Jahrzehntelang feierte auch die Ukraine am 9. Mai den Tag des Sieges − ein Volksfest mit Militärparade zur Erinnerung an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. 2023 wird er als Tag des Gedenkens und der Versöhnung auf den 8. Mai vorgezogen: In Anlehnung an die Tradition in Westeuropa stellt die Ukraine von nun an die Opfer des Krieges zwischen 1939 und 1945 in den Mittelpunkt.
Das Wort „Sieg“ ist für die Ukraine kein historischer Begriff mehr, er ist das gegenwärtige Ziel ihres Verteidigungskampfes im andauernden russischen Angriffskrieg. Wie genau soll der aussehen, welche Zugeständnisse sind vorstellbar für ein Ende der Kampfhandlungen? Und wie sehen die Ukrainer die mit Russland gemeinsame sowjetische Geschichte angesichts der gegenwärtigen russischen Aggression?
Diese Fragen beantwortet im Interview mit dem russischen Onlinemedium Republic der Soziologe Mychailo Mischtschenko vom unabhängigen Forschungsinstitut Rasumkow-Zentrum in Kyjiw.
Die Arbeitsbedingungen für Meinungsumfragen und Studien sind durch den andauernden Krieg erschwert: Schon seit 2014 sind bei Befragungen durch ukrainische Institutionen die Menschen auf der annektierten Halbinsel Krim und in den sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ausgenommen. Seit der russischen Invasion 2022 können Forschungsgruppen auch in den okkupierten Regionen kaum Befragungen durchführen. In den aktuellen Studien des Rasumkow-Zentrums werden jeweils die Regionen aufgelistet, in denen Umfragen durchgeführt wurden − teils mit der Einschränkung „nur in Gebieten, die von der Regierung der Ukraine kontrolliert werden und in denen keine Kampfhandlungen stattfinden“.
Jewgeni Senschin: Die Ukrainer sind aktuell größtenteils bereit, bis zum siegreichen Ende zu kämpfen. Aber wie definieren sie einen solchen Sieg im jetzigen Krieg?
Mychailo Mischtschenko: Dazu haben wir im Dezember 2022 zusammen mit der Stiftung Demokratische Initiativen eine Umfrage durchgeführt. Ihr zufolge glauben 93 Prozent der Ukrainer an einen Sieg ihres Landes in diesem Krieg. Wir haben auch gefragt, was Sieg für sie heißt. Von denen, die an den Sieg glauben, antworteten 54 Prozent: die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine und die Wiederherstellung der Grenzen nach Stand vom Januar 2014. Weitere 22 Prozent betrachten die Zerschlagung der russischen Armee und die Begünstigung eines Aufstands innerhalb Russlands als Sieg. Für acht Prozent bedeutet Sieg die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Territorium der Ukraine, die Krim ausgenommen. Für sechs Prozent – die Vertreibung der russischen Truppen hinter die Frontlinie, wie sie noch am 23. Februar 2022 galt [also ausgenommen die Krim sowie die Gebiete der von Russland unterstützten sogenannten Donezker und Luhansker „Volksrepubliken“ − dek]. Für nur drei Prozent der Befragten wäre allein das Ende des Kriegs schon ein Sieg, selbst wenn russische Truppen dort blieben, wo sie jetzt sind.
Wir sehen also, die überwiegende Mehrheit versteht unter einem Sieg die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine. In diesem Fall spiegelt die Position von Präsident Wolodymyr Selensky die Position der überwiegenden Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger wider.
Zudem liegen Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie vor zur Frage, ob die Bevölkerung zu Gebietsabtretungen bereit wäre. Diese Studie stammt vom Februar 2023. Nur neun Prozent sind da der Meinung, dass die Ukraine auf bestimmte Gebiete verzichten könnte, um schneller einen Frieden zu erzielen und ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Gleichzeitig finden 87 Prozent, dass die Ukraine unter keinen Umständen auf Gebiete verzichten dürfe. Dabei ist das auch die vorherrschende Meinung in den meisten Regionen: In der Westukraine denken das 89 Prozent, in der Zentralukraine 87 Prozent, im Süden 86 Prozent und im Osten 82 Prozent.
Sie sprechen häufig von „Putins Russland“. Wie hat sich die Einstellung zu Putin verändert? War er für die Ukrainer immer schon ein Feind, eine Verkörperung der Anti-Zivilisation?
Bis 2013 wurde noch öfter positiv als negativ über Putin gesprochen. Bei einer Umfrage 2014 betrug der Anteil derjenigen, die gegen Putin waren, schon 71 Prozent. 2017 stieg dieser Prozentsatz auf 79. Im März 2021 waren es bereits 82 Prozent, im August 2022 schon 96 Prozent. Dieser Wert kann praktisch nicht mehr steigen. Die jüngsten Forschungen haben ergeben, dass die Zahl jener, die sich positiv über Putin äußern, gegen null geht.
In der Ukraine richtet sich die Meinung über ausländische Politiker meistens danach, wie beliebt diese bei sich zu Hause sind. Wenn ein Politiker im eigenen Land positiv bewertet wird, wird er analog dazu auch in der Ukraine positiv wahrgenommen. Doch das ändert sich, wenn dieser Politiker sich in die ukrainische Innenpolitik einmischt oder offen feindlich gegen das Land aktiv wird. Seit der Annexion der Krim und [Russlands] hybridem Krieg bekamen die Ukrainer natürlich gute Gründe für eine negative Haltung gegenüber Putin.
Dasselbe gilt für Lukaschenko: Nach den gefälschten Wahlen in Belarus verschlechterten sich seine Umfragewerte in der Ukraine. Die Ukrainer haben begriffen, dass Lukaschenko ein richtiger Diktator ist. Seitdem er in Russlands Angriff auf die Ukraine involviert ist, ist er noch unbeliebter. Laut unseren Umfragen vom Februar und März 2023 sind 92 Prozent der Ukrainer Lukaschenko gegenüber negativ eingestellt.
Gibt es Befragungen darüber, wie sich in den letzten Jahren die Beziehung zur russischen Sprache verändert hat?
Das Verhältnis zur russischen Sprache war bis zum Beginn des hybriden Kriegs sehr gut, erfuhr in dessen Folge jedoch eine deutliche Veränderung und verschlechterte sich nach der russischen Invasion noch mehr. Dazu gibt es Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie: 1998, 2019 und 2023 wurde die Frage gestellt, ob in ukrainischsprachigen Schulen Russisch gelehrt werden soll. 2019 antworteten nur acht Prozent, dass Russisch gar nicht an Schulen unterrichtet werden solle. 1998 bot der Fragebogen eine solche Option gar nicht an, weil die Forscher wohl davon ausgingen, dass sie niemand ankreuzen würde. Im Februar 2023 vertreten diese Ansicht jedoch schon 52 Prozent.
42 Prozent sind zwar für die Beibehaltung des Russisch-Unterrichts an Schulen, wollen aber die dafür verwendeten Stunden reduzieren.
Während 1998 noch 46 Prozent meinten, dass die russische Sprache im selben Umfang unterrichtet werden soll wie die ukrainische, fiel dieser Anteil 2019 auf 30 und liegt heute nur noch bei drei Prozent. Jene, die fanden, Russisch solle weniger als Ukrainisch, aber mehr als andere Fremdsprachen unterrichtet werden, machten 1998 noch 32 Prozent aus, 2019 dachten 26 Prozent so, und 2023 nur noch sechs Prozent. Jetzt finden 33 Prozent, dass Russisch im Vergleich zu anderen Fremdsprachen im selben oder in geringerem Umfang unterrichtet werden soll. 2019 dachten das 25 Prozent, 1998 nur 17 Prozent.
Das ist eine Folge der russischen Aggression. Die russische Sprache ist heute für die Ukrainer jene Sprache, in der sich russische Soldaten in abgehörten Telefonaten unterhalten, wo fast die Hälfte Vulgärsprache ist.
Vor dem Krieg fragten wir auch, zu welcher kulturellen Tradition sich die Menschen zugehörig fühlen. Zum letzten Mal haben wir diese Frage 2021 gestellt, und wir können die Antworten mit jenen aus dem Jahr 2006 vergleichen. Sieht man sich die Daten zu ethnischen Russen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft an, so fühlten sich innerhalb dieser Gruppe 2006 nur 21 Prozent zur ukrainischen Kulturtradition zugehörig. 2021 betrug dieser Wert bereits 49 Prozent. Zur russischen Kulturtradition fühlten sich 2006 noch 35 Prozent der ethnischen Russen zugehörig, 2021 nur noch 18 Prozent [andere genannte waren sowjetisch und europäisch − dek]. Seit Beginn des großen Kriegs 2022 wird sich diese Tendenz wahrscheinlich fortgesetzt haben.
Wir sehen, dass die Distanzierung von Russland nicht nur generell unter den ukrainischen Staatsbürgern stattfindet, sondern auch unter den ethnischen Russen in der Ukraine. Wenn also Putin von der Verteidigung des russischen Volkes spricht, dann sehen wir, dass das gerade bei den ethnischen Russen in der Ukraine auf Ablehnung stößt.
Wie hat sich die Einstellung der Ukrainer zur gemeinsamen Vergangenheit mit den Russen verändert? Dass sie generell negativ ist, liegt auf der Hand. Aber vielleicht gibt es noch irgendwelche Symbole, Ereignisse, Figuren, die vom negativen Schatten des Kriegs verschont bleiben?
In Russland herrscht Umfragen zufolge eine ausgeprägte Sowjetnostalgie. In der Ukraine ist das so nicht zu beobachten. Bei einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums im September und Oktober 2022 haben nur drei Prozent angegeben, dass sie sich eine Wiedererrichtung der Sowjetunion wünschen. Weitere elf Prozent antworteten, sie würden sich diese zwar wünschen, hielten sie aber für unmöglich. Und 87 Prozent sagten, sie wollten keine Wiederherstellung der Sowjetunion. 2021 waren das noch 69 Prozent, 2016 noch weniger, nämlich 65 Prozent.
Aber was könnte Ukrainer und Russen noch verbinden? Am häufigsten wird als ein solches historisches Ereignis ja der Sieg im Zweiten Weltkrieg genannt.
Aus ukrainischer Sicht sieht dieser Sieg so aus: Erstens wurde er zusammen mit den westlichen Alliierten errungen, zweitens war er das Verdienst aller Völker, die zur Sowjetunion gehörten. Doch Putin unterzog diese Interpretation einer drastischen Veränderung. Schon 2010 erklärte er: „Was unsere Beziehung zur Ukraine betrifft, erlaube ich mir, Ihrer Behauptung zu widersprechen, wir hätten ohne einander den Krieg nicht gewinnen können. Wir hätten trotzdem gesiegt, weil wir das Land der Sieger sind … Die Statistik aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zeigt eindeutig, dass die größten Verluste damals die Russische Sowjetrepublik hinnehmen musste, nämlich mehr als 70 Prozent. Das bedeutet, ohne da jemandem zu nahe treten zu wollen, dass der Sieg vor allem auf Kosten menschlicher und industrieller Ressourcen Russlands errungen wurde. Das ist eine historische Tatsache.“ Putin versucht also, den Sieg zu privatisieren.
Mein Vater hat zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Meint Putin also, er hätte nicht unbedingt teilnehmen müssen, es wäre auch ohne gegangen? Mit seiner Aussage löscht Putin das Moment der Einheit aus, den gemeinsamen Sieg. Natürlich hat diese Auslegung die Ukrainer beeinflusst. Kein Wunder, dass seitdem viele Ukrainer Putins Haltung zum Sieg im Zweiten Weltkrieg einen „Siegeswahn“ nennen.
Putin und seine Politik kappen alle Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, auch die historischen
Putin hat sogar noch eins draufgesetzt und ist von der sowjetischen Interpretation des Sieges abgewichen. Damals war der Sieg die Garantie für Frieden, „Bloß kein Krieg mehr“ war eines der Narrative unter Chruschtschow, Breshnew, Gorbatschow. Für Putin ist der Siegeskult aber Ausgangspunkt für eine militärische Revanche. Sein Siegeskult erinnert stark an den Kriegskult in Nazi-Deutschland. Faktisch führt er nicht die Tradition der Sieger über Nazi-Deutschland fort, sondern lässt jene Haltung zum Krieg wiederaufleben, die im Nationalsozialismus bestand. Deswegen wird Russland heute von der internationalen Gemeinschaft eher mit Nazi-Deutschland assoziiert als mit den Alliierten, die es besiegt haben.
Daher sinkt in der Ukraine die Motivation immer mehr, am 9. Mai den Tag des Sieges zu feiern. Das Kyjiwer Internationale Institut für Soziologie führt regelmäßig Umfragen durch, welche Feiertage die Ukrainer am liebsten haben. Während 2013 noch 40 Prozent der Befragten den Tag des Sieges nannten, waren es 2016 nur noch 35 Prozent, 2018 – 31 Prozent, 2021 – 30 Prozent und im Februar 2023 nur noch 13 Prozent.
Putin und seine Politik kappen alle Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, auch die historischen.
Ich kann auch die Ergebnisse einer Studie des Rasumkow-Zentrums aus dem Jahr 2017 anführen. Da wurde gefragt, womit Russland assoziiert wird. Schon damals waren die häufigsten Assoziationen der Ukrainer Begriffe wie „Aggression“ (66 Prozent), „Diktatur“ (60 Prozent) und „Brutalität“ (57 Prozent). Das bestätigt wiederum, dass Russland in der emotionalen Wahrnehmung der Ukrainer eine gewisse Ähnlichkeit mit Nazi-Deutschland besitzt.
Die Ukrainer nehmen Russland also negativ wahr. Aber machen sie einen Unterschied zwischen den russischen Staatsbürgern und dem Kreml? Heute werden in der radikalen pro-ukrainischen Presse oft Russland und der Kreml gleichgesetzt. Sieht das die ukrainische Gesellschaft auch so?
Im August 2022 wurde eine gemeinsame Studie des Rasumkow-Zentrums und der Stiftung Demokratische Initiativen durchgeführt. Darin kam die Frage vor: „Wer trägt Ihrer Meinung nach die Hauptverantwortung am Krieg in der Ukraine?“ Es gab mehrere Optionen zur Auswahl. Am häufigsten wählten die Befragten die Antworten: die russische Regierung (86 Prozent) und die russische Bevölkerung (42,5 Prozent). Wir sehen, dass ein großer Teil der Ukrainer die Verantwortung bei der russischen Bevölkerung sieht und nicht nur bei ihrer Führung.
In einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts Rating im August 2022 haben 81 Prozent der befragten Ukrainer eine negative (im Fragebogen stand das Wort „kühle“) Einstellung gegenüber den Bewohnern Russlands geäußert. Noch im April 2022 waren das nur 69 Prozent, im April 2021 waren es 41, und 2018 – 23 Prozent. Eine positive („warmherzige“) Einstellung äußerten im August 2022 nur drei Prozent, als neutral deklarierten sich 14 Prozent.
Auch die Beziehung zu den Belarussen veränderte sich. Im August 2022 waren 52 Prozent ihnen gegenüber „kühl“ eingestellt, im April 2022 waren das 33 Prozent, und im April 2021 nur vier Prozent. Im Februar-März 2023 ergab eine Umfrage des Rasumkow-Zentrums, dass 81 Prozent der Befragten Belarus (ich betone, nicht den Belarussen) gegenüber negativ eingestellt sind.
Hier ist anzumerken, dass die Einstellung gegenüber einem Kollektiv sich nach der darin dominierenden Gruppe richtet, also jener Gruppe, die am aktivsten ist, am sichtbarsten, am lautesten, selbst wenn sie nicht die Mehrheit stellt. Heute sind das in Russland die Befürworter von Putins Politik und Krieg, die man zu den faschistoiden Persönlichkeitstypen zählen kann. Wie hoch ihr Anteil in der russischen Bevölkerung ist, ist schwer zu sagen. Es ist in Russland ziemlich schwierig, anhand von Umfragen eine adäquate Vorstellung davon zu bekommen – in einer Situation, in der die Verurteilung des Krieges und die „Diskreditierung der Armee und anderer militärischer Einheiten“ strafrechtlich verfolgt werden, können öffentliche Meinungsumfragen wohl kaum verlässliche Ergebnisse liefern.
Weisen Ukrainer in Umfragen auf ihre familiären und freundschaftlichen Beziehungen nach Russland hin?
Bei der Umfrage des Rasumkow-Zentrums im Jahr 2017 antworteten 51 Prozent der ukrainischen Staatsbürger, sie hätten Verwandte, Freunde oder Bekannte, die in Russland leben.
Was den Kontakt betrifft: Im April 2022 gaben bei eine Online-Befragung der Forschungsgesellschaft Gradus 48 Prozent an, mindestens einen Verwandten in Russland zu haben. 59 Prozent jener, die Verwandte in Russland haben, sprachen mit diesen in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn per Messenger oder am Telefon über den Krieg. 54 Prozent jener, die mit Verwandten in Russland kommunizierten, berichteten, dass ihre Gespräche nach Kriegsbeginn keinen Einfluss auf das Vertrauen ihrer Verwandten in die russische Propaganda gehabt hätten. Acht Prozent sagten, ihre Verwandten würden dieser Propaganda seitdem noch mehr glauben, während 40 Prozent angaben, ihre Verwandten würden ihr weniger glauben. Im April 2022 setzten jedoch nur noch 46 Prozent jener Personen, die in den ersten Kriegswochen Kontakt zu Verwandten in Russland gehabt hatten, diesen Kontakt fort. Die Mehrheit hatte ihn also abgebrochen.
Fassen wir zusammen: Welche wichtigen Veränderungen im Hinblick auf die Entwicklung einer politischen Nation hat es seit Beginn der Kampfhandlungen in der ukrainischen Gesellschaft gegeben?
Im Juli und August 2021, als gerade Putins ArtikelZur historischen Einheit der Russen und Ukrainer herausgekommen war, untersuchten wir die Reaktionen der Ukrainer auf die Thesen, die darin aufgestellt wurden. Damals reagierte die überwiegende Mehrheit negativ auf Putins Aussagen, dass es „keinerlei historische Grundlage für die Vorstellung eines vom russischen getrennten ukrainischen Volkes gibt und auch nicht geben kann“, und dass „das Territorium der heutigen Ukraine in hohem Ausmaß auf Kosten historisch russischen Staatsgebiets definiert wurde“.
Während des Krieges ist ein neuer dominierender Persönlichkeitstyp hervorgetreten – ein Mensch mit deutlich ausgeprägten soziozentrischen Werten
Dieser Krieg hat das Selbstbewusstsein der Ukrainer als Nation deutlich gefördert. Während in einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums im Jahr 2021 noch 40 Prozent auf die Frage nach der Zukunft der Ukraine geantwortet haben, sie werde ein hochentwickeltes, demokratisches, einflussreiches europäisches Land sein, waren es im September-Oktober 2022 schon 65 Prozent, die so dachten.
Und, nicht unwichtig, während des Krieges ist ein neuer dominierender Persönlichkeitstyp hervorgetreten – ein Mensch mit deutlich ausgeprägten soziozentrischen Werten. Das sieht man am Beispiel der freiwilligen Soldaten und Volonteure, die den Kämpfern an der Front helfen. Diese Gruppe wird, wie es aussieht, auch nach dem Krieg die dominierende bleiben, was den Fortschritt und die Entwicklung von Gesellschaft und politischer Nation fördern wird. Und genau das ist es, was der ukrainischen Gesellschaft diesen spürbaren Optimismus verleiht.
Wie kam Putin zu der Entscheidung, die Ukraine zu überfallen? Welche Schlüsselmomente gab es, und wer hat ihn dabei beeinflusst? Ilja Sheguljow hat darüber mit aktiven und ehemaligen Beamten und Funktionären aus dem Staatsapparat in Russland und der Ukraine gesprochen. In einer aufwändigen und vielbeachteten Recherche auf Verstka rekonstruiert der Journalist, „wie sich das Denken des russischen Staatsoberhauptes entwickelt und in die Tragödie geführt hat“.
Nach den Gouverneurswahlen in der Oblast Moskau im September 2013 sagte einer der Kuratoren des riesigen Stabs von Polittechnologen händereibend: „Gut gemacht, Leute, und jetzt fahrt ihr zum Training in die Westukraine“, erinnert sich ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Polittechnologe im Gespräch mit Verstka. Ihm zufolge habe vor zehn Jahren noch niemand über „schlechte Chochly [Ukrainer]“ gesprochen: Die russischen Polittechnologen arbeiteten problemlos sowohl mit Viktor Janukowytschs Team als auch mit seinen eher proeuropäisch orientierten Opponenten zusammen. Sie erhielten lukrative Aufträge von allen Seiten und verdienten Geld. „Und was es an Austausch gab zwischen den russischen und ukrainischen Fußballfans, da war echte Freundschaft. Auch die Nationalisten waren untereinander befreundet“, sagt der Gesprächspartner von Verstka.
Es scheint, als hätte der Kreml seine Einstellung zur Ukraine im Februar 2014 innerhalb weniger Tage geändert, kurz bevor Putin eigenmächtig entschied, die Krim zu annektieren. Doch ganz so war es nicht: Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass sich diese Haltung zum Nachbarland schon sehr viel früher im Kopf des russischen Präsidenten formierte.
1. Der erste Versuch, die Ukraine zu spalten: „Unser Hurensohn“
Als Leonid Kutschma [2004 – dek] nach zwei Legislaturperioden aus dem Präsidentenamt schied, bat er Moskau, seinen Nachfolger Viktor Janukowytsch zu unterstützen, was der Kreml mit Eifer tat.
Putin reiste eigens nach Kyjiw und trat im Pendant zum russischen Direkten Draht auf, mit dem einzigen Unterschied, dass ihm nun Ukrainer Fragen stellten (es gingen über 80.000 Fragen ein). Dort äußerte Putin sogar, dass Russland von der Ukraine lernen könne, da das ukrainische Wirtschaftswachstum unter Premierminister Janukowytsch das russische überholt habe.
Auf Moskauer Seite kuratierte die Wahlen Dimitri Medwedew, damals Vorsitzender der Präsidialverwaltung, und auf Kyjiwer Seite der Chef der ukrainischen Präsidialverwaltung Viktor Medwedtschuk. Im selben Jahr wurde Putin Taufpate für dessen Tochter Darja. Damals arbeitete die ukrainische Präsidialverwaltung eng mit Russland zusammen, wobei der russische Polittechnologe Gleb Pawlowski eine Schlüsselrolle in der Vermittlung zwischen den beiden Administrationen einnahm, wie er später zugab. Einer der ersten Schachzüge Moskaus im Vorwahlkampf war eine Karte über „die drei Sorten der Ukraine“, in die Viktor Juschtschenko das Land angeblich aufgeteilt hatte. An dritter und letzter Stelle standen der Süden und Osten der Ukraine.
Doch all das half nichts: Nach den Massenprotesten der Orangen Revolution und der anschließenden Wiederholungswahl wurde 2004 Viktor Juschtschenko Präsident der Ukraine.
Moskau setzte jedoch weiterhin auf die Entzweiung und schließlich Abspaltung der Regionen. Noch auf dem Höhepunkt der Orangen Revolution wurde der Versuch unternommen, den Süden und Osten vom Rest des Landes abzuspalten: In Sewerodonezk fand ein prorussischer Kongress von Deputierten aller Ebenen statt, an der auch Juri Lushkow teilnahm, der Moskauer Bürgermeister war und ein zur damaligen Zeit einflussreicher Politiker. Der damalige Vorsitzende des Donezker Regionalparlaments Borys Kolesnikow forderte ohne Umschweife die Abspaltung von der Ukraine: „Wir schlagen vor, allen hochrangigen Organen der Staatsmacht, die gegen das Gesetz verstoßen haben, unser Misstrauen auszusprechen und einen neuen südostukrainischen Staat in Form einer Föderalrepublik zu gründen. Hauptstadt dieser neuen Republik – und damit die erste wiederhergestellte Hauptstadt der unabhängigen Ukraine – soll Charkiw werden“, sagte Kolesnikow. Doch dazu kam es nicht: Russland entschied sich gegen eine militärische Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates, und ohne Unterstützung wagte es niemand, die Abspaltung voranzutreiben. Auf eine Interview-Anfrage von Verstka antwortete Kolesnikow: „Danke, kein Interesse.“ (Kolesnikows Stiftung unterstützt aktiv die Ukrainische Armee, sein Facebook-Profil ziert eine große ukrainische Flagge).
Anfang 2010 hatte der prowestliche Präsident Juschtschenko einen großen Teil seiner Unterstützer verloren und Janukowytsch die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Diesmal stellten die Wähler das Wahlergebnis nicht massenhaft in Frage.
Gleich nach seinem Amtsantritt unternahm Janukowytsch Schritte, von denen Moskau selbst zu Zeiten des gemäßigten Politikers Kutschma nicht hätte träumen können: Er sprach sich gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aus, initiierte ein Gesetz zum Status der russischen Sprache als Regionalsprache und äußerte den Standpunkt, der Holodomor sei kein Genozid am ukrainischen Volk gewesen, sondern ein allgemeines Problem der sowjetischen Geschichte.
Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete
„Unsere Nachrichtendienste saßen in der ukrainischen Regierung, lenkten das Land und einzelne Unternehmen. Wieso eingreifen, wenn ohnehin alles uns gehörte?“, berichtet ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Informant. Ihm zufolge war der Plan einfach: Annäherung mit der Ukraine nach dem Vorbild der Annäherung mit Belarus. „Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete“, erklärt der Informant. „So, wie die USA damals auf Kuba Präsident Fulgencio Batista hatten, hatten wir in der Ukraine Janukowytsch. Die Beziehungen waren die gleichen. Selbstverständlich haben wir ihm zugespielt und geholfen. Er war unser Hurensohn.“
Gleichzeitig arbeitete Russland an der diplomatischen Front daran, Europa von einem Anbändeln mit der Ukraine abzubringen. „Russische Diplomaten reisten nach Paris und erklärten, dass wir gegen ein Assoziierungsabkommen [der Ukraine] mit der EU sind, dass es dazu nicht kommen wird und sie damit aufhören sollen“, erzählt ein Informant aus dem engeren Umfeld von Wladislaw Surkow, der von 2013 bis 2019 unter anderem für die Ukraine-Angelegenheiten des Kreml zuständig war. „Sie erklärten, es wäre ein Schlag gegen die ukrainisch-russischen Beziehungen. Das war der Anfang, noch bevor überhaupt die Rede von einer Russki Mir war.“
Janukowytsch lehnte das Assoziierungsabkommen mit der EU ab und gab der Verführung des Kreml nach, einer Zollunion mit Russland beizutreten, was ihm den zweiten Maidan seines Lebens bescherte.
2. Wie Putin sich von Amerika gekränkt fühlte: „Er wurde ausfällig“
Putins Verhältnis zur Ukraine verschlechterte sich parallel zu seinem Verhältnis zum Westen. Schnell wurde der postsowjetische Raum – allen voran Georgien und die Ukraine – für den Kremlchef zum Raum des Machtkampfs.
Der erste Schlag für Putin war die Rosenrevolution in Georgien [2003], als nach Massenprotesten der prowestliche und für Putin unverständliche Kandidat Michail Saakaschwili der neue georgische Präsident wurde. Der zweite und schwerwiegendere Schlag war die Orange Revolution in der Ukraine. „Es ging nicht um das Verhältnis zur Ukraine. Es war ja nicht nur der Maidan, es war ein Bruch mit allen Spielregeln“, erklärt ein Informant, der Putin nahesteht, dessen Logik der Kränkung. Der Kreml nahm das Recht der Bürger, die Regierung ihres Landes durch Kundgebungen und Wahlen zu ändern, nicht ernst und sah solche Aktionen ausschließlich als Resultat einer äußeren Einflussnahme durch den Westen.
Aktionen wie die Orange Revolution sah der Kreml ausschließlich als Resultat westlicher Einflussnahme
Diese Ereignisse mündeten in Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die vom Westen kritisch aufgenommen wurde. „Er wurde ausfällig, sein Auftritt war politisch inkorrekt“, sagt ein kremlnaher Informant heute. „Der Westen sagte dazu, ja, wie unfreundlich von ihm, er flucht, soll zum Teufel gehen, grober, ungehobelter Mistkerl. Das war in etwa das Ergebnis dieser Rede.“
3. Welche Philosophen den russischen Präsidenten lehrten, gegen die Ukraine zu sein: Die neue Philosophie
Neben dem veränderten Verhältnis zum Westen wurde Putin auch von innenpolitischen Ereignissen beeinflusst. Mit den Protesten von 2012 fing Putin an, sich verstärkt mit der Literatur einer bestimmten Geisteshaltung zu beschäftigen. In kremlnahen Kreisen wurde gemunkelt, Putin würde immer mehr Zeit in Archiven verbringen. Etwa zur selben Zeit wurde eigens eine Arbeitsgruppe in der Präsidialverwaltung gebildet, die Bücher und ausgewählte Texte zu von Putin vorgegebenen Themen zusammenstellte, erzählt ein ehemaliger Polittechnologe des Kreml.
Noch vor den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz hatte sich Putin für den weißgardistischen Philosophen Iwan Iljin interessiert. Nach den missglückten Protesten vertiefte sich der russische Präsident noch mehr in Texte von Autoren, die Iljins Ansichten teilten. Unter anderem fand er Gefallen an für Wassili Rosanow, einem Religionsphilosophen des frühen 20. Jahrhunderts.
Iljin hatte keinerlei Respekt vor der Ukraine als eigenständigem Staat. „Die Ukraine ist jener Teil Russlands, der am stärksten von Abspaltung und Eroberung bedroht ist“, schrieb der Philosoph 1938 in der Resolution eines Kongresses der Weißen Emigration. „Der ukrainische Separatismus ist eine künstliche Erscheinung, die realer Grundlagen entbehrt. Er entstand aus der Geltungssucht von Rädelsführern und einer internationalen Eroberungsintrige.“
Dort ist alles ganz simpel aufgebaut: Die Ukrainer werden mit List und Manipulation vom Westen herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen
Zitate aus Reden von Iljin, Rosanow und anderen imperial ausgerichteten – auch zeitgenössischen – Autoren, tauchten schließlich auch in Putins öffentlichen Reden auf. „In diesem Pantheon der Götter ist alles ganz simpel aufgebaut“, erläutert ein ehemaliger Technologe aus dem Kremlumfeld das Prinzip: „Die Ukrainer werden mit List, Täuschung, Manipulation und Technologie von den westlichen Staaten herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen. Für Russlands Feinde sind sie die idealen Russen. Der ukrainische Staat wurde innerhalb der UdSSR geschaffen, um der russischen Bevölkerung zu schaden.“
4. Wie Putin entschied, die Krim zu ergreifen: Gepfiffen auf die Folgen
Noch im Januar 2014 hatte Putin nicht vor, die Krim zu annektieren. Das berichten drei Quellen – eine in der Präsidialverwaltung, eine aus dem Umfeld der kremlnahen Polittechnologen und eine aus Putins engerem Kreis. Die Entscheidung fiel spontan im Februar, als der Kreml erkannte, dass die Protestierenden im Zentrum Kyjiws die Regierung Janukowytsch bezwingen würden. Moskau setzte zunächst wieder auf einen Kongress von Deputierten, der zu einer Abspaltung von Teilen der Ukraine führen könnte. Laut einer Quelle aus dem Umkreis von Wladislaw Surkow waren Polittechnologen aus Russland an der Vorbereitung beteiligt. Den Vorsitz des Kongresses der Abgeordneten aus der Südostukraine sollte Janukowytsch persönlich übernehmen. Er war per Hubschrauber überstürzt aus Kyjiw abgezogen und nach Charkiw geflogen.
Im letzten Moment weigerten sich jedoch die Regierenden der Stadt und der Oblast Charkiw, Hennadi Kernes und Mychailo Dobkin, dieses Spiel mitzuspielen. „Als ihnen klar wurde, dass Russland den Zerfall der Ukraine anstrebte, ergriffen sie vehement eine proukrainische Position und verweigerten Janukowytsch ihre Unterstützung“, berichtet ein Mitorganisator des Kongresses. Obwohl Janukowytsch am 22. Februar bereits in Charkiw war, ließ er sich auf der Versammlung nicht blicken – er hatte erkannt, dass der Plan gescheitert war. So waren dort keine Abspaltungsforderungen zu vernehmen; stattdessen riefen Kernes und Dobkin zu Frieden auf und versprachen, die Einheit der Ukraine zu wahren. Die russische Operation war gescheitert. Am selben Tag wurde Janukowytsch von der Werchowna Rada entmachtet.
Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, ich übernehme die Verantwortung‘
In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar, nachdem Janukowytsch nun auch aus Charkiw geflohen war, fiel Putins Entscheidung, die Krim zu annektieren. Das geht aus seinen eigenen Schilderungen hervor und wird von Quellen aus seinem Umfeld bestätigt. In Sotschi, wo gerade die Olympischen Winterspiele zu Ende gingen, besprach er sich bis sieben Uhr morgens mit seinen vier engsten Vertrauten aus den Sicherheitsorganen. Wie ein naher Bekannter von Putin berichtet, sollen sie zunächst versucht haben, ihn von seinem Plan abzubringen. „Aber Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, eine weitere wird es nicht geben, ich übernehme die Verantwortung.‘“
Später äußerte ein anderer Vertrauter Putins im Gespräch mit ihm, die Krim-Annexion sei eine Katastrophe und werde schlimme Folgen nach sich ziehen. Putin soll erwidert haben, er pfeife darauf: „Russland hat einen großen Teil seines historischen Territoriums wiederbekommen, und das praktisch ohne Blutvergießen. So etwas hat es seit 1000 Jahren nicht gegeben. Was auch immer geschieht, die Krim wird russisch bleiben.“ Dass die Krim-Annexion in Russland auf solch breite Unterstützung stoßen würde, hatte Putin zunächst nicht erwartet.
Anfang März begannen russische Beamte, inkognito die Krim und die an Russland grenzenden Donbass-Regionen zu besuchen. „Fast aus jedem Ministerium wurde ein Stellvertreter entsandt, um das Terrain zu erkunden“, erinnert sich ein ehemaliger Angehöriger des Regierungsapparats. Die Beamten sollten in Putins Geheimauftrag die künftige „Eingliederung der ukrainischen Regionen in Russland“ vorbereiten. Nach Angaben des Ex-Mitarbeiters ging es in den Regierungsdokumenten nicht nur um die Krim; auch die Kosten eines „Beitritts der Oblaste Donezk, Luhansk und Charkiw“ seien analysiert worden. Doch diese Vorstellungen ließen sich damals nicht realisieren.
Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können, wie auf der Krim
Einen stringenten Plan zur Eroberung dieser Gebiete gab es nicht. Versuche, Rebellengruppen zu versammeln, gab es unter anderem auch in Odessa und Dnipro. Aber nur in Donezk und Luhansk ging der Plan halbwegs auf. „Das mit dem Donbass war ein Fehler. Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können wie auf der Krim“, berichtet ein Insider. „Aber der Versuch, das Volk aufzuwiegeln, war nicht besonders erfolgreich.“
Die Abspaltung des Donbass ging nicht auf Putins persönliche Initiative zurück. „Das war eine Aktion von FSB-Leuten, die die Situation ausnutzen wollten und die ganze Sache losgetreten haben“, berichtet ein anderer Informant aus Putins engerem Umfeld. Eine weitere Quelle aus der Präsidialverwaltung bestätigt das: „Die Krim war eine Spezialoperation, der Donbass nicht – es gab Akteure, die zu Putin sagten: Wir sollten eingreifen, eine Gegenkampagne starten. In der Ukraine gibt es prorussische Kräfte, wir dürfen die Leute nicht allein lassen.“ Dazu gehörten der FSB-nahe russisch-orthodoxe Unternehmer Konstantin Malofejew, [Putins Berater] Sergej Glasjew, der bereits seit über einem Jahr ein Netzwerk prorussischer Kräfte in der Ukraine aufbaute, sowie der Geschäftsmann Sergej Kurtschenko aus dem Umfeld von Viktor Janukowytsch. „Jeder spielte sein eigenes Spiel, es gab praktisch niemanden, der diese Aktivitäten koordiniert hätte“, so ein kremlnaher Informant.
Jeder spielte sein eigenes Spiel
Nachdem sich in Donezk und Luhansk separatistische Gruppierungen gebildet hatten, stellte Putin weitere Leute ab, die auf den Prozess einwirken sollten. So beispielsweise Wladislaw Surkow, der sich mit dem Aufbau eines Regierungssystems in den aufständischen Regionen um die politische Seite kümmerte.
Trotz der inoffiziellen Beteiligung russischer Truppen im August 2014 gab es damals weder Pläne noch die Bereitschaft zu einem groß angelegten Krieg. Der Kreml wollte die ukrainische Regierung überlisten. Das Minsker Abkommen kam Moskau dabei entgegen, wie ein ehemaliges Mitglied der Verhandlungsdelegation berichtet: „Putin war persönlich an der Abfassung des Textes beteiligt. Einige Punkte, die den Status und die politische Regulierung betreffen, hat er selbst formuliert.“
Wenn das Minsker Abkommen umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen
Im Weiteren brauchte er dann nur noch zur Umsetzung des Abkommens aufzurufen. „Worin bestand diese Umsetzung? Die Ukraine sollte ein Gesetz zum Sonderstatus der DNR und der LNR erlassen und eine Verfassungsreform durchführen. Die Republiken sollten formell wieder der Ukraine unterstellt werden, samt den beiden Armeekorps und den unter russischer Herrschaft gewählten politischen Organen“, so die Quelle, die auf Seiten Russlands direkt an der Ausarbeitung beteiligt war. „Das alles sollte legalisiert werden. Damit würde es in der Ukraine zwei Fremdkörper geben, die sich Kiew nicht unterordnen. So war es im Minsker Abkommen vorgesehen. Wenn es umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen. Das war der Plan.“
Aus Putins Sicht – so eine weitere Quelle aus seinem Umfeld – hatte er den damaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko schlicht übertölpelt: „Erst Wahlen, dann die Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, nicht umgekehrt. Damit war klar, wer bei diesen Wahlen gewinnen würde. Poroschenko kam es in diesem Chaos darauf an, den Krieg zu beenden, die Einzelheiten hat er nicht durchschaut.“ Der Kreml fror den Konflikt ein. Ende 2014 wurden die aggressivsten und militantesten Kräfte in den beiden separatistischen Donbass-Republiken ausgeschaltet oder ins Abseits gedrängt. Die Präsidialverwaltung stellte die Kriegsrhetorik für lange Zeit ein.
Bei Besprechungen sei oft der Satz gefallen: ,Putin will die ganze Ukraine.‘ Doch das habe niemand ernst genommen
„Niemand, der mit dem Kreml zusammenarbeitete, nahm das Wort ‚Krieg‘ in den Mund. Man hatte das Gefühl, der Krieg sei vorbei, die Regierung hatte ja auch den eigenen Bürgern erklärt, Russland wolle keinen Krieg“, erinnert sich ein Politologe, der damals für den Kreml tätig war. Zugleich, sagt er, sei bei Besprechungen oft der Satz gefallen: „Putin will die ganze Ukraine.“ Doch habe das niemand ernst genommen: „Wollen kann einer ja vieles.“ Einer anderen Quelle zufolge war der Konflikt um die selbsternannten Volksrepubliken im Donbass gerade deshalb von Nutzen, weil er auf niedriger Flamme köchelte: „Er schwelte vor sich hin und konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven.“
Der Konflikt im Donbass konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven
Dass Putin selbst keinesfalls vorhatte, das Thema Ukraine auf sich beruhen zu lassen, konnte man in den folgenden Jahren an den Politsendungen im russischen Staatsfernsehen ablesen: „Es gab einen Haufen Probleme, es war viel los in der Welt. Aber diese Idioten haben ständig über die Ukraine geredet“, erzählt eine Quelle aus Putins Umgebung. „Nicht über Syrien oder das missliebige Amerika, sondern über die Ukraine. Sie stand nicht auf der Tagesordnung, aber es war dauernd die Rede von ihr.“ Der Quelle zufolge könne das nicht eine fixe Idee des Fernsehkurators der Präsidialverwaltung gewesen sein, sondern war definitiv eine Anweisung von ganz oben.
Putin suchte weiter hartnäckig nach Verbindungen zwischen der Ukraine und den USA. „Er war überzeugt, dass die Ukraine faktisch durch die NATO und die USA kontrolliert wird“, sagt ein Informant aus seinem damaligen Umkreis.
5. Warum Putin sich von Selensky gekränkt fühlte: Der Friedensstifter des Krieges
2019 gewann überraschend Wolodymyr Selensky die Präsidentschaftswahl. Er hatte so vielfältige Beziehungen zu Russland wie wohl keiner seiner Vorgänger. Als einziger ukrainischer Präsident hatte er sogar eine Zeit lang in Moskau gelebt, als er in der russischen TV-Show KWN mitwirkte. Zum Jahreswechsel 2013/2014 hatte er gemeinsam mit dem russischen Komiker Maxim Galkin die Neujahrsshow des TV-Senders Rossija 1 moderiert.
Mit seiner Wahlkampfrhetorik, man müsse mit Putin eben eine Lösung finden, und dem Versprechen von Frieden in der Ukraine, erregte er höchstes Misstrauen bei entschiedenen Gegnern einer Annäherung an Russland und vorsichtigen Optimismus in Moskau. Beim ersten Telefonat mit Selensky gab sich Putin respektvoll. „Man merkte, dass er Berührungspunkte finden wollte“, erzählt der ehemalige Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Bohdan.
Selensky schlug in dem Gespräch vor, seinen Assistenten Andrij Jermak zum neuen Unterhändler bei den Donbass-Verhandlungen zu machen. Diese Funktion hatte bisher Putins persönlicher Freund Viktor Medwedtschuk innegehabt. Einer Quelle aus dem Umkreis der russischen Präsidialverwaltung zufolge meinte Selensky, dass Medwedtschuk „einfach Geld scheffelt, seine Beziehungen nutzt, um Kohle zu machen.“
Putin ging davon aus, er könne den politischen Neuling Selensky leicht austricksen
Der Kreml gab damals nach und ließ Medwedtschuk ersetzen. „Er [Selensky] war offensichtlich begabt und lernfähig. Und er ging mit der recht naiven Vorstellung an die Sache heran, er werde jetzt mit Putin vernünftig über alles reden“, erzählt eine Quelle aus dem Umfeld der russischen Regierung. „Natürlich war er nicht proamerikanisch, er war proukrainisch. Und er wollte aufrichtig etwas Gutes bewirken.“ Wie drei Quellen übereinstimmend berichten, wollte Selensky die Beziehungen mit Moskau tatsächlich erneuern. Sein Team wandte sich an verschiedene Personen, um Rat einzuholen, wie das am besten anzugehen sei. So rief etwa Jermak Alexander Woloschin an, den ehemaligen Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Auch Putin erwartete eine mögliche Einigung mit Selensky. Er ging davon aus, den politischen Neuling leicht austricksen und endlich die Umsetzung des Minsker Abkommens erreichen zu können, was für Russland einem großen Sieg gleichgekommen wäre.
Als Putin im Dezember 2019 nach Paris reiste, war er sicher, dass nun endlich Bewegung in die seit Jahren festgefahrene Angelegenheit kommen würde. Doch mit Selensky gestalteten sich die Verhandlungen noch schwieriger als mit seinem Vorgänger. Er verweigerte die Durchführung von Wahlen im Donbass vor der Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, und Mitglieder seiner Delegation versuchten sogar, den entscheidenden Absatz des Minsker Abkommens dahingehend zu revidieren, dass der Donbass-Region kein dauerhafter, sondern nur ein vorübergehender Sonderstatus zuerkannt werden sollte. Surkow, der an den Friedensverhandlungen teilnahm, drohte damit, sie ganz abzubrechen. Nach Angaben eines ukrainischen Ministers war er kurz davor, mit den Fäusten auf Andrij Jermak loszugehen, brüllte und stampfte mit den Füßen.
Putin war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder
Putin hatte mit einem warmen Empfang gerechnet und eine kalte Dusche bekommen. „Er war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder“, so die Einschätzung Olexander Charebins, der in Selenskys Wahlkampfteam an der Erarbeitung der außenpolitischen Strategie mitgewirkt hatte. „Selensky und seine Delegation waren besser vorbereitet als erwartet. Der große Zar der gesamten Rus stand auf einmal fast als Witzfigur da.“ Selensky trug seinen Teil dazu bei. Als Putin auf der Pressekonferenz sagte, es sei ein Dokument zur strikten Einhaltung des Minsker Abkommens angenommen worden, wiegte Selensky lächelnd den Kopf, und bei der Erwähnung des Sonderstatus zeigte er sich unverhohlen erheitert und hielt sogar die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. „Das kam für alle überraschend und zum ersten Mal so offenkundig“, so der ukrainische Berater Charebin. „Es war praktisch eine öffentliche Ohrfeige für Putin. Und diese Erfahrung war womöglich traumatisch für ihn.“ Am Gesichtsausdruck des russischen Präsidenten ließ sich ablesen, dass er die gemeinsame Pressekonferenz nur mit Mühe ertrug. Er würdigte Selensky keines Blickes und blätterte immer wieder in seinen Unterlagen. Selensky und Putin sind seither nie mehr zusammengetroffen, und Surkow wurde zwei Monate später als Beauftragter für die Ukraine und die Donbass-Region entlassen. Nach dem Pariser Desaster setzte der Kreml nun auf Soft Power – und sein wichtigster Gewährsmann wurde Viktor Medwedtschuk.
6.Wann die Kriegsentscheidung fiel: Das Fass läuft über
Mit Medwedtschuk, dem ehemaligen Leiter der Präsidialverwaltung unter Kutschma, war Putin auch nach dessen Abgang aus der Politik in Verbindung geblieben. 2012 kam Putin zu einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Janukowytsch vier Stunden zu spät und stattete Medwedtschuk danach demonstrativ einen Besuch zu Hause ab. Dieser führte ihm beim Abendessen seine Aqua-Disco vor – bunte Springbrunnen, deren farbige Beleuchtung im Rhythmus der Musik wechselte. „Dort wurden professionelle Aufnahmen gemacht, nicht von einem Paparazzo, sondern ganz offen von einem persönlichen Kameramann“, erinnert sich der Fernsehmoderator Jewgeni Kisseljow im Gespräch mit dem Autor. Die Bilder von Putin und Medwedtschuk wurden im ukrainischen Fernsehen gezeigt.
Nach 2014 war Medwedtschuk aufgrund seiner großen Nähe zu Moskau für die Organisation der Verhandlungen der Trilateralen Kontaktgruppe und für den Gefangenenaustausch zuständig gewesen. Gegen Ende von Poroschenkos Amtszeit erwarb Taras Kosak, ein Mitstreiter Medwedtschuks, drei TV-Nachrichtensender. Sie sollten später zum Anlass für einen Konflikt zwischen Medwedtschuk, der in der Ukraine als wahrer Eigentümer der Sender galt, und Selensky werden.
Die Sender verbreiteten die prorussischen Ansichten ihrer Eigentümer. Laut Medienexperte Otar Dowshenko behauptete die dort ausgestrahlte Propaganda, „es habe keinen Angriff auf die Ukraine gegeben, es herrsche ein Bürgerkrieg, an dem die Ukraine selbst schuld sei, sie müsse sich nur zur Freundschaft mit Russland entschließen, die Krim habe sich selbst abgespalten, weil sie nicht wertgeschätzt worden sei, auf dem Maidan habe ein bewaffneter Putsch stattgefunden“. Zugleich wurde auf diesen Sendern immer wieder Selenskys Politik kritisiert. Steigende Wohnkosten und soziale Probleme waren ein ständiges Thema. Selenskys Umfragewerte gingen zurück, dafür stieg die Beliebtheit von Medwedtschuks Partei Oppositionsplattform – Für das Leben. Im Oktober 2020 belegte sie bei den Regionalwahlen in sechs Regionen den ersten Platz und überholte Selenskys Partei Diener des Volkes. Selbst nach Beginn des umfassenden Krieges sollte Selensky auf diese Ereignisse zurückkommen. In seinem ersten Interview mit russischen Journalisten, das Ende März 2022 während der Kämpfe um Mariupol stattfand, sprach er lange darüber, wie Medwedtschuk in den Regionen gesiegt hatte.
Im Februar 2021 wurde eine Sonderoperation zur Ausschaltung Medwedtschuks unternommen. Sie richtete sich gegen die Sender 112 Ukraine, NewsOne und ZIK und ihren Eigentümer, Taras Kosak. Selensky erklärte, die Sender verbreiteten antiukrainische Propaganda und behinderten die Integration der Ukraine in die EU. Sie wurden mit einem Sendeverbot belegt, das auf einer kurzfristig anberaumten Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates beschlossen wurde. Das Präsidialamt erklärte damals, die drei Sender würden als „Instrumente fremder, ausländischer Propaganda in der Ukraine“ eingesetzt. Mychailo Podoljak, der den Leiter des Präsidialamts berät, ergänzte, sie würden für die „Besatzer“ arbeiten. Zugleich hieß es, es gebe „Fragen“ zur Finanzierung der Sender. Selensky hatte bereits anderthalb Jahre zuvor erklärt, er wisse, aus welchem Land sie finanziert würden, und Iwan Bakanow, Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, hatte von einer „antiukrainischen Informationskampagne des Angriffsstaates“ gesprochen.
Auch gegen Medwedtschuk persönlich wurden Sanktionen verhängt. Der SBU setzte ihn und seine Frau auf seine Rechercheliste zur Finanzierung von Terrorismus. Am 11. März 2021 führten der SBU und die ukrainische Steuerbehörde einen Sondereinsatz in Objekten des Tankstellennetzes Glusco durch, das ebenfalls mit der Familie Medwedtschuks in Verbindung gebracht wird.
Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen, hat das Putin richtig in Rage versetzt
Die Zerschlagung von Medwedtschuks Medien und die „Schikanen“ gegen ihn gaben den endgültigen Ausschlag für Putins Entscheidung zu einer Militäroperation, wie drei Quellen aus seinem Umkreis bestätigen. Der Kreml setzte nun nicht mehr auf Soft Power.
„Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen und seiner Partei die Luft abdrückten, hat das Putin richtig in Rage versetzt“, so ein langjähriger Bekannter des russischen Präsidenten. „Er fühlte sich persönlich angegriffen. Medwedtschuk und seine Sender waren eine Art Brückenkopf, sie standen für die Hoffnung auf eine politische Lösung der Situation. Und da fängt die Ukraine an zu eskalieren. Ach, ihr wollt auf die Pauke hauen? Ihr wisst wohl nicht, mit wem ihr euch da anlegt!“
Medwedtschuk hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und Putin blindlings in die Irre geführt
Zu Putins Entschluss trug auch bei, dass Medwedtschuk ihm immer wieder erzählt hatte, wie stark die Unterstützung für seine Person und die prorussische Stimmung in der Ukraine sei. „Er hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und nicht gedacht, dass das jemals auf den Prüfstand gestellt werden würde“, erinnert sich eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung. „Er hat erzählt, wie loyal die Territorien seien, und Putin blindlings in die Irre geführt.“
Im Kreml zweifelte man nicht an Medwedtschuks Darstellung. „Anstatt das nachzuprüfen und zu erkennen, dass sie hier ganz offensichtlich nicht erwünscht sind, haben sie sich von Kränkung und Zorn verblenden lassen“, sagt der ukrainische Politikberater Charebin. Allerdings, so eine Quelle aus Medwetschuks Bekanntenkreis, habe dieser nicht ahnen können, dass Putin aufgrund seiner Angaben beschließen würde, mit einer kleinen Spezialoperation schnell mal die Regierung in Kyjiw auszutauschen. Putin habe ernsthaft damit gerechnet, in der gesamten Ukraine Unterstützung zu finden, ganz wie sein Vertrauter es ihm erzählt hatte. „Für Medwedtschuk war Putins Entscheidung zum Krieg die denkbar katastrophalste Entwicklung“, sagt jemand aus dem Umfeld des russischen Präsidenten.
Putin hatte sich vor seiner Entscheidung nicht mit Medwedtschuk beraten – und auch mit niemandem sonst. Der einzige, mit dem er ständig Kontakt hielt , war sein Freund Juri Kowaltschuk. Wie zwei Quellen bestätigen, hatte Kowaltschuk einen bedeutenden Anteil an Putins Entschluss zur Spezialoperation. Während der Pandemie hielt er sich als Einziger ununterbrochen in der Residenz des Präsidenten auf, um nicht in Quarantäne zu müssen. Kowaltschuk hat nie ein Hehl aus seiner antiwestlichen Einstellung gemacht. Möglicherweise hat er Putin die Schriftsteller nähergebracht, die dieser ab den 2010er Jahren zu studieren begann. Laut einem Bericht der Zeitung The Wall Street Journal führten die beiden Männer ab März 2020 stundenlange Gespräche über den Konflikt mit dem Westen und Russlands Geschichte. Auch die von Verstka befragten Quellen bestätigen das: „Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen. Er vermied nach Möglichkeit jede Begegnung, und wenn es doch dazu kam, waren die Leute nach der zweiwöchigen Quarantäne so abgestumpft, dass kein normales Gespräch möglich war. Außerdem lässt sich aus fünfzehn Metern Abstand keine vertrauliche Unterredung führen.“
Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen
Laut einer kremlnahen Quelle war es Kowaltschuk, der Putin davon überzeugte, Europa sei von Widersprüchen zerrissen und der Zeitpunkt sei ideal für eine schnelle Operation.
Der Entschluss zur Vorbereitung der Operation fiel ein Jahr vor Beginn des Krieges, Ende Februar/Anfang März 2021. Schon im April fanden an den Grenzen der Ukraine die ersten Drohmanöver statt.
Die Vorbereitung unterlag strengster Geheimhaltung. Trotzdem war die Möglichkeit eines Krieges schon ab Sommer ein gängiges Thema im näheren Umkreis des Kreml. Am 12. Juni 2021 wurde auf der Kreml-Website Putins ArtikelÜber die historische Einheit der Russen und Ukrainer veröffentlicht. Nach den Informationen, die Verstka vorliegen, war der Artikel viele Male geändert worden. Eine Version enthielt eine offene Drohung mit einer möglichen Militärintervention, die jedoch nicht in die Endfassung einging.
Laut einem Bericht des britischen Forschungsinstituts RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) vom 29. März 2023 begann der FSB ab Juli 2021 mit den Vorbereitungen zur Besetzung der Ukraine. Zu diesem Zweck wandelte man das 9. Referat des Ressorts für operative Information in eine vollwertige Abteilung um und erweiterte den Stab von zwei Dutzend Beschäftigten auf über zweihundert. Sie wurden in Sektionen aufgeteilt, die sich um die einzelnen Regionen der Ukraine kümmern sollten. Eine thematische Sektion befasste sich mit dem Parlament der Ukraine, eine weitere mit ihrer kritischen Infrastruktur.
Drei Monate vor dem Krieg wurde bereits besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei
Eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung berichtet, auf der Tagung des Waldai-Klubs im Oktober 2021 habe ein dort anwesender Repräsentant der staatlichen Machtorgane in privaten Gesprächen bestätigt, dass die westlichen Befürchtungen, Russland plane einen Krieg, nicht unbegründet seien: „Es stimmt, wir wollen in der Ukraine einen Regimewechsel herbeiführen.“ Dabei sei explizit von militärischen Mitteln zur Erreichung dieses politischen Ziels die Rede gewesen. Einer weiteren Quelle zufolge wurde bereits drei Monate vor dem Krieg, im Dezember 2021, besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei. In jeder Region der Ukraine sollte jeweils ein russisches Staatsunternehmen oder ein kremlnahes Privatunternehmen für die Entwicklung zuständig sein. Eine Woche vor Beginn der Invasion tagte der nichtöffentliche Expertenrat für Außen- und Verteidigungspolitik, ein einflussreiches Gremium, das dem Außenministerium nahesteht. Ein kremlnaher Politologe erklärte dort offen, im Laufe der kommenden Woche werde eine Spezialoperation starten, um einen Regimewechsel in Kyjiw herbeizuführen; sie werde nicht lange dauern.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde. Kowaltschuk hatte ihn von der Schwäche des Westens überzeugt, und Medwedtschuk hatte ihm eingeredet, die Ukraine sei schwach und werde sich loyal verhalten.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde
Eine einfache Rechnung genügt, um zu erkennen, dass kein langer Krieg vorbereitet wurde: „Man kann ein Land mit 44 Millionen Einwohnern doch nicht mit 160.000 Soldaten erobern“, staunt eine Quelle, die dem politischen Flügel der Präsidialverwaltung nahesteht. „Wer eine solche Operation mit so wenigen Streitkräften beginnt, zählt darauf, dass in der Ukraine massenhaft russlandtreue Kräfte kollaborieren. Und unter dieser Annahme wurde die Aktion in Angriff genommen, geplant und ausgearbeitet.“
Die Quellen berichten, dass viele Vertreter der Sicherheitsorgane – wie schon bei der Krim-Annexion – gegen die Invasion gewesen seien. Davon zeugen sowohl der Brief des Generalobersten und Vorsitzenden der Allrussischen Offiziersversammlung, Leonid Iwaschow, als auch Publikationen aus dem Umfeld des Verteidigungsministeriums.
Verteidigungsminister Schoigu hatte allerdings nichts gegen Putins Entscheidung einzuwenden und zeigte sich sogar erfreut. „Ihm war nicht klar, in welchem Zustand die Armee war, und er fand die Sache interessant. Er glaubte, Putin wisse mehr als er selbst, und dachte tatsächlich, es würde nicht viel schlimmer kommen als bei der Annexion der Krim“, berichtet ein alter Freund Putins. Die restlichen Eliten wurden am Tag des Einmarschs vor vollendete Tatsachen gestellt.
„Das ist ein merkwürdiger Krieg, praktisch die gesamte Elite ist dagegen. Ich spreche mit hochrangigen Leuten in Russland, in den obersten Machtetagen gibt es niemanden, der dafür wäre. Aber sie begreifen, dass sie im Team arbeiten müssen“, sagt ein ehemaliger Beamter des Kreml unter Berufung auf private Gespräche mit russischen Regierungsvertretern.
Denen, die das nicht begreifen wollen, wird klargemacht, dass sie es müssen. Nach Angaben einer Quelle suchte ein „hoher Beamter“ der Staatsduma im Frühling 2022 den Kreml-Beauftragten für die Innenpolitik, Sergej Kirijenko, auf und sagte, er könne nicht mehr und wolle aufhören. „Am nächsten Tag bekam seine Frau Besuch vom FSB, und bei seinem Sohn, der ein Unternehmen hat, tauchten Uniformierte auf. Nach einer Woche ging der Beamte wieder zu Kirijenko und sagte, er habe es sich anders überlegt.“ „Gut so“, habe Kirijenko lächelnd erwidert, um dann zur Besprechung des Tagesgeschäfts überzugehen.
Bei einem Propaganda-Konzert im Moskauer Lushniki-Stadion am 22. Februar 2023 erscheint ein 15-jähriges Mädchen auf der Bühne. Sie heißt Anja Naumenko und kommt aus dem ukrainischen Mariupol. Sie ringt sichtlich um Fassung und sagt schließlich in Richtung eines russischen Soldaten: „Danke an Onkel Juri, dass er mich und meine Schwester und hunderttausende Kinder aus Mariupol gerettet hat.“ Auf der Bühne steht auch ihre jüngere Schwester Karolina, die sich wegen des Stadionlärms die Ohren zuhält.
Durch die Sozialen Medien stürmte sogleich eine Welle der Entrüstung und Fassungslosigkeit, das alles sei eine absolut zynische Instrumentalisierung leidgeprägter, traumatisierter Kinder – schließlich hatte die russische Armee Mariupol im vergangenen Jahr durch wochenlangen Beschuss weitgehend zerstört und dabei tausende Zivilisten getötet. Darunter auch die Mutter von Anja und Karolina, wie iStories später in einer Recherche feststellte.
„[Sie haben gesagt:] ,Wer braucht euch denn in der Ukraine? Wir bringen euch ins Heim, dort werdet ihr schon alles verstehen‘“, berichtet ein Junge, den Russland nach Angaben der ukrainischen NGO Save Ukraine aus dem teilbesetzten Gebiet Cherson entführt hatte und der nun mit 16 weiteren deportierten ukrainischen Kindern in die Heimat zurückkehren konnte. Ukrainische Behörden sprechen von aktuell über 19.000 Kindern, die Russland verschleppt haben soll.
Das Thema erhielt aktuell neue Aufmerksamkeit durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der sich nicht nur gegen Wladimir Putin richtet, sondern auch gegen Maria Lwowa-Belowa, die offizielle Beauftragte des Präsidenten für Kinderrechte in Russland. Der Strafgerichtshof sieht sie als mutmaßliche Kriegsverbrecherin, die für die Deportation ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Zu den Kriterien für einen Genozid an einer Volksgruppe zählt die UN-Völkermordkonvention von 1948 unter anderem die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.
Anna Ryshkowa und Regina Gimalowa haben sich intensiv mit dem Werdegang von Lwowa-Belowa befasst. Auf Verstka (Wjorstka) zeichnen sie das ausführliche Porträt einer Frau, die unter Putin eine erstaunliche Karriere hingelegt hat und das Image einer liebevollen Fürsprecherin des Kindeswohls pflegt.
Am 27. Oktober 2021 traf sich Maria Lwowa-Belowa per Videocall mit Wladimir Putin. Am Vortag hatte sie ihr Amt als Beauftragte für die Rechte des Kindes angetreten, das zuvor ihre langjährige Freundin Anna Kusnezowa innehatte. Bei dem Treffen trug Lwowa-Belowa einen zartrosa Blazer mit einer Blumenbrosche – und begann ihre Rede mit der Bemerkung, dass sie sich bereits seit über 15 Jahren für die Rechte von Kindern einsetze. Da fragte Putin sie nach ihrem Privatleben:
„Wie viele Kinder haben Sie denn?“ „Neun, fünf leibliche und vier Pflegekinder, dazu noch die Vormundschaft für 13 Jugendliche mit Behinderung.“ „Wie schaffen Sie das nur alles? Ich meine, auch noch Ihr soziales Engagement.“ „So sind kinderreiche Mütter eben – Multitasking-Talente.“
Am 9. März fand ihr nächstes Gespräch statt. Da wütete bereits seit über zwei Wochen Krieg. Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich die neue Ombudsfrau um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“. Anfang März waren bereits über tausend Waisenkinder nach Russland verbracht worden. „Der Präsident hatte betont, dass jedes außer Landes gebrachte Kind die Chance haben muss, eine Familie zu finden“, schrieb Lwowa-Belowa damals auf Telegram.
Neun Monate nach Kriegsbeginn gibt sie zu, dass sie, kaum hatte sie ihr Amt angetreten, sofort „mittendrin“ war: „Die Spezialoperation begann, der Donbass, das alles … Ich schäme mich nicht für dieses Jahr, denn mein Team und ich haben nicht nur 100 Prozent, wir haben 150 Prozent gegeben.“
Zu diesem Zeitpunkt steht die Staatsbeamtin bereits auf sieben internationalen Sanktionslisten – wegen der Organisation illegaler Transporte von Minderjährigen aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland.
1. Die Ernennung anstelle der Freundin
„Besserer Background, mehr Kinder“
Als Maria Lwowa-Belowa das Amt der Kinder-Ombudsfrau antrat, hatte sie es schon ins Präsidium des Generalrats von Einiges Russland geschafft, hatte bei den Wahlen für die Stadtduma von Pensa kandidiert und auf einem Senatorenposten gesessen. Ihre Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter.
Lwowa-Belowas Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter
„Als Anna Kusnezowa [im September 2021 in die Staatsduma] gewählt wurde, sollte sie eine Nachfolgerin vorschlagen“, sagt eine Quelle gegenüber Verstka. „Offenbar sollte es eine ganz ähnliche Person sein. Also nahmen sie Lwowa-Belowa.“
Ein weiterer Zeuge von Lwowa-Belowas Ernennung erzählt Verstka, dass ihre Kandidatur aktiv von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefördert wurde – im Vergleich zu Anna Kusnezowa habe sie „einen besseren Background und mehr Kinder“.
2. Der Weg zur Macht: Musik, Kirche und Wohltätigkeit
„Es ist nicht richtig, sein Leben nur den eigenen Kindern zu widmen“
Geboren und aufgewachsen ist die zukünftige Beamtin in Pensa. Als ausgebildete Orchesterdirigentin für Unterhaltungsmusik unterrichtete sie an Musikschulen und an der Hochschule für Kultur und Kunst Gitarre.
Mit 19 Jahren heiratete Maria Pawel Kogelman, von Beruf Programmierer und außerdem Gemeindemitglied einer Kirche in Pensa. Er verliebte sich in seine zukünftige Ehefrau, als er sie im Chor singen sah. Pawel wünschte sich viele Kinder. Damit hatte er Lwowa-Belowas Herz sofort erobert. Denn wenn sie jemanden kennenlernte, der weniger als drei Kinder wollte, so ihre Worte, traf sie ihn kein zweites Mal.
Das erste Kind bekam das Paar 2005. Zwei Jahre später kam das zweite.
Ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen
2008 erfuhr Maria von der Station für ungewollte Kinder im städtischen Kinderkrankenhaus. Damit begann ihre Karriere im NGO-Bereich. „Wir besuchten die Kleinen, badeten sie und lasen ihnen Märchen vor, stellten die eigenen Kinder hintan. Das klingt vielleicht hart, aber ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen. Eine Frau braucht auch andere Aufgaben“, sagte die Staatsbeamtin in einem Interview.
Aus dieser Wohltätigkeitsinitiative heraus entstand Lwowa-Belowas erste gemeinnützige Organisation: Blagowest (dt.Glockenton). Maria Lwowa-Belowa und Anna Kusnezowa kümmerten sich fortan gemeinsam mit ihren Gatten um die Resozialisierung von Waisenkindern. Doch die beiden zukünftigen Staatsbeamtinnen zerstritten sich, Kusnezowa verließ das Projekt, und der Verein wurde bald nach seiner Gründung wieder aufgelöst. Laut Lwowa-Belowa war das Zerwürfnis allerdings rein beruflich – bei einem von Kusnezowas Kindern wurde sie sogar Taufpatin.
„Die beiden waren ganz normale Mädchen, nur ein wenig orthodox“, erinnert sich im Gespräch mit Verstka Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus (dt. Bürgervereinigung) in Pensa. „Nach diesem Streit scheint zwischen ihnen irgendeine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft.“
Es scheint irgeneine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft
2014 trat Kusnezowa der Allrussischen Volksfront bei und wurde bald Leiterin der Bewegung Materi Rossii (dt. die Mütter Russlands). Zur selben Zeit gründete Lwowa-Belowa in Pensa ihr erstes großes Projekt Kwartal Lui – ein Rehabilitationszentrum, in dem Menschen mit Behinderung, die im Kinderheim aufgewachsen sind, auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden und nicht in neuropsychiatrischen Internaten landen. Für dieses Projekt bekam Lwowa-Belowa 400.000 Rubel vom regionalen Arbeitsministerium.
2016 wurde Anna Kusnezowa zur Beauftragten für die Rechte von Kindern ernannt. Von da an ging Lwowa-Belowas Karriere genau wie die staatliche Finanzierung ihrer Projekte steil nach oben. Lwowa-Belowa eröffnete weitere Reha-Zentren – größere und teurere.
Ihr neues Projekt Dom Veroniki (dt. Veronikas Haus, ein Pensionat für junge Menschen mit schwerer Behinderung) wurde mit rund 27 Millionen Rubel gefördert – von der Regierung der Oblast Pensa, dem Fonds des bevollmächtigten Vertreters im Föderationskreis Wolga und der Stiftung des Präsidenten. In der Folge ließ Lwowa-Belowa ein ganzes Viertel für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bauen – Art-Pomestje Nowyje berega (dt. Kreativ-Dorf Neue Ufer).
Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte
Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte. 2016 wurde sie von der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Orden dritten Ranges des Heiligen Apostelgleichen Großfürsten Wladimir ausgezeichnet. 2017 wurde sie Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Und bei den Präsidentschaftswahlen 2018 war sie Vertrauensperson von Wladimir Putin.
Im November 2019 fand Lwowa-Belowa ihren Platz im Präsidium des Generalrats von Einiges Russland. Gleichzeitig beendete ihr Mann Pawel Kogelman seine Karriere als Programmierer und wurde Priester. Lwowa-Belowa befürchtete, sich nun einschränken zu müssen. Aber sie musste, wie sie sagt, nur „ein paar Miniröcke wegwerfen“. In weiterer Folge wurde Pawel Vorsteher der Kirche, die im Art-Pomestje Nowyje berega gebaut wurde.
Bald übernahm Lwowa-Belowa das Amt der Senatorin im Föderationsrat der Oblast Pensa und gleichzeitig die Vormundschaft für weitere acht Jugendliche mit intellektuell-kognitiver Beeinträchtigung.
3. Politik: Kompromisse
„Schweigen oder Zustimmen“
Lwowa-Belowa hatte wiederholt betont, dass sie die Waisenkinder vor einer Unterbringung in neuropsychiatrischen Internaten bewahren möchte. Die aktive Kampagne eines gemeinnützigen Vereins gegen den Bau geschlossener Anstalten unterstützte sie jedoch öffentlich nicht. Sie ignorierte auch einen Brief an Putin, den 115 Vertreter von NGOs unterzeichnet hatten, die Menschen mit Behinderung unterstützen.
Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor
„Je näher Mascha und Anja der Partei standen, desto mehr unterstützten sie die Agenda der Regierung oder hielten den Mund“, bemerkt Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus. „Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor.“
Im Juni 2021 machte die Wohltäterin ihren Abschluss für den Nachwuchskader des Präsidenten. Das Diplom überreichte ihr der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko. Im Oktober ernannte Putin sie zur Beauftragten für die Rechte des Kindes. Im selben Jahr übernahm die Staatsbeamtin die Vormundschaft für fünf weitere Heimkinder, die nach Ablauf der Jahre im Kinderheim nicht arbeitsfähig waren.
Lwowa-Belowa erzählt, sie habe als Kind keinen besonderen Berufswunsch gehabt, aber immer gewusst, dass sie Mutter werden will. Als sie eine Familie hatte, habe sie begriffen, dass es für Kinder besonders wichtig sei, die Wärme der Eltern zu spüren, und sie lieber „mit Umarmungen“ als „mit intensiven Gesprächen“ erzogen.
Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen
Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen. Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder“ umarmt.
4. Mit dem Krieg kommt der Karriereaufschwung
„Wir wollen die bürokratischen Hindernisse beseitigen, damit die Kinder eine normale Kindheit haben“
Schon in den ersten Kriegstagen wurden aus den okkupierten Regionen der Ukraine Hunderte von Kindern nach Russland „evakuiert“. Die meisten von ihnen wurden in Auffanglagern in Feriendörfern und Kinderheimen untergebracht. Am 11. März letzten Jahres gab Lwowa-Belowa erstmals zu verstehen, dass ukrainische Waisenkinder in russischen Familien untergebracht werden sollen. Sie erklärte, Putin unterstütze dieses Vorhaben bedingungslos und habe sie angewiesen, „im Interesse der Kinder zu handeln“.
Verstka hat festgestellt, dass die Russen im Jahr 2022 im Suchfeld von Yandex 30.824 mal „Kind aus Donbass aufnehmen“ eingegeben haben. Rund die Hälfte dieser Suchanfragen – über 13.000 – stammen aus dem März und April. Zum Vergleich: Im Februar interessierten sich die User nur 218 mal für dieses Thema, und im gesamten Jahr 2021 belief sich die Anzahl solcher Suchanfragen auf null.
Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?
Lwowa-Belowa zufolge gab es tatsächlich sehr viele Anfragen. Für alle, die ein Kind aus den besetzten Regionen aufnehmen wollten, erstellte Lwowa-Belowa eine spezielle Anleitung. „Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?“, lautete Lwowa-Belowas Reaktion auf das Interesse der Familien.
Die Ombudsfrau unterstützte öffentlich die Propaganda-These von der „Rettung der Kinder aus dem Donbass“. Während andere Beamte vor allem von der Bedrohung durch Nazis sprachen, erging sich Lwowa-Belowa vorwiegend im Lob der russischen Familien. Nach ihrer Interpretation befinden sich die unter den Beschüssen leidenden Kinder „an der Grenze zwischen Finsternis und Licht“, und die Russen können ihnen „Schutz“ bieten und sie „mit Fürsorge und Liebe wärmen“. Mehrfach hat Lwowa-Belowa festgestellt, dass sich die vom Krieg traumatisierten Kinder in den russischen Familien „zum Besseren“ verändern würden: „Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Kinder werden sogar äußerlich ihren [Pflege-]Eltern ähnlich.“
Von den „evakuierten“ Kindern berichtet die Ombudsfrau in ihrem Telegram-Kanal. Zum Beispiel vom kleinen Wanja aus der Volksrepublik Donezk, der im Bildungszentrum Leader in der Oblast Woronesh untergebracht ist. Jetzt sei Wanja „genau wie die Einheimischen“ und antworte nach einem Monat in Russland auf die Frage, woher er sei: „Aus Bobrow.“ Ein anderes Beispiel ist Bogdan aus Donezk, der ebenfalls in die Oblast Woronesh „evakuiert“ wurde. Die Ombudsfrau unterstreicht: Jetzt ist Bogdan in Sicherheit, schleift auf der Werkbank seine Basteleien und verspricht, beim Aufbau seiner Heimatstadt zu helfen.
Offiziell können russische Familien erst seit Ende Mai 2022 ukrainische Pflegekinder aufnehmen, seit Putin einen Erlass über ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft für Kinder „aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk und aus der Ukraine“ unterzeichnet hat. Doch Lwowa-Belowa war auch davor schon mit den „Volksrepubliken“ im Gespräch, um ukrainische Waisenkinder möglichst schnell in russische Familien zu bringen. Die ersten 27 Kinder kamen schon im April unter „vorübergehende Obsorge“ in die Oblast Moskau.
Lwowa-Belowa begleitete die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks
Bei der „Evakuierung“ aus den okkupierten Gebieten in die Russische Föderation begleitete Lwowa-Belowa die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks.
Bis Oktober 2022 waren allein offiziellen Angaben zufolge mehr als 380 Kinder aus Donezk und Luhansk in russische Familien vermittelt worden. Wie viele Kinder aus der Ukraine insgesamt in Kinderheimen auf neue Pflegeeltern warten, ist unbekannt, aber Journalisten stoßen immer wieder auf solche Fälle.
So erfuhr Verstka im Januar 2023 von mindestens 14 Kleinkindern aus Cherson, die sich im annektierten Simferopol im Kinderheim Jolotschka aufhielten. Diese Einrichtung machte 2020 wegen des grausamen Umgangs mit den Schützlingen als „Kinderkonzentrationslager“ Schlagzeilen. Im Februar gelangte der Fernsehsender Doshdin den Besitz einer Korrespondenz mit regionalen Vormundschaftsbehörden, aus der hervorging, dass im August des Vorjahres 400 Waisenkinder auf 24 Waisenhäuser verteilt worden waren. Nach Angaben der Journalisten wurden nur 36 von ihnen später in Familien untergebracht.
Lwowa-Belowa behauptet, ihre Mitarbeiter würden nicht nur daran arbeiten, ukrainische Kinder an Pflegefamilien zu vermitteln, sondern sie auch mit Angehörigen der eigenen Familie zusammenführen. Als Beispiel führt die Ombudsfrau allerdings immer nur denselben Fall an: Ein Vater, der bei der ukrainischen Armee gedient haben soll, habe nach der „Filtration“ seine Kinder aus Russland zurück nach Hause geholt.
„Wir sind sicher nicht daran interessiert, [die Kinder] ihren Eltern wegzunehmen und in irgendwelche russischen Familien zu stecken“, beteuerte die Politikerin.
Verschleppungen von Waisenkindern können als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht
Menschenrechtsaktivisten haben Lwowa-Belowas Mitwirkung an der Ausfuhr von Kindern in das Gebiet des Aggressorstaates wiederholt als Verstoß gegen das Völkerrecht bezeichnet. Einem Bericht des in den USA ansässigen Newlines Institute for Strategy and Policy und des kanadischen Raoul Wallenberg Centre for Human Rights zufolge können Verschleppungen von Waisenkindern als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht.
Lwowa-Belowa reagiert auf die Kritik der internationalen Gemeinschaft mit Ironie. Im Juni, als die Ombudsfrau erstmals auf einer britischen Sanktionsliste auftauchte, veröffentlichte sie auf ihrem Telegram-Kanal einen scherzhaften Post: „Wir Russen halten als Familien und in Organisationen zusammen – und jetzt eben auch auf Sanktionslisten.“
5. Familie: Adoptivsohn aus Mariupol
„Sie ist der wundervollste Mensch“
Im August erklärte Lwowa-Belowa, sie habe selbst ein ukrainisches Kind adoptiert – den 15-jährigen Filipp aus Mariupol. Der Teenager hatte sich seit Mai in Russland aufgehalten: Er war zusammen mit 30 weiteren Kindern aus Mariupol in das Sanatorium Poljana in Odinzowo [in der Nähe von Moskau] gebracht worden.
Im Herbst brachte der TV-Sender Zargrad eine Reportage über Filipp mit dem Titel Das ist mein Kind. Darin erzählt der Junge, er habe vor dem Krieg bei Pflegeeltern in Mariupol gelebt, aber die hätten ihn nach Ausbruch des Krieges zurückgelassen. Man habe ihn daraufhin nach Russland ins Sanatorium Poljana gebracht, wo er zunächst sehr traurig gewesen sei. Aber das habe sich schlagartig geändert, als Lwowa-Belowa das Sanatorium besuchte:
Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie
„Auf einmal kam Mascha [Koseform von Maria – dek] herein, das werde ich nie vergessen“, erinnert sich Filipp im Gespräch mit dem Reporter von Zargrad. „Sie ist der wundervollste Mensch, den ich je in meinem Leben getroffen habe. Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie.“
In einem der Videos von diesem Besuch in Poljana sieht man Lwowa-Belowa, wie sie zu einem jungen Mädchen ins Zimmer kommt, sich zu ihr aufs Bett setzt und sagt: „Ich bin für alle Kinder unseres Landes verantwortlich. Und solange ihr hier seid, bin ich auch für euch verantwortlich.“ Das Mädchen umklammert ihr angezogenes Bein mit den Armen, während Maria Lwowa-Belowa ihr die Hand auf das Knie legt.
Die Ombudsfrau geht bei ihren Treffen immer maximal nah an die Kinder heran. Sie setzt sich im Kleid mit untergeschlagenen Beinen auf Spielteppiche, nimmt Vorschulkinder auf den Arm, nimmt sie auf den Schoß, verteilt tröstende Umarmungen und Küsse. Bei Fernsehinterviews bittet sie die Journalisten, einfach Mascha zu sagen, während ihre Mitarbeiter sie „MA“ nennen – eine Abkürzung für Maria Alexejewna.Kurz vor dem Jahrestag der russischen Invasion, am 16. Februar 2023, traf sich Lwowa-Belowa mit Putin, um die Ergebnisse ihrer Arbeit zu besprechen. Sie sagte, sie wisse jetzt selbst, wie es sei, „Adoptivmutter eines Kindes aus dem Donbass zu sein“, weil sie den 15-jährigen Filipp aus Mariupol bei sich aufgenommen habe.
„Dank Ihnen“, fügte die Kinderbeauftragte hinzu.
6. Kinder der Ukraine: „Integration“
„Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“
Im Juli 2022 besuchte Maria Lwowa-Belowa Kinder, die im zerstörten Mariupol geblieben waren und erzählte ihnen, dass auch bei ihr zu Hause jetzt ein „kleiner Teil“ dieser Stadt leben würde. Bei dem gemeinsamen Foto riefen die Kinder anstatt „Cheese“ laut „Mariupol – Stadt der Zukunft“ in die Kamera.
„Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“, sagte Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten
Nach ihrem Besuch beschloss die Staatsbeamtin, den Kindern aus dem Donbass „das Gefühl von einem friedlichen Leben“ zurückzugeben, und veranstaltete zu diesem Zweck zwischen Juni 2022 und März 2023 sechs Feriencamps im Süden Russlands und im Umland von Moskau. Lwowa-Belowa empfing die Kinder persönlich mit Karawai und einer Bühnenshow in russischen Trachten.
„Wir begrüßen euch so, weil ihr jetzt zu uns gehört“, sagte die Ombudsfrau zu den Jugendlichen.
In der Praxis kehren von diesen Lagern nicht alle Kinder nach Hause zurück
In diesen Feriencamps sollten die ukrainischen Jugendlichen im Rahmen eines Integrationsprogramms eine „psychologische Rehabilitation“ durchlaufen. Danach sollten sie nach Hause zurückkehren – in die, wie Lwowa-Belowa es nennt, „besonders stark beschossenen Gebiete“. Ihrer Ansicht nach würden die zwei Wochen im Lager nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern helfen: Die Kinder würden bei ihrer Rückkehr in die Heimatstadt ihren Familien eine „Ladung Zuversicht“ mitbringen, dass Russland sie „nicht im Stich lässt“. Allerdings kehren von diesen Lagern in der Praxis nicht alle Kinder nach Hause zurück.
Anfang März 2023 hielten sich im Süden Russlands und auf der Krim nach Lwowa-Belowas eigener Aussage noch 89 Kinder in den „verlängerten Ferien“ auf. Niemand würde gegen seinen Willen dort festgehalten, beteuerte die Politikerin. Das Problem sei die kritische Lage an der Front und der Umstand, dass die Eltern die Kinder nicht selbst abholen könnten, erklärte Lwowa-Belowa. Um welche Lager es sich konkret handelt, sagte die Ombudsfrau nicht.
Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden
„Es sind Kinder aus den Oblasten Cherson und Saporishshja“, sagt ein Informant, der mit der Situation vertraut ist. „Sie können nur zurück, wenn die Eltern sie abholen. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Männer durch die Filtrationsmaßnahmen gar nicht reingelassen werden oder nicht rauskommen. Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten, der Fürsorge übergeben und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden.“In die Feriencamps werden außerdem recht merkwürdige Gäste eingeladen, wie zum Beispiel die Fernsehmoderatorin Xenja Borodina, die den Kindern erzählt, „wie man zu einem Leader der öffentlichen Meinung zu aktuellen Themen wird“, oder die Bloggerin TatarkaFM, die sich auf ihrem YouTube-Kanal darüber auslässt, ob Selensky „high“ und die Ukraine souverän sei.
7. Kinder Russlands: Propaganda
„Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“
Maria Lwowa-Belowa kümmert sich nicht nur um das Schicksal von ukrainischen Kindern, sondern auch um die Erziehung der russischen Schüler – vor allem um die „patriotische“. Im Mai lud die Politikerin Jugendliche aus 82 russischen Regionen nach Moskau ein, damit sie ihre Projekte zum Thema Mobbing, zur Beziehung der Schüler untereinander und über glückliche Kindheit vorstellen konnten.
Zu dem Forum waren, wie Verstka von den Teilnehmerinnen weiß, auch einige Jugendliche aus der sogenannten DNR (Donezker Volksrepublik) eingeladen – darunter die Zehntklässlerin Polina Tschitschkan aus Horliwka.
Lwowa-Belowa veröffentlichte ein Foto der jungen Frau auf ihrem Telegram-Kanal mit dem Kommentar, die russischen Schüler würden P. „von den schrecklichen Ereignissen ablenken“.
Maria Shidkowa und Alina Molodzowa, zwei Schülerinnen aus Tula, interpretierten den Aufruf auf ihre Weise und machten Polina zum Gesicht des Projekts Die Wahrheit der Kinder des Donbass. Sie veröffentlichten ein Video, in dem das Mädchen aus der „DNR“ vor der russischen und der Flagge der „DNR“ steht und gemeinsam mit anderen Schülern aus dem Donbass einen Text über das Leben unter Beschuss vorträgt.
Verstka fragte Maria Shidkowa nach ihrem Eindruck von Treffen mit Lwowa-Belowa. Sie antwortete, die offene Art der Staatsbeamtin und ihre Liebe zu den Kindern habe sie sehr beeindruckt, und sie bezeichnete sie als Vorbild für die Jugend.
„Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“, sagte die Schülerin. „Maria Alexejewna hat mir gezeigt, dass man Menschen helfen kann und es nicht schwer ist, das zu tun.“ Auf die Frage nach dem Sinn der Kampfhandlungen und dem Schicksal der Kinder, die Opfer in diesem Krieg geworden sind, wusste die junge Frau keine Antwort und fügte hinzu, dass sie „politisch ungebildet“ sei.
Zum nächsten Schülertreffen – ein landesweites Forum der Kinder- und Jugendorganisation Bewegung der Ersten unter der Schirmherrschaft von [dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung] Sergej Kirijenko – nahm Lwowa-Belowa ihren Adoptivsohn aus Mariupol mit. Der Teenager betrat die Bühne in einem mit Messern, Rosen, Adlern, Stacheldraht und Matrjoschka-Puppen bedruckten Kapuzenpulli.
Auch Polina Tschitschkan, die Schülerin aus Horliwka, nahm an diesem Forum teil. Gegenüber dem Fernsehsender Rossija-1 äußerte die junge Frau, sie würde ein „Zusammenwachsen der Nation und der neuen Gebiete“ beobachten. Wieder zurück in Horliwka nahm die Schülerin ein Video auf, in dem sie Gleichaltrigen von der Mission der „Bewegung“ erzählte: „Zu Russland halten“, „Mensch sein“, „Zusammen sein“, „in Bewegung sein“ und „Erster sein“.
Im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern
„Solche Organisationen erinnern sehr an die entsprechende Jugendbewegung im nationalsozialistischen Deutschland: Auch dort verbrachten die Kinder die meiste Zeit mit Sport, Musik und anderen unpolitischen Aktivitäten, aber in entscheidenden Momenten, unterstützten sie den Staat und die Armee“, erklärt Daniil Ken, Schulpsychologe und Leiter der Allianz der Lehrer, gegenüber Verstka. „Natürlich denkt Putin nicht so weit, die Erstklässler in ihren Feldmützen später mal zu seinen Soldaten zu machen. Aber im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern, bei dem ihre Eltern entscheiden müssen: Entweder sie wehren sich und setzen sich einer Gefahr aus, oder sie vereinbaren es irgendwie mit ihrem Gewissen und nehmen es in Kauf.“
Im März 2023 unterstützte Lwowa-Belowa das Adoptionsverbot von russischen Kindern durch Eltern aus „nicht freundschaftlich gesinnten“ Ländern.
„Die Politik von ‚Cancel Russia‘ macht es sehr wahrscheinlich, dass russische Kinder im Ausland schikaniert und aufgrund ihrer Nationalität gedemütigt werden“, sagte die Ombudsfrau.
Zur Stärkung der „internationalen Zusammenarbeit“ schlug die Staatsbeamtin vor, dieses Jahr Kindern in Afrika zu helfen. Und wie eine wahre Gläubige erbat sie dafür einen „Segen“ – allerdings nicht von einem Priester in der Kirche, sondern von Putin im Kreml.
Verstka hat seine Fragen an das Büro von Lwowa-Belowa gerichtet. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Materials lag der Redaktion keine Antwort vor.
Die einen würden am liebsten eine gigantische Mauer um Russland bauen, während andere insgeheim darauf hoffen, dass alles möglichst bald wieder so weiter gehen möge wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr. Wie kann ein Miteinander in Europa aussehen, wenn nach Putin womöglich der nächste Putin kommt? Wie kann die russische Gesellschaft Angst und Hilflosigkeit überwinden und welche Rolle spielt dabei die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur? Darum geht es im zweiten Teil des großen Meduza-Interviews mit dem Moskauer Soziologen Grigori Judin, der darin auch leise Hoffnungen auf ein „unausweichliches neues Russland“ äußert.
Margarita Ljutowa: Wie hat sich im vergangenen Jahr das Bild von Putin und Russland im Westen verändert? Meinen Sie, man hat jetzt das Ausmaß der Bedrohung begriffen, das bis 2022 wohl unterschätzt wurde?
Grigori Judin: Bisher wurde zugegeben, dass die vormals herrschenden Vorstellungen [über Russland] grundfalsch waren. Was daraus folgt, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen bedenken, dass niemand auf diese Entwicklung vorbereitet war und daher noch immer ein reaktives Verhalten überwiegt.
Es gibt eine unübersehbare „Partei des 23. Februar“: Das sind Leute, die die Aggression verurteilen, sich aber wünschen, dass das alles irgendwie vorbeigeht und man dann wieder weitermachen kann wie früher. Das ist in erster Linie das globale Kapital, das nicht versteht, wieso es wegen irgendeiner Ukraine Geld verlieren soll. Ein beachtlicher Teil der westeuropäischen Geschäftswelt macht keinen Hehl daraus, dass das ein optimales Szenario wäre, und erwartet, dass die Ukraine endlich einen Teil ihres Territoriums abgibt.
Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen
Die einen versuchen, die Ukraine offen unter Druck zu setzen (solche Initiativen gibt es, wenn auch nicht vorherrschend, in Deutschland), die anderen warten einfach darauf, dass die Widerstandskraft versiegt. Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen, und er nicht vorhat, mit jemandem zu reden. Wenn für ihn jedoch die Zeit kommt, seine Eroberungen abzusichern, dann wird die Situation eine andere Wendung nehmen – und er weiß von diesen Stimmungen [im Westen – dek], er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann.
Putin weiß von diesen Stimmungen, er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann
Viele Politiker sehen das anders und wissen um die Gefahren eines solchen Szenarios. Um ihm jedoch eine Alternative anzubieten, bräuchte man eine Art Zukunftsvision, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und den gesamten Kontinent. Und da kommt es zu Schwierigkeiten. Der am stärksten in den Krieg involvierte Teil Europas besteht darauf, dass Russland keine andere Zukunft haben kann – es ist für sie ein „genetisch geschädigtes“ Land, das dazu verdammt ist, eine Gefahr darzustellen. Nach Putin kommt wieder Putin – in dem Punkt stimmen die Vertreter dieser Position mit [dem Sprecher der Staatsduma] Wjatscheslaw Wolodin überein. Die Bilder von der bestialischen Brutalität der russischen Soldaten verstärken solche Sichtweisen.
Aber was folgt daraus? Natürlich könnte man rund um Russland eine Mauer bauen und sie mit Maschinengewehren bewachen. Dann wäre es aber in der gesamten Region vorbei mit der Sicherheit, denn das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg, und man kann nicht abschätzen, was davon für alle schlimmer ist.
Natürlich könnte man um Russland eine Mauer bauen. Das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg
Rational denkende Menschen wie [der französische Präsident] Emmanuel Macron verstehen, dass man Sicherheit nicht erzielen kann, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Weil aber Macron auch davon überzeugt ist, dass Russland immer einen Putin haben wird, kommt er zu dem logischen, aber absolut aussichtslosen Schluss, dass man mit Putin verhandeln muss. Und tatsächlich, solange niemand Russland von der Landkarte tilgen will und zwischen Russland und Putin ein Gleichheitszeichen steht, wird man Putin entgegenkommen müssen. Jene Menschen, die mit Schaum vorm Mund allen einzureden versuchen, dass Russland zum ewigen Putin verdammt ist, bekommen am Ende konsequenterweise Spitzenpolitiker, die Verhandlungen mit Putin anstreben – obwohl sie allem Anschein nach das genaue Gegenteil erreichen wollen.
Diesen Knoten wird man nicht lösen können, solange die Frage nach der Vertretung von Russlands Interessen im Raum steht. Russland hat wie jedes andere Land auch ein Recht auf Sicherheitsgarantien – alles andere führt zu Instabilität. Es ist natürlich sinnlos, dieses Thema mit Putin zu besprechen. Um also zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann, wie es Wolodymyr Selensky nüchtern formuliert.
Um zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann
Das wird übrigens endlich die Voraussetzung dafür schaffen, dass die feigen russischen Eliten aktiv werden. Gerade die müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Zukunft nicht von einem Menschen allein abhängt, dass Russland irgendwann auch ohne Putin weiterbestehen wird. Solange Russland mit seiner jetzigen Regierung gleichgesetzt wird (oder genauer gesagt, nicht einmal mit der Regierung, sondern mit dem einen Menschen, der seinen Sicherheitsrat mit dem Angriff auf die Ukraine in einen totalen Schock versetzt hat), ist kein Ausweg in Sicht. Im Interesse aller muss man das eine vom anderen trennen. Der einzige Mensch, der ein Interesse an dieser Gleichsetzung hat, ist Wladimir Putin.
Was kann man machen, um diese Gleichsetzung aufzuheben? Man denkt da sofort an Belarus, das nach den Massenprotesten wohl von niemandem mehr mit Lukaschenko gleichgesetzt wird. Braucht es also Massenproteste? Oder irgendeine Exilregierung, die der Welt den Entwurf eines neuen Russland präsentiert?
Diese beiden Dinge schließen einander nicht aus. Sicherlich würde eine ernstzunehmende Bewegung wie in Belarus, die endlich den tyrannischen Charakter dieser Regierung aufdeckt, zweifellos helfen. Eine solche Bewegung kann aber auch angeregt werden, indem man ein alternatives Russland skizziert. Zumal die Voraussetzungen dafür, wie mir scheint, gar nicht so schlecht sind: Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland. Russland ist ein ziemlich großes Land, es verfügt über genügend Ressourcen, junge, aktive Schichten, die die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Putin versucht mit aller Kraft, das unausweichliche neue Russland zu verhindern, in dem für ihn kein Platz sein wird.
Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland
Nach zwei Jahrzehnten unter Putin verlieren die Russen natürlich die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Aber das Leben wird dafür sorgen, dass wir unsere Phantasie ein bisschen mehr anstrengen. Unser Land ist in eine Sackgasse geraten, mit der Zeit werden wir nicht umhinkommen, das zu begreifen. Wir haben einfach noch ein paar Meter vor uns, also bewegen wir uns weiter. Aber es ist eine Sackgasse, sie führt nirgendwohin.
Als wir vor diesem Interview unsere Gesprächsthemen festlegten, sagten Sie zur Frage des aktuellen Zustands der russischen Gesellschaft, zu ihrer Atomisierung, zur kollektiven Handlungsunfähigkeit, dass das Reden über das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit nur noch verstärken würde, was Sie aber vermeiden wollen. Gibt es Methoden, zu der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Ohnmachtsgefühl zu nähren?
Während die primäre Emotion in Russland Kränkung ist, ist der stärkste Affekt, um den sich heute alles dreht, die Angst. Existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn eines konkreten Menschen oder Angst vor dem Krieg, und eine abstraktere Angst vor dem Chaos. Angst, multipliziert mit der Gewissheit, dass der Tyrann allmächtig ist und auf jeden Fall bekommt, was er will: Bisher hat er es immer bekommen, also wird es auch weiterhin so sein. Diese mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst, die braucht eine Antwort.
Die mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst braucht eine Antwort
Angst treibt man mit Hoffnung aus. Das ist der gegenteilige Affekt. Man muss den Menschen Hoffnung geben. Insofern sind die nachvollziehbaren, begründeten Vorwürfe [gegen die Menschen in Russland] politisch perspektivlos. Noch mal: Sie sind verständlich, begründet und legitim, aber politisch aussichtslos. Wir haben es mit Menschen zu tun, die von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt und verängstigt sind, und Sie wollen ihnen noch zwei Kilogramm Schuld aufladen. Was soll dabei herauskommen?
Die Frage ist, wie man in dieser Situation Hoffnung gibt. Die Hoffnung besteht gerade darin, zu zeigen, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte. Und die Wahrheit ist: Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen.
Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte
In Russland ist jeder normative Diskurs längst im Keim erstickt: Es ist schon lange so gut wie unmöglich, danach zu fragen, wie man eine Gesellschaft aufbauen sollte, wie das auf gerechte, ehrliche und gute Weise gelingt. Schon vor Jahren haben mir Menschen [bei Umfragen] auf solche Fragen geantwortet: „In Russland? Gar nicht.“ Das zeigt, dass der normative Diskurs unterdrückt ist, aber die Nachfrage danach wird unweigerlich steigen, je mehr den Menschen diese Sackgasse bewusst wird. Dann ist es wichtig, dass sie Hoffnung haben.
Gibt es in diesem Leben in Angst multipliziert mit Hoffnungslosigkeit einen Point of no Return, einen Moment, nach dem die Hoffnung die Menschen nicht mehr erreicht? Wenn einer, der einen Plan für eine „wundervollen Zukunft“ vorlegt, nicht mehr gehört wird?
Das weiß ich nicht. Wenn wir von Affekten sprechen – die sind nie für die Ewigkeit. Aber können wir uns vorstellen, dass ein Affekt, wenn er auf die absolute Spitze getrieben wird, das soziale Umfeld dermaßen zerstört, dass man daraus nichts mehr bauen kann?
Ich glaube daran, dass die russische Kultur Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden
Ich glaube an Russland. Ich glaube an die russische Kultur im konkreten Sinn – ich glaube daran, dass sie Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden. Darin liegt ihre Stärke. Nicht darin, dass Puschkin ein großer Dichter war. Sondern darin, dass sie eine Fundgrube für Weisheiten und Ratschläge ist, für Antworten auf die Fragen, die uns heute beschäftigen. Ich glaube, dass die russischen Denker, Schriftsteller, die intellektuellen Ressourcen, die wir haben, unsere Traditionen und Gewohnheiten, Antworten auf diese Herausforderung enthalten.
Sie haben sicher den Diskurs vor Augen, der im Moment in Verbindung mit der russischen Kultur meistens geführt wird: dass sie imperial ist, eine Sklavenmentalität herangezüchtet und genährt hat usw. …
Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch des Imperiums ist ein guter Moment dafür. Erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein, das tut sie nicht. Dasselbe gilt auch für [das Werk eines] konkreten Autors. Kann man bei einem konkreten Autor imperiale Ideen finden? Man kann und man sollte. Aber muss man ihn deswegen im Ganzen verschmähen oder gutheißen? Man muss diese Person ja nicht mit all ihren Fehlern heiraten.
Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen
Kultur entwickelt sich weiter, indem sie sich selbst verarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber Kritik darf keine Selbstverleugnung sein. Dann weißt du ja schlichtweg nicht mehr, wer du bist und was du kritisierst: Wenn man sich selbst verleugnet, von welchem Standpunkt aus übt man dann Kritik? Eine Kultur kann nicht ausschließlich imperial sein, sonst gäbe es auch keine Imperialismuskritik – es muss ja etwas vorhanden sein, was diese Kritik hervorbringt.
Die Kultur schafft selbst die Standpunkte für Selbstkritik. Daran ist nichts demütigend, es ist kein Problem, sie [die imperialen Ideen] in der russischen Kultur aufzuspüren, sie herauszustellen und zu analysieren, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen. Nein, sie erschöpft sich nicht darin. Genauso wie sich die deutsche Kultur nicht im deutschen Imperialismus erschöpft oder die britische Kultur im britischen.
Grigori Judin gehört derzeit zu den gefragtesten Stimmen in unabhängigen russischen Medien und das nicht ohne Grund: Nur wenige Experten im dortigen Diskurs haben den russischen Überfall auf die Ukraine so präzise vorhergesagt wie Judin, der zwei Tage vor Beginn des Großangriffs am 24. Februar 2022 in einem Gastbeitrag für openDemocracy schrieb, Putin sei kurz davor, „den sinnlosesten Krieg unserer Geschichte“ zu beginnen.
Ein Jahr später spricht der Moskauer Soziologe mit Margarita Ljutowa von Meduza über seine aktuelle Einschätzung der Lage. Im ersten Teil geht es um das Gefühl der Kränkung in der russischen Gesellschaft als Nährboden für einen „ewigen Krieg“, bei dem es um weit mehr als die Ukraine geht, und warum Putin trotz der Rückschläge glaubt, alles richtig gemacht zu haben.
„Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen“ – Soziologe Grigori Judin im Interview mit Meduza / Foto Screenshot aus Skashi Gordejewoi/Youtube
Margarita Ljutowa: Die heutige Politik Russlands wird von vielen so verstanden, dass für Putin der Krieg ein endloses Unternehmen ist. In seiner jüngsten Botschaft an die Föderationsversammlung hat er das wohl wieder bekräftigt: Er verlor kein Wort darüber, wie Russlands Sieg aussehen soll und was danach kommt. Was meinen Sie, ist Putins Plan tatsächlich ein ewiger Krieg?
Grigori Judin: Ja, natürlich, dieser Krieg wird nie aufhören. Er hat keine Ziele, nach deren Erreichen er beendet werden könnte. Er wird einfach immer weitergehen, weil „sie“ [in Putins Vorstellung] Feinde sind und uns töten wollen – und wir sie. Für Putin ist das eine existenzielle Konfrontation mit einem Gegner, der vorhat, ihn zu vernichten.
Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen
Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen. Er wird sich immer weiter ausdehnen.
Die russische Armee wird in aller Eile vergrößert, die Wirtschaft auf Kanonen umgestellt, und Bildung wird zum Werkzeug von Propaganda und Wehrerziehung. Das Land wird auf einen großen, schweren Krieg vorbereitet.
Und dann ist ein Sieg für Putin von vornherein unmöglich?
Absolut unmöglich. Den setzt sich auch niemand zum Ziel, es gibt keine Definition, was überhaupt ein Sieg wäre.
Ist das Kriegsziel also einfach Wladimir Putins Machterhalt?
Das ist ungefähr dasselbe: Putin stellt sich seine Regentschaft als Dauerkrieg vor. Putin und sein Umfeld erzählen uns seit Jahren, dass gegen uns Krieg geführt wird. Manche haben das lieber ignoriert, aber [Putin und sein Umfeld] glauben wirklich, dass sie schon lange in einen Krieg verwickelt sind. Nur ist dieser Krieg inzwischen in eine so aggressive Phase eingetreten, dass es offenbar keinen Ausweg mehr gibt. In dieser Weltsicht ist Krieg grundsätzlich die Norm. Hören Sie einfach auf, Frieden für den Normalzustand zu halten – dann sehen Sie die Situation mit deren Augen. Wie [Natalja Komarowa,] die Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen sagte: „Der Krieg ist ein Freund.“
Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch in der Ukraine, erschien auf der Website von openDemocracy ein Artikel von Ihnen, in dem Sie sowohl den drohenden großen Krieg als auch Putins Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen beschrieben, mit denen die westlichen Länder auf diesen Krieg reagieren würden. Im zweiten Teil erörterten Sie, dass der Krieg gegen die Ukraine „einer der sinnlosesten Kriege der Geschichte“ werden würde. Was meinen Sie, hat die russische Gesellschaft im vergangenen Jahr begonnen, das zu begreifen?
Nein, ich glaube nicht. Sehr viele haben das sofort deutlich gesehen, diese Gruppe hat jedoch seitdem keinen Zuwachs bekommen. Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet, und genau hier befindet sich Wladimir Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft. Zwar teilt keineswegs die ganze Gesellschaft seine wahnhaften Theorien, aber hier trifft er auf Resonanz und produziert darüber hinaus auch noch selbst diese Emotion. Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann. An eine produktive Gestaltung internationaler Beziehungen lässt sich unter diesen Umständen nicht einmal denken.
Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet: eine ungeheure, grenzenlose Kränkung
Wissen Sie, das ist wie bei einem Kleinkind, das beleidigt ist und den anderen Schaden zufügt. Dieser Schaden wird immer größer und größer, und irgendwann fängt das Kind an, anderen Leuten und gleichzeitig sich selbst das Leben zu zerstören. Aber dem Kind ist das nicht bewusst, es kommt nicht auf die Idee, dass es an den Beziehungen arbeiten muss.
In Russland gibt es ein schönes Sprichwort: „Beleidigte sind gut fürs Wasserschleppen.“ Eines Tages werden wir verstehen, dass sich diese Kränkung gegen uns selbst richtet, dass wir uns selbst damit schaden. Aber noch halten zu viele von uns an ihrer Gekränktheit fest.
Von wem fühlen sich denn Putin und die russische Gesellschaft so gekränkt? Von der ganzen Welt? Vom Westen? Den USA?
Von der Weltordnung insgesamt, die ungerecht erscheint, und folglich von dem, der als Senior-Partner die Verantwortung für diese Welt übernimmt, also von den USA. Das sind Vorwürfe gegen die ganze Welt – in dem Sinn, dass das menschliche Leben einfach schlecht konstruiert ist.
Ich muss immer an eine Aussage von Putin Mitte 2021 denken. Er sagte damals völlig ohne Anlass, es gebe im Leben überhaupt kein Glück. Das ist eine starke Aussage für einen politischen Leader, der ja eigentlich von der Idee her das Leben der Menschen verbessern, ihnen irgendwelche Ideale, Anhaltspunkte vermitteln sollte. Und da sagt dieser Mensch [sinngemäß]: „Im Leben gibt es kein Glück. Die Welt ist generell ein schlechter, ungerechter, schwer erträglicher Ort, an dem die einzige Daseinsform darin besteht, permanent zu kämpfen, sich zu prügeln und im Extremfall zu töten.“
Dieses Beleidigtsein auf die ganze Welt ist in Russland stark verwurzelt, und es wird auf den projiziert, der vermeintlich für diese Welt verantwortlich ist: die USA. Die Vereinigten Staaten haben tatsächlich ab einem gewissen Punkt die weltweite Verantwortung übernommen – was nicht immer von Erfolg gekrönt war. Und wir sehen, dass das Ressentiment, von dem ich jetzt spreche, wahrlich nicht nur in Russland existiert (wo es katastrophale, schauderhafte Formen annimmt).
Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, neigen dazu, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen
In einem großen Teil der Welt gibt es eine durchaus begründete Kritik an der herrschenden Weltordnung, an die Adresse der USA, die die Verantwortung übernommen haben, zum Hegemon wurden und in vielen Aspekten Nutznießer dieser Ordnung sind. Wir sehen, dass jene Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, dazu neigen, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen. Das ist der globale Süden, der seit Jahrzehnten unter einer immer stärkeren Ungleichheit leidet und teilweise auch, zumindest symbolisch, unter den wahnwitzigen außenpolitischen Abenteuern, in die sich die USA gestürzt haben. Dasselbe gilt für Teile der Bevölkerung des globalen Nordens, die sich ebenfalls gekränkt und als Opfer fühlen. Fast überall, wo man diesem Ressentiment begegnet, trifft man auch auf ein größeres Verständnis für Putins Vorgehen.
Ich würde nicht sagen, dass dieses Verständnis in Unterstützung umschlägt – Putin hat nämlich nichts anzubieten. Er reproduziert einfach ständig dieselben Fehler, nur in immer schrecklicheren Dimensionen. Einer meiner Kollegen formulierte mal sehr treffend das Grundprinzip der russischen Außenpolitik: „Was die anderen nicht dürfen, können wir auch.“ Es ist ja kaum zu übersehen, dass Putin genau das anstrebt, wofür er die USA kritisiert. Insofern ist es schwierig, ihn [im Ausland] zu unterstützen, aber viele wollen sich ihm in dieser Gekränktheit anschließen.
Gab es dieses Ressentiment in der russischen Gesellschaft schon vor Putin, also in den 1990ern? Oder wurde es erst unter Putin gezüchtet?
In jeder Gesellschaft gibt es immer die unterschiedlichsten Emotionen. Ein Politiker muss immer herausfinden, auf welche er setzt. Einige Gründe für diese Gekränktheit gab es [in der russischen Gesellschaft] natürlich durchaus. Sie haben mit der belehrenden Rolle zu tun, die die Vereinigten Staaten und teilweise auch Westeuropa einnahmen. Ideologisch verpackt wurde das in der Modernisierungstheorie, der zufolge es entwickelte Länder und Entwicklungsländer gibt. Und die entwickelten belehren – durchaus wohlwollend und unterstützend – die Entwicklungsländer: „Leute, macht das mal lieber so und so.“ Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land, das selbst eine imperiale Vergangenheit hat.
Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land mit imperialer Vergangenheit
In Wirklichkeit war die Situation, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, viel komplexer. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland [nach dem Zerfall der UdSSR] zu einer ganzen Reihe führender internationaler Foren eingeladen wurde und Einfluss auf große globale Entscheidungen hatte. Erinnern wir uns an die Kehrtwende des damaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow über dem Atlantik, an die von Jelzin angeordnete Entsendung von Truppen nach Jugoslawien – mit einem Wort, auf Russland musste man hören. Es gab jedenfalls diplomatische Ressourcen, die man hätte ausbauen können und müssen.
Aber diesen belehrenden Ton [Russland gegenüber], den gab es durchaus. Er war das Ergebnis eines schweren ideologischen Fehlers. Angesichts des gescheiterten sozialistischen Projekts glaubten viele, es gäbe nur den einen geraden Weg: die berühmte Theorie vom „Ende der Geschichte“. Insofern ja, die Voraussetzungen für Ressentiments waren vorhanden, aber es gab auch welche für andere Emotionen.
Es gab etliche konkurrierende Narrative über den Zerfall. Eines davon war die Volksrevolution
Außerdem war die Beschreibung und das Erleben des Zusammenbruchs der UdSSR als katastrophale Niederlage ganz bestimmt nicht vorprogrammiert, es gab etliche konkurrierende Narrative [die die Bedeutung des Zerfalls für die Bevölkerung beschrieben]. Eines davon bestand darin, dass es sich um eine Volksrevolution gehandelt habe, ein ruhmreicher Moment in der Geschichte des russischen und anderer Völker, weil es ihnen gelungen ist, ihr verhasstes, tyrannisches Regime zu stürzen. Dieses Konzept hätte natürlich nicht in die Kränkung geführt.
Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden. Er hat dieses Gefühl immer weiter geschürt
Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden, was wohl teilweise mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Wobei es auch kein Zufall ist, dass ausgerechnet ein Mensch an die Spitze kommt, der eine angeborene Gekränktheit mitbringt. In der Folge hat Putin dieses Gefühl immer weiter geschürt. Und Kränkung ist ansteckend. Es ist eine bequeme Emotion: Erstens fühlst du dich die ganze Zeit im Recht, zweitens unverdient niedergemacht.
Sie haben mehrfach geäußert, dass Putin Ihrer Meinung nach in der Ukraine nicht Halt machen wird. Was meinen Sie damit genau? Moldawien, die baltischen Länder oder einen selbstzerstörerischen Krieg gegen die USA?
Diese Art von Weltbild kennt im Grunde keine Grenzen. „Russland hört nirgendwo auf“ ist praktisch die offizielle Formel. Das ist die Standard-Definition eines Imperiums, denn ein Imperium erkennt keine Grenzen an.
Die ersten Grenzen in Europa entstanden 1648, mit dem Westfälischen Frieden, der das Ende der Imperien einleitete. Da kam erstmals der Gedanke auf, zwischen den Ländern Grenzen zu ziehen: „Hier sind wir, da seid ihr.“ Ein Imperium erkennt diesen Gedanken nicht an: „Wir sind da, bis wohin wir gekommen sind. Und ihr seid dort, wo wir noch nicht sind. Sobald wir da sind, seid ihr weg.“
In dieser Logik gibt es prinzipiell keine Grenzen, und es ist kein Zufall, dass wir nie hören, dass Russland irgendwelche Grenzen offiziell anerkennt. Wir bekommen höchstens das unbestimmte Gefühl mit, dass es irgendwo einen Westen gibt, und der ist uns irgendwie fremd. Nicht, dass er so gar nicht zu uns gehören würde, aber doch beginnt dort ein Bereich, den man nur noch sehr schwer einnehmen kann. Der Westen natürlich in dem [ideologischen] Sinn, den er in der Sowjetzeit innehatte.
Putin sagte ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei
Ich möchte an das Ultimatum [von Putin gegenüber den USA und der NATO] vom Dezember 2021 erinnern: Damals sagte Wladimir Putin ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei. Wie das formell aussehen wird, mit oder ohne Verlust der formellen Souveränität – was spielt das für eine Rolle? Diese Einflusssphäre umfasst zweifellos auch die ehemalige DDR, einfach weil Wladimir Putin damit persönliche Erinnerungen verbindet. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er dieses Territorium nicht als seines betrachtet. Putin hat definitiv vor, die Zone des Warschauer Paktes wiederherzustellen – und dann mal schauen, wie es läuft.
Ich höre oft: „Das ist doch Unfug, wie soll das funktionieren? Das ist irrational, das ist Wahnsinn, dazu hat er gar nicht die Möglichkeiten!“ Ich erinnere daran, dass das Gleiche vor Kurzem noch über die Ukraine gesagt wurde. Oder über Moldau, und jetzt hören wir, dass die moldauische, die ukrainische und die Regierung der USA Moldau als ernsthaft bedroht einschätzen. Wir haben bereits gesehen, dass Moldau in den Plänen der aktuellen Militäroperation immer wieder vorkam, es hat sich nur noch nicht ergeben.
Wir sollten zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass eine Handlung, die Person X unternimmt, zum Erfolg führt. Etwas anderes ist es, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass Person X diese Handlung unternimmt. Man mag zu Recht der Meinung sein, dass dieses Handeln zum Scheitern verurteilt ist, aber daraus folgt nicht, dass die Person es nicht tut. Nicht, weil die Person irrational wäre, sondern weil sie zum Beispiel der Meinung ist, keine andere Wahl zu haben.
Die allgemeine [russische] Strategie sieht in etwa so aus: Wir greifen uns ein Stück, das wird für legitim erklärt, und im nächsten Schritt greifen wir uns auf Grundlage dieser Legitimität etwas anderes.
Mithilfe eines Waffenstillstands können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden
[In der Logik dieser Strategie] greifen wir uns, grob gesprochen, zuerst die Ostukraine, mithilfe eines wie auch immer gearteten Waffenstillstands. Auf diese Weise können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden. Die globale Wirtschaft hat somit einen guten Grund, nach Russland zurückzukehren (das sie größtenteils gar nicht verlassen hat), während im Gegensatz dazu unter solchen Bedingungen niemand in die Ukraine investieren wird. Das schafft die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß [Russlands] in der Ukraine.
Putin ist überzeugt, dass die NATO auseinanderbrechen wird, sobald die Zeit gekommen ist, Artikel 5 auf die Probe zu stellen
Daraufhin werden in Europa bald Stimmen zu hören sein, die sagen: „Am Ende war es doch ihr Territorium, jetzt haben sie sich geeinigt und gut ist.“ Aber Moment mal, wenn das „ihr“ Territorium ist, russisches Territorium, weil man dort russisch spricht, was ist dann zum Beispiel mit dem Osten Estlands? Man kann antworten: Aber Estland ist in der NATO! Doch wird die NATO um Estland kämpfen? Putin ist überzeugt: Sollte Artikel 5 der NATO zum richtigen Zeitpunkt auf die Probe gestellt werden, dann würde die NATO auseinanderbrechen. Und das aus einem einfachen Grund: Sie wissen im Grunde, dass sie sich etwas genommen haben, das ihnen nicht gehört, und deswegen werden sie kneifen und nicht darum kämpfen, wenn es ernsthaft bedroht wird.
Wenn niemand in Westeuropa bereit ist, für die Gebiete im Osten zu kämpfen (zur Erinnerung: All das geschieht [in diesem Szenario], nachdem Russlands Annexion ukrainischer Gebiete durch unterschriebene Dokumente legitimiert wurde), dann gibt es da natürlich noch die USA. Aber die USA könnten zu diesem Zeitpunkt bereits einen anderen Präsidenten haben, dem Osteuropa nicht so wichtig ist.
Putin wird so viel bekommen, wie man ihm lässt
Lassen Sie mich klarstellen: Ich halte das Gesagte nicht für das wahrscheinlichste Szenario. Es beschreibt Putins Strategie, aber Putin beherrscht nicht die Welt – er wird so viel bekommen, wie man ihm lässt. Aber völlig ausgeschlossen ist das alles nicht. Ich spreche von durchaus realistischen Dingen.
Man kann sich gut vorstellen, dass Putin und sein engster Kreis am 24. Februar 2022 so gedacht haben. Aber es ist ein Jahr vergangen – und der Westen ist nicht zersplittert, mehr noch, er leistet der Ukraine spürbare Unterstützung. Ist es denkbar, dass dieses Jahr und die Ergebnisse der russischen Militärkampagne sich auf die Weltsicht, die Sie gerade beschrieben haben, ausgewirkt haben?
Ja, bestimmt. Ich nehme an, Wladimir Putin ist jetzt überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Selbst wenn er Zweifel hatte, dann [weiß er jetzt, dass sie] unberechtigt [waren]. Dieses letzte Jahr hat ihm gezeigt: Wenn der Westen so sehr an der Ukraine hängt, dann ist sie offenbar doch eine Schlüsselregion, von der aus man ihn angreifen wollte. Außerdem ist es [aus Putins Sicht] gut, dass die aktuellen Probleme sich vor dem echten Krieg offenbart haben, den die russische Führung für unausweichlich hält. Viel schlimmer wäre es [in ihrer Logik], mit dieser Armee in diesen [zukünftigen] großen Krieg zu gehen. Das heißt, alles, was geschieht, bestärkt Putin nur in seinen Ansichten.
Der geplante Blitzkrieg um Kyjiw ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?
Es gibt so eine Phrase: „Putin hat sich verkalkuliert“. Aber wir sollten endlich aufhören, Wladimir Putin so geringzuschätzen. Sicher, wir haben gesehen, dass ein Blitzkrieg um Kyjiw geplant war, und der ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?
Dieser Krieg wurde jahrelang vorbereitet. Es wäre merkwürdig, wenn es nur einen Plan gäbe. Bei einem Machthaber, der seit Langem an nichts anderes denkt als an die Vorbereitung auf diesen Krieg, funktioniert das so nicht. [In Putins Logik klingt das so:] „Ja, es ist nicht perfekt gelaufen, aber das macht nichts, wir bleiben dran. Wir sind bereit, so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht. [Die Ukraine] gehört uns, und irgendwann werden sie das einsehen und aufhören, ihre wertvollen Ressourcen zu opfern.“
In Putins Logik klingt das so: Wir sind bereit so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht
Ich sage nicht, dass diese Taktik funktionieren wird. Mehr noch, ich denke, dass Putins eigene Logik ihn zur Niederlage verdammt – unbewusst will er verlieren. Die Frage ist, wie viele Menschen sterben werden, bevor es dazu kommt. Aber wenn wir die Situation vorhersehen wollen, müssen wir die Logik verstehen, nach der die Menschen handeln [, die in Russland an der Macht sind].
Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das Putin zwingen würde, sein Weltbild in Zweifel zu ziehen?
Das kürzlich veröffentlichte „offizielle Strategiepapier“, in dem die schrittweise Einverleibung von Belarus bis 2030 durch Russland skizziert wird, scheint weiteres Unheil für Alexander Lukaschenko zu bedeuten. Auch wenn viele der darin enthaltenen Pläne alles andere als neu sind. Die Integration von Belarus in den Unionsstaat wird vor allem seit 2021 auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene mit Nachdruck umgesetzt. Entsprechend zurückhaltend äußerte sich der belarussischen Machthaber zu dem bekannt gewordenen Papier: „Russland hat seine eigene Strategie, so auch in Bezug auf Belarus – um mit seinen Brüdern in Frieden und Freundschaft zu leben.“ Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor einem Jahr, der gerade am Anfang auch vom belarussischen Territorium aus geführt wurde, sehen nicht wenige Analysten die Souveränität von Belarus ohnehin als höchst gefährdet an. Lukaschenko hat sein Land seit den historischen Protesten von 2020 in eine Situation manövriert, in der es aus dem Zugriff von Russland kaum noch ein Entrinnen zu geben scheint.
Was bedeutet diese Situation und insgesamt der Krieg, in den sich Lukaschenko heillos verstrickt hat, für Belarus und die Zukunft des Landes? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski zieht ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion für das Online-Medium Pozirk umfassend Bilanz.
Vor einem Jahr hat Russland versucht, von belarussischem Territorium aus Kiew einzunehmen. Der am Morgen des 24. Februar begonnene „Blitzkrieg“ wuchs sich zu einem langwierigen Krieg aus, der zur Gefahr für Russland wurde und in dem Lukaschenkos Regime sich als Unterstützer des Aggressors wiederfand. Trotz allem gelingt es dem belarussischen Präsidenten aber bislang, einer Entsendung eigener Truppen in den Kampf gegen die Ukrainer auszuweichen.
Darüber hinaus hat die belarussische Regierung sogar einigen finanziellen Gewinn aus dem Status des einzigen Verbündeten der Russischen Föderation gezogen. Der Preis dafür ist im Gegenzug jedoch die immer stärkere wirtschaftliche und politische Bindung an den Kreml.
Die Wirtschaft hält stand, doch der Preis ist die immer größere Abhängigkeit von Moskau
Der westliche politische Mainstream neigt zu der Einschätzung, dass Lukaschenko die Eigenständigkeit praktisch verspielt hat und vollständig zur Marionette Moskaus geworden ist. Dem Anführer des belarussischen Regimes selbst ist das unangenehm, er versucht, sich als potentieller Friedensstifter darzustellen.
Heute zeichnet sich ab, dass Belarus dank russischer Unterstützung die Auswirkungen der westlichen Sanktionen für die Kriegsbeteiligung abmildern konnte. Die apokalyptischen Prognosen einer Reihe von Experten sind nicht eingetreten: Das BIP fiel im vergangenen Jahr nur um 4,7 Prozent. Das ist unangenehm, aber längst keine Katastrophe für das Regime, ein wirtschaftlicher Spielraum bleibt erhalten. Staatsbeamte prahlen mit einem „historisch hohen“ Außenhandelsüberschuss von etwa 4,5 Milliarden Dollar.
Minsk erhält von 2023 bis 2025 günstiges Gas (128,52 USD pro 1000 Kubikmeter) – früher mussten in der Weihnachtszeit stets aufs Neue Preiskämpfe geführt werden. Außerdem wurden Steuererleichterungen für die Erdölraffinerien (deren Rentabilität sich dadurch erhöht) sowie ein Aufschub der Schuldenrückzahlungen erwirkt.
Lukaschenko klammerte sich euphorisch an die Idee der Importsubstitution. Belarus erhielt in diesem Kontext einen Kredit in Höhe von 105 Milliarden Russischer Rubel (1,3 Milliarden Euro). Dafür bietet Minsk beispielsweise seine Mikroelektronikprodukte an und ist gar bereit, Kampfflugzeuge vom Typ Su-25 zu produzieren.
Belarussische Mikrochips, das gibt Lukaschenko zu, sind im weltweiten Produktvergleich ziemlich klobig. Doch Moskau ist durch die Sanktionen und den Weggang westlicher Firmen im Moment nicht in der Position, die Nase zu rümpfen. Deshalb nehmen die russischen Nachbarn viele belarussische Waren – sowohl für den militärischen, als auch für den zivilen Bedarf – mit Kusshand.
Dank Moskau konnte Belarus einen Teil seines Exports retten, nachdem ein ordentliches Stück des Handels mit Europa und der gesamte Handel mit der Ukraine weggefallen waren. Kalium geht zum Beispiel nun nach China, auf dem Landweg und per Schiff über Russland. Minsk wurde sogar großzügig ein Liegeplatz im Hafen Bronka bei Sankt Petersburg zugesprochen.
Doch all das geschieht zum Preis einer stärkeren Abhängigkeit von Russland, mit dem bereits mehr als 60 Prozent des Außenhandels laufen. Auch die Abhängigkeit im Transitbereich erhöht sich fatal. Minsk muss 28 Unionsprojekte umsetzen, die auf eine stärkere, auch institutionelle, Anbindung der belarussischen Wirtschaft an die russische abzielen.
Der Krieg hat dem Prozess der „Unionsintegration“ die Sporen gegeben, an dessen Ende die Einverleibung droht. Auch für eine neue belarussische Regierung würde es höchst kompliziert, diese Schlinge zu lösen.
In Belarus walten russische Generäle
Besonders traurig steht es um die militärische Souveränität und die Außenpolitik (von der vielgepriesenen Multivektoralität ist kaum noch etwas geblieben). Lukaschenko bleibt zwar Oberbefehlshaber der Streitkräfte, faktisch walten auf belarussischem Territorium jedoch russische Generäle. Unter dem Vorwand des Aufbaus einer gemeinsamen regionalen Armee-Einheit holen diese russischen Generäle jetzt ihre „Mobilisierten“ nach Belarus, um morgen (vielleicht nicht direkt morgen, die Formation einer Angriffstruppe braucht Zeit) wieder einen Angriff auf die Ukraine von Norden her zu starten.
Unabhängige Analytiker sind sich einig, dass der belarussische Präsident, sollte Wladimir Putin ihm die entscheidende Frage stellen, die eigene Armee in den Krieg schicken würde, ob er will oder nicht. Damit kann man gleichzeitig die gängige These anzweifeln, der Kreml würde Belarus in dieser Frage ohnehin schon in den Schwitzkasten nehmen wollen. Wenn er das wirklich wollte, hätte er es schon längst getan. Putin demonstriert seinen Standpunkt offen: Im Dezember flog er nach Minsk, machte viele teure Geschenke finanzieller und wirtschaftlicher Natur. Das erweckt nicht gerade den Anschein eines weiteren Konflikts zwischen den Erbverbündeten. Zu Konfliktzeiten hat Moskau den Geldhahn zugedreht.
Vermutlich konnte Lukaschenko seinem Moskauer Gegenüber bislang überzeugend vermitteln, dass Belarus besser als Aufmarschgebiet, Truppenübungsplatz und Lieferant dringend nötiger Produkte dienen kann, anstatt die belarussischen Spezialeinsatzkräfte (andere kampfbereite Einheiten gibt es kaum) an der ukrainischen Front in Hackfleisch zu verwandeln. Und außerdem, lieber Wolodja, schützen wir deine Spezialoperation davor, dass das niederträchtige NATO-Messer im Rücken landet! Ein Kriegseintritt, ganz ehrlich, könnte auch die innenpolitische Situation auf unserer kleinen Insel der Stabilität kippen lassen.
Natürlich kann Putin, dessen Rationalismuslevel viele Analytiker bis zum 24. Februar 2022 stark überschätzten, diese Argumente jederzeit vom Tisch wischen und seinem Verbündeten sagen: Nein, Bruder, genug der Umschweife und genug im Hinterland herumgedrückt! Wir gehen gemeinsam in die entscheidende Schlacht! Und Lukaschenko hat immer weniger Ressourcen, sich dem imperialen Draufgänger zu widersetzen.
Der Opposition fehlen starke Hebel, dem Regime die Manövrierfähigkeit
Auch die politische Opposition, die seit den Ereignissen 2020 ihre Geschäfte im Ausland führt, hat kaum Möglichkeiten, einen belarussischen Kriegseintritt abzuwenden. Von den Möglichkeiten, einen Regimewechsel zu bewirken, ganz zu schweigen.
Unter den Bedingungen der irrsinnigen Repressionen, in einer von unmäßiger Angst gezeichneten Gesellschaft, ist es unrealistisch, einen Partisanenkampf zu führen oder den Plan Peramoha [dt. Sieg] umzusetzen. Das gibt auch das Übergangskabinett von Swetlana Tichanowskaja zu. Das belarussische Freiwilligenkorps Kastus Kalinouski, das auf Kiews Seite kämpft, verspricht, später auch das eigene Land von der Diktatur zu befreien. Doch aus heutiger Sicht ist das eine poröse und nebulöse Perspektive.
Dabei ist offensichtlich, dass das Kalinouski-Korps nicht nur die belarussische Ehre auf dem Schlachtfeld gegen das Imperium rettet, sondern bereits zum politischen Phänomen geworden ist. Das Gerangel um die Sympathie des Korps (der politische Veteran Senon Posnjak will im Verbund mit dem Korps ein neues Zentrum der Opposition, den „Sicherheitsrat“, gründen) droht die Spannungen in der politischen Emigration nur zu vergrößern. Kiew seinerseits spielt mit dem Korps und ignoriert Tichanowskaja faktisch. Lukaschenko wiederum versucht diese Realpolitik der ukrainischen Regierung auszunutzen, um sein eigenes Spiel mit ihr zu spielen (vor Kurzem ließ er versehentlich einen geheimen Nichtangriffspakt durchblicken). Doch auch der Kreml überwacht dieses Spiel und ließ dem gerissenen belarussischen Partner aus dem Mund des Außenministers Sergej Lawrow eine verdeckte Notiz zukommen.
Die Knute des Kreml, das Etikett des Ko-Aggressors, aber auch der politische Terror im eigenen Land (den der Führer nicht beenden mag), begrenzen die Manövrierfähigkeit des Minsker Regimes in Richtung Westen. Wenngleich einige in Europa (erwähnt sei hier der kürzliche Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Minsk) eine Sondierung des Feldes nicht ablehnen. Doch die Zeiten, in denen Lukaschenko die geopolitische Schaukel flott anschob, sind vorbei. Die Schwelle zum Westen liegt für den toxischen belarussischen Regenten momentan außerordentlich hoch.
Der Kriegsausgang kann ein Fenster für Veränderungen öffnen
Wenngleich dieser Krieg für viele unerwartet hereingebrochen ist, nähert sich Lukaschenkos langjähriges Spiel mit dem Imperium einem vorhersehbaren Finale. Er hat sich im imperialen Casino glattweg verzockt. Der Krieg wurde dabei zu einem mächtigen Katalysator für den zerstörerischen Prozess der schleichenden Einverleibung, vergrößerte die Kluft zwischen dem belarussischen Zarenregime und der demokratischen Welt.
Darüber hinaus hat die Reputation der Belarussen, deren Image durch die starken Proteste 2020 aufgewertet worden war, stark gelitten, das Verhältnis der Ukrainer zu ihnen hat sich verschlechtert, im Ausland ist Diskriminierung zu beobachten. Dank verdienen Tichanowskajas Team und andere demokratische Kräfte, die zeigen, dass Lukaschenkos Regime nicht mit dem belarussischen Volk gleichzusetzen ist.
Der Herrscher aber, auch wenn ihn wohl das Gespenst von Den Haag plagt, beweist auch in der aktuellen Situation der höheren Gewalt virtuosen Einfallsreichtum. Sollte Putins Regime durch eine Niederlage in der Ukraine ins Wanken geraten, wird sein Verbündeter wohl versuchen, sich so weit wie möglich von der leckgeschlagenen russischen Titanic zu entfernen. Ein Sieg der Ukraine würde auch ein Fenster für einen Regimewechsel in Belarus eröffnen. Denn das Regime stützt sich nur auf zwei Dinge – die schrecklichen Repressionen und Moskau. Wird Moskau schwächer, leiden auch die Ressourcen der belarussischen Diktatur.
Doch der Ausgang dieses Krieges ist bislang schwer vorhersehbar. Das erste blutige Jahr hat geendet, das zweite verspricht bislang, nicht weniger blutig zu werden.
Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine sind im Runet tausende Spendenaufrufe zur Finanzierung der russischen Streitkräfte erschienen. Neben Medikamenten und warmer Kleidung bitten die Verfasser dieser Spendenaufrufe auch um Geld für den Kauf von Drohnen, Nachtsichtgeräten, Helmen, Zielfernrohren und Zubehör für Handfeuerwaffen.
Wer sind diese Leute, die Geld für militärische Ausrüstung sammeln – und was treibt sie an? Eine Recherche des Internet-Mediums The Insider, unterstützt von dekoder (mit engl. UT).
Seit einem Jahr versucht Russland, die Ukraine in einem offenen Angriffskrieg zu unterwerfen. Nach einem massiven Truppenaufgebot entlang der ukrainischen Grenze hatte man im Kreml offenbar mit einem eingeschüchterten Gegner und einem schnellen Durchmarsch bis Kyjiw gerechnet. Doch es kam alles anders: Bereits im März 2022 musste sich die russische Armee aus den Gebieten um die ukrainische Hauptstadt zurückziehen, im Herbst konnte die Ukraine – insbesondere mit Hilfe von Waffenlieferungen der westlichen Verbündeten – große Teile der Oblaste Charkiw und Cherson zurückerobern und leistet weiter massiven Widerstand.
Auf Meduza blickt Maxim Trudoljubow zurück auf dieses Jahr des Schreckens und bilanziert, dass sich die Angst als eine außenpolitische Ressource für Moskau weitgehend erschöpft habe, im Inland jedoch nach wie vor die gewünschte Wirkung zeige.
Zu Beginn des Krieges erwarteten Präsident Putin und seine Berater einen schnellen Erfolg mit wenig Krafteinsatz – Widerstand der Ukraine war jedenfalls nicht eingeplant. Die ukrainische Gesellschaft und vor allem die politische Führung der Ukraine, so hoffte man im Kreml, würde sich von der Truppenzusammenziehung an der Grenze einschüchtern lassen – und später dann vom Einmarsch, der gleich aus mehreren Richtungen erfolgte. Immer wieder erklären Militärexperten, die russische Armee sei nicht stark genug, ukrainisches Territorium zu erobern und zu halten. Mittlerweile belegen nicht nur Hinweise, sondern handfeste Fakten, dass Russland keinen langwierigen Krieg geplant und gehofft hatte, die Ukraine in Schockstarre einzunehmen. Der Sieg in der Ukraine hätte ein „moralischer“ werden sollen, errungen nicht durch Gewalt, sondern durch Demonstration von Stärke.
Putin konnte den Widerstandswillen der Ukraine nicht brechen – trotz Tod und Zerstörung
Trotzdem ist die russische Armee fähig, der Ukraine in enormem Ausmaß Tod und Zerstörung beizubringen. Da es Putin nicht gelungen ist, den Widerstandswillen der Ukraine zu brechen, nachdem er also eine moralische Niederlage davongetragen hat, setzt er auf materielle Zerstörung und auf Zermürbung. Daten der UNO zufolge gibt es bereits 18.000 zivile Todesopfer, bis zu 50 Prozent der Energie-Infrastruktur sind zerstört oder beschädigt. An die 40 Prozent der Gesamtbevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Vor dem Hintergrund dieser von Russland verursachten humanitären Katastrophe ist die Furchtlosigkeit der Ukrainer erstaunlich.
Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie wichtig es für Russland in seinen internationalen Beziehungen war, einen starken Eindruck zu machen. Russlands Potenzial brachte andere Länder dazu, Russland zumindest in Fragen der Sicherheit und Energieversorgung ernst zu nehmen, ja sogar auf Russland zu zählen. Indem es diesen Eindruck erweckte, verfügte Russland über eine Wirkmacht, die mehr auf einer Erwartung denn auf Tatsachen beruhte. Das ist jene Art von Macht, die nur so lange wirkt, bis sie vor der Wirklichkeit standhalten muss.
Auch in seinem Energiekrieg gegen Europa setzt der Kreml auf Einschüchterung. Die Europäer hätten sich vor dem Zudrehen des Gashahns fürchten, ihre Abhängigkeit einräumen und um Wiederaufnahme der Gaslieferungen bitten sollen. Den Export von Gas nach Europa hat Russland nicht beschränkt, weil es unter Druck stand, nicht wegen der Sanktionen, sondern freiwillig, um etwas in der Hand zu haben, womit es seinerseits eine Aufhebung der Sanktionen erzwingen kann. Ende September wurde der zu diesem Zeitpunkt bereits minimierte Export über die Pipeline Nord Stream 1 aufgrund einer Sprengung der Rohre vollends eingestellt. Der Kreml schiebt den Anschlag auf die Rohre England und Amerika in die Schuhe, die USA – dem Kreml. Europäische Beamte sprechen von einer möglichen Sabotage, mit unausgesprochenem Verweis auf Russland. Bisher konnte keine der Versionen bewiesen werden.
Europa hat nicht gefroren – trotz 88 Prozent weniger Gas aus Russland
Jedenfalls wurde der Export russischen Gases im ersten Kriegsjahr um 45 Prozent verringert, der nach Europa sogar deutlich mehr, nämlich um 88 Prozent. Dabei hat Europa nicht gefroren, sondern hat es geschafft, in Rekordzeit einen Teil durch Flüssiggas zu ersetzen und das, was bereits eingelagert war, effizienter zu nutzen. Begünstigt wurde das durch volle Speicher (unter anderem mit schon früher aus Russland bezogenem Gas) und einen milden Winter. Anfang Januar kehrte der Gaspreis am europäischen Handelspunkt TTF auf Vorkriegsniveau zurück. Außerdem hat Deutschland sich schleunigst in Wilhelmshaven ein eigenes Flüssiggas-Terminal zugelegt, das auch bereits in Betrieb ist. Vor dem Krieg gab es kein solches Terminal, weil Politik und Industrie in Deutschland jahrzehntelang von langfristigen, verlässlichen Lieferungen aus Russland ausgingen.
Eine Rückkehr zum früheren gegenseitigen Vertrauen und einer dementsprechenden Kooperation mit Europa und dem Westen wird es in der Energieversorgung nicht mehr geben, auch nicht, wenn die gesprengten Leitungsrohre repariert werden. Der Energiekrieg ist natürlich noch lange nicht beendet, und der nächste Winter kann für Europa schwieriger werden als der aktuelle, allein schon deswegen, weil die Auffüllung der Speicher mit unvorhersehbar teurem Flüssiggas mehr kosten wird als das billige Erdgas. Aber in welche Richtung es geht, ist entschieden: Laut dem Jahresbericht der Internationalen Energieagentur hat der Krieg den Übergang der größten Länder zu erneuerbaren Energien immens beschleunigt. Obwohl sie noch nicht vorherrschen, werden sie größtenteils den wachsenden Energieverbrauch tragen. Der Anteil Russlands am weltweiten Erdöl- und Erdgasmarkt wird diesen Berechnungen zufolge bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zurückgehen und kaum jemals wieder auf das Vorkriegsniveau zurückkehren. Infolge des eigenen Handelns wird Russland langfristig keine Energie-Supermacht mehr sein.
Drohung mit Atomwaffen – als einseitiger Angriff von seiten Putins
Der Faktor Angst hätte auch nach Russlands Drohung mit Atomwaffen Wirkung zeigen sollen. Die vielen zuweilen mehr, zuweilen weniger kreativen Äußerungen zu diesem Thema lassen sich so zusammenfassen: Einerseits kann Russland gemäß seiner Militärdoktrin Atomwaffen nur einsetzen wenn es als Staat von außen mit einer Aggression und Bedrohung konfrontiert ist; andererseits kann Russland auch selbst damit anfangen. Bei einem Treffen mit dem UN-Menschenrechtsrat erklärte Putin, im Grunde könne auch von Seiten Russlands die nukleare Bedrohung eskalieren:
„Zum Thema, dass Russland auf keinen Fall als erstes [Atomwaffen] einsetzen wird. Wenn es sie tatsächlich unter keinen Umständen als erstes einsetzt, dann wird es sie auch nicht als zweites einsetzen. Denn nach einem nuklearen Angriff auf unser Staatsgebiet werden unsere Einsatzmöglichkeiten stark begrenzt sein.“
Stark verkürzt ist das Putins „Philosophie“, mithilfe derer er sich und anderen erklärt: Wäre Russland nicht in die Ukraine (den Westen) einmarschiert, so hätte der Westen, vertreten durch die Ukraine, Russland angegriffen. Indem Russland den Krieg begonnen hat, versuche es ja nur, ihn zu beenden.
Behalten wir diese Formulierungen im Hinterkopf und sehen uns an, inwieweit sich die jetzige Situation von gefährlichen Scheidewegen in der Geschichte unterscheidet. Das heutige Russland ist in einer anderen Position als die USA 1945, als sie die Atombombe auf Japan warfen. Das Aggressor-Land Japan war am Verlieren, während die USA eine führende Rolle in der siegreichen Anti-Hitler-Koalition innehatten. Später veröffentlichte Dokumente haben gezeigt, dass die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, den Ausgang des Krieges kaum beeinflussten und vielmehr eine Machtdemonstration waren, die über 200.000 Zivilisten das Leben kostete.
Auch mit der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges hat die heutige Situation keine Ähnlichkeit. Die Nervenduelle während der Kubakrise 1962 und während des Able-Archer-Manövers 1983 entstanden durch die Intransparenz der Handlungen beider Parteien und durch Befürchtungen, das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Supermächten könnte aus dem Lot geraten. In beiden Fällen hatten die Parteien Angst, der Gegner könnte Oberhand gewinnen oder sogar den „finalen“ Krieg beginnen. 1962 hegte die US-Regierung den Verdacht, die UdSSR bereite von Kuba aus einen Atomschlag gegen Amerika vor. 1983 wiederum glaubte die Sowjetunion, dass die westlichen Staaten unter dem Deckmantel von Militärübungen von westeuropäischem Territorium aus einen Atomschlag gegen die UdSSR vorbereiten.
„2022 versucht Putin nicht, ein ins Wanken geratenes Gleichgewicht des Schreckens mit den USA auszugleichen, denn dieses Gleichgewicht war ja jetzt nicht in Gefahr“, schreibt Fiona Hill, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Brookings Institution und ehemalige Beraterin mehrerer US-Präsidenten. „Stattdessen droht Putin mit einem einseitigen Angriff, weil er einen Krieg verliert, den er selbst begonnen hat.“
Heutzutage sind dank hochentwickelter Technologien, darunter nachrichtendienstlichen, alle Pläne und Truppenbewegungen transparent. Der Versuch der Manipulation mit Ängsten aus der Vergangenheit ist so durchschaubar, dass sie weniger erschaudern lässt als in früheren Situationen. Die westlichen Gegner in Schockstarre zu versetzen, ist dem Kreml nicht gelungen.
Die russische Gesellschaft wird in Angst versetzt – bereits die gesamten Putinjahre hindurch
Die russische Gesellschaft in Angst zu versetzen – das betreibt der Staat bereits die gesamten Putinjahre hindurch, und im vergangenen Jahr hat er seinen Aufwand verdreifacht. OWD-Info nennt die Repressionen, die die russischen Behörden im letzten Jahr angestrengt haben, „präzedenzlos“. Die Zahl der Strafverfahren, die allein im letzten Jahr als Folge von Anti-Kriegs-Aktionen eingeleitet wurden (378), ist vergleichbar mit der Zahl aller Verfahren, die in den zehn Jahren davor im Zusammenhang mit repressiven Maßnahmen eingeleitet wurden, angefangen mit den Bolotnaja-Prozessen.
Diese Verfolgungen wurden durch einen kurzfristig ausgearbeiteten Rechtsrahmen ermöglicht. Im vergangenen Jahr wurde das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (RF) um Paragrafen zur „Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der RF“ und zu „öffentlichen Handlungen, die den Einsatz der Streitkräfte der RF diskreditieren sollen“ erweitert. Strafbar sind nun auch die „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten und Organisationen, öffentliche Aufrufe zu Handlungen, die gegen die Staatssicherheit gerichtet sind, und die Verletzung der Vorschriften zum Schutz des Staatsgeheimnisses.
Verabschiedet wurden allgemeine Gesetze zur „Kontrolle der Aktivitäten von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“ (also von allen „ausländischen Agenten“) und Gesetze, die die sogenannte Propaganda „nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ gänzlich verbieten.
Ein wichtiges Instrument, um Druck auf die Gesellschaft auszuüben, war auch – zweifellos mit Putins Segen – der Aufstieg des Unternehmers Jewgeni Prigoshin. Wobei Prigoshins Höhenflug kein Beweis dafür ist, dass der Staat sein Gewaltmonopol eingebüßt hat, auch wenn es so aussehen mag. Es deutet eher auf den Versuch hin, dieses Monopol auf offenkundig kriminelle Gewalt auszuweiten und sich Verbrecher dienstbar zu machen. Offensichtlich strebt der russische Staat nicht nach Legitimität, wofür das Gewaltmonopol wichtig wäre, sondern nach einer Unterwerfung der Gesellschaft durch Gewalt, materielle Interessen und – offenbar bereits in geringerem Ausmaß – durch Propaganda.
Die Bemühungen des Kreml haben zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt, zu ihrer Unterteilung in ungleiche Gruppen. Ein Großteil unterstützt den Krieg vielleicht nicht, nimmt ihn aber zumindest als unausweichlich hin und sucht nach Möglichkeiten, unter den neuen Gegebenheiten zu überleben oder sogar daran zu verdienen. Wie der Finanzanalyst Alexander Koljandr bemerkte, ist der Kreml damit beschäftigt, eine ganze Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist.
Der Kreml ist damit beschäftigt, eine Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist
Für hunderttausende Vertragssoldaten und Einberufene ist der Sold höher als jegliche Einkünfte, die sie in Friedenszeiten erzielen konnten. Profitieren können auch die, die auf die eine oder andere Art an den Rüstungssektor, an Industrien zur Importsubstitution und an neue Importnetze zur Umgehung der Sanktionen angebunden sind. Diese Schichten machen vielleicht gerade mal die Hälfte der Bevölkerung aus, sind aber zahlenmäßig größer als jene Gruppen, die im letzten Jahr emigriert sind – und hier bleibt unberücksichtigt, dass die bereits erfolgte Mobilmachungswelle mit ziemlicher Sicherheit nicht die letzte sein wird. Den mangelnden Kampfgeist ersetzt der Kreml konsequent durch materielle Stimuli und indem es keine Alternativen zu dem neuen Wirtschaftsprogramm gibt.
Mit Einschüchterung und Repressionen ist es dem Kreml gelungen, den Widerstand gegen den Krieg zu unterdrücken und einen Teil der Kriegsgegner aus dem Land zu drängen. Bei sinkenden Einkünften aus Energie- und sonstigen Exporten geht es in erster Linie um die Aufteilung des Staatshaushalts, der zunehmend danach ausgerichtet wird, den Krieg weiterzuführen. Dazu müssen die Menschen entweder ihre Ansichten verbergen oder wetteifern, wer die meiste Loyalität bekundet. Die russische Gesellschaft war offenbar leichter mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt.
Hört man den russischen Leadern zu, dann haben sie diesen seit 80 Jahren größten Krieg auf europäischem Boden angezettelt, um Sicherheit zu gewährleisten. In der russischen Rhetorik, die auf die Rechtfertigung der Invasion abzielt, sind die Begriffe „Sicherheit“ und „Sicherheitsgarantien“ ständig zu hören. Fiona Hill nennt das ein systemimmanentes Paradoxon der russischen Politik: Indem der Staat die Priorität der Sicherheit in allen Sphären betont, ist er in Wirklichkeit permanent damit beschäftigt, die Angst hochzupeitschen.
Es war leichter, die russische Gesellschaft mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt
Vor unseren Augen haben Millionen Ukrainer, EU-Bürger und Amerikaner demonstriert, wie man auf solche Manipulationen richtig reagiert. Russlands militärische, energetische und ökonomische Aggression gegen seine Nachbarn und langjährigen Handelspartner bringt unvergleichliche Not und Verluste – momentan natürlich vor allem in der Ukraine. Trotzdem schüren Russlands Handlungen heute weniger Angst als in etlichen früheren brenzligen Situationen.
Offensichtlich bleibt Russland unter der jetzigen Regierung einer der gefährlichsten Staaten der Welt. Das weiß heute jeder – aber niemand weiß, ob das im Fall eines Machtwechsels anders wird. Sich von Moskaus Handlungen auf vielfältige Weise abzusichern, wird daher für die Politik sämtlicher Staaten, die mit Russland zu tun haben, auf Jahrzehnte hinaus Pflichtprogramm sein.