hat auch alle Bekannten um Verschwiegenheit gebeten. Trotzdem fanden sich solche „Wohlmeinenden“, die es erzählten. „Zuerst war sie noch so na ja, aber am nächsten Tag war sie fix und fertig“, sagt Pawlowa. „Nach dem Motto: Was soll das, mein Sohn ist tot, und der sitzt da mit seinen Medaillen und Ehrungen. Und die Strafe ist erlassen.“ (Zu Shiganows Mutter konnte ich keinen Kontakt herstellen.)

    Begnadigt werden kann ein Häftling nur per Erlass des russischen Präsidenten. Bisher wurde kein einziger solcher Erlass veröffentlicht. Anfang Januar berichteten jedoch RIA Nowosti und RIA FAN von zwei weiteren Dutzend begnadigten Häftlingen, die angeblich ein halbes Jahr an der Front verbracht hatten (zusätzlich zu Bogdanow und den anderen drei Männern, die Prigoshin im Oktober ausgezeichnet hat). Auf die Frage von Journalisten, ob der Präsident entsprechende Amnestien unterzeichnet habe, wich Putins Pressesprecher Dimitri Peskow einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne. 

    Wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wären diese Nazis durchmarschiert. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht

    Ich erzählte Bogdanow, wie Shiganows Familie auf seine Freilassung reagiert hat.
    „Das hat nichts mehr mit mir zu tun. Es heißt ja, die Zeit heilt“, sagte er.
    „Die Mutter hat die Zeit irgendwie nicht geheilt.“
    „Dann ist es nicht meine Schuld.“
    „Sie haben ihrem Sohn das Leben genommen – für sie sind Sie schuldig, und dabei sind Sie in Freiheit und haben einen Orden.“
    „Vielleicht habe ich ja jemand anderem das Leben gerettet, indem ich mein Leben, meine Gesundheit riskiert habe.“
    „Wem denn?“
    „Na ja, das wissen wir noch nicht, wem ich das Leben gerettet habe, womöglich. Werden wir auch nie erfahren. Weil, wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wenn niemand diesen Weg gegangen wäre, dann wären diese Nazis durchmarschiert und hätten dort die Leute umgebracht. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht. Was dann?“

    Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu

    Bogdanow sieht seine Zukunft in den Wagner-Strukturen. „Ich finde, sie haben mir eine Tür geöffnet“, erklärt er. „Wozu behandeln sie uns denn jetzt? Ja wohl nicht, um uns zu entlassen, wenn wir gesund sind. Dieses Unternehmen wächst, und es lässt seine Leute nicht im Stich. Wir werden immer Geld haben. Wir werden Arbeit haben, auch wenn dieser Krieg vorbei ist. An anderen Orten wird er weitergehen.“

    In seiner Heimatstadt Nowgorod verspricht Bogdanow nicht mehr aufzutauchen. „Ich habe da niemanden. Wenn ich hinfahre, seh ich wieder diese Saufköpfe, meine Kumpel, Freundinnen. Wo waren sie die ganzen zehn Jahre? Ich hab Scheiße gebaut, ja, hab jemanden umgebracht. Na, und vorher war ich brav, oder was? Jetzt rufen sie mich an, schreiben: ‚Wieso antwortest du nicht?‘ Mir reicht’s, ich blockiere sie alle! Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu.“

    Das Video mit Bogdanows Auszeichnung ging durch Dutzende öffentliche Kanäle auf VKontakte und rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Die einen nennen den Ex-Häftling einen „Vampir und Menschenfresser“ und haben Angst vor seiner Rückkehr in die Stadt, für die anderen ist er ein Held, der [das Verbrechen] „mit Blut abgewaschen hat“. Letztere schlugen vor, Bogdanow in den Patriotismus-Unterricht „Gespräche über das Wichtige“ an Schulen einzuladen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Warum die ukrainische Politik Tichanowskaja ignoriert

    Warum die ukrainische Politik Tichanowskaja ignoriert

    Die belarussische Opposition um Swetlana Tichanowskaja genießt eigentlich internationale Anerkennung: Die Politikerin hat sich im Juli 2021 mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus getroffen, auch zahlreiche europäische Politiker haben die Oppositionelle empfangen. Nur die ukrainische Politik ignoriert demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus. 

    Zwar sind belarus­si­sche Truppen bislang nicht di­rekt am rus­si­schen Krieg gegen die Ukraine be­tei­ligt, dennoch leistet das Regime Lukaschenko dem Kreml bedeutende Schüt­zen­hil­fe: Am 24. Februar 2022 wurde Belarus zu einem Durchgangshof für den russischen Überfall auf die Ukraine. Lukaschenko steht fest an der Seite des Kreml und unterstützt die russische Aggression mit Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee. 

    Wäre es da für die ukrainische Führung nicht opportun, sich mit Tichanowskaja zu verbünden und gemeinsam mit der demokratischen Opposition das Regime Lukaschenko zu schwächen? 

    Nicht so einfach, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch – und analysiert auf Reform.by denkbare Motive für die Kyjiwer Funkstille.

    Waleri Kowalewski, der Beauftragte für Außenpolitik im belarussischen Vereinigten Übergangskabinett, hat zwar indirekt, aber doch bestätigt: Die Ukraine stelle sich gegen eine Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und Vertretern der belarussischen Öffentlichkeit an internationalen Veranstaltungen. Was für eine Strategie verfolgt die ukrainische Führung mit einer solchen Politik?

    Wie Waleri Kowalewski auf dem TV-Sender Belsat sagte, wurde der Ablauf des Festakts anlässlich des 160. Jahrestags des Januaraufstands von Kastus Kalinouski in Warschau tatsächlich verändert: „Während der Vorbereitungen auf diese Veranstaltung erreichte uns die Information, dass es Einwände gegen Swetlana Tichanowskajas Auftritt sowie gegen die belarussische Flagge und den belarussischen Kranz gebe. Ganz offensichtlich wurde der ursprünglich geplante Ablauf verändert“, berichtete Kowalewski. 
    Dabei ging Kowalewski nicht ins Detail, wer genau sich gegen eine vollwertige Teilnahme der belarussischen Demokraten an dieser Jubiläumsfeier ausgesprochen hatte. Will man darauf die Antwort wissen, so genügt es, sich an Selenskys Ansprache zu erinnern, die bei der Zeremonie verlesen wurde. Der ukrainische Präsident sprach von vereinten Völkern im Kampf gegen den russischen Imperialismus. Doch die Belarussen wurden nicht erwähnt. Das ist natürlich kein Zufall, sondern bewusste Politik der ukrainischen Regierung. 

    Ukraine blockiert konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft 

    Die Feierlichkeiten zum 160-jährigen Jubiläum des Januaraufstands und Kowalewskis Kommentar sind nicht die einzige Gelegenheit, sich die belarussisch-ukrainischen Beziehungen vor Augen zu führen. Mehrere nicht namentlich genannte europäische Diplomaten haben Nasha Niva erzählt, die Ukraine blockiere konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja, aber auch von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft an gemeinsamen Veranstaltungen mit europäischen Ländern. Es handelt sich also nicht um einen Einzelfall, sondern um eine Strategie der ukrainischen Führung. 

    Olexander Mereshko, Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit der Werchowna Rada und Mitglied der Fraktion Sluha narodu, dementiert das: „Ich glaube nicht, dass die Ukraine Tichanowskajas Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen gezielt verhindert. Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls. Für die Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen braucht man einen besonderen Status. Und es ist sehr ungewöhnlich, dass andere Personen als Repräsentanten von Staaten dabei sind“, meint er.

     Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls

    Diese Erklärung überzeugt jedoch nicht. Im Juli 2021 hat das litauische Außenministerium die Demokratische Vertretung Belarus anerkannt und Tichanowskajas in Vilnius tätigem Team einen offiziellen Status verliehen. Das diplomatische Protokoll hindert die belarussischen demokratischen Kräfte nicht an Treffen mit US-Präsident Joe Biden und auch nicht an Terminen mit den höchsten Führungsriegen von Deutschland und Polen. Einzig das offizielle Kyjiw fühlt sich gestört und ignoriert schon lange demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus. 

    Im ukrainischen Establishment bestehen heute in Bezug auf unser Land unterschiedliche Strömungen. Manche Politiker und Experten, etwa Alexander [sic!) Arestowytsch, sind der Meinung, Swetlana Tichanowskaja sei „die gesetzlich gewählte Präsidentin von Belarus“, und die in der Ukraine vorherrschende Haltung zur „Belarus-Frage“ füge sich in eine „Reihe sehr schwerer Fehler“. Manche Abgeordnete der Werchowna Rada, wie der bereits erwähnte Olexander Mereshko, finden, das legitime belarussische Organ, mit dem Kyjiw einen Dialog führen könnte, wäre am ehesten das Kalinouski-Regiment, das in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert ist. Tichanowskajas Position zu Russland und Putin sei „zu unklar“. 

    Die ukrainische Regierung mit Präsident Selensky an der Spitze lehnt den Kontakt zu Tichanowskaja genauso ab wie zu allen anderen Vertretern der belarussischen demokratischen Bewegung, die „Kalinouzy“ [Soldaten des Kalinouski-Regiments – dek] eingeschlossen. Zumindest auf offiziellem Parkett.
    Gleichzeitig setzt die ukrainische Regierung allem Anschein nach bis zu einem gewissen Grad den Dialog mit dem offiziellen Minsk fort. Das lässt sich aus Alexander Lukaschenkos Äußerung ableiten, die Ukraine habe ihm die Schließung eines Nichtangriffspakts vorgeschlagen. Weder Präsident Selensky noch das ukrainische Außenministerium haben diese Erklärung bestätigt, aber auch nicht dementiert. 

    Will die ukrainische Regierung vermeiden, Lukaschenko zum Kriegseintritt zu provozieren?

    Möglicherweise ist einer der Gründe dafür, Tichanowskaja und das Übergangskabinett zu ignorieren, dass die ukrainische Regierung Lukaschenko nicht zum Kriegseintritt provozieren will. Gleichzeitig gibt es aber das Kalinouski-Regiment, das das offizielle Minsk bestimmt nicht weniger, wenn nicht sogar noch mehr ärgert als alle demokratischen Kräfte zusammen. 

    Worin kann denn nun die Strategie von Selensky und seinem Team bestehen? Ist die Besänftigung des offiziellen Minsk wirklich das Hauptproblem?  

    Eine Reihe belarussischer Politologen findet diese Position der ukrainischen Führungsriege kurzsichtig, weil ohne unabhängiges Belarus keine Stabilisierung der Region möglich sei. Die Botschaft ist klar. Allerdings würde das Ende des Kriegs und auch ein Sieg der Ukraine nicht unbedingt bedeuten, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen. Ein definitiver Sieg für die Ukraine wäre eine Befreiung der von Russland okkupierten Gebiete. Weiterzugehen, in die Russische Föderation oder gar in Belarus einzumarschieren, Moskau oder Minsk zu stürmen, steht für die ukrainische Staatsmacht nicht zur Debatte. 
    Und deswegen sollte Kyjiw ein Szenario nicht ausschließen, in dem die Ukraine auch in Zukunft mit Putin und Lukaschenko als Nachbarn wird leben müssen, selbst wenn ihre Systeme vielleicht hinter einem „eisernen Vorhang“ verschwinden. Der übrigens nach Kriegsende womöglich gar nicht mehr so undurchlässig sein wird, einen Teil der wirtschaftlichen Sanktionen könnte der Westen dann durchaus aufheben. Selbst wenn diese Regime genauso repressiv, genauso unmenschlich bleiben – das sind eure Probleme, kann es aus Kyjiw dann heißen, und es ist nicht Sache der Ukrainer, sie zu lösen. Zudem wird das Minsker Regime, sollte durch eine Niederlage Moskaus die Unterstützung aus Russland wegfallen, gezwungen sein, zumindest kosmetische Änderungen vorzunehmen. 

    Das Kriegsende und auch ein Sieg der Ukraine bedeutet nicht unbedingt, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen

    Und weil Kyjiw seine Beziehung zu Lukaschenko also sowieso auf die eine oder andere Art wird pflegen müssen – wozu sollten sie es sich schon heute endgültig mit ihm verscherzen? Zumal er Belarus ja irgendwie doch unter Kontrolle hat. Und nicht auszuschließen ist, dass das auch weiterhin so bleibt.

    Wenn die Belarussen und die Ukrainer von der Besatzung ihrer Länder durch Russland sprechen, dann haben sie von dieser Okkupation unterschiedliche Vorstellungen. Für die Belarussen ist Lukaschenkos Regime ein Teil des russischen Okkupationskontingents. In den Augen der Ukrainer ist das belarussische Regime einfach nur in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, weil auf seinem Territorium russische Truppen stationiert sind. Folgt man dieser Logik, so wird Lukaschenko, sobald die Russen weg sind, wieder zum politischen Subjekt, mit dem man verhandeln kann.
    Die ukrainische Interpretation dieses Sachverhalts ist auch für Lukaschenko selbst äußerst günstig, weil es ihn weitgehend aus der Verantwortung für die Beteiligung an der Aggression zieht. Dasselbe Narrativ promoten auch die Abgesandten des offiziellen Minsk in ihren raren Kontakten zum Westen. 

    Ukraine will das Problem lösen, wenn die Sieger feststehen und Dispositionen klar sind

    Wie es aussieht, beabsichtigt die ukrainische Regierung, die Lösung des Belarus-Problems auf „nach dem Krieg“ zu verschieben, wenn dann die Sieger feststehen und die endgültige Disposition klar ist. Und wenn klar ist, wie und zu wem man seine Beziehungen ausbauen muss. Zumindest solange Belarus nicht in diesen großangelegten Krieg eintritt, hat es Kyjiw offenbar nicht eilig, sich für eine der beiden Seiten im innerbelarussischen Konflikt zu entscheiden. In der Hoffnung, sich nach dem Sieg jenen zuzuwenden, die sich als stärker und einflussreicher erweisen. Im Grunde ist es simpel – wenn Lukaschenkos Regime untergeht, dann wird das Oberhaupt des neuen Belarus, egal ob Tichanowskaja oder jemand anders, selbst daran interessiert sein, ein Vertrauensverhältnis zur siegreichen Ukraine aufzubauen. Wenn Lukaschenko nicht untergeht – tja, dann muss man eben auf ihn oder seinen Nachfolger zugehen. Doch sogar in diesem Fall wird das für die Ukraine, so sie denn siegt und nicht verliert, viel einfacher sein als heute.  
    Ob diese Strategie vertretbar ist, ist eine andere Frage. Auch, welchen Einfluss diese Haltung der ukrainischen Regierung auf die belarussische politische Agenda hat. Doch die demonstrative Zurückweisung der belarussischen demokratischen Kräfte durch die ukrainische Regierung drängt einen dazu, genau diese Fragen durchzuspielen. 

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  • Fake-Satire als Propaganda

    Fake-Satire als Propaganda

    Die Chefs der NATO-Staaten schauen eine Videoansprache von Wladimir Putin an, auch der ukrainische Präsident Selensky ist dabei, am Arm eine rote Hakenkreuzbinde. Alle scheinen von Putins Rede derart beeindruckt zu sein, dass sie sich in die Hose machen. Die Urinspuren zu ihren Füßen formen die Abkürzung für die Nordatlantische Allianz. So soll angeblich eine Titelseite des spanischen Satire-Magazins El Jueves aussehen. Jedoch: Das Magazin mit diesem Cover hat es nie gegeben, es ging von einem russischsprachigen Telegram-Kanal aus viral. 

    Diese gefälschte Titelseite eines bekannten Satire-Magazins ist kein Einzelfall. Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig solche Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen. Im russischen Exil-Medium iStories geht Ilja Ber, Gründer und Chefredakteur des Faktchecking-Portals Provereno (dt. Geprüft), diesem relativ neuen Trend der Desinformation nach.

    Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen / Collage © iStories
    Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen / Collage © iStories

    Je länger der Krieg andauert, desto erfinderischer wird die russische Propaganda: Sie wird zunehmend nicht mehr von den traditionellen Massenmedien produziert, sondern von Bloggern (vor allem auf dem Messengerdienst Telegram). Darunter finden sich „Kriegsreporter“, bekannte Fernsehmoderatoren, „Experten“ mit zweifelhafter Qualifikation oder anonyme „Analytiker“, die Hunderttausende von Followern haben. Seit ein paar Monaten greifen die kremltreuen Telegram-Kanäle zu einer Methode, die die Propaganda früher eher selten benutzt hatte: Sie posten von vorne bis hinten erfundene Berichte, die angeblich aus ausländischen Medien stammen. Faktenchecker aus verschiedenen Ländern haben mehr als zwanzig Beispiele für solche Beiträge entdeckt, die zuerst bei Telegram viral gingen und dann auch von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden.

    Propaganda kommt zunehmend von Bloggern – vor allem auf dem Messengerdienst Telegram

    Am 7. Juli erklärte Boris Johnson seinen Rücktritt vom Posten des britischen Premierministers. Eine Woche später twitterte der Fraktionsvorsitzende der Partei Gerechtes Russland im Unterhaus des russischen Parlaments und Ex-Vorsitzender des Oberhauses Sergej Mironow ein angebliches Cover der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf dem ein Kobold abgebildet ist, dessen Kopf und Hut zusammen die Umrisse Großbritanniens ergeben und der den Ex-Premierminister auskotzt. Rechts unten in der Ecke ist ein Hund mit dem Gesicht von Wolodymyr Selensky abgebildet, der den abgerissenen Arm eines Asow-Kämpfers im Maul hält. Das Bild wurde sowohl von großen russischen Telegram-Kanälen mit Hunderttausenden Abonnenten als auch von privaten Nutzern in den sozialen Netzwerken geteilt.

    Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, aber … 

    Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, doch das Cover mit Johnson und Selensky als Hund findet sich nicht in ihrem Archiv. Es wurde weder in den sozialen Netzwerken diskutiert, wie das sonst mit den Neuerscheinungen der französischen Zeitschrift passiert, noch haben die großen Medien darüber berichtet; alle fremdsprachlichen Erwähnungen sind Übersetzungen oder Reposts von russischsprachigen Seiten. Zum ersten Mal tauchte das Titelblatt, wie die Mitarbeiter des Faktchecking-Projekts Provereno [dt. Geprüft] recherchierten, am 12. Juli auf dem Telegram-Kanal Neboshena mit einer halben Million Followern auf.

    Vor dem Hintergrund der Berichte von angeblich „inszenierten“ Bildern des Raketenschlags auf ein Geburtskrankenhaus in Mariupol und der Massenmorde im okkupierten Butscha erscheint dieses Fake aus dem russischen Telegram-Segment relativ harmlos. Doch die Charlie Hebdo-Ausgabe, deren Titelblatt angeblich eine Karikatur von Johnson und Selensky geziert haben soll, war die erste aus einer ganzen Reihe von Publikationen, mit deren Hilfe man den Lesern im Internet offenbar beweisen will: In Europa und anderen Teilen der Welt habe man die Ukraine-Hilfe satt und unterstütze das Vorgehen des Kreml auf jede erdenkliche Weise.

    Fake Cover propagieren Putins Sicht auf die Welt 

    Nach dem Johnson-Cover gingen im Internet mindestens fünfzehn weitere Fake-Cover von Charlie Hebdo und anderen weniger bekannten Magazinen aus den USA, der Türkei, Spanien und Deutschland viral. Sie wurden von Internet-Usern in diversen Ländern aufgegriffen und propagierten alle auf die eine oder andere Weise Putins Sicht auf die Welt. Hier sind einige Beispiele:

    • Ende August/Anfang September 2022 tauchte im Netz ein angebliches Charlie Hebdo-Cover auf, auf dem der französische Präsident Emmanuel Macron mit dem Wasserwerfer auf französische Demonstranten schießt, links unten in der Ecke war wieder der Hund mit dem Selensky-Gesicht abgebildet (zwei Wochen später war der ukrainische Präsident in derselben Gestalt auf einer weiteren Fake-Titelseite mit dem neuen britischen König Charles III. zu sehen.)
    • Gegen Ende September wird die geografische Reichweite größer – diesmal verbreiten die Telegram-Kanäle ein angebliches Cover des spanischen Magazins El Jueves. Es zeigt die Leader der NATO-Länder, wie sie eine Videoansprache von Wladimir Putin sehen, die sie offenbar derart beeindruckt, dass sie sich in die Hose machen – die Urinspuren zu ihren Füßen ergeben die Buchstaben OTAN, die spanische Abkürzung für die Nordatlantische Allianz.
    • Anfang Oktober taucht die erste Titelseite aus den USA auf – angeblich soll die Zeitschrift Mad eine Karikatur veröffentlicht haben, die Joe Biden als Laokoon mit der berühmten antiken Skulpturengruppe zeigt. Als Schlangen fungieren die unlängst gesprengten Rohre der Gasleitung Nord Stream, daneben wieder die schon bekannte Gestalt des ukrainischen Präsidenten. „Natürlich war es Biden, er hat es bloß vergessen“, lautet die Bildunterschrift.
    • Ende November erschien ein Interview mit Papst Franziskus, in dem er sagte, Tschetschenen und Burjaten hätten sich als „die grausamsten“ Kriegsteilnehmer hervorgetan. Die russischen Machthaber reagierten umgehend auf seine Worte, indem sie den Pontifex an die Kreuzzüge erinnerten und ihm vorwarfen, er würde der LGBT-Gemeinschaft nahestehen; auf den Telegram-Kanälen tauchten wieder gefälschte Titelseiten auf. Eine – wieder angeblich von Charlie Hebdo – zeigt Franziskus, wie er einem Jugendlichen an den Hintern fasst, auf einer anderen – angeblich von der türkischen LeMan – sagt der Papst, neben einem Mann in Nazi-Uniform stehend: „Die Tschetschenen sind die eigentlichen Menschenquäler – nicht wir!“

    Fakes mit veralteten Strichcodes 

    Weder Charlie Hebdo noch die Kollegen aus den anderen Ländern haben Ausgaben mit diesen Titelseiten herausgebracht, wie das Faktencheck-Projekt Provereno und andere zeigten. Diese Karikaturen finden sich nicht auf den Seiten der entsprechenden Satire-Blätter, und unter den Nummern sind ganz andere Ausgaben erschienen. Zudem wurden auf den Fakes veraltete Strichcodes verwendet und Grammatikfehler gemacht. Die Zeitschrift Charlie Hebdo, die bei den russischen Telegram-Kanälen besonders beliebt ist, hat sogar eine Erklärung veröffentlicht, in der sie abstreitet, irgendetwas mit den in Umlauf gebrachten Karikaturen zu tun zu haben.

    Fake-Cover wenden sich an die Russen, die überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt

    Sämtliche Cover waren zunächst im russischsprachigen Segment des Messengers Telegram aufgetaucht und nicht in den sozialen Netzwerken oder auf den Seiten der Satiremagazine. Die beiden Cover mit Charles III. und der Pipeline Nord Stream wurden als erstes von Kristina Potuptschik gepostet, Medienmanagerin und ehemalige Kommissarin der kremltreuen Jugendbewegung Naschi [dt. die Unsrigen]. Die Karikatur von Macron und Selensky erschien erstmalig auf dem Telegram-Kanal Pul N3 – dahinter steht Dimitri Smirnow, der mit der Komsomolskaja Prawda eine der größten russischen Zeitungen im Journalistenpool des Präsidenten vertritt. Andere Cover erschienen auf Kanälen mit so sprechenden Namen wie Ukrainski Fresh, Putin TG Team und Putin bei Telegram.

    Vermutlich richten sich die Fake-Cover an die Russen, die auf diese Weise davon überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt, wobei die Regierungen der westlichen Länder das ignorieren und, besessen von dem Wunsch, das große Russland zu bezwingen, ihr Spiel spielen. Viele dieser Publikationen wurden auch außerhalb der russischen Föderation populär, was offenbar ein netter Bonus für ihre Erschaffer ist. Die Befürworter von Putins Krieg in Europa und anderen Teilen der Welt brauchen eine ähnliche Message wie die in Russland – und die bekommen sie.

    Die meisten der Karikaturen – von einem oder mehreren anonymen Autoren für kremltreue Telegram-Kanäle gezeichnet  – wurden als Titelseiten von Charlie Hebdo ausgegeben, einer Zeitschrift, die weder in Russland noch international einer Erklärung bedarf. Die Fälschung von Titelblättern einiger anderer Magazine war offenbar situationsbedingt, zum Beispiel ein Fake-Cover der Oktoberausgabe der deutschen Satirezeitschrift Titanic, auf dem Selensky als schwarzes Loch dargestellt ist, das militärische und finanzielle Hilfe anderer Staaten verschlingt. Diese Karikatur ist ein Beispiel für ein weiteres Narrativ, das auf Telegram aktiv vorangetrieben wird: Man vermittelt den Lesern, in den verschiedensten Ländern hätte die Bevölkerung vom ukrainischen Präsidenten die Nase voll.

    Glaubt man den kremltreuen Telegram-Kanälen, dann sind Vergleiche Wolodymyr Selenskys mit einem schwarzen Loch von Oktober bis Dezember 2022 auch als Graffiti in europäischen Hauptstädten und im Fernsehen vorgekommen, und engagierte Studenten aus Serbien hätten sogar dafür plädiert, ein echtes schwarzes Loch im Weltall nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. Hier ein paar dieser Falschmeldungen: 

    Geräusche aus dem schwarzen Loch    

    Mitte Oktober meldeten russische Telegram-Kanäle gefolgt von mehreren reichweitenstarken Medien einen Fauxpas im regionalen US-amerikanischen TV-Sender Local 4 News: Die Moderatoren hätten davon berichtet, dass es der NASA gelungen sei, die Geräusche eines schwarzen Lochs aufzuzeichnen, doch beim Abspielen des Videos sei ein Ausschnitt aus einer Videobotschaft von Wolodymyr Selensky auf dem Bildschirm erschienen. In Wirklichkeit war die Sendung bereits Ende August ausgestrahlt worden und der ukrainische Präsident kam nicht darin vor. 

    Graffitis mit schwarzem Loch

    Anfang November berichteten Medien und zahlreiche Internet-User, dass Graffiti-Künstler Selensky in Warschau als schwarzes Loch verewigt hätten. Diese Meldungen stützten sich auf einen Instagram-Account, der zu diesem Zeitpunkt 35 Follower hatte und nur einen einzigen Post – aus dem Zentrum der polnischen Hauptstadt. Dabei gab es in den Sozialen Netzwerken keine anderen Fotos dieses Werks, das sich an einer der belebtesten Kreuzungen Warschaus befunden haben soll. Die lokalen Behörden dementierten seine Existenz und Street-Art-Kenner hatten Zweifel daran – es sei unmöglich, unbemerkt und so schnell eine derart aufwändige Arbeit zu vollbringen. Zum Ende des Monats wurden Publikationen zu einem identischen (und ebenfalls nie existenten) Graffiti in Paris beliebt. 

    Banner mit schwarzem Loch

    Mitte November wurde auf Telegram die angebliche Reportage eines deutschen Mediums verbreitet (der Fernsehsender blieb ungenannt), zu sehen war da ein Bus mit der Aufschrift „Selensky ist ein schwarzes Loch“. Wie sich herausstellte, hatten die Produzenten des Fakes einen Ausschnitt aus einem sechs Wochen alten Interview mit einer Bundestagsabgeordneten für Die Welt manipuliert: Bei dem war im Hintergrund ein Bus mit dem Logo eines Transportunternehmens und nicht mit einer Diffamierung des ukrainischen Präsidenten vorbeigefahren.

    Benennung eines schwarzen Lochs nach Selensky

    Ende November tauchte in den Sozialen Netzwerken ein Video auf, das angeblich von der Deutschen Welle (DW) publiziert worden war. Es ging darin darum, dass Studenten der Universität Belgrad vorgeschlagen hätten, ein schwarzes Loch nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. In offiziellen Social-Media-Accounts der DW fehlt dieses Video allerdings, die englischen Untertitel zur Erklärung weisen massenhaft grammatikalische und stilistische Fehler auf, und die „serbischen Studenten“ sind in Wirklichkeit Cottbuser Schüler aus einem Beitrag der DW von 2017. 

    Wie auch im Fall der Cover war das erste Beispiel dieses Narrativs – Selensky als schwarzes Loch – erstmals in Kristina Potuptschiks Telegram-Kanal zu sehen. Auch sonstige erfundene Beweise dafür, dass die Bevölkerung westlicher Länder von der Unterstützung der Ukraine genug hätte, postete die Medienmanagerin, aber nicht als Erste. Verbreitet wurden diese Fakes unter anderem von wichtigen russischen Medien wie Argumenty i fakty, Life und Rossiskaja Gaseta, sowie von Wladimir Solowjow und anderen Größen des russischen Fernsehens.

    Crossover goes Propaganda

    In der Pop-Kultur nennt man es „Crossover“, wenn in einem Film oder Buch Figuren aus anderen Werken vorkommen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Diesen Kniff wenden allem Anschein nach jetzt auch die Propagandisten an. Uns sind mindestens zwei solcher Fälle bekannt.

    Bei einem davon geht es ebenfalls um den Vergleich Selenskys mit einem schwarzen Loch – Anfang November meldeten russische Medien, etwa Izvestia oder Ren TV, dass auf einem Bildschirm auf dem New Yorker Time Square ein Video mit den Worten „black hole“ und einer Porträtaufnahme des ukrainischen Präsidenten gelaufen sei. Von diesem Zwischenfall berichteten übrigens weder amerikanische Medien noch die zigtausend New Yorker, die jeden Tag über diesen betriebsamen Platz laufen. 

    Mitte des Monats teilten dann Telegram-Blogger, allen voran Potuptschik, fleißig eine Karikatur – angeblich vom Cover der spanischen Zeitschrift El Jueves. Sie zeigte den Time Square mit Selensky auf einem Bildschirm, während einfache New Yorker kotzen. „So aufdringlich wie ein Dickpic“, lautet die Bildunterschrift. Und selbstverständlich hat genau wie bei unseren bisherigen Beispielen die angeblich zitierte Satirezeitschrift nie ein solches Cover herausgebracht.

    Neonazis bei der Fußball WM

    Das andere Crossover wurde rund um das propagandistische Klischee über die flächendeckende Verbreitung des Neonazismus in der Ukraine konstruiert. Am 22. November, kurz nach Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, berichteten regierungstreue russische Blogger und einige Medien, ukrainische Fans hätten in Katar ein Banner beschmiert, dem darauf abgebildeten Turnier-Maskottchen ein Hitlerbärtchen aufgemalt und „Sieg Heil“ dazugeschrieben. Die Autoren der Meldung beriefen sich auf ein angeblich von Al Jazeera gemachtes Video, das, wie Faktenchecker herausfanden, erstmals im russischen Telegram aufgetaucht ist. Das Video war aus YouTube-Filmen montiert worden (eines davon neun Jahre alt), und das einzige Foto vom angeblichen Ort des Vandalismus wurde mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert. 

    Telegram wird zu einer Karikatur seiner selbst

    Trotzdem kursierte in den sozialen Netzwerken bereits zwei Tage später ein angebliches Charlie-Hebdo-Cover, auf dem das Banner gerade beschmiert wird und Einheimische von Katar dazu meinen, das sei „etwas auf Ukrainisch“. Natürlich hat es so ein Titelblatt nie wirklich gegeben. In einem Kommentar zu diesen Fake-Covers erklärte die Redaktion der berühmten französischen Zeitschrift: „Die App Telegram … ursprünglich erfunden, um den russischen Geheimdiensten auszuweichen, wird zu einer Karikatur ihrer selbst.“ 

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Bilder vom Krieg #9

    Bilder vom Krieg #9

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin

    Links: Nach massiven Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur in der Ukraine kommt es im gesamten Land immer wieder zu Stromausfällen und Ausfällen der Wasserversorgung. Kyjiw, 24.11.2022. Rechts: Denys. Kyjiw, 04.12.2022. Fotos © Vsevolod Kazarin und Sebastian Wells/Ostkreuz

    SEBASTIAN WELLS
    „Es hat sich nicht richtig angefühlt, zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen“

    Seit meiner ersten Reise nach Kyjiw im April 2022 ist die Stadt wie zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Es ging mir darum, die Ukraine und den Krieg besser zu verstehen und herauszufinden, welche Rolle ich als Fotograf in einer solchen Situation haben kann – dabei wollte ich auf keinen Fall in Kampfgebiete. Ich konnte viele Menschen kennenlernen und Freundschaften schließen. Zum Beispiel mit Vsevolod Kazarin, mit dem ich dieses Foto von Denys zusammen aufgenommen habe, und auch fast alle anderen Bilder, die in der Ukraine entstanden sind. Denys ist inzwischen 25 Jahre alt und kommt aus Donezk. 2016 floh er als Teenager aus der Stadt. Doch er wollte sie nicht sang- und klanglos verlassen, sagt er. Zusammen mit einem Freund, einer blauen und einer gelben Spraydose und einer Gesichtsmaske bewaffnet, lief er um 4 Uhr morgens zum Lenin-Denkmal im Stadtzentrum. Auf einem der am besten bewachten Orte der Stadt sprühten die beiden eine ukrainische Flagge auf den Sockel der großen Statue. Die beiden rannten zu einem Taxi, fuhren zum Bahnhof und erst nach Charkiw, dann nach Kyjiw. 

    „Wir waren naive Jugendliche“, sagt er dazu heute. „Erst im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie gefährlich das war.“ Sie filmten ihre Aktion, die ein YouTube-Hit wurde – was für Denys zweifelsohne harte Konsequenzen seitens der russischen Besatzungsverwaltung haben könnte, würde er jetzt nach Donezk zurückkehren. Dann war er ganz allein in Kyjiw – im Winter, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Netzwerk. Fünf Jahre brauchte er, um in der Hauptstadt anzukommen. Heute hat er einen Vintage-Laden und ein Tattoo-Studio im Zentrum von Kyjiw. Von seiner Mutter, die noch in Donezk wohnt, hört er, dass sie dort nur noch einmal in der Woche Wasser haben und dass fast keine Männer mehr arbeiten, weil die meisten im Militär sind – oder bereits an der Front gestorben.

    Während meiner Reisen nach Kyjiw habe ich nicht viel fotografiert, aber dafür umso mehr gelernt. Vor allem über die vielseitige Kunstgeschichte des Landes, die in den Breitengraden, in denen ich aufgewachsen bin, fast keine Rolle spielt – obwohl einst im selben Ostblock befindlich.

    Es hat sich oft nicht richtig angefühlt, den Alltag zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen. Aus der Zusammenarbeit mit Vsevolod ist ein Magazin entstanden: soлomiya. Wir wollten eine Publikation machen, die sowohl für Ukrainer*innen als auch für Menschen in mittel- und westeuropäischen Ländern interessant ist. Das verbindende Mittel dabei ist der Fokus auf junge Menschen und künstlerische Ausdrucksformen. Inzwischen machen wir ein Crowdfunding für die zweite Ausgabe. Ein positives Gefühl in einem ansonsten durch und durch grässlichen Krieg.

     

     

    SEBASTIAN WELLS
    Sebastian Wells ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Als Mitglied des Berliner Fotografenkollektivs Ostkreuz und Künstler der Galerie Springer. Er arbeitet im Auftrag und an eigenen Projekten als Dokumentarfotograf. Er studierte Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin, der FH Bielefeld und der KASK School of Arts in Gent.

    VSEVOLOD KAZARIN
    Vsevolod Kazarin ist ein junger Fotograf, der an künstlerischen, redaktionellen und kommerziellen Projekten arbeitet. Er wurde in der Region Luhansk geboren und wuchs in einem Vorort von Kyjiw auf, wo er derzeit lebt. Nach einem Bachelor-Abschluss in Fotografie an der Kyiv National University of Culture and Arts arbeitete er hauptsächlich in der Modefotografie

    GEMEINSAME AUSSTELLUNGEN 
    2022 Artist Talk and Group Exhibition, soлomiya № 1, Galerie Springer, Berlin
    2022 Group Exhibition, soлomiya № 1, Feldfünf Projekträume, Berlin


    Fotos: Sebastian Wells/Ostkreuz, Vsevolod Kazarin
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Veröffentlicht am 12.01.2023

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  • Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Auch an den Neujahrsfeiertagen gehen russische Angriffe auf die Ukraine unvermindert weiter. Seine traditionelle Neujahrsansprache hat Wladimir Putin in diesem Jahr entgegen der Tradition nicht vor dem Kreml gehalten, sondern im Kreis von Soldatinnen und Soldaten der russischen Armee. Putin hatte sie im südlichen Militärbezirk in Rostow am Don besucht. In seiner Rede warf er dem Westen Lügen vor und auch, die Ukraine zu benutzen, um Russland zu schaden. 
    Der US-amerikanische Think Tank Institute for the Study of War (ISW) hält Putins Worte für einen Versuch, den kostspieligen Krieg zu rechtfertigen und sich selbst dabei als Kriegsführer darzustellen, der alles unter Kontrolle habe. Der Think Tank liest darin außerdem auch die Botschaft, dass der Kreml an einem Frieden nicht interessiert sei, es sei denn, er diktiere der Ukraine und dem Westen die Bedingungen dafür.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky indes erklärte in seiner Neujahrsansprache, den Ukrainern könne nichts mehr Angst machen – sie seien für 2023 auf alles gefasst. Das neue Jahr möge ein „Jahr der Heimkehr“ werden. Er sprach von einer Ukraine, die wieder 603.628 Quadratkilometer hat, „das Gebiet der unabhängigen Ukraine, wie es seit 1991 besteht“.

    Wie wichtig es ist, in Szenarien zu denken, und wie schwer, Prognosen zu treffen, da das Handeln des Kreml keiner Logik und keinem Plan mehr folgt – das thematisiert Meduza-Politikredakteur Andrej Perzew in Kit, einem Newsletter-Format von Meduza. Solche Mailinglisten sind mehr und mehr nach dem 24. Februar aufgekommen, als im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mehr und mehr Websites unabhängiger Medien in Russland blockiert wurden und nicht mehr ohne Weiteres zugänglich waren.

    Wir haben sehr lange in einer Wirklichkeit gelebt, in der Putin eine Art Plan hatte. Wenn die Zeit reif war, erfuhren wir neue Einzelheiten dieses Plans, und die Ungeduldigen konnten sich den nächsten Schritt auch ausrechnen – mithilfe der „Kreml-Logik“. So eine Art „Lebensregeln“ der obersten Staatslenker, und wer die Logik dahinter kennt, der kann Russland verstehen – nicht nur den Kern dessen erkennen, was gerade geschieht, sondern auch die Zukunft vorhersagen. Unter anderem dank der Kreml-Logik florierte die politische Journalistik im Land – regierungsnahe Quellen erzählten den russischen Staatsbürgern, worüber man im Kreml nachdenkt und spricht. Die Kreml-Logik hat auch die anonymen Telegram-Kanäle populär gemacht, die im Netz Gerüchte und Analysen im Sinne der offiziellen Leitfäden verbreiteten.

    Mit „Putins Plan“ und „Kreml-Logik“ existierte das Land über 20 Jahre. Einerseits war es wenig erfreulich zu wissen, dass wir von dem Willen eines einzelnen Menschen abhängen. Andererseits half es dabei, relativ angstfrei in die Zukunft zu blicken – wo man Prognosen aufstellen kann, da entsteht ein Gefühl von Kontrolle, auch wenn man in Wirklichkeit keinerlei Kontrolle hat.

    Den Kreml-Bewohnern sind Plan und Logik abhandengekommen

    Der Krieg hat alles verändert. Ich bin mir sicher, dass jeder, der diese Zeilen liest, ihn nicht nur als globale, sondern auch als persönliche Tragödie empfindet. Die Rede ist von einem sehr egoistischen Gefühl: als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Es gibt keine Zukunft mehr, man kann weder über sie nachdenken noch etwas planen. Genau das Gleiche empfinden gerade auch die Kreml-Bewohner: Ihnen sind Plan und Logik abhandengekommen. 

    In den 2010er Jahren war beides im Vorgehen der russischen Machthaber noch irgendwie erkennbar. Im Inneren setzte das System auf die Verschärfung der Repressionen und die Verstaatlichung der Wirtschaft (das heißt, auf die Umverteilung von Aktiva zugunsten der engsten Umgebung des Präsidenten). Beim Unterdrücken und Umverteilen vergaß der Präsident allerdings nicht, dass ihn die völlige Willkür den Zugang zur Macht kosten könnte. Deshalb griff der Kreml selten zu unpopulären Mitteln, hielt die soziale Stabilität aktiv aufrecht und gab den Bürgern sogar die Möglichkeit, ihren Dampf bei sogenannten Wahlen abzulassen. Für diejenigen, die die Nase voll hatten, hielten die Wahlzettel stets etwas parat – einen oppositionellen Kandidaten oder eine Spoiler-Partei

    In den internationalen Beziehungen agierte Putin ganz ähnlich – er pflegte das Bad-Boy-Image, aber wusste zugleich, wann es genug war. Die „roten Linien“ des Westens überschritt er nicht: Putin war zum Beispiel schon 2014 klar, dass er noch härtere Sanktionen als bei der Krim riskiert, wenn er es im Donbass zu weit treibt. Das war es ihm nicht wert. Deshalb schickte er seine Truppen nicht offiziell in die Oblast Donezk oder Luhansk. Was das Regime sich auch in den Kopf setzte, der Nutzen im Sinne der „Realpolitik“ blieb immer das Wichtigste.

    Aber vier Jahre später, als Wladimir Putin 2018 zum wiederholten Male Präsident wurde, änderte er seine Herangehensweise und griff schließlich zu unpopulären Maßnahmen, von denen er bisher offenkundig Abstand gehalten hatte. So verkündete die Regierung 2018 beispielsweise die Rentenreform – und sackte in den Umfragen sofort drastisch ab.

    Putin macht nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt

    Im Handeln des Kreml war immer weniger Kreml-Logik zu erkennen. Denken wir an einen weiteren Meilenstein der neuesten russischen Geschichte – das Referendum über die Verfassungsänderungen. Wo lag hier der Nutzen? Laut Gesetz war die Willensäußerung des Volkes nicht obligatorisch – obligatorisch sind Referenden nur bei Änderungen in den ersten beiden Kapitel des Grundgesetzes, und dort wollte Putin gar nichts ändern. Es hätte also gereicht, wenn sich die Abgeordneten der Staatsduma und die Mitglieder des Föderalen Rates abgestimmt hätten. Aber das Referendum wurde trotz allem durchgeführt, sogar trotz Pandemie. Die Russen stimmten in Kofferräumen, auf Steinen und Baumstümpfen ab (das sind alles reale Beispiele, falls es jemand vergessen hat), und zwar nicht aus pragmatischen Gründen, sondern einfach, weil es Wladimir Putin gefällt zu sehen, wie sein Volk ihn unterstützt. Er macht also nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt.

    Aber selbst als das offensichtlich wurde, machten wir, die russischen Politikexperten, so weiter, als würde die Kreml-Logik immer noch funktionieren. Genau aus diesem Grund glaubten viele von uns nicht daran, dass der Krieg möglich wäre, quasi bis zum letzten Tag – denn ein Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur monströs, sondern unpraktisch. Und Putin ist doch Pragmatiker, der würde doch niemals irrational handeln. Ja, ja, er droht vielleicht mit Manövern an der Grenze, aber er verfolgt damit auch klare Ziele – eine weitere Verhandlungsrunde mit den USA oder die Aufhebung von Sanktionen. Ein Jahr vor dem Krieg war es übrigens genauso: Damals fand vor dem Hintergrund der Manöver russischer Truppen an der ukrainischen Grenze ein Treffen zwischen Wladimir Putin und Joe Biden statt.

    Wir, die Politikexperten, machten so weiter, als würde die Kreml-Logik noch immer funktionieren

    Es ist immer noch schwer zu glauben, aber Putins manisches Verlangen, das Nachbarland zu erobern, hat alle rationalen Argumente übertrumpft. Ukrainische Städte werden bombardiert, nur weil Putin das so will. Und es tut ihm um niemanden leid – weder um Ukrainer noch um Russen.
    Wonach es ihm danach verlangen wird, wissen wir nicht und können es nicht wissen, und deshalb haben wir – das muss man sich endlich eingestehen – jede Möglichkeit verloren, das Vorgehen des Kreml vorauszusagen. Es folgt keiner Logik mehr, und deshalb fehlt diese auch für unsere Prognosen.

    Was bleibt dann noch?

    Ein simples Beispiel aus dem Alltag. Nehmen wir an, Sie haben beschlossen, nach der Arbeit zu entspannen und einen lustigen Film zu schauen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie Ihre Zeit genauso verbringen werden, wie Sie es sich vorgenommen haben, und nur höhere Gewalt würde Sie davon abhalten. Sie werden Ihre Entscheidung kaum selbst ändern: Sie sind zu Hause, wo Sie die Kontrolle haben, und das Internet wimmelt von Filmen für jeden Geschmack.

    Eine ganz andere Sache ist es, wenn Sie am Wochenende einen Ausflug ins Umland planen. Es ist Spätherbst, das Wetter ist sehr wechselhaft. Alles Mögliche kann schiefgehen. Zum Beispiel ein Temperatursturz. Oder es schüttet aus Eimern. Oder ein Sturm. Kurz gesagt, Sie sollten bereit sein, zu Hause zu bleiben und noch ein paar Filme zu schauen. Oder Sie gehen trotzdem los und werden nass bis auf die Knochen.

    Im Grunde hat der Kreml einen Ausflug ins Umland geplant, doch dann ist ein Sturm aufgezogen. Noch dazu ist Moskau Stürme nicht gewohnt — vor dem Krieg lebte man hier unter günstigsten Bedingungen, und niemals wurden Pläne durch äußere Einflüsse durchkreuzt. Dank der hohen Preise für Erdöl und Gas füllt sich die Staatskasse, die schweigende Mehrheit hatte sich an Wahlen ohne Auswahl gewöhnt, und den aktiven Protesten der vorlauten Minderheit hatte man durch verschärfte Gesetze erfolgreich Einhalt geboten. Das System hatte alles unter Kontrolle und war maximal stabil. Die Gesellschaft spürte das genau, und vielen war diese Gemengelage nicht unrecht – die Stabilität des Systems galt nicht nur der Regierung, sondern auch dem Volk als höchste politische Tugend.

    Außer Kontrolle

    Mit dem Beginn des Krieges begab sich der Kreml auf ein Territorium, das er nicht kontrollieren kann. Mit Territorium ist hier nicht einmal konkret das Staatsgebiet der Ukraine gemeint (obwohl natürlich auch das), sondern die Situation insgesamt. Plötzlich wurde der entscheidende politische Überlebensfaktor ein gewisser Anderer – ein ganzes Land, die Ukraine, sowie alle ihre Verbündeten –, der jederzeit reagieren kann, und zwar überraschend und heftig. Nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Sanktionen, von denen etliche wirklich schmerzhaft sind. All das erzeugt einen gewaltigen Unsicherheitsfaktor nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Systems. 

    Die Unsicherheit verdichtet sich in all diesen langen Monaten, und der Kreml gerät ins Schleudern. Im August und September, als den ukrainischen Truppen plötzlich eine Gegenoffensive in der Oblast Charkiw gelang, begann er also Referenden über die „Eingliederung“ der besetzten Gebiete mal chaotisch abzusagen, dann wieder eilig anzuberaumen. Sie hätten in feierlicher und ruhiger Atmosphäre stattfinden sollen, doch weder das eine noch das andere wurde erzielt: Die Referenden verliefen chaotisch und unschön, ohne Kampagne, unter vorgehaltenen Pistolen. Ein logischer Schritt wäre gewesen, sie zu verschieben, aber wir wissen ja bereits, dass es im Kreml keine Logik mehr gibt. Wenn noch irgendwo tief drinnen ein letztes Fünkchen existiert hat, so gehört es mittlerweile zusammen mit dem Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, endgültig der Vergangenheit an.

    Mobilmachung: Neue Unsicherheit im Inland

    Um auf dem Schlachtfeld Macht, Kontrolle und Initiative zurückzugewinnen, entschloss sich der Kreml zur Mobilmachung – und zog sich damit eine neue Unsicherheit im Inland zu. Damit trat ein weiterer Anderer auf den Plan, von dessen Vorgehen die Machthaber jetzt ebenfalls abhängig sind: der Russe, der nicht in den Schützengraben will. Noch ist schwer zu sagen, wie viele es sind – nicht nur die, die aus dem Land geflohen sind, sondern auch die, die sich in den Städten und Dörfern Russlands vor der Einberufung verstecken. Doch zusammen mit ihren empörten Verwandten bilden sie eine bedrohliche Unsicherheitswolke, mit der die Machthaber eindeutig ebenfalls nicht gerechnet haben. Wie der Zusammenprall zwischen dem Kreml und dieser Wolke ausgehen wird, ist schwer abzusehen, zumal wir ja noch nicht einmal die jüngste Vergangenheit verstanden haben. Zum Beispiel die Proteste gegen die Mobilmachung in der föderalen Regierung des sonst so loyalen Dagestan – was war das? Wird es das wieder geben? Noch vor ganz kurzer Zeit hatte man sich solche Proteste überhaupt nicht vorstellen können, aber sie sind passiert. Dafür reagierten traditionell „protestfreudige“ Städte wie Moskau und Sankt Petersburg auf die Mobilisierung und die Razzien eher kühl. Und wieder: Was war das? Wird es das nächste Mal auch so sein? Oder werden wir auf den Plätzen der Metropolen doch noch große Demonstrationen sehen?

    Was tun?

    Vielleicht hat der Kreml zum ersten Mal wirklich keine Ahnung — genauso wie wir. Angesichts des totalen Unwissens – der berühmte „Nebel des Krieges“ überzieht längst nicht nur das Schlachtfeld, sondern das ganze Land – ändern die Behörden nun ständig ihre Pläne. Wie soll man in einer Realität leben, in der der Hauptakteur – die Staatsmacht – jegliche Logik verloren, die Pragmatik vergessen, die Initiative verspielt hat und auf das Chaos zuläuft? Ich habe dazu drei Tipps.

    Erstens – gewöhnen Sie sich dran: Es gibt keine Prognosen, und es kann auch keine geben. Damit, dass Pläne schmieden im Privatleben sinnlos geworden ist, haben wir uns schon abgefunden. Pläne gibt es mittlerweile genauso wenig wie Logik, es gibt nur noch „Szenarien“. Für den Kreml gilt dasselbe: Meist gibt es mehrere Szenarien, an denen parallel gearbeitet wird, und jedes kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden. Lesen Sie jede politische Analyse durch dieses Prisma.

    Viele politische Beobachter (mich eingeschlossen) berufen sich auf ihre Quellen in der Regierung. Auch hier hat sich etwas verschoben. Es gibt im Kreml keinen Beamten, der jetzt irgendetwas vorhersagen könnte, nicht einmal, wenn er sehr viel Einfluss hat. Alles hängt davon ab, wonach es den Präsidenten gelüstet, doch was ihm morgen in den Sinn kommt, kann niemand wissen. Nicht einmal ein russischer Militärangehöriger höchsten Ranges weiß Bescheid, welchen Befehl er als nächstes erhält, wie seine Leute an der Front diesen Befehl ausführen werden und wie die ukrainische Armee reagieren wird. 

    Niemand. Weiß. Etwas. 

    Daher klingt jede Antwort jeder Quelle in der Regierung auf jede meiner Fragen ungefähr so: „Wir bereiten uns auf dieses und jenes vor, aber was dabei herauskommt, hängt vom Präsidenten ab.“

    Das wird in der Führungsriege möglicherweise lange so gehen, aber das ist kein Grund, von vornherein keine politischen Analysen mehr zu lesen. Schließlich sind sogar Informationen wie diese ein Indikator für das aktuelle Geschehen. 

    Zweitens, denken Sie daran: Unsicherheit ist die Norm. Das Leben ist unvorhersehbar. Alles fließt, alles verändert sich. Niemand weiß, was morgen sein wird. Ja, das sind lauter abgedroschene Phrasen, aber das macht sie nicht weniger wahr. In den letzten gut zwanzig Jahren haben die Russen vergessen, dass im Grunde jede Situation – auch die politische – von vielen Faktoren und Akteuren abhängt und nicht nur von der Willkür da oben im Kremlturm. Es ist an der Zeit, uns das in Erinnerung zu rufen – und auch dem Kreml.

    Und schließlich drittens: Vergessen Sie nicht, dass das alles kein finales Urteil ist. Der Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft und das Vorgehen ihrer Streitkräfte haben bewiesen, dass „Putins Pläne“ oder die „Kremllogik“ nichts Endgültiges sind, gegen das man nichts machen kann. Man kann Widerstand leisten gegen sie und versuchen, aus ihren „Plänen“ eigene „Szenarien“ zu machen. 
    Im Februar bezweifelte kaum jemand, dass die russische Armee in Kyjiw einmarschieren würde. Jetzt gibt es immer weniger Zweifel, dass die ukrainischen Gebiete, die jetzt von Russland kontrolliert werden, wieder zurück an die Ukraine gehen – mindestens in den Grenzen vor dem 24. Februar. 

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  • „Es muss eine völlig andere Aufmerksamkeit für Tonfall und Worte geben“

    „Es muss eine völlig andere Aufmerksamkeit für Tonfall und Worte geben“

    „Wir hoffen, dass wir auch vielen Soldaten helfen konnten, zum Beispiel mit Ausrüstung und einer einfachen Grundausstattung an der Front.“ Mit diesem Satz hat TV-Host Alexej Korosteljow im unabhängigen Fernsehsender Doshd am vergangenen Donnerstag, 1. Dezember 2022, einen Skandal ausgelöst. Es waren zunächst ukrainische Aktivisten und Journalisten, die auf die Äußerung hinwiesen. Korosteljow selbst und auch Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko entschuldigten sich. Korosteljow schrieb, seine Worte seien „aus dem Kontext“ gerissen worden, was für weitere Kritik sorgte. In Lettland, von wo der exilierte Sender derzeit arbeitet, wurde eine Überprüfung eingeleitet. Manche Stimmen warfen Doshd sogar vor, für den russischen Geheimdienst zu arbeiten. 

    Schließlich verkündete der Sender die fristlose Kündigung Korosteljows, der seit Jahren für Doshd arbeitet und eines der bekanntesten Gesichter des Senders ist. Dies wiederum sorgte für einen Sturm der Entrüstung unter russischen Exiljournalisten. Zwei weitere populäre Doshd-Moderatoren, Margarita Ljutowa und Wladimir Romenski, gaben aus Solidarität mit Korosteljow ihren Rücktritt bekannt. Auch Korosteljows Lebensgefährtin Darina Lukutina kündigte ihren Rücktritt beim Fernsehsender an. „Ich verstehe nicht, wie ein Angestellter geopfert werden kann, um einem Staat zu gefallen, noch bevor dieser Staat ein solches Opfer verlangt hat“, schrieb sie auf Facebook.

    In den Chor an Stimmen, die den Vorgang in den Sozialen Medien heftig diskutierten, mischte sich auch die bekannte Journalistin Xenia Larina, die auch für The Insider und Echo Moskwy arbeitet. Auf Telegram nimmt sie Doshd wie auch Korosteljow in Teilen in Schutz, mahnt zugleich aber eine fehlende Selbstkritik für den gesamten unabhängigen russischen (Exil-)Journalismus an.

    Ich habe die besagte Episode gestern nicht live gesehen, sondern heute, als der Skandal schon auf allen Kanälen tobte.
    Zunächst schrieb ich unterstützende Worte für Ljoscha Korosteljow, dann für Tichon Dsjadko. Später dann sah ich Katja Kotrikadses Stellungnahme zu Beginn der Nachrichten, die Stellungnahme der Redaktion von Doshd mit Erklärungen und Entschuldigungen und mit der Entscheidung, Korosteljow zu entlassen. Das waren herzzerreißende Worte. Katerina ist tough und willensstark, sie hat ihr Gesicht und ihre Haltung in den schwierigsten Live-Situationen unter Kontrolle – hier und jetzt konnte sie die Tränen fast nicht zurückhalten. An ihrem emotionalen Zustand war zu erkennen, wie schwer die Entscheidung über die Entlassung ihres Kollegen war, einen der besten Journalisten von Doshd.

    Doshd-Chat-Bot macht die Verbrechen der russischen Machthaber gegen ihre eigenen Bürger deutlich

    Heute nun habe ich den Beitrag für einen ukrainischen Sender kommentiert. Und habe natürlich gesagt, dass in Live-Situationen niemand vor Fehlern, Versprechern und falschen Bewertungen gefeit ist, vor „Schnitzern“. Und dass ich überzeugt bin, dass es in Alexejs Worten keinen bösen Vorsatz gab.
    In den Doshd-Nachrichten wird regelmäßig hingewiesen auf den Telegram-Chat-Bot für Anrufe und Nachrichten der Mobilisierten und ihrer Angehörigen. Dieser Kommunikationskanal macht die Verbrechen der russischen Machthaber gegen ihre eigenen Bürger deutlich, zeigt die Abscheulichkeit des Regimes, seine ständigen Lügen und seine Verachtung für das eigene Volk.

    Alexejs Worte haben den Sinn dieser Aktion völlig entstellt und pervertiert

    Alexejs Worte haben den Sinn dieser Aktion völlig entstellt und pervertiert. Ja, das war ein missglückter Versuch, dieser kargen Ansage „etwas Persönliches“, etwas „Menschliches“ hinzuzufügen.

    Das passiert jedem. Aber nicht jeder moderiert Live-Sendungen während eines ungeheuerlichen Krieges, der von einem Staat entfacht wurde, dessen Bürger du bist. Hier muss es eine völlig andere Aufmerksamkeit für Details, Tonfall und Worte geben. Und hier stellt sich die überaus wichtige Frage, die überhaupt nicht diskutiert wird in der russischsprachigen Journalisten-Community, unter Journalisten im Exil:

    Sind die gewohnten Standards des Journalismus anwendbar, wenn man einen Pass des Aggressor-Landes besitzt?

    Wer sind wir? Wen vertreten wir? An wen richten wir uns in russischer Sprache? Sind die gewohnten Standards des Journalismus – des freien, professionellen Journalismus – in Kriegszeiten anwendbar, noch dazu, wenn man einen Pass des Aggressor-Landes besitzt? Der ganze Pluralismus, all das „die andere Seite zu Wort kommen lassen“, all die freien Meinungen und Äußerungen? Und was ist überhaupt „die andere Seite“, wenn es die Seite der Invasoren und die Seite der Opfer gibt? Darf man sich das in politischen und militärischen Konflikten als Journalist aussuchen? Finden wir immer den richtigen und genauen Ton, verletzen wir nicht die Grenzen fremder Freiheiten und Rechte, während wir uns außerhalb von Russland befinden? Ich glaube, das sind sehr wichtige Fragen. 

    Wir alle sind besudelt in diesem Krieg und haben kein Recht auf eine besondere Aufmerksamkeit

    Wir alle sind besudelt in diesem Krieg. Und wir haben kein Recht darauf, eine besondere Aufmerksamkeit für uns einzufordern, niemand ist uns Hilfe schuldig dabei, diesen Schmutz abzuwaschen, niemand ist verpflichtet, sich in unsere Situation hineinzuversetzen, uns Visum und Arbeitserlaubnis auf dem Silbertablett zu servieren. Wenn es eine kollektive Schuld und eine kollektive Verantwortung gibt, dann ist die Art und Weise, wie sich jeder identifiziert, persönlich.

    Die Position von Doshd, die mehrfach von deren Journalisten ausgesprochen wurde, ist offensichtlich und braucht keine Bestätigung, denn schon die Sendungen von Doshd sind dafür das wichtigste Zeugnis: Sie bezeichnen den Krieg als Krieg, Russland als Aggressor und Putin als Verbrecher. Das ist das Wichtigste. Und es ist die persönliche Entscheidung eines jeden Journalisten, sich zu einer Redaktion zusammenzuschließen, deren Prinzipien vollständig mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen. 

    Ich habe keine Zweifel, dass Alexej Korosteljow dieselben Prinzipien vertritt, dass er einfach einen „unpassenden Scherz“ gemacht hat, um es in den Worten Bulgakows zu sagen. Ich unterstütze Alexej und bin sicher, dass er nicht ohne Arbeit bleiben wird. Und ich verstehe und akzeptiere die Entscheidung der Doshd-Spitze, die in schwerem Kreuzfeuer steht – sie werden aus allen Richtungen mit Steinen beworfen, von den eigenen Leuten, von anderen, von Europäern und von Russen, von Ukrainern und Letten … Aber sie machen ihre Arbeit. Und sie machen sie gut. Ihren Beitrag zum Sieg über das Böse zu bewerten, steht noch aus. Aber der Sieg ist gewiss. 

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  • „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    Der russische Krieg gegen die Ukraine gilt unter vielen Wissenschaftlern, Journalisten und Aktivisten als ein imperialer Krieg: Wladimir Putin spricht der Ukraine das Daseinsrecht ab, will das Land offensichtlich unterwerfen, in der russischen Propaganda wird von „Entukrainisierung“ der Ukraine fantasiert, manche fordern eine „Russifizierung“ – all das erinnert an das Imperiale des Russischen Reiches und/oder der Sowjetunion.

    Auch die russische Historikerin Tamara Eidelman sagt, dass die Idee eines russischen Imperiums bei Putin fortlebe, allerdings in einer „verqueren Weise“: „Ich glaube nicht, dass er von Moskau als dem Dritten Rom träumt – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber dass er das Imperium wiedererrichten will, das steht außer Frage.“

    Eidelman ist eine sehr bekannte Historikerin mit einem erfolgreichen YouTube-Kanal zur russischen Geschichte: Der 62-Jährigen, die inzwischen nicht mehr in Russland lebt, folgen dort eine Million Abonnenten. Mit der Novaya Gazeta Europe spricht sie über die Geschichte des russischen Imperiums seit den Anfängen im 16. Jahrhundert und darüber, was das mit der Gegenwart des Krieges unter Putin zu tun hat.

    Nikita Pegow: Was ist der russische Imperialismus, wo sind seine Wurzeln? Was hat Putins Russland vom ursprünglichen russischen Imperialismus geerbt?

    Tamara Eidelman: Ich denke, der Imperialismus war in Russland im Keim schon da, bevor es das Wort Imperium überhaupt gab. Peter der Große war der Erste, der offiziell zum Imperator ernannt wurde, aber eigentlich hat das Imperium schon vorher Gestalt angenommen: Als das Moskauer Zarenreich begann, sich auszudehnen und neue Gebiete einzunehmen – die Wolgaregion unter Iwan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert, Sibirien im 17. Jahrhundert –, war der Grundstein für das Russische Imperium bereits gelegt.

    Parallel dazu bildete sich die Ideologie heraus. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts verfasste der Mönch Filofej von Pskow sein berühmtes Schreiben an Wassili III., in dem er den Gedanken formulierte, Moskau sei das Dritte Rom. Filofej wäre wohl sehr überrascht gewesen, hätte er erfahren, wie viele Jahrhunderte seine Idee überdauern würde und wie sie transformiert wurde. Rom stellten sich die Menschen im 16. Jahrhundert als Zentrum eines Weltreichs vor – für Filofej war es ein orthodoxes. Diese Idee wurde unter Katharina der Großen wieder lebendig. Sie wollte Konstantinopel erobern und dort einen orthodoxen Staat errichten. Diese Idee lebte im 19. Jahrhundert weiter, als Russland in den Balkan vordrang und ebenfalls von Konstantinopel träumte. Auf die gleiche verquere Weise lebt die Idee auch bei Putin fort. Er träumt wohl nicht von Moskau als dem Dritten Rom – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber er will das Imperium wiedererrichten, das steht außer Frage.

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. […] Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus!

    Inwiefern stützt er sich auf die Erfahrung seiner Vorgänger? Lässt Putin sich von einem historischen Gedächtnis leiten, oder ist es etwas Impulsives, Irrationales?

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. Erstens weiß ich nicht, woher er die haben sollte – sicher nicht von der KGB-Schule und auch nicht aus Dresden, wo er als Außenagent im Einsatz war. Der Mann hat in Deutschland gelebt, aber macht Fehler, die jeder Schüler korrigieren kann. Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus! Er ist von Leuten umgeben, die für ihn vom Russki Mir inspirierte Reden schreiben. Diese Ideologie wurzelt tief in der imperialistischen Idee in ihrem übelsten Sinne – Imperialismus ist ja nicht gleich Imperialismus, genauso wie Imperien ganz unterschiedlich sein können.

    Meines Erachtens sind für Putin die letzten Regierungsjahre Stalins sehr wichtig, denn in der Nachkriegsepoche formierte sich auch bei Stalin eine imperiale Ideologie.

    Die Bolschewiki hatten in den ersten Jahrzehnten ihrer Herrschaft vom Internationalismus gesprochen, von der Weltrevolution, sie erschufen nationale Kader in den verschiedenen Republiken. Natürlich gab es damals keine Freiheit im eigentlichen Sinne, aber sie operierten jedenfalls mit diesen Begriffen; der Internationalismus war für viele Menschen sehr wichtig.

    Und dann erhebt Stalin 1945 auf einem Bankett zur Feier des Sieges sein Glas auf das russische Volk, das plötzlich die größten Opfer im Krieg davongetragen haben soll. Von diesem Moment an festigt sich der Gedanke, das russische Volk sei der große Bruder aller anderen Völker. Das lässt sich an der gesamten Politik des Spätstalinismus gut beobachten. Zum Beispiel an den Deportationen der nordkaukasischen Völker. Oder an der antisemitischen Kampagne, am Kampf gegen den Kosmopolitismus, an der sogenannten Ärzteverschwörung. Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form.

    Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form

    Es ist bezeichnend, dass sich dieser Chauvinismus unter Chruschtschow und Breshnew mäßigte. Natürlich war er auch da noch präsent, aber Breshnew wäre nie in den Sinn gekommen zu sagen, das russische Volk sei der große Bruder. Im Gegenteil, es wurde wieder von Internationalismus und Völkerfreundschaft gesprochen – vielleicht war es gelogen, aber immerhin.

    Eine andere Sache, die für Putin von großer Bedeutung ist: Ende der 1940er Jahre ließ Stalin das Russische Reich wiederauferstehen. Natürlich blieb es der Form nach der Kommunismus. Aber es ist kein Zufall, dass während des Krieges das Amt des Patriarchen wiedereingeführt wurde. Sämtliche Geistliche sitzen im Lager, doch plötzlich bandelt man wieder mit der Kirche an. Die Schulterklappen kehrten zurück, die Offiziersgrade – alles Symbole des Russischen Reichs. Es wurden Loblieder auf Peter I. und Iwan den Schrecklichen gesungen. So hatte das Reich zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts unter Alexander III. ausgesehen.

    Wie gesagt, Imperium ist nicht gleich Imperium. Im Russischen Reich war das Leben nicht für alle Völker gleich. Juden und Polen lebten schlechter, die Bewohner der Wolgaregion oder Zentralasiens besser: Sie wurden zwar de facto erobert, aber man ließ sie mehr oder weniger in Ruhe. Selbst die Khane und Emire ließ man in ihren Ämtern, sie durften sich um ihre Angelegenheiten kümmern – Hauptsache, sie gehorchten dem russischen Zaren.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer. Es ist kein Zufall, dass man ihn auch jetzt überhöht – alle sollen sehen, wie toll er war. Das ist genau die chauvinistische Linie, die Putin gefällt.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer

    Gibt es so etwas wie Alltagsimperialismus? Wie kann es sein, dass ein durchschnittlicher Moskauer gegen den Krieg und die Wiedererweckung des Imperiums ist und nach seiner Auswanderung in die baltischen Länder anfängt, sie aus eben dieser imperialistischen Perspektive zu kritisieren?

    Ich würde dieses Phänomen nicht überbewerten. Einerseits ja, es gibt diesen Alltagsimperialismus. Er besteht darin, dass wir uns noch nie wirklich Gedanken über die Geschichte und Kultur der Republiken gemacht haben, die Teil der Sowjetunion waren, oder der Regionen, die zu Russland gehören. Es gibt die Vorstellung, dass die russische Kultur die wahre ist, die russische Sprache die wichtigste – davon wird man sich befreien müssen.

    Wie tötet man das Imperium in sich selbst?

    Indem man sich mehr für andere Kulturen und Ethnien interessiert. Auf meinem YouTube-Kanal gibt es jetzt zum Beispiel eine neue Serie zur Geschichte der Ukraine, es folgt eine zur Geschichte der Wolgaregion, dann kommt Belarus. Ich glaube, das Problem sind hier nicht nur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern. Das Problem ist die allgemeine Aggressivität. 

    Ich sehe eine große Verantwortung bei den Historikern und dem Lehrplan, nach dem an den Schulen unterrichtet wird. Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs, und alles andere ist nur so da. Für den Bau von Sankt Petersburg darf man Tausende von Menschen vernichten, und für das Wohlergehen des Staates massenhaft Werte opfern. Das wird uns auf verschiedenen Ebenen eingehämmert, in der Schule, durch die Propaganda. Damit hängt auch zusammen, wie den Menschen der Zweite Weltkrieg präsentiert wird. 

    Ich glaube, die Überwindung des imperialistischen Denkens ist ein sehr komplexer Prozess. Er beschränkt sich nicht darauf, zu sagen: „Lasst uns alle die Ukraine liebhaben!“ Das ist zwar schön und gut, aber wir müssen anderen Ethnien mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Da muss eine Veränderung auf psychologischer Ebene passieren, in den Familien, in der Bildung und in internationalen Beziehungen. Es kann nämlich nicht sein, dass an einer Stelle alles gut ist, aber auf allen anderen Ebenen bleibt alles beim Alten. Alles muss sich verändern. 

    Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs

    Sie haben gesagt, die imperialistische Ideologie fordert im Namen von etwas Höherem das Opfer des einzelnen Menschen. Am 21. September hat Putin die Mobilmachung verkündet, doch die Reaktionen in der Bevölkerung, sogar von etlichen Z-Propagandisten, waren alles andere als hurrapatriotisch. Wie erklären Sie sich das? 

    Niemand will kämpfen. So mancher Propagandist wird natürlich sagen, er sei bereit, sein Leben zu geben, aber seine Kinder schickt dann doch keiner in den Krieg. Das ist logisch, weil das menschliche Leben mehr wert ist als diese idiotischen Klischees. 

    Es ist klar, dass Russland nach diesem Krieg nicht mehr sein wird wie früher. Bestehen Aussichten, dass der Imperialismus auf staatlicher Ebene entthront wird? Werden die Republiken wie Burjatien, Jakutien, Tschetschenien heftig danach streben, sich abzuspalten?

    Ich vermute, dass sie aktiv werden, aber genau kann ich das nicht sagen. Daran, dass Russland auseinanderfallen wird, glaube ich nicht so recht, rein geografisch ist das unrealistisch. Höchstens, dass sich irgendwelche Gebiete im Kaukasus abtrennen.

    Ich sehe innerhalb Russlands kein Streben nach einem Auseinanderfallen. Eher nach neuen Beziehungen. In welchem Maße es Russland gelingen wird, die Beziehungen innerhalb der Föderation umzugestalten, wird davon abhängen, wer an der Macht ist, aber auch der politische Wille ist hier nicht alles. Natürlich kann man die Verfassung ändern, den Republiken mehr Rechte geben. Die Frage ist, wer sich um den Alltagsrassismus kümmern wird, wie man den wegkriegt. Dafür braucht es eine Umstrukturierung des Bildungssystems und freie Medien. Das kann nicht nur von oben kommen. Entscheidend ist, ob vor Ort Menschen gefunden werden, die damit arbeiten. Dann könnte es gelingen, aber wenn nicht, dann geht wieder alles schief.

    Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist 

    Noch einmal zum Baltikum: Flächendeckend haben die Regierungen der drei baltischen Republiken seit Beginn des Krieges eine massive Entsowjetisierung betrieben, die den Sturz von Denkmälern und Monumenten zum Thema der sowjetischen Besatzung umfasst. Wie schätzen Sie diese Prozesse ein?

    Ich verstehe schon, warum diese Denkmäler entfernt werden, ganz abgesehen von ihrer Hässlichkeit. Es steht mir auch nicht zu, über die Regierungen anderer Länder zu urteilen. Aber vielleicht wäre es richtiger gewesen, neben dem Denkmal für die Sowjetarmee ein Denkmal für die Opfer des kommunistischen Regimes aufzustellen. Das hätte die ganze Komplexität dieser Situation zum Ausdruck gebracht. Unter den gegenwärtigen schrecklichen Umständen kann man eine solche Ausgewogenheit und Mäßigung aber kaum erwarten.

    Inwiefern kann man die Erfahrung anderer kolonialer Imperien überhaupt mit der Erfahrung des heutigen Russland vergleichen?

    Jeder Vergleich hinkt natürlich. Die Geschichte des British Empire beispielsweise ist ganz anders als die des Russischen Reiches. Die Besonderheit der kontinentalen Imperien bestand immer darin, dass eine große Vermischung der Völker stattfand. Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist. Bis zu einem bestimmten Grad können wir die Erfahrung anderer Imperien wiederholen. Aber sogar zwischen dem sowjetischen und dem russischen Imperium gibt es gravierende Unterschiede. 

    Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat

    Wie imperialistisch ist die russische Kultur? Muss sie sich verändern, und was kann man ihr vorwerfen?

    Die Kultur ist niemandem etwas schuldig. Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat. Die englische Kultur ist ebenfalls imperialistisch. Eine Erhebung der eigenen Macht und Nation über andere Völker hat es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern gegeben. Gerade bei Dostojewski finden wir eine gewaltige humanistische Botschaft, die niemand außer Kraft setzen kann. Wie weit die russische Kultur den jetzigen Krieg aufgreifen wird, ist eine interessante Frage. Wird sie ganz bestimmt, tut sie ja jetzt schon. Momentan herrscht eine fürchterliche Krise. Sie ist eine Herausforderung für den gesamten Humanismus, und die Kultur wird sich damit befassen müssen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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    Mobilmachung für die Planzahl

    Auf die Ende September verkündete „Teilmobilmachung“ folgten in Russland vielerorts chaotische Zustände: Neben den kilometerlangen Staus an den Landesgrenzen mehrten sich Berichte von willkürlichen Einberufungen direkt auf der Straße, von missachteten Ausnahmeregelungen und miserabler Ausrüstung für die Einberufenen. Bei einer Sitzung des Sicherheitsrates am 29. September räumte Putin bereits „Fehler“ ein, die korrigiert werden müssten.

    Auch der Umfang der Mobilmachung bleibt vage: Zwar sprach das Verteidigungsministerium zunächst von 300.000 Rekruten, doch Experten befürchten, dass aufgrund fehlender Einschränkungen die tatsächliche Zahl weitaus höher liegen könnte. In einer aktuellen Recherche schätzt Mediazona diese auf knapp 500.000 Soldaten – anhand von sprunghaft angestiegenen Eheschließungen, die für Einberufene kurzfristig und ohne Wartezeit möglich sind. 

    Meduza-Journalist Maxim Trudoljubow geht davon aus, dass der Kreml durchaus konkrete Zielvorgaben macht, wie er auf seiner Facebook-Seite schreibt. Deren Umsetzung auf unterer Ebene erinnert ihn an eine Praxis aus der Stalinzeit, bei der die Erfüllung der Sollzahl wichtiger ist als das „wie“.

    Die kremlsche Panikmobilisierung wird in Zahlen, in „Köpfen“, in „Seelen” gemessen. Die Zahlen – die sind das Wichtigste, obwohl sie gar nicht genannt werden. Eine Schätzung der Menge potentieller Rekruten ist unmöglich, weil die Kriegsziele nicht offengelegt werden. Zu welchem Zweck rekrutiert die Kreml-Armee N Soldaten? Geheimsache. Den Wert von N kennt nur der Kreml. N ist die Hauptsache. Aber N wird nicht nur verschwiegen, sondern ist auch Änderungen unterworfen. Wir wissen von neuen Mobilmachungsplänen für Regionen, die die anfänglichen bereits erfüllt haben. Das ist verrückter als jede Antiutopie. In ihrer Lebensfremdheit und Irrationalität ist diese Arithmetik des Todes unergründlich und furchterregend.

    Rechenschaft von unten – Plan von oben

    Dabei ist sie nicht neu. Kontingente, Zahlen, Pläne und Quoten sind ein fixer Bestandteil der Verwaltungsstrukturen russischer Institutionen, insbesondere der aus der Sowjetunion geerbten „Rechtsschutzorgane“. Reformversuche gab es zwar, doch das Prinzip „Rechenschaft von unten – Plan von oben“ ist nach wie vor in Kraft. Oft werden Kriminalfälle aus nichts erschaffen, um eine Quote zu erfüllen. Die tatsächliche Aufgabe dieses Systems ist – im Gegensatz zur augenscheinlichen – nicht die Aufdeckung, sondern die Erzeugung von Kriminalität. Das war schon in Sowjet- und Postsowjetzeiten so, doch heute erreicht es nie dagewesene Dimensionen des Wahnsinns.

    Die zentrale Bedeutung von Kontingenten bei politischen Projekten war in der sowjetischen Geschichte nicht so sehr für Mobilisierungskampagnen charakteristisch, sondern vielmehr für Repressionen. Kontingente kamen zum Beispiel bei der Kollektivierung und während des Großen Terrors 1937–38 zum Einsatz. Die Regionen lieferten auf Befehl aus Moskau zum Beispiel die Zahlen der erfassten „weißgardistisch-großbäuerlichen Elemente“, und Moskau gab nach unten die „Kontingente“ „erster“ und „zweiter“ Kategorie durch, gab also vor, wie viele zu erschießen und wie viele zu Lagerhaft zu verurteilen seien. Die Regionen versuchten ihrerseits, die Kontingente möglichst zu erfüllen, indem sie wahllos Menschen festnahmen. In diesem diabolischen System gab das Zentrum vor, das wilde Treiben an der Basis zur Aufdeckung der Feinde zu begrenzen – in Wirklichkeit ging die Initiative aber vom Zentrum aus. 

    Das funktioniert auch jetzt bei der Mobilmachungung so. Allerdings glaube ich nicht, dass der Kreml Massenrepressionen geplant hat. Stalin hat Massenrepressionen geplant. Putin hat einen Krieg geplant und dann die Mobilmachung der Menschen für diesen Krieg. Davor hatte er die „Bewahrung des Volkes“ geplant, die Besiedelung des Fernen Ostens, die Unterstützung kleiner Völker, die Förderung von Familien mit Kindern und vieles andere mehr. Das Ergebnis: Der Ferne Osten ist immer dünner besiedelt, die kleinen Völker werden in den Tod geschickt, die Familien verlieren ihre Väter und Ernährer. Es ist ein neuer Großer Terror. Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod. 

    Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod

    Denn so läuft es. Die dünne Schicht aus Verbesserungen und einem gewissen äußeren Glanz, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurde, ist weg. Was bleibt, ist das Fundament – ein repressiver Mechanismus, der der Logik geforderter Quoten folgt. Der Kreml ist dabei, den Krieg zu verlieren, aber bevor er in sich zusammenstürzt, kann er durchaus noch – zu aller Entsetzen – die teuflische Schlacht um die Zahl der eingezogenen und in den Tod geschickten Menschen gewinnen.

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