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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Echo aus Syrien

    Echo aus Syrien

    Wladimir Putin gibt der ukrainischen Regierung die Schuld am blutigen Terroranschlag in der Crocus City Hall. Bei einer Videokonferenz mit Regierungsmitgliedern und Leitern der Sicherheitsbehörden sagte er am Montag: „Wer profitiert davon? Diese Übeltat kann bloß ein Glied sein in einer ganzen Kette von Versuchen derer, die seit 2014 mittels des Kiewer Neonazi-Regimes gegen unser Land kämpfen.“ Putin sagt zwar, dass die Täter radikale Islamisten waren, doch die Hintermänner sieht er in Kyjiw und Washington: „Es geht darum, Panik in unserer Gesellschaft zu schüren und gleichzeitig dem eigenen Volk zu zeigen, dass für das Kiewer Regime noch nicht alles verloren ist.“ 

    Auch russische Staatsmedien wiederholen diese These der „ukrainischen Spur“ – ebenfalls ohne dafür Beweise zu präsentieren. Terrorismusforscher wie Peter Neumann vom Londoner King’s College halten eine solche Version für absurd und sehen gewichtige Indizien für eine Urheberschaft der Tat bei der Terrororganisation Islamischer Staat. 

    Auch Ruslan Lewijew hält die These der „ukrainischen Spur“ für unsinnig. Lewijew ist Gründer des unabhängigen Investigativ-Netzwerks Conflict Intelligence Team (CIT), das sich seit 2014 mit seinen Open-Source-Recherchen zu den russischen Kriegseinsätzen in der Ukraine und in Syrien einen Namen gemacht hat. Im Interview mit Republic spricht Lewijew darüber, warum Putin die Warnungen der US-Geheimdienste über einen bevorstehenden Terroranschlag ignoriert hat und warum der Islamische Staat insbesondere seit Russlands Beteiligung im Syrienkrieg durchaus Motive hat, Anschläge in Russland zu verüben. 

    Putin bespricht den Terroranschlag in der Crocus City Hall mit dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation / Foto © Imago, Zuma Wire

    Farida Kurbangalejewa, Republic: Putin hat vor wenigen Tagen vor führenden FSB-Generälen erklärt, bei den Warnungen über in Russland geplante Terroranschläge handle es sich um Täuschungsmanöver westlicher Staaten. Haben Sie eine Erklärung für dieses Verhalten? 

    Ruslan Lewijew: Er versucht, jede Nachricht für die Propaganda in Russland zu nutzen. Denn wir befinden uns ja angeblich in einer Art Krieg mit dem Westen, das haben hochrangige Staatsbeamte oft verlautbaren lassen. Und Amerika immer mal mit etwas in Zusammenhang zu bringen, ist für Putin ja ganz nett. In den vielen Jahren beim KGB und dann auf dem höchsten Posten in Russland waren Menschen um ihn versammelt, die ihm das liefern, was er sehen und hören will: Dass die westlichen Geheimdienste listige Taktiken verfolgen. Ich glaube, dass er bereits selbst an die Welt glaubt, die er geschaffen hat, eine absolute Fantasiewelt, die aus seiner Propaganda und seinen Lügen besteht. Das heißt, dass er die Realität nicht so wahrnimmt, wie sie ist.  

    Welche Vorwürfe erhebt der IS-Khorasan (ISPK) gegen Russland? Ich habe mir vor unserem Gespräch eine Auflistung ihrer Terroranschläge angesehen – hauptsächlich fanden die in Afghanistan und Pakistan statt. Warum jetzt plötzlich in Russland? 

    Leider ist das ein Punkt, bei der ein Großteil der russischen Gesellschaft nicht aufgepasst hat. Wir [CIT – dek] analysieren Russlands Vorgehen in Syrien seit 2015. Dabei wurde auch deutlich, wie die russische Gesellschaft, einschließlich der unabhängigen Medien dieses Thema ignoriert haben. 

    Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen

    Die Russen haben regelmäßig Stellungen von IS-Kämpfern und von Al-Qaida attackiert. Aber vor allem haben sie die Freie Syrische Armee angegriffen. Also die Soldaten, die gegen Bashar al-Assads Regime kämpften. Dabei haben die russischen Soldaten ihre Waffen wahllos eingesetzt. Das ist auch jetzt der Fall, wenn die russische Armee ukrainische Städte bombardiert. Und da die syrischen oppositionellen Gruppen nicht über Luftabwehrsysteme verfügen, konnte sie dort noch freier die Städte überfliegen und Bomben abwerfen.   

    Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen. Menschen werden in Stücke gerissen und sterben, darunter auch Kinder. Dann kommt der Zivilschutz – die Weißhelme, die in Russland als Unterstützer der Terroristen bezeichnet werden. Sie versuchen, Menschen aus den Trümmern zu retten, und die russische Luftwaffe wirft erneut Bomben auf sie. Auch die Retter kommen ums Leben. 

    Wir haben schon damals gesagt, dass diese Aktionen weitreichende Folgen für Russland haben werden. Dass die Terror-Gruppen anfangs „Tod für Amerika“ skandierten und dazu aufriefen, den imperialistischen Westen und all diese Ungläubigen zu bekämpfen. Aber seitdem die Russische Föderation [in Syrien – dek] eingegriffen hat, hat sich ihr Fokus sofort auf Russland verlagert. Jetzt heißt es „Tod für Russland für das, was es den Muslimen antut“. 

    Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland verübt werden

    Die Menschen in Russland haben es damals überhaupt nicht mitbekommen, aber die muslimische Welt hat sich das gut gemerkt und sie wird sich noch über Generationen hinweg daran erinnern. Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland und gegen Russen verübt werden. Ich bin mir absolut sicher: Selbst wenn das Putin-Regime in den nächsten Jahren fällt und ein demokratischer Präsident an die Macht kommt – die Terroranschläge in Russland werden trotzdem weitergehen. Weil sich für die Terroristen dadurch nichts ändert. „Es sind doch dieselben Russen, die Muslime bombardiert haben. Und überhaupt: Es sind Ungläubige, also muss man weiterhin Terroranschläge verüben“. Das ist für sie die Hauptsache. 

    Seitdem Putin an der Macht ist, hat es viele Terroranschläge gegeben, besonders viele gab es aber vor 2014. Denn dann begann der Krieg in Syrien, und viele Anhänger des radikalen Islam gingen dorthin, um zu kämpfen. In der Folge wurde es in Russland relativ ruhig. Müssen wir damit rechnen, dass jetzt die Zeiten zurückkommen, in denen es regelmäßig Bombenanschläge gibt? Wie am Flughafen Domodedowo im Jahr 2011 oder in Wolgograd im Jahr 2013? 

    Tatsächlich gab es weiterhin kleinere Terroranschläge: Zum Beispiel 2016, als eine Kinderfrau in Moskau einem Dreijährigen den Kopf abschlug und dann mit dem abgetrennten Kopf durch die Straßen lief und rief: „Das ist für das, was ihr in Syrien tut.“ Im selben Jahr ermordete ein Terrorist den russischen Botschafter in der Türkei: Er schoss ihm in den Rücken und rief ebenfalls, dies sei für das, was Russland in Syrien tue. Es gab weitere Terroranschläge, zum Beispiel in den Regionen des Nordkaukasus, die ebenfalls unbemerkt blieben, weil die Medien ihre Schwerpunkte anderswo legten.  

    Es sieht tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück

    Aber grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Offensichtlich haben viele Menschen, die sich zu radikalen Strömungen des Islam bekennen, versucht, nach Syrien zu gehen, weil in diesem Krieg die wichtigste Schlacht geschlagen wurde. Vor diesem Hintergrund ging die Zahl großer Terroranschläge in Russland zurück. Und jetzt sieht es tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück. 

    Tatsächlich ist Russland hier kein Sonderfall. Erst vor ein oder zwei Monaten sollen Anschläge in Deutschland vereitelt worden sein. Das zeigt, dass Terroristen jetzt auf der ganzen Welt aktiv sind. Aber natürlich haben sie Russland ganz besonders im Visier.  

    Umso mehr als der IS-Ableger Khorasan vor allem in Afghanistan aktiv ist. Dort tritt er als erbitterter Gegner der herrschenden Taliban auf. Deren wichtigster Verbündeter wiederum ist Russland. Das Problem ist, dass die Taliban ebenfalls ein repressives Regime errichtet haben. Viele Kämpfer der Taliban und von Al-Qaida laufen zum Khorasan über, weil sie der Ansicht sind, dass die Taliban die Scharia falsch auslegen. In der Folge planen sie dann neue Terroranschläge gegen Russland. 

    Welche Folgen wird dieser Anschlag haben? 

    Zunächst wird es natürlich Druck auf die Migranten [in Russland] geben: Razzien in ihren Unterkünften, Kontrollen in der Metro und im öffentlichen Nahverkehr. Vielleicht werden sie auch an der Grenze strenger kontrolliert. Und natürlich werden die repressiven Gesetze jetzt verschärft umgesetzt: Überwachung, Kontrolle von Medien und Messengern. Das sind die Maßnahmen, mit denen man jetzt zuerst rechnen muss. 

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  • Lavieren in Nahost

    Lavieren in Nahost

    Kein einziges globales oder regionales Problem könne ohne Russland gelöst werden, verkündete schon 2003 Wladimir Putin. In der Tat hat Russland eine außenpolitische Sonderstellung: Durch die guten Beziehungen zu verfeindeten Parteien ist der Kreml oft in der Lage, als Vermittler aufzutreten. Moskau verhandelt nicht nur mit den Taliban, sondern auch mit der Hamas oder Hisbollah. Gleichzeitig pflegt es gute Beziehungen zu Israel, aber auch wiederum zum Iran; zur PYD – syrische Schwesterpartei der kurdischen PKK –, aber auch zum türkischen Präsidenten Erdoğan. 


    Eigentlich hat Russland damit sehr gute Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenspolitik. Auch das Potential für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist enorm. Trotzdem sei die Nahost-Strategie des Kreml ineffektiv, kritisieren die Nahost-Experten Anton Mardassow und Kirill Semjonow auf Riddle. Der Kreml betreibe in der Region oft nur Effekthascherei – „mit roten Teppichen und Lobeshymnen“.

    Der russische Außenminister Lawrow (rechts) in Syrien, September 2020 / Foto @ Flickr/MID Rossii CC BY-NC-SA 2.0

    Viele sind der Ansicht, dass Russlands Rückkehr in den Nahen Osten mit der militärischen Intervention in Syrien begann. Dadurch konnte es Stärke demonstrieren und seine Spielregeln in den Ländern der Region durchsetzen, die wegen ihrer Differenzen mit den USA ohnehin nicht abgeneigt waren, eine Zusammenarbeit einzugehen und ihre Kontakte zu diversifizieren. 


    Moskau hat tatsächlich die Müdigkeit der syrischen und ausländischen Akteure in diesem Konflikt genutzt, deren unterschiedliche Interessen und Positionen ihnen beim Aufbau einer starken Opposition gegen Assad im Weg standen. Russland hat in dieser Krisensituation gehandelt, während seine Widersacher zauderten. Und seine unzureichende wirtschaftliche und militärische Stärke in der Region kompensierte Moskau durch eine Kette von Bündnissen, um so seine Vorstellungen von einer multipolaren Weltordnung voranzutreiben. 


    Der Auslöser: Krise um die Ukraine 

    Russlands Rückkehr in den Nahen Osten und später nach Afrika hat nichts damit zu tun, dass Moskau geduldig auf den geeigneten Moment gewartet hätte, sich als Akteur ins Spiel zu bringen, ohne den kein einziges globales oder regionales Problem gelöst werden könne (wie Putin es schon 2003 verkündet hatte). Die Intervention in Syrien und die anschließende Umwandlung des Landes in ein Drehkreuz, über das Moskaus Stärke nach Libyen und Afrika projiziert wurde, wäre ohne die Krise um die Ukraine nicht möglich gewesen. 


    Diese hatte den Kreml vor einige Fragen gestellt: 
    Wie kann man verhindern, dass das Land mit einer sich verteidigenden „belagerten Festung“ assoziiert wird und wie kann man sich am globalen Wettbewerb beteiligen? 
    Wie lässt sich angesichts der verhängten Sanktionen ein Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen erreichen? Wie kann Moskau bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen für seine Interessen eintreten (die 54 afrikanischen Mitgliedsstaaten machen fast ein Drittel aller Stimmen in der UN-Vollversammlung aus)?


    In dem Bemühen, die Folgen ihres Vorgehens auf der Krim und im Donbass zu überwinden, richtete die russische Regierung ihre Anstrengungen neu aus und gab der Nahostpolitik eine neue Bedeutung. Sie entschied sich für eine flexible Politik, deren wichtigste Triebkraft der Export von Sicherheitsdienstleistungen war – so auch die Rekrutierung von Söldnergruppen mit Kampferfahrung in der Ukraine. 

    Zeitlich begrenzte Wirkung

    Dieser Ansatz ist für autoritäre Staatsführer verständlich und wichtig für die Stabilisierung ihrer Lage. Er ist nicht an Menschenrechte oder eine wirtschaftliche Liberalisierung geknüpft. Wie stimulierend diese Akzentuierung auch sein mag, so sehr ist sie in ihrer Wirkung zeitlich begrenzt. Die russische Führung wird nun so lange Geisel dieses Ansatzes bleiben, bis ein Weg gefunden wird, wie man die Dividenden einstreichen und die eigene Position in der Region weiter stärken kann – ohne allerdings in irgendeine Krise verwickelt zu werden.


    Es ist kein Geheimnis, dass es bei Russlands Vorgehen auf dem Öl- und Gasmarkt – insbesondere bei Projekten in der Türkei, im kurdischen Teil des Irak und im Libanon – mehr um Politik als um wirtschaftlichen Nutzen geht. Die Vorstellung jedoch, dass Russland beständig und präzise einer ausgeklügelten Strategie folge, ist nichts als ein Mythos, der hartnäckig von der Propaganda befeuert wird.

    Ausgeklügelte Strategie? Ein Mythos

    Die heutige Nahostpolitik Russlands muss durch das Prisma des gegenwärtigen Verhältnisses Moskaus zum Islam und zur islamischen Welt gesehen werden. Das Problem dabei ist: Der Kreml wird immer dann in dieser Richtung aktiv, wenn es Konflikte gibt oder wenn es gilt, schärfste Differenzen in den Beziehungen zu den führenden islamischen Staaten auszubügeln.
    Die erste Phase, in der eine Annäherung Russlands an die islamische Welt erfolgte, war der Zweite Tschetschenienkrieg. In diese Phase fällt der Auftritt von Wladimir Putin beim Gipfeltreffen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Russlands Erlangung des dortigen Beobachterstatus. Zu dieser Zeit fand auch der erste Staatsbesuch eines russischen Präsidenten in Saudi-Arabien statt. Russland hat es dennoch nicht vermocht, die Zusammenarbeit mit der islamischen Welt zu festigen oder sie vertrauensvoller zu gestalten.


    Den zweiten Annäherungsversuch Russlands an die islamische Welt können wir aktuell beobachten. Er erfolgte aufgrund der Konfrontation mit den Anti-Assad-Kräften, von denen viele Ideen des Islam anhingen. Hier können wir von einer gewissen Institutionalisierung dieser Rückkehr Russlands in den Nahen Osten sprechen. Dadurch ist unter anderem der Beginn von Verhandlungen mit dem Iran und der Türkei in Astana möglich geworden. Ebenso konnte in den Beziehungen zu Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die den Einfluss der Türkei in Syrien und Libyen zurückdrängen wollen, eine neue Phase eingeläutet werden.

    Das Tschetschenien-Syndrom

    Der Tschetschenienkrieg war Anlass für eine Weiterentwicklung der Beziehungen Russlands zu den Staaten des Nahen Ostens [um durch Bündnisse den radikalislamischen Einfluss einzudämmen – dek], gleichzeitig schwebt über Moskaus Beziehungen zu vielen staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im Nahen Osten nach wie vor das „Tschetschenien-Syndrom“:
    So sieht der Kreml in verschiedenen islamischen Kräften, die gewöhnlich als „islamistisch“ bezeichnet werden, potenzielle Sponsoren eines Aufruhrs in Russland, an dem sich Muslime aus Russland beteiligen könnten.


    Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde. Die lässt sich – ungeachtet der offiziellen Haltung, die diesen Umstand leugnet – längst nicht immer verheimlichen. Ab und zu kommt sie in der Rhetorik des Kreml zum Vorschein.

    Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde

    Selbstverständlich hat Moskau seine Bereitschaft zu einem gewissen Pragmatismus demonstriert. Das gilt für seine Beziehungen und Kontakte zu Kairo, als dort die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei [der Muslimbrüder – dek] und die Regierung Mursi an der Macht waren. Es war auch im Verhältnis zum ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Baschir der Fall, der direkte Verbindungen zu sudanesischen Islamisten und der palästinensischen Hamas hatte. Vertreter der letzteren sind seit 2006 regelmäßig in Moskau zu Besuch. Russlands Einladung an die Hamas wurde im Westen logischerweise als Beginn einer Rückkehr Moskaus in die große Politik wahrgenommen. Die damals aktiven tschetschenischen Kämpfer gaben prompt ihren Unmut zu verstehen, dass „die Mudschahedin Palästinas, Brüder der Tschetschenen, sich entschieden haben, Putin die Hand zu reichen“. 

    Spiel mit Widersprüchen statt durchdachte Strategie

    In Wirklichkeit hat der Kreml damals keineswegs eine Schritt für Schritt durchdachte Politik betrieben: Vielmehr machtе Wladimir Putin seinerzeit genau das, was er heute immer noch macht – er spielte mit Widersprüchen und demonstrierte seine Unabhängigkeit gegenüber den Partnern im Nahost-Quartett (EU, UNO und USA): So hat Putin etwa den Wahlsieg der Hamas als „schweren Schlag“ für die Friedensinitiativen Washingtons im Nahen Osten bezeichnet und neun Tage später Vertreter der Hamas nach Moskau eingeladen. Seitdem sind die russischen Diplomaten genötigt, in jedem Interview zu lavieren, wenn es zu erklären gilt, weshalb die Hamas, die aus den seit 2003 in Russland verbotenen Muslimbrüdern hervorgegangen war, wenige Jahre nach diesem Verbot die russische Hauptstadt besucht. Oder warum Russland die Hamas nicht als Terroristen einstuft (offiziell deswegen, weil sie für die russische Bevölkerung keine Gefahr darstellt).

    Gilt es zu entscheiden zwischen islamisch orientierten Politikern und anderen Akteuren, dann sind letztere die Gewinner – Hauptsache, sie verkünden eine säkulare Haltung und erklären allen Formen des Islamismus den Kampf. Kaum verkündet ein Akteur eine solche Haltung, schon ändert Moskau seine Richtung, oft nur als Reaktion und ohne klar definierte Position.

    Dieses Vorgehen ist nicht allein der russischen Politik eigen, sondern in gewissem Maße auch der französischen. Der libysche Kommandeur Haftar hat dies intensiv ausgenutzt, indem er eine antiislamistische Agenda verfolgte und sagte, was man in Moskau und Paris von ihm hören wollte. Dabei waren seine antiislamistischen Parolen hauptsächlich an die Außenwelt adressiert. Für den internen Gebrauch verfolgte er einen durchaus fundamentalistischen islamischen Ansatz, instruiert von radikalen salafistischen Predigern. Zu seinen Truppen gehören auch salafistische Einheiten. Gleichwohl reichen öffentliche Bekenntnisse der eigenen Säkularität und deklarative Aufrufe zur Bekämpfung des Islamismus aus, die Gunst des Kreml zu erlangen.

    Die Folge ist, dass Moskau im Nahen Osten einem breiten Spektrum politischer Kräfte gegenübersteht, die gemäßigt islamische Positionen vertreten. Das Regime in Russland ist genötigt, mit ihnen umzugehen und Gespräche zu führen, wobei es weiterhin Groll hegt und Medienkampagnen gegen die Betreffenden fährt. Allerdings verheddern sich die russischen Medien des Öfteren, wenn sie über Gespräche russischer Offizieller mit Politikern aus dem Nahen Osten berichten, die sie gestern noch als anrüchig bezeichnet haben. Dabei hätten diese Kräfte durchaus an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert sein können, wenn die russische Seite sich unter gewissen Umständen nicht gescheut hätte, auf sie zu setzen, und wenn Russland seine Nahostpolitik wirklich effektiv und nicht effekthascherisch gestaltet hätte.

    Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen

    Das Eingreifen in den Syrienkonflikt hat Moskau trotz der offensichtlichen geopolitischen Gewinne keine wesentliche Dividende gebracht. Vielmehr haben die enorme Konzentration auf eine Unterstützung des syrischen Regimes und die Bildung eines faktischen Militärbündnisses mit dem schiitischen Iran, der es ebenfalls vorzog auf einem Grat zwischen Krieg und Frieden zu wandeln, die Flexibilität Russlands im Nahen Osten eingeschränkt. Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen.

    2015 hatte es für Moskau die Möglichkeit gegeben, zu Damaskus auf Distanz zu gehen, um nicht mit dem syrischen Regime in einen Topf geworfen zu werden. Man hätte sich auf die offiziell verkündeten Ziele der militärischen Operation in Syrien konzentrieren können, also darauf, den in Russland verbotenen „Islamischen Staat“ zu bekämpfen und das Angriffspotenzial der al-Nusra-Front (Dschabhat an-Nusra, heute Hai‘at Tahrir asch-Scham; die Organisation ist in Russland verboten) zu begrenzen. 2015 hatte die syrische Opposition nicht die Absicht, auf die Seite der Türkei zu wechseln und im syrischen Grenzgebiet für ihre Interessen zu kämpfen. Moskau hätte in diesem Bürgerkrieg die Rolle eines Vermittlers nicht nur imitieren, sondern wirklich übernehmen können – wenn man Schläge gegen Terrorzellen geführt und Assad zu Kompromissen gedrängt hätte. Trotzalledem wäre Assad zu einer russischen Militärpräsenz in diesem Format bereit gewesen.

    Unter solchen Voraussetzungen hätte Moskau das syrische Regime womöglich allmählich „zähmen“, es vom Iran losreißen sowie einen vollwertigen Friedensprozess in Gang setzen können, durch den beträchtliche Investitionen ins Land geholt würden. Diese hätten auch von russischen Firmen kommen können, ohne dass sie hätten befürchten müssen, unter die westlichen Sanktionen zu geraten. Zudem hätte Russland seine Positionen behauptet und das Vertrauen des gesamten Kräftespektrums im Nahen Osten bewahrt. Vor allem hätte ein solches Szenario eine mögliche „Afghanisierung“ des Konflikts ausgeschlossen und die Kosten für die Intervention begrenzt.

    Eine einzige Empfehlung 

    Russland hat als Rechtsnachfolger der UdSSR eine einzigartige Möglichkeit: Es ist in der Lage, parallel und durchaus offiziell einen Dialog mit verfeindeten Seiten zu führen. Heute mit Israel und dem Iran, morgen mit den USA und der Hisbollah, übermorgen mit der Türkei und der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Gleichzeitig hat Moskau nicht die wirtschaftliche Macht der Sowjetunion, um sich eine Großzahl subventionierter und für gewisse Ideale kämpfender Bewegungen zu halten. Ebenso wenig ist Russland in der Lage, den Seiten einen vermittelten Dialog zu seinen Bedingungen aufzuzwingen und sich der Konkurrenz zu stellen. Daher ist der Kreml genötigt, sich in militärische Konflikte im Nahen Osten hineinziehen zu lassen, wodurch er den Status eines unabhängigen Vermittlers verliert.

    Die Erfahrung, dass man erfolglos nach verbündeten Regimen gesucht hat, und die ständigen Versuche, als Mentor aufzutreten, sind für Moskau das Haupthindernis für eine Weiterentwicklung der Beziehungen zu den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas in der so sehr beschworenen multipolaren Welt. Und der Kurs auf eine Militarisierung der Außenpolitik sowie die Suche nach einem äußeren Feind zur Erhaltung des bestehenden Systems schließt die Beteiligung russischer Firmen an „politikfreien“ Projekten aus: Schließlich wissen die russischen Diplomaten sehr wohl, dass viele russische Wirtschaftsprojekte im Nahen Osten und Nordafrika nicht deshalb gescheitert sind, weil Washington da Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, sondern durch die Schuld russischer Politiker und Unternehmer. Für Moskau sind vor allem rote Teppiche und Lobeshymnen wichtig und erst dann Realpolitik.


    Für den Kreml ist es an der Zeit, sich von dem sowjetischen Paradigma der Nahostpolitik zu verabschieden, bei dem die Blockkonfrontation im Zentrum stand. Außerdem muss die offizielle Haltung revidiert werden, dass Säkularität der wichtigste Indikator für die „Zurechnungsfähigkeit“ der politischen Kräfte im Nahen Osten ist. Zudem sollte die Reichweite der Kontakte in der Region ausgedehnt werden, und zwar ohne Säbelrasseln. Da Russland selbst einen Kurs in Richtung Unterdrückung Andersdenkender und der Medienfreiheit verfolgt, sind große Zweifel angebracht, ob Moskau zu einer solchen Neujustierung bereit ist. 

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  • Ein Donbass für Syrien?

    Ein Donbass für Syrien?

    In der vergangenen Woche standen Russland und die Türkei am Rande eines Krieges: 36 türkische Soldaten wurden in Nordsyrien Opfer einer großangelegten Offensive der von Moskau unterstützten Assad-Truppen. Die Türkei reagierte zunächst mit Gegenangriffen, eine Eskalation konnte jedoch vermieden werden.

    Am kommenden Donnerstag, dem 5. März 2020, treffen sich nun Putin und Erdoğan in Moskau, um die Situation in der Region Idlib zu besprechen. Der türkische Präsident sagte, dass er sich von den Gesprächen eine Waffenruhe oder andere Lösungen erhoffe. Laut Militärexperten könne bei dem Treffen ein neues Abkommen geschlossen werden, dass das Sotschi-Memorandum vom September 2018 ersetzt. Dieses sah eine Stabilisierung der Region vor: Die Türkei verpflichtete sich darin unter anderem, die islamistischen Milizen von den gemäßigten Anti-Assad-Kräften abzuspalten. Die Assad-Regierung saß nicht mit am Tisch, sondern wurde über das Ergebnis und die Aufteilung der Einflusssphären zwischen Russland und der Türkei lediglich informiert.

    Einen Vormarsch syrischer Truppen auf das von der Türkei beanspruchte Idlib sah das Sotschi-Memorandum dabei aber genauso wenig vor wie das zuvor beschlossene Astana-Abkommen. Da Russland die Truppen von Assad bei ihrem Vormarsch auf Idlib zumindest gewähren ließ und die Türkei es nicht schaffte, Anti-Assad-Kräfte aufzuspalten, betrachten manche Beobachter die bisherigen Abkommen zwischen den beiden Ländern als weitgehend wirkungslos.

    Ein neuer Anlauf könnte darin bestehen, dass Russland der Türkei nun tatsächlich garantiert, dass die Region Idlib faktisch unter türkische Kontrolle kommt. In diesem Szenario des Politologen und Außenexperten Wladimir Frolow pfeift Russland Assad zurück und überlässt die Region weitgehend der Türkei. 
    Warum sollte Russland seinen Verbündeten Assad aber im Stich lassen? Unter anderem, weil die Türkei in dem Konflikt sowieso am längeren Hebel sitzt und Russland sich kräftig verkalkuliert hat, meint Frolow auf Republic

    Die Türkei setzt derzeit bei ihrer Operation Frühlingsschild massenweise auf Kampfdrohnen, Kampfflieger, Boden-Boden-Systeme, Spezialeinsatzkräfte und ein begrenztes Bodenkontingent. Mit dem Beginn der Operation hat die Türkei ihre Entschlossenheit demonstriert, eigene existentielle Interessen in Idlib zu verteidigen. Innerhalb von drei Tagen hat sie der syrischen Armee und pro-iranischen Kräften erheblichen Schaden bei Kriegstechnik und Streitkräften zugefügt.

    Assad kann, so hat sich gezeigt, die Region Idlib ohne massives militärisches Eingreifen Russlands und ohne Unterstützung des Iran nicht gänzlich unter seine Kontrolle bringen. Er muss dort stoppen, wo er gestoppt wurde. 

    Die Türkei wiederum musste einsehen, dass sie allein durch Luftangriffe unter vorwiegendem Einsatz von Kampfdrohnen die syrischen Truppen nicht an die Linie des Sotschi-Memorandums von 2018 zurückdrängen kann. Die türkischen Verbündeten aus den Reihen der syrischen Opposition waren nicht schlagkräftiger als die syrische Armee. Für eine Vergrößerung des [türkisch] kontrollierten Gebiets hätte man mit einer ausreichend großen Einheit von Landstreitkräften einmarschieren müssen (aktuell sind dort etwa 4000 Personen) – dafür hätte Erdoğan jedoch weder innenpolitische noch internationale Unterstützung gehabt.

    Damaskus war bestrebt, Idlib vollständig zu kontrollieren, um die Hoheit über das Gebiet wiederherzustellen, die Grenze [zur Türkei – dek] zu schließen und um die Bevölkerung, die dem syrischen Regime gegenüber nicht loyal ist, so weit wie möglich in die Türkei abzudrängen. Für Russland war es womöglich wichtig zu demonstrieren, dass es Damaskus darin unterstützt, die territoriale Souveränität im ganzen Land wiederzuerlangen. Außerdem bleibt die Aufgabe, die terroristischen Gruppierungen der HTS niederzuzwingen, um die eigenen Stützpunkte in Latakia endgültig vor terroristischen Drohnenangriffen abzusichern. Allerdings gab es auch Vermutungen, dass ein erheblicher Teil dieser Quadrokopter-Attacken Provokationen seitens alawitischer Pro-Assad-Gruppierungen waren, um Russland in die Operation in Idlib hineinzuziehen. Und Moskau in dieses Abenteuer hineinzuziehen – das ist Assad gelungen. 

    Womit Moskau nicht gerechnet hatte

    Womit Moskau nicht gerechnet hat, war die harte Reaktion der Türkei. Erdoğans Entscheidung, trotz der russischen Präsenz massiv militärische Gewalt gegen die syrische Armee einzusetzen, kam für Moskau unerwartet. Offenbar können wir sowohl über die ineffektive Arbeit unserer Agenten und des elektronischen Nachrichtendienstes in der Türkei sprechen, die die Absichten und die Entschlossenheit Ankaras nicht rechtzeitig erkannt haben, als auch über den übermäßigen Einfluss der syrischen Verbündeten auf die Einschätzungen des russischen Militärkommandos sowie die falsche Einschätzung der Situation durch die politische Führung des Landes. Auch wenn der Luftangriff vom 27. Februar, bei dem 36 türkische Soldaten getötet und mehr als 30 verwundet wurden, tatsächlich von syrischen Flugzeugen durchgeführt wurde (obwohl die Türken etwas anderes glauben und die syrische Luftwaffe bei Dunkelheit nicht fliegt), war es ein Signal an die Türkei, nicht die rote Linie zu überschreiten. Der Luftangriff hat das Ausmaß der militärischen Eskalation der Türkei nur noch verstärkt.

    Und hier wird klar, dass die russische Operation in Syrien seit 2015 darauf ausgelegt ist, die syrische Opposition und die Terroristen zu bekämpfen, aber nicht einen großen Staat, geschweige denn ein NATO-Mitglied. 

    Die Türkei hat mit dem Angriff auf die syrischen Truppen (unter gleichzeitiger Vermeidung eines Zusammenstoßes mit den russischen Luftstreitkräften) gezeigt, dass die russischen Streitkräfte in Syrien schlicht nicht ausreichen, um die Offensive einer mächtigen Armee und Luftwaffe zu verhindern. Die Türkei hat im syrischen Theater von Kriegshandlungen die absolute militärische Überlegenheit, und als Grenzland hat sie unbegrenzte Möglichkeiten zur Eskalationsdominanz.

    Die russischen Kräfte in Syrien sind dagegen praktisch isoliert, die Hauptversorgungswege führen durch türkische Meerengen und Luftraum. Ankara hat gezeigt, dass der Sieg Russlands in Syrien und eine Nicht-Wiederholung von Afghanistan unter Mitwirkung der Türkei erreicht wurde, die sich weigerte, „ein zweites Pakistan“ zu werden, und sich stattdessen auf Moskaus Anerkennung ihrer begrenzten, aber grundlegenden Interessen in Nordsyrien verließ. Die Verpflichtung Moskaus, diese Interessen der Türkei zu respektieren, wurde durch die Operation in Idlib verletzt.
    Eng abgesteckte Ziele in Syrien, die begrenzten Mittel für ihre Erreichung und die damit verbundenen Risiken sind seit 2015 die Schlüsselfaktoren für den russischen Erfolg. Oberstes Prinzip war es, Vorsicht walten zu lassen, wenn es darum ging, das Verhältnis zu Drittstaaten aufs Spiel zu setzen. 

    Moskau war in den Konflikt eingetreten, um das Assad-Regime zu retten, um einen Präzedenzfall in der Bekämpfung von Farbrevolutionen zu schaffen, um terroristische Einheiten und die bewaffnete syrische Opposition maximal zu schwächen sowie um eine Basis für die Militärpräsenz in der Region zu schaffen. Diese Aufgaben hat es erfüllt.

    Moskau hatte sich nie zur Aufgabe gemacht, die Kontrolle Assads über syrisches Territorium bis zum letzten Zentimeter wiederherzustellen – geschweige denn dazu, das syrische Regime in einem bewaffneten Konflikt mit einem anderen Staat und NATO-Mitglied zu verteidigen. So gesehen geht die aktive Beteiligung der russischen Streitkräfte an der Operation der syrischen Armee in Idlib „weit über die ursprünglich abgesteckten Ziele hinaus und übersteigt die ursprünglich eingegangenen Risiken“, wie der Kriegsberichterstatter Ilja Kramnik in seinem Telegram-Kanal schreibt.

    Moskaus Dilemma

    Moskaus Einlassen auf die syrische Operation in Idlib mit der starken militärischen Reaktion der Türkei, die die Kampffähigkeit der syrischen Streitkräfte untergrub, brachte Russland vor ein Dilemma: Es entweder selbst auf eine Eskalation der Kampfhandlungen anzulegen (was einer erheblichen Aufstockung der Truppen in Syrien bedurft hätte), indem man Flugzeuge und Luftabwehr auch gegen die türkische Armee einsetzt (man hätte türkische Drohnen abschießen und die kriegswichtige Infrastrukturen der Türken in Idlib und im syrischen Kurdistan bombardieren können – selbstverständlich ohne Schäden auf türkischem Territorium, was den Bündnisfall im Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hätte auslösen können). Oder aber man hätte sich still und heimlich wegschleichen und die syrischen Verbündeten mit der Armee Erdoğans allein lassen können.

    Klugerweise wurde die zweite Entscheidung getroffen (genauer gesagt, ein paar Tage lang wurde überhaupt nichts entschieden). Moskau hat sich bis zum Montag nicht in den Kriegsverlauf in Idlib eingemischt und so der türkischen Luftwaffe und Artillerie die Möglichkeit eingeräumt, der syrischen Armee, den Hisbollah-Einheiten und der militärischen Infrastruktur (einer Munitionsfabrik, ein paar Flugplätzen) erheblich zu schaden. Doch sich noch weiter zurückzuziehen und eine absolute Niederlage und Erniedrigung des syrischen Verbündeten zuzulassen, hätte dem Image und Status Russlands in der Region und in der Weltpolitik inakzeptablen Schaden zufügen können. Daher stimmte Putin einem Treffen mit Erdoğan in Moskau und einem neuen Abkommen über die Aufteilung Idlibs zu.

    Die Schlüsselfrage über die Zukunft Idlibs bleibt aber weiterhin ungeklärt. Die Interessen Moskaus an guten Beziehungen zur Türkei (sowohl, was den wirtschaftlichen, als auch, was den militärstrategischen Bereich angeht) sind weit größer als alle Interessen Russlands an Syrien (diese sind eher bescheiden). In diesem Sinne ist es für Moskau sinnvoller, die türkischen Begehrlichkeiten zu stillen in Bezug auf die Sicherheitszone in Idlib. Die Verantwortung für einen weiteren Kampf gegen HTS/al-Nusra kann man Ankara überlassen.

    Idlib muss nicht unbedingt komplett wieder unter die Kontrolle Assads kommen. Schließlich hat Assad einen Bürgerkrieg im eigenen Land entfesselt, dem mehr als 550.000 Menschen zum Opfer fielen und der weitere sechs Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte. Dafür muss er aufkommen. Denjenigen Bevölkerungsteil, der gegenüber seinem Regime am stärksten oppositionell eingestellt ist, gewaltsam unter seine Macht und seine Repressionen zu zwingen, ist kontraproduktiv.

    Idllib als syrisches Donbass?

    Moskau hat einen starken diplomatischen Trumpf in petto – den in Russland erstellten Entwurf einer neuen syrischen Verfassung: Er sieht eine dezentrale Macht und die Autonomie mancher Regionen in Syrien vor. 2017 hat Assad so getan, als würde er die Vorschläge Moskaus nicht wahrnehmen. Nun ist der Moment gekommen, da seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden sollte.

    Denn wenn das „Volk des Donbass” das Recht auf einen „Sonderstatus” innerhalb der Ukraine hat, warum kann das „Volk Idlibs” dann nicht Anspruch auf genau so einen Sonderstatus erheben, wo es doch weitaus mehr Grund hat, eine Zentralregierung zu fürchten (als alawitisch-schiitische religiöse Minderheit, die die sunnitische Mehrheit unterdrückt)? Warum ist die gewaltsame Wiederherstellung der Kontrolle über das Territorium und die Grenzen mit militärischen Mitteln schlecht für die Ukraine, aber gut für Syrien? Warum sollte man auf die Situation in Idlib und auch im syrischen Kurdistan nicht Arbeitsergebnisse nutzen, die im Rahmen der Minsker Abkommen für den Donbass erzielt wurden? Dort finden sich alle nötigen Regulierungs-Komponenten.
    Der russischen Diplomatie würde es nicht schaden, größere Konsequenz bei der Anwendung von Schlüsselprinzipien des internationalen Rechts zu demonstrieren. Im Gegenteil, es würde Moskaus Verhandlungsposition sowohl im Donbass als auch in Syrien stärken.

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  • Bystro #9: Great Game um Syrien?

    Bystro #9: Great Game um Syrien?

    Anfang Oktober hat Donald Trump den Abzug aller US-Truppen aus Nordsyrien angeordnet. Während das Repräsentantenhaus die Entscheidung in einer Resolution verurteilt hat, ist die Türkei in Syrien eingedrungen und hat eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet.
    Vor dem Hintergrund massiver internationaler Kritik an dem Einsatz einigten sich die Türkei und die USA am 17. Oktober auf eine fünftägige Waffenruhe. Diese beinhaltet auch einen Abzug der bisherigen US-verbündeten Kurden.

    Wird Syrien nun zum Spielball der neuen Garantiemächte? Wie ändert sich dadurch die Machtverteilung in der sogenannten Astaninskaja Troika? Wo liegen die gemeinsamen Interessen der einzelnen Länder, wo die Konfliktpunkte? Ein Bystro von Felix Riefer in sieben Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. „Millions of lives will be saved!“, twitterte Donald Trump nach der Vereinbarung der Waffenruhe am 17. Oktober. Was bedeutet die Waffenruhe für die weitere Entwicklung in Nordsyrien?

      Wie der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach der Vereinbarung bekanntgab, werde die Offensive nicht gestoppt, sondern nur unterbrochen: Enden werde sie nur dann, wenn die Kurdenmiliz YPG innerhalb von 120 Stunden ihre Truppen abziehe und Stellungen in einer 20 Meilen Zone (etwa 30 Kilometer) ab der türkischen Grenze zerstöre.
      Die YPG soll bereits zähneknirschend mit dem Abzug angefangen haben: Denn mit der Vereinbarung haben die USA faktisch dem Wunsch des türkischen Präsidenten entsprochen, der eine 20 Meilen Pufferzone an der Grenze zur Türkei schaffen wollte. Wer die sogenannte Schutzzone kontrollieren wird ist noch unklar. Die YPG hat angekündigt, eine türkische Präsenz an der Grenze nicht dulden zu wollen. Damit ist diese Waffenruhe weiterhin fragil.
      Den Kurden bleibt nun im Grunde nichts anderes übrig, als sich mit der Assad-Regierung zu verbünden. Das Assad-Regime würde am liebsten die YPG in ihre Streitkräfte eingliedern und die Region unter seine Kontrolle bringen.

    2. 2. Welche Rolle haben die einzelnen Länder Russland, Iran und Türkei in dem Konflikt, zumal nachdem die USA sich nun zurückziehen?

      Auf den ersten Blick scheint der US-Abzug nicht besonders gravierend zu sein, schließlich handelt es sich bei den US-Truppen in Syrien lediglich um zuletzt rund 1150 Personen. Doch durch den Rückzug der USA als Gestaltungsmacht in der Region steigen Russland, Türkei und Iran (neben Israel und Saudi-Arabien und, abgeschwächt, die Kurden) tatsächlich zu sogenannten Garantiemächten im Nahen Osten auf.
      Während sich die USA als Ordnungsmacht zurückziehen und die EU noch nicht bereit ist, als solche aufzutreten, übernimmt Russland in der Troika eine Art Führungsrolle. Damit festigt der Kreml seine geopolitische Stellung im Nahen Osten. Insgesamt geht es Russland im Grunde weniger um die Machtsicherung Assads als darum, Moskau nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder als einen unumgänglichen Akteur auf der Weltbühne zu etablieren.
      Unter der Vermittlung der Vereinten Nationen einigten sich die Regierung in Damaskus und die syrische Opposition im September auf ein Verfassungskomitee. Wegen der Zusammensetzung dieses Formats kann Russland nun eine wesentliche Rolle bei der Erarbeitung der neuen Verfassung spielen und auch damit seine Position als Power Broker festigen.

    3. 3. Das ist also das Ziel Russlands. Aber wo treffen sich die Interessen aller drei Länder, und worin unterscheiden sie sich?

      Die Troika steht in Syrien in einem äußerst komplexen Spannungsfeld aus politischen, ethnischen und religiösen Konflikten. Der Rückzug der US-Amerikaner trifft ganz besonders die Kurden, die sowohl gegen den IS als auch gegen die Türkei kämpfen. Türkische Truppen haben inzwischen den von der Kurdenmiliz YPG kontrollierten Landstreifen entlang der Grenze zu Nord- und Ostsyrien angegriffen. Die Türkei selbst wurde lange Zeit beschuldigt, die Dschihadisten zu dulden, unterstützte aber auch einige syrische Rebellengruppen. Erst nach dem IS-Anschlag in der türkischen Stadt Suruç im Juli 2015 änderte die Türkei ihre Politik und griff direkt in den Syrienkrieg ein. Zuletzt eroberten türkische Truppen die Region Afrin.
      Insgesamt wirkt die Syrien-Strategie der Türkei eher inkonsistent, gegenwärtig geht es Erdoğan vor allem darum, einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zu verhindern und die kurdische YPG zu bekämpfen. Insofern ist die ausgehandelte Waffenruhe mit dem geplanten Rückzug der Kurden ganz in seinem Sinne. Ob und wie lange der Waffenstillstand hält, das ist zum gegebenen Zeitpunkt noch unklar.

    4. 4. Wie steht Russland zu den Kurden?

      Russland ist das Schicksal der Kurden in Nordsyrien nicht so wichtig. Zwar ist zu erwarten, dass der Propagandaapparat des Kreml das wiederholte Im-Stich-Lassen der Kurden von Washington auskosten wird, zentral ist für den Kreml jedoch vielmehr der Schulterschluss mit dem Regime von Baschar al-Assad ohne dabei die Türkei zu verstimmen.
      Russische Streitkräfte ermöglichten Assad bereits, strategisch wichtige Gebiete unter seine Kontrolle zu bringen. Hinweise, dass alleine im syrischen Militärgefängnis Saydnaya bis zu 13.000 Menschen grausam getötet wurden, tut das Außenministerium Russlands dabei als haltlos ab. Seinen Part bei der türkischen Offensive auf die Kurden in Nordsyrien sieht Moskau in der Vorbeugung von Zusammenstößen von Assad-Streitkräften und türkischem Militär. Schließlich unterstützt die syrische Armee die Kurden in Nordsyrien und möchte, dass die von den Kurden kontrollierten Gebiete wieder unter die Kontrolle der Zentralregierung in Damaskus kommen.
      Auch der Iran unterstützt das Assad-Regime. Dabei fordert Präsident Rohani von der Türkei, die besetzte Afrin-Region an Syrien zurückzugeben. Der Iran versteht sich als Regionalmacht und als schiitische Schutzmacht für den Alawiten Assad. Über die Schiiten in der Region möchte Teheran sich den Zugang zur Hisbollah im Libanon und letztlich zum Mittelmeer sichern. Dabei spielt Irans traditionelle Rivalität zu Saudi-Arabien und Israel eine zentrale Rolle. Nach dem türkischen Angriffskrieg auf Nordsyrien waren Aufrufe zur Mäßigung in Richtung Ankara sowohl aus Teheran wie aus Moskau zu vernehmen.

    5. 5. Ein weiterer Streitpunkt der Troika ist der Umgang mit der Region Idlib. Worin genau besteht der Konflikt?

      Das Gebiet um die Stadt Idlib ist die letzte Region in Syrien, die noch mehrheitlich von den Gegnern des Assad-Regimes kontrolliert wird. Etwa drei Millionen Menschen sind derzeit in Idlib, davon sind etwa die Hälfte Vertriebene. Allerdings sollen sich dort auch bis zu 70.000 Dschihadisten aufhalten. Ein Teil davon, die Nationale Befreiungsfront, wird von der Türkei unterstützt.
      Ende letzten Jahres einigte sich die Troika bereits darauf, dass entlang der Frontlinie eine demilitarisierte Pufferzone eingerichtet wird und das Gebiet weiterhin unter Rebellenkontrolle bleibt. Die Türkei wird voraussichtlich versuchen, diese Einigung in der einen oder anderen Form zu verteidigen, unter anderem deshalb, weil eine Offensive auf Idlib wahrscheinlich einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zufolge hätte.
      Der zweite Teil der Dschihadistenallianz, Hajat Tahrir al-Scham (HTS), wollte sich bereits kurz nach Verkündung des Deals nicht daran halten. Schließlich ist ihr Ziel weiterhin der Sturz von Assad. Inzwischen soll HTS, das zum Teil aus Al-Qaida-Terroristen besteht, die Region dominieren. Seit April führt das Assad-Regime mit Luftunterstützung durch Moskau eine Offensive auf Idlib. So kann Moskau auch gegen die in Idlib kämpfenden Dschihadisten aus dem Nordkaukasus vorgehen.

    6. 6. Kann dieser Interessenkonflikt Russland und die Türkei wieder entzweien, wie nach dem Flugzeugabschuss im November 2015?

      Die Türkei ist nur in einem sehr überschaubaren Bereich ein Partner Russlands. Dabei gibt es Kooperationen im Energiebereich und dem Tourismus. Durch den Kauf von russischen S-400 Raketen jüngst auch im Militärbereich. Damit will sich das NATO-Mitglied unabhängiger von seinen westlichen Verbündeten machen. Zwar ist die Türkei geschwächt durch die derzeitige Währungs- und Schuldenkrise, doch auch in Russland sowie im Iran gibt es derzeit ernste wirtschaftliche Probleme. Keines der Troika-Länder kann sich also das kostspielige „Great Game“ im Nahen Osten oder gar auf der Weltbühne dauerhaft leisten.

    7. 7. Militärexperten sind sich bei einer Frage nicht einig: Möchte Russland die Türkei aus der NATO lösen oder drin behalten, als Spaltpilz?

      Russland stufte in seinem Sicherheitspolitischen Konzept vom Dezember 2015 die USA und ihre Verbündeten als Bedrohung für seine Sicherheit ein. Da ist es plausibel anzunehmen, dass der Kreml das Maximalziel Zerfall des Bündnisses nur allzu gerne befeuern würde. Solange das nicht möglich ist, wird man sich mit abgestuften Szenarien wie der Rolle eines Spaltpilzes durchaus zufriedengeben. Doch wird die NATO die Türkei nicht zuletzt aufgrund ihrer geopolitischen Brückenkopffunktion nicht so schnell aufgegeben. Die Türkei selbst lässt sich natürlich auch nicht willkürlich von Moskau instrumentalisieren, handelt allerdings immer selbstbewusster und auch auf eigene Weise destruktiv. Die Türkei ist seit 1952 Nato-Mitglied. Allerdings hat das Land unter Erdoğan schrittweise eine autoritäre Wende vollzogen und sich dabei auch Russland angenähert. Ähnlich der Angst des Kreml vor sogenannten farbigen Revolutionen, sieht Erdoğan die Protestwelle im Jahr 2013 gegen seine autoritäre Herrschaft als vom Westen gesteuert an. Somit ist ein türkischer Austritt aus der Allianz nicht mehr undenkbar. Die schrittweise Entmachtung der Kemalisten und Atlantiker in Militär und Justiz sind weitere Indizien für diese Annahme.

       


    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

     

     

     

     

    Text: Felix Riefer
    Stand: 18.10.2019

     

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  • Debattenschau № 66: Militärschlag gegen Syrien

    Debattenschau № 66: Militärschlag gegen Syrien

    In der Nacht auf Samstag haben die USA, Großbritannien und Frankreich syrische Ziele angegriffen. Diese Vergeltungsmaßnahme der Verbündeten für den mutmaßlichen Giftgaseinsatz in Syrien sollte laut US-Angaben Assad klarmachen, dass er rote Linien überschritten habe. Der russische UN-Botschafter Nebensja kritisierte das „neokoloniale Auftreten“ der Verbündeten, die das Völkerrecht ignorieren würden.

    Noch im Vorfeld des Angriffs hatten russische Politiker damit gedroht, dass die Marschflugkörper der Verbündeten abgeschossen würden. Da es vereinzelt auch Stimmen gab, die den Gegenangriff auf US-amerikanische Raketenträger androhten, sprachen  einige Analysten schon von einer neuen Kuba-Krise. Doch schließlich reagierte Russland nicht mit militärischen Mitteln – vermutlich auch, weil die Angriffsziele offenbar mit der russischen Seite abgestimmt waren. Umso massiver fällt nun die offizielle russische Kritik aus: Der Giftgasangriff sei nicht bewiesen, der Westen habe gegen das Völkerrecht gehandelt. 

    Welche Folgen hat der Angriff für die internationale Diplomatie? Und wie geht es nun weiter mit Russland und dem Westen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.  

    Republic: Kuba-Krise gebannt, Russland geschwächt

    Im Vorfeld des Luftschlags sprachen Politiker und Militärexperten schon von einer zweiten Kuba-Krise. Diese Gefahr ist nun zwar vorerst gebannt, Russland geht aus der Krise aber geschwächt hervor, meint der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow auf Republic:

    [bilingbox]Russland hat in Syrien den Schlag gegen seinen Alliierten trotz militärischer Präsenz im Land weder verhindern noch abschwächen können – obwohl die lauten Statements die Planung der Operation für die USA etwas erschwert haben. 
    Doch für die anderen Staaten der Region wurde die Schwäche Russlands offensichtlich. Den Anspruch auf die Rolle einer Alternative zum Kraftzentrum der USA und auf die des Sicherheits-Providers im nahen Osten kann Russland nicht erheben.~~~В Сирии Россия не смогла предотвратить или ослабить удар по своему союзнику даже в условиях военного присутствия в стране, хотя громкие заявления несколько затруднили планирование операции для США. Но для других государств региона эта российская слабость стала очевидной. Претендовать на роль альтернативного США центра силы и провайдера безопасности на Ближнем Востоке Россия не может. [/bilingbox]

    erschienen am 16.04.2018

    Novaya Gazeta: Krise zwischen Ost und West bleibt

    „Aufatmen“ heißt es auch in der Novaya Gazeta – der Journalist und Militärexperte Pawel Felgengauer sieht die Eskalation aber noch nicht beendet:

    [bilingbox]Kurz, es ist noch mal gut gegangen: Die russischen Militärs in Syrien und die Kampfschiffe im Mittelmeer haben nicht einmal auf Raketen geschossen, geschweige denn auf westliche Flugzeuge und Schiffe. Es wird also wegen Duma weder einen regionalen (innereuropäischen) noch einen globalen Krieg geben. 

    Aber die Krise zwischen Ost und West bleibt. Gegenseitige Beschimpfungen und Konfrontationen, auch die in Syrien, gehen weiter und werden wahrscheinlich noch an Schärfe gewinnen. Auf syrischem Boden sind amerikanische, französische und britische Spezialeinheiten aufgeschlagen. Und natürlich wollen sowohl Damaskus als auch Moskau als auch Teheran diese Truppen aus Syrien verdrängen.~~~Короче, обошлось: российские военные в Сирии и боевые корабли в Средиземном море даже по ракетам не стреляли, не то что по западным самолетам и кораблям. Не будет из-за Думы ни региональной (общеевропейской), ни глобальной войны. 

    Но кризис между Востоком и Западом никуда не делся. Взаимная ругань и противостояние, в том числе в Сирии, продолжатся и будут, наверное, еще более ожесточенными. В Сирии развернуты «на земле» силы американского, французского и британского спецназа. И Дамаск, и Москва, и Тегеран, конечно, хотят вытеснить эти силы из Сирии.[/bilingbox]

    erschienen am 16.04.2018

    Vedomosti: Sieht Assad nun Russlands Schwäche?

    Die Vedomosti-Redaktion fragt nach möglichen Gründen für das vergleichsweise vorsichtige Vorgehen der westlichen Verbündeten und nach Russlands neuer Stellung in Syrien. Dabei zitiert sie den Außenpolitik-Experten Wladimir Frolow und den Nahost-Forscher Alexej Malaschenko:

    [bilingbox]Es ist möglich, dass  Moskaus Drohungen, Raketen abzuschießen und im Falle eines Schlags gegen russische Truppen deren Träger zu attackieren, zur Abmilderung des Szenarios beigetragen haben. Auch die harsche Rhetorik mag den Westen dazu gezwungen haben, vorsichtiger zu Handeln, so Frolow.

    Doch nun findet sich Russland in einer schwierigen Situation wieder: Die Erklärung, man sei bereit, auf Anschläge der Koalition nur im Falle einer direkten Bedrohung für russisches Militär und russische Einrichtungen zu reagieren, war unter anderem auch eine Demonstration gegenüber Assad, dass man nicht willens ist, für ihn das Leben der eigenen Staatsbürger einzusetzen. Dies könnte in Damaskus als Schwäche ausgelegt werden, führt Malaschenko an.~~~Возможно, на смягчение сценария сработали угрозы Москвы сбивать ракеты и атаковать их носители в случае, если под ударом окажутся российские военные, жесткая риторика вынудила Запад действовать осторожнее, отмечает Фролов.

    Но теперь и Россия оказалась в сложной ситуации: заявления о готовности отвечать на удары коалиции только в случае прямой угрозы российским военным и объектам были в том числе демонстрацией Асаду нежелания рисковать ради него жизнями своих граждан. Это может быть воспринято Дамаском как слабость, отмечает Малашенко.[/bilingbox]

    erschienen am 15.04.2018

    Kommersant: Völkerrechtswidriges Vorgehen

    Russland wird oft wegen Nichteinhaltung des Völkerrechts kritisiert. Das berühmteste Beispiel dieser Kritik war die Angliederung der Krim. Im Interview mit Kommersant dreht nun Sergej Rjabkow – einer von zehn stellvertretenden Außenministern Russlands – den Spieß um: 

    [bilingbox]Die USA und ihre Verbündeten entfernen sich nicht nur immer weiter vom Imperativ der Einhaltung des Völkerrechts, sondern sogar von ganz schlichten Standards der diplomatischen Kommunikation und der internationalen Praxis. Unserer Meinung nach schaden sie damit nicht nur dem gesamten System der internationalen Beziehungen, sondern auch sich selbst. […]
    Aber zusammenarbeiten muss man. Und eine der Hauptaufgaben am heutigen Tag ist es, der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zu ermöglichen, dass sie trotz allem ihre Arbeit tut und Experten nach Duma schickt, um Materialien und Fakten zu sammeln und entsprechende Gespräche zu führen.~~~Мы считаем, что США и их союзники, которые все дальше отдаляются не только от императива соблюдения норм международного права, но и просто даже от стандартных канонов дипломатического общения и международной практики, по большому счету наносят ущерб не только всей системе международных отношений, но и самим себе. […]

    Но сотрудничать нужно. И одна из главных задач сегодняшнего дня — это обеспечить для Организации по запрещению химического оружия (ОЗХО) возможность все-таки выполнить свою работу и направить специалистов в (сирийский город — “Ъ”) Думу, чтобы они собрали материалы и факты, провели соответствующие беседы.[/bilingbox]

    erschienen am 14.04.2018

    Zvezda: Feige Haltung wird Westen zum Verhängnis

    Der TV-Sender Zvezda steht dem Verteidigungsministerium nahe. Den Raketenangriff auf Syrien lässt er vom kremlnahen Politologen und Amerikanisten Rafael Orduchanjan kommentieren, der meint, man solle sich jetzt auf Terrorabwehr einstellen:

    [bilingbox]Wir sehen gerade eine absolut feige Haltung, die der Westen, vertreten durch Frankreich, England und die USA, vereint an den Tag legt. […] Neue Terroranschläge in Westeuropa stehen unmittelbar bevor – dies nicht genau zu analysieren und zu verstehen, ist schlichtweg ein Verbrechen. ~~~«Мы сейчас видим абсолютно трусливую позицию, которую демонстрирует объединенный Запад в лице Франции, Англии и Америки» […] «Мы стоим в преддверии новых террористических актов в Западной Европе, и не анализировать и не знать это – это просто преступно».[/bilingbox]

    erschienen am 15.04.2018

    Izvestia: Erfolgreiche Abwehr dank russischem Know-How

    Laut Pentagon ist die mission accomplished: Alle 105 Raketen hätten ihre Ziele – Kommandozentrale, Lager und Forschungseinrichtungen für Chemiewaffen – erreicht. Die staatsnahe Izvestia greift dabei eine Meldung des Assad-Regimes auf und behauptet, dass die meisten Raketen der Verbündeten abgeschossen wurden. Die entscheidende Rolle bei der Abwehr des Angriffs habe das russische Militär gespielt:

    [bilingbox]Informierte Quellen des Portals iz.ru berichten, dass bei der Abwehr des Angriffs moderne Flugabwehr-Anlagen aus russischer Produktion eine entscheidende Rolle gespielt haben, darunter auch Ausrüstung, die im Laufe der vergangenen Wochen nach Syrien geliefert worden war. In erster Linie geht es hier um die Flugabwehrraketen-Systeme Panzir und BUK. Ein Teil der Geschütze, einschließlich schon früher aus Russland gelieferter Flugabwehrraketen-Systeme der neuen Generation, wurden von syrischer Seite bedient. Jedoch spielten russische Militär-Experten eine entscheidende Rolle bei der Abwehr des Angriffs.~~~Информированные источники портала iz.ru сообщают, что основную роль в отражении удара сыграли современные средства ПВО российского производства, в том числе поставленные в Сирию в течение последних нескольких недель. В первую очередь речь идет о зенитных ракетно-пушечных комплексах «Панцирь» и зенитных ракетных комплексах «Бук». Часть комплексов, в том числе ранее поставленные из России системы нового поколения, управлялась сирийскими расчетами, однако существенную роль в отражении удара сыграли российские военные специалисты.[/bilingbox]

    erschienen am 16.04.2018

    Facebook/Adagamow: Verteidigungsministerium als Münchhausen

    Der bekannte russische Blogger Rustem Adagamow hat auf Facebook rund 180.000 Abonnenten. Die in den Staatsmedien gefeierten Erfolge der russisch-syrischen Koalition quittiert er mit einem Screenshot aus dem bekannten sowjetischen Film Genau jener Münchhausen. Dabei legt er dem Lügenbaron Münchhausen die Meldung des russischen Verteidigungsministeriums in den Mund: 

     

    „Die syrische Flugabwehr hat 71 von 103 Raketen erfolgreich abgefangen.“ Verteidigungsministerium der Russischen Föderation

    erschienen am 14.04.2018

    dekoder-Redaktion

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    Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

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    Löst Syrien die Ukraine-Krise?

  • Zitat #2: „Gewaltsame Deals“

    Zitat #2: „Gewaltsame Deals“

    Vorgestern hat Trump Russland gedroht, in Syrien „smarte“ Lenkwaffen einzusetzen. Nicht einmal eine Stunde später ruderte er zurück und sagte, dass es für die USA „easy“ wäre, Russlands darbender Wirtschaft zu helfen. Der Journalist und Militärexperte Pawel Felgengauer erklärt in der Novaya Gazeta, wie ein solcher Deal „Hilfe statt Raketen“ aussehen könnte:

    Mit „smarten Lenkwaffen“ drohte Trump Russland –  Pawel Felgengauer hält dies für einen „gewaltsamen Deal“ / Foto © Gage Skidmore/flickr.com
    Mit „smarten Lenkwaffen“ drohte Trump Russland – Pawel Felgengauer hält dies für einen „gewaltsamen Deal“ / Foto © Gage Skidmore/flickr.com

    [bilingbox]Die Sanktionen werden „easy“ aufgehoben. Russland bekommt Investitionen und Technologien, und die langjährige wirtschaftliche Stagnation wird dadurch beendet. Dafür muss man [Russland – dek] aber Assad aufgeben genauso wie die Donbass-Republiken. Und wir müssen die Minsker Vereinbarungen vollständig erfüllen. Erst dann werden alle zufrieden sein. Andernfalls werden Raketen abgeschossen. […]

    Ja, als man sich in Moskau im November 2016 über Trumps Wahlsieg gefreut hatte, hat man sich einen zukünftigen Pakt, der die Spannungen mit den USA löst, anders vorgestellt. Anscheinend sind gewaltsame Deals grundlegend für Trumps Geschäftserfahrungen, ähnlich wie in Russland. Wenn es um Immobilien geht, dann kann es sein, dass eine solche Art der Übereinkunft funktioniert, und wenn sie es nicht tut – dann schreibt man einfach die Verluste ab und fängt irgendwas Neues an. Im Fall zweier atomarer Supermächte können die Verluste allerdings tatsächlich massiv ausfallen. In den USA sind viele davon überzeugt, dass Trump völlig fehl am Platze ist. Wie gefährlich das [diese Fehlbesetzung – dek] ist, ist nun auch in Moskau angekommen, wo er versucht, Russland gewaltsam zum Frieden zu zwingen.~~~Санкции будут сняты «легко», Россия получит инвестиции и технологии, многолетняя экономическая стагнация закончится, но надо «сдать» Асада. Еще, очевидно, надо «сдать» донбасские республики — безусловно, выполнить Минские соглашения, и всем будет хорошо. В случае отказа — полетят ракеты. […]
    Да, не таким представлялся будущий пакт с Трампом по глобальному разрешению противоречий с США, когда в Москве радовались в ноябре 2016-го его победе. Но, похоже, в бизнес-опыте Трампа именно такой силовой способ заключения сделок, схожий с российским, — основной. Если дело касается недвижимости, такой способ договариваться может работать, а не выйдет, то потери можно списать и браться за что-то другое. В случае двух ядерных сверхдержав потери могут оказаться вправду капитальными. В США многие уверены, что Трамп попал совсем не на свое место. Теперь, когда он пытается силой принудить Россию к миру, и до Москвы дошло, насколько это опасно.[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Artikel am 13.04.2018 in der Novaya Gazeta unter dem Titel Tramp samedlennowo dejstwija (dt. „Trump mit Zeitzündung“). Das russische Original lesen Sie hier.

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    Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

  • Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

    Zitat #1: „Wir haben eine neue Kubakrise“

    Nach dem mutmaßlichen Giftgasangriff in Syrien drohte Trump mit einer „starken Reaktion“. Der russische UN-Botschafter Nebensja entgegnete, dass ein Angriff „schwerwiegende Folgen“ haben werde. In The New Times appelliert der russische Militärexperte Alexander Golz an die Vernunft der Verantwortlichen:

    Der russische UN-Botschafter Nebensja drohte mit „schwerwiegenden Folgen“ bei einem amerikanischen Raketenangriff in Syrien / Foto ©  Eskinder Debebe/UN Photo
    Der russische UN-Botschafter Nebensja drohte mit „schwerwiegenden Folgen“ bei einem amerikanischen Raketenangriff in Syrien / Foto © Eskinder Debebe/UN Photo

    [bilingbox]Eine direkte kriegerische Konfrontation, die sich die Militärs Russlands und der USA noch im Februar – nach der Zerschlagung von Söldnertruppen durch die Amerikaner – nicht einzustehen getrauten, ist mittlerweile höchstwahrscheinlich.
    Die Gefahr wächst um ein Vielfaches, falls nun aus Moskau der Befehl folgt, amerikanische Raketenträger anzugreifen. Es ist klar, dass die vielfache amerikanische Überlegenheit (gewährleistet durch die Flugzeugträgerkampfgruppen der 6. Flotte, die strategische Luftwaffe sowie Stützpunkte auf Kreta, Zypern und in Neapel) Moskau wenig Chancen lässt, einen konventionellen Krieg zu gewinnen. O weh, das bedeutet, dass sehr bald die Verlockung aufkommen wird, mit dem Einsatz von Kernwaffen zu drohen … Da ist sie also, die neue Kubakrise in Zeiten der Postmoderne. Das einzige, was ein winziges bisschen Optimismus einflößt, ist die Hoffnung auf die Vernunft der Militärs, denen sehr bewusst ist, was folgen wird, wenn die Befehle erst ergangen sind.~~~Прямое военное столкновение, признать которое военные России и США побоялись в феврале, после разгрома американцами колонны наемников, сейчас становится весьма вероятным.
    Опасность возрастает многократно, если из Москвы последует приказ атаковать «носители» американских крылатых ракет. Понятно, что при многократном американском превосходстве (его обеспечивают авианосные группировки 6-го флота, стратегическая авиация, базы на Крите, Кипре, в Неаполе) у Москвы мало шансов победить в обычной войне. Увы, это означает, что очень скоро возникнет соблазн угрожать применением ядерного оружия… Вот он, новый Карибский кризис, эпохи постмодерна. Единственное, что внушает толику (очень малую) оптимизма, так это надежда на разумность военных, которые прекрасно понимают, что последует после того, как приказы будут отданы.[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Artikel am 10.04.2018 in The New Times unter dem Titel Karibski Krisis 2.0 (dt.„Kuba-Krise 2.0“). Das russische Original lesen Sie hier.

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    Bei einem US-Luftangriff in Syrien Anfang Februar sollen russische Söldner der Einheit Wagner getötet worden sein. Mehrere Medien berichteten darüber. Doch der Kreml hüllte sich zunächst in Schweigen. Denn solche Privatarmeen sind illegal.

    Nach Darstellung der USA ereignete sich die Offensive regierungstreuer syrischer Truppen auf eine Raffinerie und ein Ölfeld, die unter Kontrolle der oppositionellen Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) in der Provinz Dair as-Saur waren. An der Seite der Assad-Truppen sollen auch Soldaten der Wagner-Einheit gekämpft haben – 200 russische Söldner kamen laut der Nachrichtenagentur Bloomberg bei dem US-Luftangriff ums Leben. Die USA sprachen von 100 russischen Toten und weiteren 100 Verletzten.

    Die Nachricht erregte große Aufmerksamkeit, aus mehreren Gründen: Das Portal Fontanka hatte im vergangenen Jahr einen Bericht veröffentlicht, wonach seit 2017 nicht das russische Verteidigungsministerium, sondern die syrische Regierung für Kosten und Ausstattung der Privatarmee aufkomme. Insofern heizt der Tod der russischen Söldner nun Gerüchte an, dass es Interessenskonflikte zwischen der russischen Armee und den privaten Milizen gebe.

    Zudem läuft schon seit längerem eine breite Debatte, solche Einheiten zu legalisieren. Allein schon, damit Hinterbliebene im Todesfall versorgt werden und angemessen trauern können. Die Wagner-Einheit soll auch in der Ukraine gekämpft haben.

    Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow sprach nach dem US-Bombardement von einem Skandal. „Doch die russische Regierung wird so tun, als sei nichts passiert”, sagte er. Erst nach mehreren Tagen äußerte sich die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa zu dem Vorfall, sprach von „fünf Toten, die vermutlich russische Staatsbürger sind“, aber nicht zur Armee gehörten.

    Das Portal Znak traf die Witwe und den Ataman eines Kosaken, der für Wagner in Syrien gekämpfte hatte – und beim US-Luftschlag ums Leben kam.

    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak
    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak

    Znak: Wie haben Sie vom Tod Ihres Mannes [Stanislaw Matwejew – dek] erfahren?

    Jelena Matwejewa: Unser Ataman aus der Stadt Asbest rief mich an. Als erstes fragte er, wann ich zum letzten Mal Kontakt zu Stas hatte. Ich sagte, dass ich ihn schon den dritten Tag nicht erreiche. Und dass die Mädels, deren Männer dort sind, auch von nichts und niemandem etwas wissen. Eine Minute später ruft mich der Ataman noch einmal an und sagt: „Stas und Igor sind nicht mehr unter uns.“ Ich war gerade einkaufen. Das Telefon fiel mir aus der Hand, da, das hat jetzt einen Sprung. Wie auf Autopilot ging ich nach Hause, fast wär ich überfahren worden.    

    Hat man Ihnen gesagt, unter welchen Umständen Ihr Mann umgekommen ist?

    Nein. Am Abend rief ich nochmal den Ataman an. Er bat mich, Ruhe zu bewahren, sagte, dass man bisher noch nichts Genaues weiß. Ich wollte erstmal wegen der Leichen Bescheid wissen. Bat darum, einen Priester anzufragen, der sie segnen würde, wie es sich gehört, wenn Sie gebracht werden. Der Ataman sagte dann, sie sollen gebracht werden, und es würde ein offizieller Anruf aus Rostow kommen. Ob das wirklich so ist, ich weiß es nicht. Die Kosaken bekommen alle Informationen aus dem Donbass (sie weint). Ich weiß nicht, wie bei denen alles zusammenhängt. Ich versuche bisher, das alles nicht zu glauben, bereite auch das Begräbnis noch nicht vor.  

    Haben Sie von der Wagner-Truppe gehört?

    Die Mädels haben davon erzählt. 

    Als Stas nach Syrien fuhr, wussten Sie davon?

    Er hatte mich vorgewarnt. Nach dem Donbass war er etwa ein Jahr zu Hause. Er war im Juli [2016] zurückgekommen. Ein Jahr später, am 27. September [2017], fuhr er wieder weg – im Zug saß er da schon mit den Jungs aus Kedrowoje. Aber jetzt setzt sich niemand so richtig mit uns in Verbindung, keiner sagt uns, ob es stimmt oder nicht. Zuerst so ein Schlag auf den Kopf – und dann halten sie die Klappe.

    Aus Kedrowoje, sagten Sie?

    Neun Mann aus Asbest, und etliche aus Kedrowoje. Mehr weiß ich nicht.

    Zu welchen Bedingungen ist Ihr Mann nach Syrien gefahren, wie viel Geld hat man ihm versprochen?

    Hat er mir nicht erzählt. Er hat so auf mich aufgepasst, dass er mich nie in solche Dinge eingeweiht hat. Seine Kumpels aus dem Donbass wurden begraben, und ich hab das immer als Letzte erfahren. 

    Mit wem hatte er Kontakt?

    Mit Igor Kossoturow, das ist Stas’ Kommandeur. Sie sind entfernte Verwandte. Stas hat eine Cousine, die früher mit Igor verheiratet war. Die hängen immer zusammen. Kosaken eben. 

    Konnte Ihnen Ihr Mann von dort Geld schicken?

    In eineinhalb Monaten 109.000 [1500 Euro]. Das war dafür, dass sie in Rostow waren. Von September bis Oktober, während der Ausbildung. Ich hab dieses Geld im Dezember bekommen.

    Wozu ist er überhaupt nach Syrien gefahren?

    Offenbar haben ihn diese ganzen Waffen und Militärtrainings fasziniert. Ein halbes Jahr nach dem Donbass fing er an, das alles zu vermissen – redete von seinem Gewehr, „wie geht es wohl meinem ‘Täubchen’”. Ich hab mit Engelszungen versucht, ihm das auszureden, wir standen kurz vor der Scheidung. Aber jetzt ist das ja alles sinnlos. 

    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien
    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien

    Hat Ihr Mann früher in der 12. Brigade des Militärgeheimdienstes GRU gedient, die hier in Asbest stationiert war?

    Nein. 

    Hat er Wehrdienst geleistet?

    Nein. Zumindest weiß ich nichts davon. Der Donbass war sein erster derartiger Einsatz. Wahrscheinlich gab es da irgendeine Armee. 

    Welchen militärischen Dienstgrad hatte er?

    Er war Stabsfeldwebel. Ich habe eine Kriegsauszeichnung von ihm, ein Georgskreuz aus dem Donbass

    Hat er dort diesen Rang erreicht?

    Sieht so aus, ja. Sagen Sie mir lieber, wer mich jetzt anrufen soll, wer wird mich informieren? Wenn dort alles, verdammt noch mal, in die Luft geflogen ist, wie erkennen sie ihn denn, tackern sie einfach die Fetzen zusammen und sagen dann, das ist mein Mann, oder wie?

    Jelena, Sie sagten, Ihr Mann hat im Donbass gekämpft, wann ist er da hingefahren?

    2016. 

    Was hat ihn dazu bewegt?

    Das haben die Männer alles unter sich entschieden. Er kam und sagte: „Du siehst ja, wie es im Donbass zugeht. Wir müssen den Leuten helfen.“ Er sagte, er fährt dahin und baut Häuser für Flüchtlinge. Er ist ja wirklich Bauarbeiter. 

    Und wie haben Sie erfahren, dass er dort nicht auf dem Bau arbeitet, sondern in der Volksmiliz kämpft?

    Das hat mir die Frau eines Kameraden gesagt. Er selbst hat es mir nicht mal erzählt.

    Wie haben Sie das aufgenommen?

    Ich war beunruhigt. Aber was soll ich machen?

    In welcher Brigade hat er gekämpft?

    Weiß ich nicht.

    War er lang dort?

    Etwa sieben Monate.

    Wie haben Sie ihn nach dem Donbass empfangen?

    Die Kinder haben vor Freude so gekreischt, dass seine Kameraden ganz entrüstet waren. Nach dem Motto: Uns begrüßt niemand so freudig. Er ist dann gleich zu seinen Eltern gefahren. Seine Mutter ist krank, sie hat Diabetes, und ich hab mich um sie gekümmert. Und dort tischten wir auf, klar, ordentlich Alkohol, das Übliche. 

    Was hätten Sie jetzt gern, welche Maßnahmen würden sie sich jetzt vom Staat wünschen?

    Ich würde mir wünschen, dass alle von meinem Mann erfahren. Und nicht nur von meinem Mann, von allen Jungs, die dort so sinnlos umgekommen sind. Arg ist das alles! Wohin wurden sie geschickt, warum? Es gab keinerlei Schutz. Wie Schweine wurden sie zur Schlachtbank geführt. Ich will, dass die Regierung sie rächt. Ich will, dass dieser Männer gedacht wird, dass die Frauen sich nicht schämen müssen für ihre Männer und die Kinder stolz sein können auf ihre Väter.


    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift "Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich"
    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift „Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich“

    Mit Ataman Oleg Surnin sprechen wir im Büro des örtlichen Verbands der Afghanistan-Veteranen, am anderen Ende von Asbest.

    Znak: Igor Kossoturow und Matwejew waren Kosaken?

    Oleg Surnin: Die waren von unserer Staniza. Wir haben sie im vorletzten Jahr zusammen aufgenommen, am Tag der Aufklärer [5. November – dek].

    Kannten Sie sie schon lange?

    Mit Igor Kossoturow hab‘ ich humanitäre Hilfe in die Ukraine gefahren, nach Luhansk. Dort ist er dann geblieben. Ich bin damals zurückgekommen, musste auf Arbeit.

    Welches Jahr war das?

    2015, glaub ich.

    Wie lang war Igor Kossoturow in der LNR [Volksrepublik Luhansk – dek]?

    Ein halbes Jahr ungefähr. Dann wurde er verwundet. Am Bein, ein Granatsplitter. Er kam hierher und wurde behandelt.

    Als was hat er da gekämpft?

    Als Aufklärer.

    Und was hat er nach der Verwundung gemacht?

    Ist nochmal für ein ein halbes Jahr hingefahren. Danach ist er nicht mehr in Luhansk gewesen.

    Warum nicht?

    Er hatte schon andere Pläne, wegen Syrien.

    Warum wollte er dann nach Syrien gehen?

    Ja, wie soll ich das sagen … Um zu helfen. Wieder aus Patriotismus! Viele seiner Regimentskameraden aus der Ukraine sind ja da hingegangen.

    Welchen Rang hatte Igor?

    In der Ukraine war er Hauptmann. Hier, in der Brigade, hatte er nicht mal einen Offiziersrang.

    Wie lief das, als sie nach Syrien zogen?

    Dort gibt es viele Russen. In Rostow gibt einen Ausbildungsstützpunkt. In solchen Stützpunkten werden sie trainiert. Folglich ist da auch die Gruppe Wagner dabei. Das erste Mal, als sie da hingingen, wurde ihnen vorgeschlagen, sich in zwei gleichgroße Gruppen aufzuteilen und in verschiedenen Flugzeugen nach Syrien zu fliegen. Die Jungs haben sich geweigert. Igor kam nach zwei Monaten aus Rostow hierher. Doch dann rief der Kommandeur an; sie sammelten sich alle und fuhren los.

    Es gab noch einen von meinen Kosaken dort, Nikolaj Chitjow.

    Hat er überlebt?

    Ja, wir haben schon miteinander gesprochen. Dann kam die Meldung aus dem Donbass, dass Kossoturow und Stas [Stanislaw Matwejew] umgekommen sind. Und jetzt erreiche ich keinen mehr per Telefon, der Mensch, der da die Leichen gesammelt hat, mit Codenamen „der Schwede“, der geht nicht mehr ran. Kolja Chitjow haben sie telefonisch erreicht, der hat auch erzählt, dass es drei Tote gibt: Igor, Stas und ein dritter, Codename „Kommunist“. Bei den beiden ist es sicher, die Informationen zum Dritten werden noch geprüft.

    Was geschieht jetzt mit den Leichen, werden die den Angehörigen übergeben?

    Gestern ging die Information ein, dass die Leichen schon nach Petersburg gebracht wurden. Das ist aber noch nicht bestätigt.

    Warum nach Petersburg und nicht nach Jekaterinburg?

    Das habe ich auch gefragt. Es wurden alle dorthin überführt.

    Sie sagen ständig „die Information ging ein“ – woher denn eigentlich?

    All diese Informationen kommen hauptsächlich über den Donbass, von Dienstkameraden.

    Sind Entschädigungszahlungen an die Angehörigen vorgesehen; die haben ja nunmal einen Ernährer verloren?

    Die müsste es geben. Es wird von drei Millionen Rubel geredet [ca. 42.850 Euro; pro Gefallenem – dek].

    Gibt es denn eine Garantie, dass gezahlt wird?

    Bis jetzt wurde noch niemand übers Ohr gehauen. Denjenigen, der mit der Überführung befasst war, können wir telefonisch nicht erreichen.

    Unterstützt der Staat diese Söldner denn irgendwie?

    Jetzt ist einer aus Syrien zurückgekommen, weil er krank ist. Der sollte am besten operiert werden, hat aber keinerlei Unterlagen, die das bestätigen. Wie auch, wenn er fünf Jahre Verschwiegenheit unterschrieben hat?!

    Gibt es bei den privaten Truppen wenigstens irgendeinen Vertrag mit den Leuten, Brief und Siegel?

    Natürlich, da werden Dokumente unterschrieben.

    Wird das alles denn auf irgendeine Art vom Verteidigungsministerium oder dem FSB kontrolliert?

    Was hat das Verteidigungsministerium damit zu tun?

    Wer übernimmt denn dann alle Kosten und die Entschädigungen?

    Weiß ich nicht.

    Wladimir Putin hat vor einiger Zeit öffentlich erklärt, dass alles geräumt ist, dass sich Syrien vollständig unter der Kontrolle der Regierungstruppen und Baschar al-Assads befindet…

    Ich schaue auch Fernsehen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was uns gesagt wird und was reale, lebende Menschen aus erster Hand erzählen. Ein Teil des Territoriums wird immer noch vom IS kontrolliert. Unsere Leute ziehen in die Kämpfe, von Raffinerie zu Raffinerie, befreien eine und bleiben zur Bewachung da. Dann wird eine neue Operation vorbereitet und es geht zur nächsten Raffinerie. Man hat unseren Leuten diesmal aufgelauert. Es gab ein Informationsleck, sie wurden eindeutig erwartet. Wenn das einfache Angehörige des IS mit Schusswaffen gewesen wären, wäre das alles anders gelaufen.

    Die eroberten Raffinerien werden von unseren Ölleuten kontrolliert. Es gab Informationen, dass Mitarbeiter von Rosneft da hingefahren sind…

    Nein, das waren Syrer.

    Nach dem, was passiert ist, sollte der Staat da nicht irgendwie reagieren?

    Nein. Es wissen doch sowieso alle, dass unsere Leute dort sind.

     

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  • Presseschau № 43: Russland und die USA

    Presseschau № 43: Russland und die USA

    Das Verhältnis zwischen Russland und westlichen Regierungen kühlt sich weiter sichtlich ab. Während sich Russland die an den Luftangriffen auf Aleppo geäußerte Kritik verbittet, erheben einzelne Politiker in Europa und Vertreter im UN-Sicherheitsrat schwere Vorwürfe und sprechen von „Kriegsverbrechen“. Scharfe Töne kommen zudem aus den USA, Deutschland und Frankreich.

    Kommende Woche wollte Präsident François Hollande bei einem (lange im Voraus) anberaumten Treffen in Paris die Gespräche mit dem Kremlchef nun auf die Lage in Syrien beschränken und anderen gemeinsam angedachten Terminen fernbleiben. Putin ließ den Staatsbesuch platzen.

    Nun soll es am Sonnabend neue Friedensverhandlungen für Syrien in der Schweiz geben. Unterdessen bestätigte Russland die Verlegung von atomwaffenfähigen Kurzstrecken-Raketen in die Exklave Kaliningrad, will zudem Militärstützpunkte in Syrien auf eine dauerhafte Nutzung ausrichten.

    Seit Beginn der massiven diplomatischen Verwerfungen vergangene Woche sind in der russischen Presse weitere Kommentare und Analysen erschienen. Immer wieder tritt dabei vor allem das konfrontative Verhältnis zu den USA in den Vordergrund: Gibt es einen neuen Kalten Krieg? Hat sich die Lage tatsächlich zugespitzt oder ist alles nur Getöse? Oder droht ein direkter Konflikt mit den USA? Unsere aktuelle Presseschau zeigt Ausschnitte mit verschiedenen Blickwinkeln.

    Spektr: Virtuelle Realität

    Der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin markiert Handeln und Rhetorik russischer Außenpolitik in einem Kommentar für das Online-Portal spektr als verlängerten Arm der Innenpolitik – als eine selbst geschaffene Realität, die lange schon auf Konfrontation mit dem Westen setze.

    [bilingbox]Das Kompositum „Kriegsverbrechen“ klingt mehr als ernst, und es handelt sich nicht um einen Krimi, in dem auf der vorletzten Seite der Name des Bösewichts genannt wird. Der Bösewicht ist längst bekannt – das sind wir. Man darf nur keine Angst haben, in den Spiegel zu sehen.

    Wäre es ein Film, käme darin ein durchgedrehter Diktator vor, der bereit ist, die ganze Welt im atomaren Bombenkrieg hochgehen zu lassen. Aber war der Zauberer der Smaragdenstadt ein durchgedrehter Diktator? Nein, er war ein fröhlicher Gauner, dessen ganze Größe darin bestand, den Menschen in der Stadt vorzuschreiben, sie müssten grüne Brillen tragen.

    Die Menschen, denen derzeit Russland gehört, sind nicht angetreten, um die Welt zu erobern – ihnen genügten schon immer die ungeteilte Macht und die damit verbundenen Reichtümer in ihrem eigenen Land. Und auch die Außenpolitik war für sie seit jeher nur die Fortsetzung der Innenpolitik – als Natoflugzeuge auf ihrem Weg nach und aus Afghanistan in Uljanowsk landeten, berichtete das Fernsehen davon, wie Russland sich der Allianz der NATO entgegenstemmt, und niemand sah darin einen Widerspruch.~~~Словосочетание «военные преступления» звучит более чем всерьез, и это не детектив, в котором имя злодея прозвучит на предпоследней странице. Злодей уже известен — это мы, надо только не побояться посмотреть в зеркало.

    Если бы это было кино, в нем показали бы обезумевшего диктатора, готового спалить весь мир в огне ядерной войны. Но был ли обезумевшим диктатором Волшебник Изумрудного города? Нет, это был веселый плут, величие которого основывалось на обязательных для ношения в городе зеленых очках. Люди, которым принадлежит сейчас Россия, пришли не завоевывать мир — им всегда хватало безраздельной власти и привязанных к ней богатств в своей стране. Да и внешняя политика всегда была для них только продолжением внутренней — когда в Ульяновске приземлялись натовские самолеты по дороге в Афганистан и из Афганистана, телевизор рассказывал о противостоянии России Североатлантическому альянсу, и никто не видел в этом противоречия.[/bilingbox]

     
    erschienen am 12.10.2016

    EJ: Vorbereitungen aufs Extreme

    Alexander Golz ist Militärexperte und schreibt scharfe Analysen für das oppositionelle Portal ej.ru, das wegen seiner Kritik an der Ukraine-Politik des Kreml seit Jahren im russischen Web gesperrt ist – als Kontrastfolie zu Putins Syrien-Politik und die außenpolitischen Schritte hebt Golz die innenpolitischen Töne und Maßnahmen in Russland hervor.

    [bilingbox]Vom Katastrophenschutzministerium wurden bislang nie dagewesene Übungen zur Zivilverteidigung abgehalten, an denen, so die offiziellen Zahlen, mehr als 40 Millionen Menschen beteiligt waren. Als Bilanz vermeldete der Vize-Chef des Moskauer Katastrophenschutzes Andrej Mischtschenko eine fabelhafte Nachricht für die Hauptstadtbewohner: Alle zwölf Millionen könnten im Notfall in wohnlich ausgestatteten Bunkern unterkommen.

    Doch vor feindlichen Bomben und Raketen Zuflucht zu suchen, reicht nicht aus. Man muss unter dem Schutzdach der Betondecke auch etwas essen. Und da folgt eine erfreuliche Nachricht aus Sankt Petersburg. Der dortige Gouverneur Poltawtschenko bestätigte die Versorgungsnormen der nördlichen Hauptstadt mit Brot. Er verpflichtete seine Untergebenen, so viel Roggen und Weizen einzulagern, dass jeder der fünf Millionen Petersburger über 20 Tage mit je 300 Gramm Brot versorgt werden kann.~~~Министерство по чрезвычайным ситуациям проводит невиданные доселе учения по гражданской обороне, которые, как утверждают, охватили свыше 40 миллионов человек. И по их результатам заместитель начальника столичного управления МЧС Андрей Мищенко сообщил москвичам замечательную новость: все 12 с лишним миллионов будут укрыты в случае необходимости в гостеприимных бомбоубежищах.

    Но мало укрыться от вражеских бомб и ракет. Под сенью бетонных потолков надо еще чего-то есть. И вот радостная весть из Санкт-Петербурга. Тамошний губернатор Полтавченко утвердил нормы снабжения хлебом жителей северной столицы. Он обязал своих подчиненных держать столько ржи и пшеницы, чтобы обеспечить каждого из пяти миллионов петербуржцев 300 граммами хлеба в течение двадцати дней.[/bilingbox]

     
    erschienen am 11.10.2016

    Izvestia: USA verweigern gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus

    Die USA, so der Politologe Andrej Manoilo in der regierungsnahen Tageszeitung Izvestia, hätten sich mit ihrer Politik im Nahen Osten selbst diskreditiert.

    [bilingbox]Die Politik des Weißen Hauses seit Beginn der 2000erJahre verwandelte die USA und das große amerikanische Volk von absoluten Gegnern des internationalen Terrorismus zu de facto Gehilfen. […]

    In den Beziehungen zwischen Russland und den USA befinden wir uns aktuell an einem Wendepunkt, von dem aus unsere Beziehungen jede Sekunde entweder in Richtung Frieden oder in Richtung Konflikt rutschen können. Wir und die Vereinigten Staaten befinden uns an einem Scheideweg: Es gibt einen Weg der Rettung, das ist der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus.

    Der jedoch wird von Washington aus irgendeinem Grund wütend abgelehnt. Unter solchen Bedingungen kann jede unbedachte Bewegung tödliche Folgen haben, nicht nur für zwei Weltmächte, sondern auch für den gesamten Rest der Welt.

    Ein Krieg bleibt nach wie vor nicht unausweichlich, doch aufgrund der Bedrohung seitens der USA steigt das Risiko unterdessen über alle Maßen.~~~политика, проводимая Белым домом с начала 2000-х годов, превратила США и великий американский народ из непримиримых противников международного терроризма в его фактических пособников. […]

    Нынешняя фаза развития отношений России и США является, по сути, поворотной точкой, из которой наши отношения в любую секунду могут скатиться как в сторону мира, так и в сторону конфликта. Мы с Соединенными Штатами — на распутье: спасительный путь есть, это путь совместной борьбы с терроризмом.

    Однако он почему-то яростно отвергается Вашингтоном. В этих условиях любое неосторожное движение может стать гибельным не только для двух мировых держав, но и для всего остального мира в целом.

    Война по-прежнему не является неизбежной, но ее риски сегодня благодаря угрозам со стороны США явно зашкаливают.[/bilingbox]

     
    erschienen am 11.10.2016

    Slon: Neu belebter Antiamerikanismus

    Der Politologe Wladimir Pastuchow spricht in seinem Kommentar für das liberale Webmagazin slon.ru von „hysterischem Antiamerikanismus“, der noch aus Sowjetzeiten bestehe und, wie sich in diesen Tagen zeige, leicht zu entfesseln sei.

    [bilingbox]Er ist noch nicht verschwunden, der gute alte Antiamerikanismus aus sowjetischen Tagen, der auch bis heute noch mehrere politisch aktive Generationen vereinnahmt hat. Er glomm tief im Unterbewussten und man brauchte nur ein Streichholz nehmen, um diesen Leitstern der sowjetischen Propaganda wieder zum Leuchten zu bringen. […]

    Millionen Menschen atmeten erleichtert auf, als sie für alles eine einfache und verständliche Erklärung fanden. Es irritiert sie nicht, dass es in ihren Ansichten unversöhnliche Widersprüche gibt: Amerika liegt im Sterben und unterjocht gleichzeitig die ganze Welt. Mal ist es die einzige Supermacht, mal ist es geopolitisch eine „lahme Ente“.

    Verschwörungstheorien sprießen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen: Es gibt kein Verbrechen in der Welt, keinen Konflikt, keine Dummheit und keine Gemeinheit, die nicht vorher von den Amerikanern geplant worden wäre. ~~~[…] не выветрился еще старый добрый советский антиамериканизм, который впитывали в себя несколько политически активных и по сей день поколений. Он тлел глубоко в подсознании, и достаточно было поднести спичку, чтобы эта путеводная звезда советской пропаганды снова загорелась. […]

    Миллионы людей вздохнули с облегчением, найдя всему простое и понятное объяснение. Их не смущает, что в их воззрениях есть непримиримое противоречие: Америка одновременно умирает и порабощает мир. Она то единственная сверхдержава, то геополитическая «хромая утка». Теории заговоров растут как грибы после дождя – нет такого преступления в мире, нет такого конфликта, такой глупости или подлости, которая не была бы заранее спланирована американцами.[/bilingbox]

     
    erschienen am 13.10.2016

    Snob: Kreml treibt künftige US-Regierung vor sich her

    Mit dem Aussetzen des Plutonium-Abkommens und anderen konfrontativen Akten versuche sich Russland kurz vor der US-Präsidentschaftswahl einen strategischen Vorteil zu erspielen, meint Alexander Baunow. Auf Snob schreibt der Chefanalyst des Moskauer Carnegie Zentrums, der Kreml habe diesen neuen Tiefpunkt bewusst gesetzt, um selbst die Initiative zu haben:

    [bilingbox]Durch die scharfen Worte und Handlungen Russlands soll der zukünftigen Administration der USA Raum für Initiativen genommen werden wenn es darum geht, die bilateralen Beziehungen herunterzufahren auf ein Niveau, das der unheilvollen Rolle entspricht, die man Russland im amerikanischen Wahlkampf zugeschrieben hat.

    Es ist ein Versuch, für den Moment der Machtübergabe im Weißen Haus eine Situation zu schaffen, in der die Initiative zur Verschlechterung der Beziehungen nicht von den USA ausgehen kann, weil es für eine solche Initiative schlicht keinen Raum mehr gibt.

    Der Wunsch, Russland zu bestrafen wird künftig dadurch erschwert, dass das zu einem äußerst gefährlichen Level in den Beziehungen führen würde. Und falls der russische Favorit die US-Wahlen gewinnen sollte, kann man die gegenwärtige Verschlechterung leicht zurückspielen, ohne seine Reputation groß zu schädigen. Denn das wäre dann nicht etwas Neues, Prorussisches, sondern einfach eine Rückkehr zur kürzlichen Normalität. […]

    Das ist eine effektive politische Entscheidung, die Putin außerdem großen Handlungsspielraum gibt bei konkreten Angelegenheiten wie Aleppo oder dem Donbass. Allerdings birgt sie eine offensichtliche Gefahr: Am äußersten Tiefpunkt angekommen, kann es sein, dass man feststellt: Es geht noch weiter nach unten.~~~Резкие слова и действия России – способ лишить будущую администрацию США инициативы в деле редукции двусторонних отношений к уровню, соответствующему зловещей роли, которую приписали России на американских выборах.

    Это попытка создать к моменту передачи Белого дома новому обитателю такую ситуацию, при которой инициатива ухудшения отношений не могла бы исходить от США просто потому, что пространства для такой инициативы уже просто не найдется. Желание наказать Россию будет затруднено тем, что оно уведет на запредельно опасный уровень отношений. Ну а в случае победы российского фаворита нынешнее одномоментное ухудшение можно будет легко отыграть назад без большого ущерба для его репутации, ведь это будет не что-то новое, пророссийское, а просто возвращение к недавней норме. […]

    Это эффектное политическое решение, которое к тому же дает большую свободу действий для Путина в частных вопросах вроде Алеппа и Донбасса, содержит в себе очевидную опасность: под найденным дном может оказаться другое, более глубокое.[/bilingbox]

     
    erschienen am 6.10.2016

    Gazeta.ru: Schlechte Zeiten haben Kontinuität

    Fjodor Ljukanow ist auf Fragen der russischen Außenpolitik spezialisiert. Für die Internetzeitung Gazeta.ru zieht der Chefredakteur des Magazins Russia in Global Affairs angesichts der aktuellen Spannungen historische Parallelen zur Jelzin-Ära und meint, es sei geradezu eine Gesetzmäßigkeit, dass sich das Verhältnis zwischen Russland und den USA – aufbauend auf einem Grundkonflikt – in Wahlkampfzeiten kontinuierlich verschlechtere.

    [bilingbox][Der Verlauf der russisch-amerikanischen Beziehungen – dek] ist den Wahlkampfzyklen unterworfen. In ihnen kann es Schwankungen in die eine oder andere Richtung geben, aber am Ende einer jeden Kadenz erfahren sie ganz sicher eine weitere Verschärfung.

    „Bill Clinton hat sich erlaubt, Druck auf Russland auszuüben. Er hat offensichtlich – für eine Sekunde, eine Minute, eine halbe Minute lang – vergessen, wer Russland ist. Dass Russland ein ganzes Arsenal an Atomwaffen besitzt. Clinton entschied sich für Muskelspiele.

    Ich will Clinton an dieser Stelle etwas sagen: Er möge nicht vergessen, in welcher Welt er lebt. Es war nie so und es wird nie so sein, dass er allein der Welt diktiert, wie sie zu leben hat. Eine multipolare Welt – das ist die Grundlage von allem. Es ist so, wie ich mich auch mit dem Staatsoberhaupt der Volksrepublik China, Jiang Zemin, verständigt habe: Wir werden der Welt Vorgaben machen, nicht er allein.“

    Jelzin sprach diese Worte bei seiner letzten Auslandsreise als Staatschef – in Peking im Dezember 1999. Bis zu seinem aufsehenerregenden Rücktritt blieben zu diesem Zeitpunkt noch etwas mehr als drei Wochen.

    Diese Aussagen waren im Wesentlichen ein Schlusspunkt unter den ereignisreichen Beziehungen der beiden Länder und zwischen beiden Präsidenten in den 1990er Jahren (die sich offiziell gegenseitig Freunde nannten). Jelzins scharfe Reaktion war eine Antwort auf die Bemerkung Clintons, dass Russland für sein Vorgehen in Tschetschenien „teuer bezahlen werde“ – der Westen bereitete damals gerade Sanktionen vor. […]

    Letztlich geht es im Grunde auch nicht danach, ob die Chemie zwischen den Präsidenten stimmt (zwischen Putin und Bush gab es sie ja), sondern genau darum, worüber Jelzin damals in Peking 1999 gesprochen hat. Russland war nie bereit, sich in eine von den Amerikanern geführte Weltordnung einzupassen, und hatte zugleich nicht die Kraft, diese ernsthaft herauszufordern. Auch den USA fehlte immer die Kraft, die Welt wirklich zu ordnen, aber sie sind zugleich nicht bereit, von dieser Idee abzulassen.~~~Она привязана к избирательным циклам, внутри которых могут быть колебания в ту и другую сторону, но к завершению очередной каденции обязательно случается обострение.

    «Билл Клинтон позволил себе надавить на Россию. Он, видимо, на секунду, на минуту, на полминуты забыл, что такое Россия, что Россия владеет полным арсеналом ядерного оружия. Клинтон решил поиграть мускулами. Хочу сказать через вас Клинтону: пусть он не забывает, в каком мире живет. Не было и не будет, чтобы он один диктовал всему миру, как жить. Многополюсный мир — вот основа всему. То есть так, как мы договорились с председателем КНР Цзян Цзэминем: мы будем диктовать миру, а не он один».

    Слова Бориса Ельцина прозвучали во время его последнего зарубежного визита в ранге главы государства — в Пекин в начале декабря 1999 года. До сенсационной отставки оставалось чуть больше трех недель, и это высказывание по существу подвело черту под насыщенными отношениями двух стран и двух президентов (которые официально именовали друг друга друзьями) в девяностые годы.

    Резкая реакция Ельцина последовала в ответ на замечание Клинтона, что Россия «дорого заплатит» за свои действия в Чечне, — Запад готовил санкции. […]

    Однако в основе, конечно, не наличие или отсутствие «химии» между лидерами (у Путина и Буша она как раз была), а то, о чем в декабре 1999 года говорил в Пекине Борис Ельцин. Структурно Россия никогда не была готова вписаться в мир, которым руководит Америка, но и не имела сил бросить серьезный вызов. А у Америки никогда не хватало сил этот мир по-настоящему выстроить, но она не готова и отказаться от этой идеи.[/bilingbox]

     
    erschienen am 7.10.2016

    dekoder-Redaktion

     

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  • Exportgut Angst

    Exportgut Angst

    Sergej Medwedew ist eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers in Russland, was Fragen der neuesten russischen Geschichte und der internationalen Politik angeht. Er ist Professor an der Moskauer Higher School of Economics und bringt sich regelmäßig in die öffentliche Debatte ein, schreibt für das unabhängige Wirtschaftsblatt Vedomosti, das russische Forbes und andere Portale.

    Hier setzt er sich mit dem Umgang Russlands im Fall MH17 und den Einsätzen in Syrien auseinander. Er sieht in Russland eine außenpolitische Strategie aus den Spättagen der Sowjetunion wiederauferstehen, in der sich für ihn auf spezifische Weise Schwäche und Drohgebärden mischen. Diese These macht er in einem engagierten Meinungsstück stark, das am Dienstag – unmittelbar nach der jüngsten diplomatischen Verwerfung zwischen der russischen Führung und den USA – auf slon.ru erschienen ist.
     

    Die vergangene Woche brachte in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen einen neuen Point of no Return, wie man so sagt. Zum einen wurde der Bericht der Untersuchungsgruppe zu MH17 veröffentlicht, der besagt, dass das Flugzeug von einer BUK-Rakete getroffen wurde, die aus Russland geliefert und vom Territorium der Separatisten aus abgefeuert wurde. Zum anderen haben die westlichen Staaten Russland und seine Verbündeten für den barbarischen Bombenangriff auf ein Krankenhaus im syrischen Aleppo in die Verantwortung genommen: Laut dem französischen Außenministerium kommen diese Angriffe einem Kriegsverbrechen gleich, die New York Times schreibt in einem ungewöhnlich scharfen Editorial, Putin verwandle Russland „in eine Outlaw Nation“, und die Kritiker des Regimes sprechen von neuem davon, ein Prozess in Den Haag sei unvermeidlich, und im Kreml herrsche bereits Panik.

    An dieser Stelle sollte man nun wohl darüber schreiben, dass dem Westen etwas klargeworden ist. Darüber, dass die Maschine der westlichen Rechtsprechung zwar langsam arbeitet, dafür aber zuverlässig. Man könnte das Flugzeugattentat der libyschen Geheimdienste über dem schottischen Lockerbie in Erinnerung rufen. Damals brauchte es elf Jahre, bis Gaddafi die Verdächtigen auslieferte, und 15, bis die Familien der Opfer Entschädigungszahlungen erhielten. Aber all das würde der Sache nicht gerecht: Die Analogie mit der Regionalmacht Libyen funktioniert nicht. Die derzeitigen Enthüllungen rufen das Gefühl eines Déjà-vu hervor: Ähnliche Points of no Return hat es in den vergangenen drei Jahren schon eine ganze Menge gegeben, und jedes Mal haben Russland und der Westen gleich darauf eine neue rote Linie überschritten und ihre Rutschpartie auf der nie endenwollenden schiefen Ebene fortgesetzt, sich gegenseitig beschuldigend und aufeinander einhackend, als wären sie mit einer unsichtbaren Kette aneinandergefesselt.

    Im 21. Jahrhundert ist die hauptsächliche Exportware Russlands nicht Öl oder Gas, sondern Angst

    Nein, es wird weder ein Nürnberger noch ein Den Haager Tribunal geben, noch irgendein anderes. Eher schon erwarten Russland vieljährige Untersuchungen, Schuldsprüche in Abwesenheit und Verpflichtungen zu Entschädigungen in Millionenhöhe, die Russland, versteht sich, nicht anerkennen wird. Das wird eine neue Runde von Sanktionen zur Folge haben, Blockaden russischer Auslandsvermögen mit den dazugehörigen Skandalen und Rechtsstreitigkeiten, die sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinziehen werden. Wozu also Parallelen ziehen zu Lockerbie. Sinnvoller ist es, sich an die Tragödie mit der koreanischen Boeing zu erinnern, die von einem sowjetischen Abfangjäger am 1. September 1983 über der Insel Sachalin abgeschossen wurde – bis heute gibt es keine endgültige Klarheit in diesem Fall, die Schuldigen sind nicht benannt, und das Land, das das Flugzeug vom Himmel geholt hat, gibt es nicht mehr.

    Mit anderen Worten: Katastrophale Konsequenzen werden Russland wohl nicht erwarten. Eher sogar im Gegenteil: Die jüngsten Beschuldigungen des Westens fügen sich in die langfristige Strategie des Kreml ein, das Bild eines unvorhersehbaren und gefährlichen Akteurs zu erwecken, der die globalen Regeln bricht und den alle zu fürchten haben. Offensichtlich waren weder der Abschuss der Malaysischen Boeing noch die Bombardierungen ziviler Objekte in Syrien bewusste Handlungen seitens Russland, doch entspringen sie jener Hochrisikosphäre, die Moskau auf postsowjetischem Gebiet und im Nahen Osten erschaffen hat, und sind zwangsläufige Folgeerscheinungen des seltsamen hybriden Krieges, den Russland in der ganzen Welt führt.

    Die gestrige Verfügung Putins ist die jüngste Handlung in diesem Krieg. In ihr wird angeordnet, die internationalen Vereinbarungen mit den USA über die Aufbereitung von Plutonium auszusetzen, zugleich wird eine Gesetzesvorlage in die Duma eingebracht mit ganz offensichtlich unerfüllbaren Forderungen an die USA: Das Magnitzki-Gesetz sei aufzuheben, ebenso alle Sanktionen gegen Russland. Für die durch die Sanktionen entstandenen Verluste müssten Kompensationen gezahlt werden, und in allen Ländern der NATO, die dem Bündnis nach 2000 beigetreten sind, sollten die USA ihre Streitkräfte und ihre militärische Infrastruktur reduzieren. Das Abkommen über die Plutonium-Aufbereitungen hatte der Sache nach sowieso nicht funktioniert, aber Russland erweckt den Anschein, dass es seinen Einsatz im geopolitischen Spiel erhöht. Es gibt zu verstehen, dass es bereit ist, den Westen atomar zu erpressen (siehe der „radioaktive Staub“ aus den Schauermärchen Dimitri Kisseljows) und die gesamte Struktur von Vereinbarungen über die atomare Abrüstung zu demontieren.

    Export von Angst

    Der hybride Krieg des Kreml – das ist eine Politik von Schwäche und Arglist des Informationszeitalters. Da Russland nicht die notwendigen militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Ressourcen besitzt, um in der Ukraine oder in Syrien zu gewinnen, führt es Einzeloperationen zur Destabilisierung der Lage in diesen beiden Ländern durch und provoziert eine Konfrontation mit dem Westen. Allerdings wendet es diese dann in letzter Minute ab und startet eine umfangreiche Desinformations- und Propagandakampagne mit dem Ziel, das Bild der Vorgänge zu verzerren und die Position des Westens zu verwischen, die bereits an sich nicht präzise definiert und unentschlossen ist. Das Ziel des hybriden Krieges ist es, Unvorhersehbarkeit, Chaos und Angst zu erzeugen, und dadurch eine instabile Umgebung zu schaffen. In der lässt es sich weitaus leichter bluffen, wenn man schlechte Karten auf der Hand hat.

    Russlands Angst-Vorräte liegen gespeichert in den Schichten der russischen Geschichte, in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, in den alltäglichen Beziehungen zwischen Bürger und Staat

    Im Grunde genommen ist im 21. Jahrhundert die hauptsächliche Exportware Russlands nicht Öl oder Gas, sondern Angst. Der Preis für die beiden ersten wird im Laufe der Zeit fallen, derjenige der zweiten hingegen steigen. In der Risikogesellschaft, von der die wichtigsten Philosophen und Soziologen unserer Zeit schreiben, von Ulrich Beck bis Anthony Giddens, gewinnen diejenigen, die es schaffen, Angst hervorzubringen und aus ihr Kapital zu schlagen, indem sie sie in eine politische und wirtschaftliche Ressource verwandeln. Auf diesem Feld ist Russland ein Big Player und ein wichtiger Rohstofflieferant: Seine Angst-Vorräte liegen gespeichert in den Schichten der russischen Geschichte, in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, in den alltäglichen Beziehungen zwischen Bürger und Staat.

    Das System der internationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts – das sich beginnend mit dem 11. September 2001 herausgebildet hat (in Russland sogar ein wenig eher, vom September 1999 an, den Bombenexplosionen in Wohnhäusern in Buinaksk, Moskau und Wolgodonsk und den „Sprengstoff-Übungen“ des FSB in Rjasan) – folgt den Szenarien von Thomas Hobbes, der eine Anarchie der zwischenstaatlichen Beziehungen und einen Krieg „aller gegen alle“ vorhergesagt hat, und nicht dem von Immanuel Kant, der für Europa auf der Suche war nach einem „ewigen Frieden“. Das Russland Putins ist ein Produzent und Nutznießer dieser Hobbesschen Welt, denn in ihr ist Russlands Hauptressource gefragt: die Angst, und Russlands wichtigste Dienstleistung: der Sicherheitsdienst. Das ist eine klassische Strategie der Schutzgeld-Erpressung: Es wird auf symbolische Art und Weise eine Bedrohung konstruiert, und dann eine Kryscha gegen sie angeboten, zu einem Preis, der schon nicht mehr symbolisch ist.

    Das Schlüsselwort hier lautet: Schwäche. Nachdem Russland erst den Kalten Krieg und dann den auf ihn folgenden Frieden verloren hat, den Megaprofit aus dem Ölverkauf wie die Reste seiner Reputation verspielend, ist es nicht dazu in der Lage, globale Probleme konstruktiv zu lösen. Es zieht stattdessen vor, sie zu verschlimmern. Russland nimmt keine Flüchtlinge aus der Dritten Welt bei sich auf, um sie zu integrieren, sondern es lenkt ihren Strom über die Grenzübergänge in Finnland und Norwegen nach Westeuropa, es nutzt sie als ein Instrument im hybriden Krieg, um so die Migrationskrise in Europa zu verschärfen und eine Negativstimmung Migranten gegenüber hervorzurufen. Es löst nicht die humanitären und politischen Probleme Syriens, sondern mischt sich in den bestehenden Konflikt mit egoistischen geopolitischen Zielen ein und bringt ihn so auf eine neue Ebene. Es steuert nichts zur internationalen Untersuchung der Katastrophe des Flugs MH17 bei, sondern bringt diese aus dem Tritt, indem es ständig neue, einander widersprechende Versionen präsentiert. Es arbeitet mit der WADA und den internationalen Sportverbänden nicht zusammen, um so der Doping-Epidemie im Sport Herr zu werden, sondern versucht die WADA zu diskreditieren und zu beseitigen, dadurch, dass immer neue Informationen ins Gespräch gebracht werden, und, wie vermutet wird, auch durch Hacker-Attacken.

    Das ist eine klassische Strategie der Schutzgeld-Erpressung: Es wird auf symbolische Art und Weise eine Bedrohung konstruiert, und dann eine Kryscha gegen sie angeboten

    Und dabei muss man sagen, dass diese Strategie Russlands bisher gar nicht schlecht funktioniert. Mit gemeinsamen Bemühungen haben das Verteidigungsministerium, das Außenministerium, Russia Today und verschiedene Strumtruppen der „Volksdiplomatie“ – von Fussballfans bis zu Motorrad-Trupps und Internet-Trollen, die das westliche Netz überschwemmen – den Export an Angst und Unvorhersagbarkeit maximal gefördert, bei minimalen Kosten.

    Der Westen bildet sich heute schon ein, an jeder Ecke eine russische Bedrohung zu sehen – in den Truppenbewegungen Assads und in den Provokationen von Donezker Separatisten, in jedweder Computerattacke (vom Einbruch in die Server der Demokratischen Partei der USA bis zur Attacke auf die Server von Yahoo, an der, wie die Internet-Firma selbst meint, russische Regierungsstellen beteiligt waren), in den unidentifizierbaren U-Booten in der Ostsee, in den turbulenten Vorfällen mit Migranten in europäischen Städten, in der Finanzierung von Donald Trump und Marine Le Pen. Es ist derzeit gar nicht wichtig, in welchem Maße Moskau mit jeder dieser Episoden etwas zu tun hat, ob es sich um geplante Aktionen handelte oder ob einzelne patriotisch gestimmte Bürger selbst aktiv geworden sind: Russland hat einen schillernden Raum der Unbestimmtheit geschaffen, in dem seine Rolle dämonisiert und, aller Wahrscheinlichkeit nach, überzeichnet wird – aber genau das ist es offenbar, worauf Putin es angelegt hat.

    Das globale Schreckgespenst

    Die Kosten dieser Produktion von Angst sind minimal: Die Ausgaben für die russischen Luftschläge in Syrien belaufen sich nach den Schätzungen von RBC auf weniger als eine Milliarde US-Dollar nach aktuellem Kurs – das ist Kleingeld für russische Verhältnisse, das ist die Hälfte des Stadions Zenith auf der Kreuzinsel [in St. Petersburg – dek] oder fünf Kilometer der [für den Auto- und Bahnverkehr bei den olympischen Winterspielen 2014 gebauten – dek] Trasse Sotschi-Krasnaja Poljana. Wie Präsident Putin es so vielsagend ausgedrückt hat: „Wir können da recht lange unsere Übungen durchführen, ohne unserem Haushalt einen wesentlichen Schaden beizufügen.“ Nehmen wir noch das Budget hinzu für die internationale Nachrichtenagentur Rossija sewodnja, die Arbeit mit der russischen Diaspora und mit Politikern wie Schröder oder Berlusconi sowie die Unterstützung rechtspopulistischer und separatistischer Parteien, die einen politischen Krim-Tourismus auf die Beine gestellt haben, so kommt immer noch eine vergleichsweise geringe Summe dabei heraus. Nichts im Vergleich mit den ruinösen Investitionen in die Infrastruktur der Angst während des Kalten Krieges.

    Auf der anderen Seite verfügt der Westen heute sehr viel weniger als vor 30 Jahren über den zum Widerstand notwendigen Willen und die Organisation dazu. Die lange Friedensperiode hat ihn geschwächt, die Epoche des Postmodernismus und des Postheroischen haben ihn demoralisiert. Der Westen ist passiv, uneins mit sich und aufs Wirtschaftliche fokussiert, und Russland nutzt erfolgreich diese Schwäche seines Opponenten. Mit minimalen Mitteln wurde der Archetyp der russischen Bedrohung wieder zum Leben erweckt. Er war im westlichen Unterbewusstsein seit den Zeiten Gorbatschows schon fast in Schlaf gefallen, aber jetzt erhebt er sich wieder zu voller Größe, wie ein ausgehungert herumirrender Bär im Frühjahr. Und es ist kein Zufall, dass die russischen Fussball-Fans, die Vorfront von Putins hybridem Krieg, riesige Transparente auf ihren Reisen mitschleppen mit einem zähnefletschenden Bär, und dass die Hacker-Truppe, die den WADA-Server geknackt hat, sich Fancy Bear nennt – ihr Logo zeigt einen Bären in der Maske von anonymous. Die Symbol-Ökonomie aus der Zeit des Kalten Krieges ist nach 30 Jahren in ihre Ausgangsposition zurückgekehrt: Für die Russen ist Obama an allem Schuld, die Amerikaner suchen nach der russischen Bedrohung noch unter ihrem Bett.

    Russland hat einen schillernden Raum der Unbestimmtheit geschaffen, in dem seine Rolle dämonisiert und, aller Wahrscheinlichkeit nach, überzeichnet wird

    Übrigens hat der Westen es nicht eilig damit, sich eine Lebensversicherung und Schutzleistungen beim „Sicherheitsdienst Russland“ zu besorgen. Damit die Strategie eines erpresserischen Banditen aufgeht, muss er es schaffen, dem Kaufmann seinen „Schutz“ aufzuzwingen. Der Westen aber drängt nicht allzu sehr auf Verhandlungen über eine „neue Sicherheitsstruktur“ und sieht in Putin keinen neuen Stalin nach dem Vorbild von 1945, mit dem man sich an den Kartentisch setzen muss, um die Welt in Einflusssphären aufzuteilen. Deshalb wäre es noch zutreffender, Russland nicht mit einem mafiösen Erpresser zu vergleichen, sondern mit einem Rüpel „aus dem Viertel“, einem Gopnik. Wie es ein Internet-Witz sagt: Russland hat sich von den Knien erhoben, um sich gleich darauf wieder auf die Fersen hinzuhocken [das ist der bei den Gopniki beliebte slavic squat dek].

    Ein solcher Gopnik hält ein ganzes Viertel in Schach, ohne reale Kraft zu besitzen, er manipuliert die gesetzestreue Bevölkerung mithilfe wohldosierter Drohungen. In seinem Arsenal hat er eine Reihe kleiner Rituale (einen Schwachen verprügeln, jemandem ein Mobiltelefon abpressen, die Polizei provozieren, das Messer zücken, das Hemd vor der Brust zerreißen), um seiner Umgebung zu demonstrieren, dass er dazu bereit ist, Gesetz und Konvention zu brechen. Doch vor äußeren Kräften und organisiertem Widerstand gibt der Gopnik sofort klein bei, wofür es allerdings nötig ist, dass solche zur Verfügung stehen. Im derzeitigen System der internationalen Beziehungen – Obama geht und Europa ist durch den Brexit geschwächt – gibt es solche Kräfte nicht.

    Russland hat sich in ein Schreckgespenst globalen Ausmasses verwandelt, und vergleichen sollte man es nicht mit Libyen oder Nordkorea, sondern mit der Sowjetunion der frühen 1980er Jahre

    Wie also weiter? Erst einmal hat es den Anschein, dass das Ziel der hybriden Kriege erreicht ist: Man hört Russland wieder zu, und man fürchtet es wieder. Aber diese Furcht gleicht der vor dem Iran oder vor Nordkorea, die schon einige Jahrzehnte lang die Rolle der globalen Bösewichte spielen.

    In den Klub der weltweit führenden Nationen, in dem es bis 2014 einen rechtmäßigen Platz hatte, ist Russland nicht eigentlich zurückgekehrt, eher hat es sich in ein Schreckgespenst globalen Ausmaßes verwandelt, und vergleichen sollte man es nicht mit Libyen oder Nordkorea, sondern mit der Sowjetunion der frühen 1980er Jahre. Ganz genauso hatte diese damals alle Ressourcen und allen Respekt verspielt und alle Verbündeten verloren. Ohne Kraft, globale Probleme zu lösen, betrieb sie eine desaströse Außenpolitik, vom Wettrüsten bis zum Afghanistan-Krieg. Ihre weltweiten Ansprüche und ihre Träume von verlorener Größe – äußerlich aufgedonnert, aber innen hohl – waren lachhaft, und so verwandelte sich die Sowjetunion in einen Gefechtskopf, vollgestopft mit Schutt, in ein Denkmal ihrer selbst. Man glaubte, es sei für immer und ewig standfest – bis es plötzlich, in einem einzigen Augenblick, zusammenstürzte. „Es war für ewig, bis es denn vorbei war“ – so heißt es in einem aktuellen Buch von Alexei Yurchak zum Zerfall der UdSSR. Das Ende derartiger Projekte kommt immer unerwartet, es hat immer etwas Läppisches, und aufhalten lässt es sich nie.

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