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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Donezker Volksrepublik

    Donezker Volksrepublik

    Die Donezker Volksrepublik (DNR, Donezkaja Narodnaja Respublika) ist eine der zwei separatistischen Regionen im Osten der Ukraine, die im Zuge des Machtwechsels in Kiew nach dem Euromaidan entstanden. Die DNR wurde am 7. April 2014 ausgerufen und umfasst einen großen Teil des Donezker Gebietes im Osten der Ukraine. Die Führung der selbsternannten Republik besteht auf ihren Anspruch auf Unabhängigkeit, der durch ein international nicht anerkanntes Referendum am 11. Mai 2014 nachträglich legitimiert werden sollte.1 Glaubt man den Umfragen, die in einer solchen Situation nur schwer methodisch sauber durchzuführen sind, wird dies von etwa 38 Prozent der Bevölkerung der Separatistengebiete unterstützt.2

    Die selbsternannte Regierung der DNR, die der Republik eine eigene Flagge und Hymne gegeben hat, erkennt den gewählten ukrainischen Präsidenten Poroschenko und die Regierung in Kiew nicht an. Am 02.11.2014 hat sich die Regierung der DNR mit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen um Legitimation bemüht. Die Wahlen wurden allerdings von der internationalen Gemeinschaft und ihren Institutionen wie der OSZE, der UNO oder der EU ebenso wenig anerkannt, wie die Souveränität der DNR. Diese wird selbst von Russland nicht anerkannt.

    Mit der Verkündung der Republik brach ein Krieg zwischen ukrainischen und separatistischen Truppen in der Ostukraine aus, der trotz zahlreicher Friedensbemühungen, wie den Minsker Gesprächen, andauert. Die Ukraine bezeichnet die DNR als eine terroristische Organisation, und die EU hat mehrere separatistische Anführer und Minister auf ihre Sanktionsliste gesetzt.

    Die DNR rechtfertigt ihre Unabhängigkeitserklärung und die darauffolgende militärische Auseinandersetzung damit, dass die lokale Bevölkerung sich von der neuen Regierung in Kiew bedroht fühlte. Laut dieser Begründung sind in Kiew Faschisten an die Macht gelangt, die die kulturellen und politischen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes einschränken wollen. Die ukrainische Seite hingegen bezichtigt wiederum Russland, die DNR unterstützt und gegründet zu haben. Diese Sicht wird teilweise dadurch bestätigt, dass erstens die DNR von vielen russischen Politikern als Teil der Russischen Welt (russki mir) gesehen wird, die Russland zu verteidigen habe und zweitens viele zentrale Akteure der DNR-Administration selbst aus Russland stammen. Igor Strelkow, der ehemalige Verteidigungsminister der Republik, sagte im Interview mit einer russischen Zeitschrift:

    „Den Krieg habe doch ich ausgelöst. Wenn unser Trupp nicht über die Grenze gegangen wäre, hätte das alles so geendet, wie in Odessa oder Charkiw. Es hätte ein paar Tote, Verbrannte, Verhaftete gegeben. Und das wäre es gewesen. Die jetzige Größenordnung hat der Krieg dank uns erreicht.“3

    Aufgrund der andauernden Kampfhandlungen verschieben sich die Frontlinien ständig, und es ist schwer, das Gebiet der DNR genau zu bestimmen. Schätzungen zufolge leben in der Republik etwa zwei Millionen Menschen, hunderttausende sind jedoch aus der Region geflohen. In einem Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte werden auf dem Gebiet der DNR grundlegende politische und soziale Rechte zum Teil drastisch eingeschränkt. Es gibt einige Berichte von Folter und Erschießungen von Gefangenen, die Gefängnisse können von Menschenrechtsschützern jedoch nicht eingesehen werden. Presse- und Versammlungsfreiheit sind erheblich eingeschränkt, politisch aktive Organisationen wurden ausgewiesen.4 Gleichzeitig ist die Versorgungslage der Menschen besser als zu Beginn des Konflikts: Die Ukraine zahlt Renten und Sozialleistungen aus, der Unternehmer Rinat Achmetow hat mit seiner Stiftung Wir helfen ein große humanitäre Hilfsaktion gestartet, und auch Russland liefert weiterhin Lebensmittel und Treibstoff in die Region.

    Im Mai 2014 unterzeichneten die Vertreter der Donezker und Luhansker Volksrepubliken ein Memorandum über die Vereinigung beider Republiken zu Neurussland (Noworossija).5 Das Projekt wurde jedoch nicht weitergeführt, und so erheben beide Regionen weiterhin jede für sich Anspruch auf Unabhängigkeit.

    Zu Beginn der Auseinandersetzungen vermuteten einige Experten, dass sich die Auseinandersetzung um die DNR zu einem Frozen Conflict, wie etwa in Abchasien, Südossetien oder Transnistrien entwickeln würde, falls der ukrainischen Regierung weder eine politische Lösung noch eine militärische Übernahme der Region gelingen sollte.6  In der Tat hat ein weitgehender Waffenstillstand die Lage seit dem 1. September 2015 beruhigt – wenngleich immer wieder Gefechte mit Todesopfern gemeldet werden. Der politische Prozess, den die Minsker Vereinbarungen anstoßen sollten, ist zudem bisher kaum vom Fleck gekommen. Die vorgesehenen Lokalwahlen sind bisher nicht durchgeführt worden – auch weil die Ukraine noch kein adäquates Wahlgesetz verabschiedet hat –, die Ukraine hat weiterhin keine Kontrolle über die Grenze zwischen DNR und Russland und es halten sich noch immer zahlreiche ausländische (sprich: russische) Kämpfer auf dem Gebiet der DNR auf. 

    Mitte Februar 2022 verabschiedete die Staatsduma eine Initiative der KPRF, die beiden abtrünnigen Regionen DNR sowie die LNR als unabhängig anzuerkennen. Die Entscheidung darüber liegt nun bei Präsident Wladimir Putin. Der ukrainische Außenminister Kuleba erklärte, dass Russland mit einer Anerkennung „de facto und de jure aus den Minsker Vereinbarungen mit allen Begleiterscheinungen“ austrete. Diese sehen eine Wiedereingliederung der Gebiete in die Ukraine mit weitgehenden Autonomierechten vor. Auch kremlnahe Experten wie Fjodor Lukjanow sehen keinen Vorteil für Russland, gegen die Minsker Vereinbarungen zu verstoßen. So wird der Vorstoß mitunter als Nebelkerze oder Druckmittel gegenüber der Ukraine und dem Westen interpretiert: „Ein Hinweis darauf, dass, wenn die Minsker Vereinbarungen nicht erfüllt werden und der ganze Prozess wieder ins Stocken gerät, es diese Option als letzten Ausweg gibt“, so Lukjanow im Gespräch mit Meduza


    1. Es sollen sich bei einer Wahlbeteiligung von 75 % nach Angaben der Separatisten 89 % für die Unabhängigkeit ausgesprochen haben. Siehe Pleines, Heiko (2014): Die Referenden in Donezk und Luhansk, in: Ukraine-Analysen Nr. 132, S. 23 ↩︎
    2. Basis ist eine Umfrage des Jaremenko-Instituts für Sozialforschung (UISR) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum Soziales Monitoring (SMC), durchgeführt vom 13. bis zum 20. März 2015, einzusehen in den Ukraine-Analysen Nr. 154, S. 12 ↩︎
    3. Das ganze Interview in russischer Sprache auf Zavtra: «Kto ty, «Strelok»?» ↩︎
    4. Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine 16 August to 15 November 2015 Die OSZE kommt in einer Analyse zu dem Schluss, dass parallele Justizstrukturen, die in der DNR aufgebaut wurden, oft nicht ausreichend ausgestattet sind, um geordnete Verfahren zu gewährlseisten. Oft funktioniert die Justiz überhaupt nicht. ↩︎
    5. Über den Begriff Neurussland und seine geschichtliche und heutige international-politische Bedeutung siehe: Laruelle, M. (2015): The three colours of Novorossiya, or the Russian nationalist mythmaking of the Ukrainian crisis, in: Post-Soviet Affairs 2015 (2), London ↩︎
    6. Mögliche Szenarien der weiteren Entwicklung des Ukraine-Konfliktes sind in dem Paper von Liik & Wilson für den European Council on Foreign Relations aus Dezember 2014 aufgelistet. ↩︎

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  • Ist eine russisch-ukrainische Versöhnung möglich?

    Ist eine russisch-ukrainische Versöhnung möglich?

    Russland und die Ukraine werden eines Tages wieder nachbarschaftlich miteinander umgehen, meint Oleg Kaschin. Auf dem Weg dahin seien große Gesten nicht wirklich hilfreich. Ein russischer Kniefall in Kiew nach Brandtschem Vorbild, wie von manchen Ukrainern erwartet, sei nicht nur unrealistisch: Es dürfe überhaupt nicht um Schuld und Reue gehen. Beide Länder müssten vielmehr bei sich selbst beginnen, sich mit ihrem jeweiligen Selbstbild kritisch auseinandersetzen und die Traumata des Weltkrieges und der Sowjetgeschichte neu bewerten. Nur so könne auf politischer Ebene eine Versöhnung gelingen.

    Unsere Fotostrecke für den Monat April zeigt, dass gute Nachbarschaft zwischen Russen und Ukrainern – und mehr als das – in unzähligen Familien alltäglich gelebt wird.

    Klar – Ozeanien war immer im Krieg mit Ostasien. Doch dass Russland und die Ukraine für immer durch eine Mauer aus Hass voneinander getrennt sein könnten, ist nicht einmal jetzt denkbar. Auch wenn in Russland die Ukrainerin Sawtschenko gerade zu 22 Jahren Strafkolonie verurteilt und in der Ukraine Grabowski, der Anwalt der Russen Alexandrow und Jerofejew, ermordet wurde. Der dritte Kriegsfrühling ist nicht der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken und davon zu reden, dennoch: Nachbarschaft, enge Beziehungen, gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Nähe – das sind die Sicherheitsreserven, die nach wie vor darauf hoffen lassen, dass das Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völkern in nicht allzu ferner Zeit, wenn schon nicht freundschaftlich wird, so doch zumindest gut. Im Lauf der Geschichte haben sich schon viele grimmige Feinde wieder versöhnt.

    Man wird ja wohl noch träumen dürfen?

    Nehmen wir unsere Geschichte: Die spätstalinistische UdSSR war mit Jugoslawien verfeindet, doch nach Stalins Tod wurde das Reich Josip Broz Titos praktisch sofort zum Bruderland. Gegen Ende des Jahrhunderts war Serbien dann fast das einzige Land der Welt, das man in Russland nicht nur aus diplomatischen Gründen als Bruderland bezeichnete.

    In den russisch-chinesischen Beziehungen ist vom bewaffneten Widerstand auf der Insel Zhenbao Dao vor weniger als einem halben Jahrhundert heute nichts mehr zu sehen, obwohl doch die Generation, die sich ernsthaft zu einem sowjetisch-chinesischen Krieg bereitgemacht hatte, noch lebt. Die Zeit, ja sogar eine ziemlich kurze Zeit, kann beliebige internationale Diskrepanzen fortwischen. Und was heute unlösbar scheint, wird morgen ganz normal. Noch ist es weit bis dahin, doch träumen wird man ja wohl noch dürfen, nicht wahr?  

    Für ukrainische Publizisten ist derzeit das eindringliche Bild des deutschen Kanzlers Willy Brandt sehr wichtig, wie er vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kniet. So sieht unsere zukünftige Versöhnung von der anderen Seite der russisch-ukrainischen Grenze gesehen aus: Der künftige Präsident Russlands fährt nach Kiew, unterzeichnet ein Dokument zur Übergabe der Halbinsel Krim, und dann kniet er nieder vor dem Denkmal der Himmlischen Hundertschaft oder der Helden der Antiterroroperation und bedauert, was Putins Russland der Ukraine angetan hat. Solche Bilder sind übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Freundschaft sogar jetzt stärker ist, als es scheinen mag.    

    Der universelle Kult um den Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern hat einen gemeinsamen sowjetischen Ursprung. Er ist unauslöschlich im Bewusstsein der Massen verankert und wird über die Maßen für Erklärung der aktuellen politischen Ereignisse strapaziert. Der Feind ist immer der Faschist, „wir“ sind immer das Opfer und gleichzeitig die Sieger über ihn. Das Bild Willy Brandts auf den Knien ist genau von dort, woher auch die Banderowzy in unseren Fernsehnachrichten kommen, und das Trauma, das diese Bilder zum Leben erweckt, ist bei Russen wie Ukrainern dasselbe.      

    Das sowjetische Russland war die arme Verwandte

    Die Russische Föderation ist ein riesiges, schwer zu regierendes Land mit schwachen, ineffektiven und korrupten staatlichen Strukturen, die man irgendwann nicht nur reformieren, sondern ganz von Neuem erschaffen muss. Das materielle und immaterielle Erbe, das Russland von der Sowjetunion blieb – das Eigentum der ehemaligen Union, einschließlich jenes im Ausland, ein Platz in der UNO, Atomwaffen –  das alles zwang die Russen, ihr Land ernsthaft als direkte Nachfolgerin der Sowjetunion wahrzunehmen. Doch in Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Die UdSSR war keine paritätische Allianz von 15 Republiken. Jede Republik (oder jede Gruppe von Republiken – die baltische, südkaukasische, zentralasiatische) hatte ihre exklusiven Merkmale. Die RSFSR war trotz ihrer enormen Größe immer die arme Verwandte der anderen – ohne eigene kommunistische Partei, eigene Akademie der Wissenschaften, ohne eigenen staatlichen Rundfunk, überhaupt ohne alles.

    Das sowjetische Russland hätte man auf den Karten der UdSSR ehrlicherweise als „den Rest“ bezeichnen sollen. Es bestand ja auch im administrativ-territorialen Sinn aus jenen Regionen, die man nicht den anderen Republiken zuordnen konnte.
    Der Putinsche Mythos von „Neurussland“ (sowie der damit verwandte, ältere Limonowsche Mythos von „Südsibirien“, also von Kasachstan, in das Limonow einst einen Einmarsch geplant haben soll, wofür er inhaftiert wurde) ist ja genau daraus entstanden: Die Regionen der Ostukraine, die sich weder in der Bevölkerungszusammensetzung noch in der wirtschaftlichen Struktur noch in ihrer Geschichte von den russischen Schwarzerdegebieten unterscheiden, wurden einst der innersowjetischen Grenzziehung Teil der Ukrainischen SSR (USSR) zugeteilt. Und ja, besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Krim, die der RSFSR lange nach der Grenzziehung weggenommen und deswegen als willkürlicher, einer Laune Chruschtschows zu verdankender Verlust wahrgenommen wurde.

    Zwei gegensätzliche Traumata

    Als 1991 diese Nichtganzrepublik zur „Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion“ erklärt wurde, war das eine ziemliche Katastrophe, allerdings keine geopolitische, sondern eher eine psychologische. Und die Bevölkerung dieses größten Bruchstücks der UdSSR und seine Führung begannen mit dem Gefühl zu leben, eben kein Bruchstück, sondern immer noch ein vollwertiges Imperium zu sein, das in gewisser Hinsicht auch zu einer historischen Revanche fähig ist.   

    Das Trauma der ehemaligen Ukrainischen SSR war ganz anderer Natur. Die größte aller „vollwertigen“ Sowjetrepubliken war genauso ein Flickenteppich wie die RSFSR. Zu ihr gehörten gleichzeitig zentralrussische Oblasts, kaukasische Republiken und derart exotische Gebiete wie Tuwa oder Kaliningrad; die Ukrainische SSR vereinte in ihren Grenzen althergebrachte russische Gouvernements ebenso wie ehemalige Gebiete Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Ungarns, die vor der Entstehung der Sowjetunion noch nie mit Kiew und Charkow demselben Staat angehört hatten.

    Allerdings hat sich schon seit der „Ukrainisierung“ in der Vorkriegszeit die Patchwork-Decke Ukrainische SSR nie erlaubt, die Rolle eines Vielvölkerstaats zu spielen (im Unterschied etwa zum sowjetischen Kasachstan, das sich niemals als Republik der Kasachen begriffen hatte) – es war immer dezidiert eine Republik der Ukrainer, die überhaupt keinen kulturellen oder menschlichen Unterschied zwischen Odessa und Lwiw, Donezk und Ternopil machte.

    Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die langjährigen sowjetischen Staatschefs Chruschtschow und Breshnew, die die Sowjetunion insgesamt 28 Jahre regierten, aus der Ukraine nach Moskau gekommen waren. So führte gegen Ende der Ära Breschnew der „Dnipropetrowsker Klan“ das ganze riesige Land, was nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der Ukrainischen SSR innerhalb der Union bleiben konnte.  

    Falsches Selbstbild

    Für den Kreml unter Chruschtschow und Breshnew war die Ukraine das Zentrum. Aber dieses Paradox wurde in keiner Weise bei der Erschaffung der postsowjetischen ukrainischen Nationalmythologie berücksichtigt – da bekam die ehemalige Ukrainische SSR eine Selbstwahrnehmung ähnlich wie Polen zugeschrieben: Ein Land, das ganz im Zentrum gesamteuropäischer Widersprüche steht, seit Jahrhunderten für einen eigenen Staat kämpft und mehrere Teilungen und einen Vernichtungskrieg überlebt hat.

    Wir sehen also, dass sich in dem Konflikt, der 2014 in eine aktive Phase getreten ist, die RSFSR mit dem Selbstbild des Russischen Reiches und die Ukrainische SSR mit dem Selbstbild Polens gegenüberstehen. Der beste Weg zur Versöhnung wäre die beiderseitige Verwerfung dieser Selbstbilder.

    Doch man muss realistischerweise davon ausgehen, dass die ukrainische Seite nach dem Maidan und dem Krieg noch stärker daran festhält, dass sie nicht das Land Chruschtschows und Breshnews ist. Sie versteht sich als Land der Opfer des Holodomor, der Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee und der Helden der Antiterroroperation, vor denen jeder Moskauer, so wie Willy Brandt vor den Warschauern, auf die Knie fallen muss (und dem sie auch, wenn er hinkniet, nicht verzeihen).

    Deswegen wird sich das Postputinsche Russland wohl herauswinden und in erster Linie für sich selbst etwas verstehen müssen, was es weder 1991, noch danach je verstanden hat.

    Russland braucht eine Entsowjetisierung

    Zunächst einmal hat das heutige Russland keinerlei Recht auf das moralische und historische Erbe der imperialen Vergangenheit. Die RSFSR, deren reale Nachfolgerin die RF ist, hatte niemals eine vollgültige Staatlichkeit und war für die Russen, die jenseits ihrer Grenzen, in anderen Republiken, lebten, nie die Heimat. Sie konnte ihrer Bevölkerung nie mehr bieten als die Überbleibsel, die dieser Republik vom Unionszentrum zugeteilt wurden, das ihre menschlichen und natürlichen Ressourcen ausbeutete und ihr (im Unterschied zu jeder anderen Sowjetrepublik) nicht einmal eine eigene nationale Intelligenzija zugestand.

    Wie ungewöhnlich das heute auch klingen mag, doch früher oder später muss Russland eine Entsowjetisierung durchlaufen und lernen, „wir“ zu sagen. Nicht über Spionageabwehrbedienstete und Begleitsoldaten der Gulags, sondern über jene, deren Knochen im Weißmeer-Ostsee-Kanal verwesen oder im Erdboden in Kolyma eingefroren sind. Nicht über metzelnde Marschälle, sondern über die unbestatteten Soldaten von Mjasnoi Bor oder Rshew.

    Die Identifikation, die Suche nach sich selbst im historischen und kulturellen Koordinatensystem – das ist es, was die Ukraine bereits durchlaufen hat, unser Land jedoch bisher nicht.   

    Anstatt sich mit dem Aufbau seiner eigenen Nation und Staatlichkeit zu befassen, bildete sich das postsowjetische Russland ein, dass in dieser Hinsicht bei ihm alles in Ordnung sei. Und hat nun nach 25 Jahren einen umfassenden moralischen Bankrott anzumelden, zu dessen anschaulichstem Symbol das mit Somalia vergleichbare Kriegschaos wurde, das die Streitkräfte der RF auf den Trümmern des Donbass verursacht haben.

    Für die Krim gelten eigene Regeln

    Das ist es, was man der Ukraine tatsächlich wird zurückgeben müssen, indem man ihr hilft, Staat und Infrastruktur auf den von der russischen Welt zerstörten Gebieten wiederaufzubauen und keinerlei Dankbarkeit dafür erwartet. Eine besondere Schuld, die jeder Regierung Russlands nach Putin bleiben wird, sind die Bewohner des Donbass, die bereit waren, loyale Russen zu werden und sich die Möglichkeit nahmen, zusammen mit den Territorien in die Ukraine zurückzukehren. Diese Menschen wird Russland bei sich aufnehmen und mit allem versorgen müssen: mit Arbeit, Bildung, Wohnung – mit allem, was sie dank des „neurussischen“ Abenteuers verloren haben.

    Wichtig ist, zu verstehen, dass für die Krim all das nicht gilt. Es ist klar, dass Unstimmigkeiten zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR auch in Zukunft auf der Krim ausgetragen werden. Die Machthaber im künftigen Russland werden für die Halbinsel auf jeden Fall eine neue Zukunft suchen müssen; anstelle der „Rückführung“ zu ukrainischen Bedingungen, die ein Phantasma und gegen die Krimbewohner selbst gerichtet ist. In diesem Sinn liegt Alexej Nawalny absolut richtig – die Krim ist kein Wurstbrot. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, sie zu halten, wird sehr bald feststellen, dass Russland diese Regierung gar nicht braucht.

    Die Frage der Reue, die berühmten Knie Willy Brandts – auch das darf in der russisch-ukrainischen Beziehung der Zukunft einfach kein Thema sein. Lokale Kriege zwischen Nachbarländern – derer gab es in der Geschichte der Menschheit mehr als globale Katastrophen im Ausmaß eines Zweiten Weltkrieges. Die heutigen Serben und Kroaten haben vielleicht kein brüderliches Verhältnis, doch schneiden sie einander die Kehlen nicht durch. Die Ukrainer und wir Russen sind ihnen ähnlicher als den Deutschen, Juden und Polen, und wir müssen uns genau so verhalten wie sie: Ohne unnötig Schuld auf uns zu nehmen, wieder lernen, Nachbarn zu sein, zu handeln, zu reisen und einander zu verstehen.

    Die staatliche und historische Weisheit, die eine künftige russische Regierung bei der Gestaltung der Beziehungen zur Ukraine braucht, wird darin bestehen, eine Alternative zum Modell „zahlen und bereuen“ zu finden.  Denn das, und auch dies gilt es bereits jetzt zu verstehen, bringt Russland nichts Gutes. Und nicht nur Russland. Das sollte auch den Ukrainern klar sein. Frieden und gute Nachbarschaft ist ihnen nur mit einem Russland möglich, das nicht nur von imperialen Ambitionen befreit ist, sondern auch von unverdienter imperialer Schuld.  

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  • April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Wo Ukrainer und Russen aufeinandertreffen, gibt es heute meist böses Blut. Der Konflikt zwischen den Staaten hat zahllose Freundschaften zerstört und ganze Familien auseinandergerissen. Doch nicht jeder lässt sich anstecken vom Geist der Feindschaft, wie die Fotografin Oksana Yushko zeigt: Sie hat Paare besucht, bei denen der eine Partner aus der Ukraine stammt, der andere aus Russland. Bis vor kurzem lag in solchen Liebesbeziehungen nichts Besonderes, plötzlich aber werden sie zu Laboratorien der Verständigung: In ihrem täglichen Leben schaffen diese Paare sich Welten, in denen das Menschliche zählt, nicht die Politik.

    Oksana Yushko kommt aus der Pressefotografie. Sie hat die Journalismusschule der Zeitung Iswestija besucht, für russische und internationale Medien wie Stern, Mare, Financial Times und Russki Reporter gearbeitet und zuletzt den Prix Bayeux Calvados 2014 gewonnen. Sie selbst ist Russin, stammt aus einer russisch-ukrainischen Familie und lebt mit ihrem ukrainischen Partner Artur Bondar, ebenfalls einem Fotografen, in Moskau (die beiden sind auf dem letzten Bild unserer Serie zu sehen). Über ihr Projekt schreibt sie: „Ich selbst habe es nie so empfunden, dass Russen und Ukrainer etwas trennt. Ich sehe überhaupt keinen Unterschied. Seit meiner Schulzeit weiß ich, dass wir alle zusammengehören – nicht nur Russen und Ukrainer. Beim Reisen, wenn ich Freunde in allen möglichen Ländern besuche, empfinde ich das gleiche. Ich wollte von Liebe und Freundschaft berichten und nicht über Krieg und Aggression.“

    Engelina Georgijewna und Viktor Kusmitsch leben in der Ukraine, in Charkiw. Hier habe ich mit dem Fotoprojekt begonnen: mit meiner russischen Mutter und meinem ukrainischen Vater. Sie haben sich im Studium kennengelernt an der Staatlichen Universität Charkiw und leben seit mehr als 50 Jahren zusammen.

    Dima ist in Moskau geboren, Wlada kommt aus Kiew. Kennengelernt haben sie sich in Georgien und ihre Beziehung lange Zeit über große Entfernung aufrechterhalten. Jetzt leben sie mit ihrem einjährigen Sohn Lew in New York.

    Alexej ist Ukrainer, geboren in Odessa. Olga ist Russin. Ihre Liebesgeschichte begann drei Jahre bevor dieses Foto entstand. Olga machte damals Urlaub in Odessa und suchte einen Fotografen, der Bewerbungsfotos von ihr machen könnte. Alexej war der passende Mann. Mittlerweile lebt das Paar zusammen mit Töchterchen Lisa in der Nähe von Moskau.

    Bogdan ist Ukrainer, geboren und aufgewachsen in Rawa-Ruska in der West-Ukraine. Irina ist Russin und hat, bis sie 17 war, in Norilsk gelebt. Sie haben sich an einer Straßenkreuzung kennengelernt. Bogdan hatte dort mit seinem Motorrad angehalten und Irina gesagt, sie würde eine bezaubernde Schwiegertochter für seinen Vater abgeben. Sie leben seit über 25 Jahren zusammen.

    Tatjana ist Ukrainerin, geboren in Tschernihiw. Sergej ist Russe aus dem Gebiet Amur. Sie haben sich während ihres Studiums in Kiew kennengelernt. Tatjana hatte seit ihrer Schulzeit vom Fernen Osten geträumt, und Sergej lud sie zu sich nach Hause ein. Ein Jahr später waren sie verheiratet und in die Stadt Seja im Gebiet Amur gezogen. Sie sind seit mehr als 30 Jahren zusammen.

    Alexander Fjodorowitsch ist Russe, geboren in Sibirien. Er kämpfte im Großen Vaterländischen Krieg als Kapitän auf der Krim-Partisan. Irina Grigorjewna ist Ukrainerin. Sie leben seit fast 30 Jahren zusammen. Vor drei Jahren wurde bei Alexander Fjodorowitsch Alzheimer diagnostiziert. Sie leben auf der Krim.

    Julia und Edik sind in Horliwka in der Ost-Ukraine geboren. Julias Familie kommt aus Orenburg in Russland und aus Tscherkassy in der Ukraine. Ediks Eltern kommen aus Lipezk in Russland und dem Gebiet Donezk in der Ost-Ukraine. Heute sind Julia und Edik Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine und leben mit ihrem vierjährigen Sohn Dima in Moskau.

    Alexander ist Ukrainer. Irina ist Russin. Am 7. August 2015 feierten sie ihr 33-jähriges Zusammensein. Ihre Liebesgeschichte begann beim Tanzen. Damals besuchte Alexander die Militärschule und Irina arbeitete als Krankenschwester. Sie reisen um die Welt und sammeln dabei Frösche als Glücksbringer.

    Dima kommt aus Russland, Sascha ist in der Ukraine geboren. Sascha ist Mitglied der internationalen Organisation FEMEN. Sie sind sich zum ersten Mal begegnet, als Dima als Fotograf eine Reportage über FEMEN in Kiew machen wollte. Damals begann ihre Beziehung. Jetzt leben Sascha und Dima in Paris.

    Irina ist Russin, Alexander ist aus der Ukraine. Seine Familie lebt in Tscherkassy in der Ukraine. Er hat Irina 2006 auf einer Geschäftsreise kennengelernt. Seither leben sie zusammen in Moskau. Im Jahr 2006 wurde ihr Sohn Nikita geboren.

    Waldis und Lejla haben letztes Jahr in Moskau geheiratet, aber die Hochzeitsnacht im Hotel Ukraina verbracht. Waldis ist aus Kiew, wo er gelebt hat, seit er zwei war, hierhergezogen, um mit Lejla zusammenzuleben. Sie sind sich am Ufer der Moskwa begegnet, es war Liebe auf den ersten Blick.

    Wladimir ist in Moskau geboren, Jewgenija ist aus Charkiw. Sie haben sich kennengelernt, als sie beide ihre Großmutter in einem Dorf im Gebiet Kursk besucht haben. Nach drei Jahren Fernbeziehung zog Jewgenija nach Moskau. Dort leben sie jetzt zusammen mit Töchterchen Arischa.

    Marina kommt aus Kiew, Jewgeni aus dem Gebiet Rostow in Russland. Sie leben mit ihren sechs Kindern in Moskau. Die Jüngste ist Xenija. Sie haben sich in einem Dorf in der Nähe von Moskau kennengelernt, in dem sie beide lebten. Jetzt wohnen sie in Pereslawl-Salesski, wo Jewgeni Priester ist.

    Waleri kommt aus der Ukraine, aus Odessa. Sweta lebt in Sankt-Petersburg, in Russland. Sie haben sich in Odessa kennengelernt, als Sweta dort zu Besuch war. Ein Jahr später haben Sweta und Waleri geheiratet. Sie mögen beide Yoga, andere Kulturen und exotische Dinge.

    Sergej kommt aus Donezk. Alla ist in Ufa, in Russland, geboren. Sie haben sich 2006 auf einem Forum der Orthodoxen Kirche in Kiew kennengelernt. Ein Jahr später zog Alla nach Kiew, wo das Paar seitdem lebt. Sie haben zwei Kinder, Dascha (7) und Ljoscha (3). Mindestens einmal im Jahr besuchen sie die Verwandten in Russland.

    Darija komm aus Sumi in der Ukraine, Maxim wurde in Karaganda geboren und zog später nach Woronesh in Russland. Seit einem halben Jahr leben sie in Moskau. Sie sind sich auf dem Weg von Kaluga nach Woronesh begegnet, wo sie durch eine Mitfahrgelegenheit zufällig im selben Auto saßen. Sie unterhielten sich die sechs Stunden auf dem Weg nach Woronesh ohne Pause, am nächsten Tag waren sie ein Paar.

    Igor ist im Gebiet Luhansk in der Ukraine geboren. Er ist Musiker. Olga ist aus Koroljow, aus dem Gebiet Moskau. Sie haben sich auf einem Konzert kennengelernt und sind seit mehr als 17 Jahren zusammen. Olga und Igor haben 2 Töchter, Jana und Veronika.

    Artur ist Ukrainer. Oksana ist Russin, aber sie ist in der Ukraine geboren. Ihre Mutter ist Russin, ihr Vater Ukrainer. Ihre Liebe begann vor drei Jahren. Mittlerweile arbeiten und reisen sie zusammen, besuchen Freunde und Familie in Russland, in der Ukraine und auf der ganzen Welt. Oksana ist die Fotografin dieser Serie.

    Fotos: Oksana Yushko
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Einführungstext: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 03.04.2016

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    November: Arnold Veber

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    Dezember: Norilsk

  • „Sie wird zweifellos schuldig gesprochen“

    „Sie wird zweifellos schuldig gesprochen“

    Nadija (russ. Nadeshda) Sawtschenko, Leutnant der ukrainischen Armee, wird in Russland der Prozess gemacht. Ihr wird vorgeworfen, für den Tod russischer Zivilisten auf ukrainischem Territorium  mitverantwortlich zu sein und danach illegal die Grenze nach Russland übertreten zu haben. Die Verteidigung erklärt hingegen, Sawtschenko sei bereits rund zwei Stunden vor dem Tod der Zivilisten gefangen genommen und nach Russland entführt worden. Am 21. und 22. März soll das Urteil verkündet werden. Ihr Schlusswort in dem Prozess hielt Sawtschenko bereits am Mittwoch vergangener Woche, dabei zeigte sie dem Gericht den Stinkefinger und sagte: „Russland wird mich so oder so an die Ukraine übergeben, ob tot oder lebendig.“

    Die Staatsanwaltschaft fordert für die Militärpilotin und Freiwillige des Bataillons Aidar sowie inzwischen auch Abgeordnete des ukrainischen Parlaments 23 Jahre Haft.

    Sawtschenko trat zwischenzeitlich in den Hungerstreik, teilweise nahm sie auch keine Flüssigkeit mehr zu sich. Viele Politiker aus dem Westen, darunter US-Außenminister John Kerry, aber auch Intellektuelle wie die belarussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy forderten die Freilassung der 34-Jährigen.

    Der hochpolitische Fall erregt sowohl in Russland als auch in der Ukraine die Gemüter: Die einen sehen in Sawtschenko eine Mörderin, die anderen eine Märtyrerin. In der Ukraine erfährt Sawtschenko breite Unterstützung von Seiten der Bevölkerung und der Politik, Präsident Petro Poroschenko erklärte sie gar zur „Heldin der Ukraine“. In Moskau und Petersburg wurden hingegen vereinzelte stille Aktionen, die Solidarität mit Sawtschenko zeigten, sofort aufgelöst und endeten teilweise sogar mit Festnahmen.

    Kurz vor der geplanten Urteilsverkündigung sprach Anton Krassowski von snob.ru mit Sawtschenkos Anwälten Mark Feigin und Nikolaj Polosow über den Fall.

     

    Wer ist Nadeshda Sawtschenko?

    Feigin: Sawtschenko ist Oberleutnant der Streitkräfte der Ukraine, die einzige Pilotin der ukrainischen Armee. Formell ist sie Waffensystemoffizier eines Kampfhubschraubers. Das ist das, was in ihren Militärunterlagen steht. Sie ist ein gradliniger, prinzipientreuer und unbequemer Mensch. In der normalen Gesellschaft wäre sie schwer zu ertragen. Damit meine ich, dass Menschen, die nicht ihrem Kreis angehören, sie seltsam finden, sich in ihrer Anwesenheit nicht wohlfühlen. In diesem Sinne haben wir es mit einer typischen Armeeangehörigen des frühen 21. Jahrhunderts in der Ukraine zu tun.

    Ist sie vielleicht durchgedreht? Wenn man sie sieht, wie sie im Gerichtskäfig auf den Stuhl springt, das Geschrei, die ausgestreckten Mittelfinger, fragt man sich: Verhält sie sich angemessen?

    Feigin: Angemessen in Anbetracht der Lage, in der sie sich befindet. Nein, sie ist nicht durchgedreht. Man sollte sie einfach so nehmen, wie sie ist. An sie werden Maßstäbe angelegt, die für die umgebende Gesellschaft ganz normal sind, während sie immer wieder in Extremsituationen war, sei es im Irak, auf dem Maidan oder im Donbass zu Beginn des Krieges.

    Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – da haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Im Irak?

    Feigin: Ja, ein halbes Jahr lang hat sie im Kontingent der Koalition im Irak gedient. Sie war einfache motorisierte Schützin. Für diese sechs Dienstmonate stand ihr eine Belohnung zu: die Aufnahme an der Charkiwer Universität für Luft- und Raumfahrt. Wir haben es also mit einer einzigartigen Persönlichkeit zu tun, hier greifen andere Kriterien. Wenn man alles addiert – also: Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – dann haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Ich vermute, in Russland gibt es Hunderte weiblicher Armeeangehörige, Leutnants. Es gibt sogar weibliche Generäle. Was ist daran besonders?

    Feigin: Pilotinnen gibt es beispielsweise nicht. In Russland ist man der Ansicht, dass eine Frau weder ein Kampfflugzeug noch einen Kampfhubschrauber steuern könnte. Auch in der Ukraine war man dieser Ansicht. Bis Sawtschenko kam. Sie hat mit diesem Stereotyp gebrochen.

    Wie geriet sie in russische Kriegsgefangenschaft?

    Polosow: Das passierte am 17. Juni 2014. In diesem Moment gab es bereits heftige Zusammenstöße, die ukrainische Armee rückte von Norden her in Richtung Lugansk vor, das unter der Kontrolle der Aufständischen war. Sawtschenko ist dann mit den anderen Kämpfern des Bataillons Aidar in die Offensive gegangen.

    Wie unterscheidet sich das Bataillon Aidar von den regulären Streitkräften der Ukraine?

    Polosow: Aidar ist ein Freiwilligenbataillon, das Teil der Streitkräfte der Ukraine wurde. Das sind keine Freischärler vom Schlage der Machnowzi.

    Grob gesagt, hat Sawtschenko nicht gegen den Fahneneid verstoßen, sondern einen Befehl nicht befolgt: Sie hat Urlaub genommen und ist aus dem heimischen Brody in der Oblast Lwiw, wo ihr Regiment stationiert war, in den Donbass aufgebrochen, um die unerfahrenen Rekruten auszubilden, da sie die nötige Erfahrung besaß. Und als am 17. Juni die Offensive begann, ging sie mit. Während eines Panzerdurchbruchs beim Anmarsch auf das Dorf Stukalowa Balka gerieten die Panzer und Schützenpanzer in einen Hinterhalt. Als sie den Gefechtslärm hörte, bewegte Sawtschenko sich darauf zu, traf auf verwundete Soldaten, die bereits getroffen waren; sie leistete Erste Hilfe und versuchte, da sie keine vernünftige Verbindung hatten, im Stab anzurufen, damit die Kämpfer abgeholt werden.

    Sie hat mit dem Mobiltelefon angerufen?

    Polosow: Ja. Dazu ging sie auf die Mitte der Straße. Sie geriet unter Beschuss, ihre Hand wurde durchschossen, ein glatter Durchschuss. Nach einiger Zeit kam dann einer der Freischärler auf sie zu, ein junger Kerl. Wie sie später erklärte, schoss sie nicht auf ihn, trotzdem sie bewaffnet war, weil sie keinen Ukrainer töten wollte. Direkt hinter diesem Jungen tauchte ein zweiter auf, ihr Sturmgewehr wurde ihr abgenommen und sie wurde mit ihrem eigenen Schulterriemen gefesselt und in die Wehrverwaltung von Lugansk gebracht, wo sich zu diesem Zeitpunkt der Stab des Bataillons Sarja befand. Geleitet wurde der Stab zu der Zeit von Igor Plotnizki, dem späteren Oberhaupt der LNR. Sie verbrachte dort eine Woche. Danach wurde sie durch irgendwelche Schächte auf russisches Gebiet gebracht und in ein Auto mit russischen Nummernschildern gesetzt.

    Waren ihre Augen verbunden?

    Feigin: Ihre Augen waren mit einem gelb-blauen Kopftuch mit der Aufschrift „Selbstverteidigung des Maidan“ verbunden.

    Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt.

    Wie hat sie dann die russischen Nummernschilder sehen können?

    Polosow: Sie sagte, dass sie zu diesem Auto durch einen Wald gelaufen seien, der von lauter Gräben durchzogen war. Sie stolperten die ganze Zeit und dieses Kopftuch verrutschte immer wieder, sodass sie zumindest sehen konnte, was sich direkt unter ihr, also unmittelbar vor ihren Füßen befand. Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt. Eine Zeitlang wurde sie mit diesem Auto transportiert. Schließlich wurde sie in ein drittes Fahrzeug gesetzt, einen Lada Samara. Im Zuge der Ermittlungen hat sich herausgestellt, dass das bereits in der Oblast Woronesh geschah. Das bedeutet, dass sie im Norden der Oblast Rostow über die Grenze und bis zur Oblast Woronesh gebracht wurde. Im Samara saßen zwei Personen in Zivil. Einer saß am Steuer. Sie wurde zu dem zweiten auf den Rücksitz gesetzt. Außerdem war sie gefesselt.

    An einer Kreuzung vor dem Dorf Kantemirowka in der Oblast Woronesh wurde das Fahrzeug von einer Streife der Verkehrspolizei angehalten. Die Verkehrspolizisten schauen ins Fahrzeug, fragen „Ist sie das?“ – „Das ist sie.“ Dann folgen Anrufe und nur wenige Minuten später kommt ein Minibus mit FSB-Mitarbeitern, von denen nur einer nicht maskiert gewesen ist. Sie setzen sie in den Minibus und bringen sie direkt nach Woronesh. Sie kommen an, bringen sie in der Nacht zur Ermittlungsbehörde, wo sie ein Ermittler in Empfang nimmt. Der hält Sawtschenkos Mobiltelefon in den Händen, das ihr in Gefangenschaft abgenommen worden war.

    Danach wurde sie aus dem Gebäude der Ermittlungsbehörde geführt und in den Minibus gesetzt. Sie sagt, man habe ihr Woronesh bei Nacht gezeigt, irgendein Schiff und irgendeine Kirche, dann wurde sie in einen nahegelegenen Vorort gebracht, in die Siedlung Nowaja Usman, wo sich das Hotel Jewro befindet, eine gewöhnliche Fernfahrer-Absteige: ein nicht sonderlich großes, zweigeschossiges Gebäude mit Imbiss im Hof. Dort bringt sie diese ganze Kawalkade bewaffneter Kämpfer auf die zweite Etage in ein Hotelzimmer, das aus zwei Räumen besteht. Sie wird allein in dem einem Zimmer untergebracht, die Bewacher bleiben in dem anderen. Dort verbringt sie eine weitere Woche. Genau zu dieser Zeit wird sie vom Ermittlungsbeamten aufgesucht. Dies ist Nadeshdas Version der Ereignisse.

    Man brauchte jemanden der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta.

    Warum wurde sie gefangen genommen, warum wurde sie hergebracht und warum wird ihr dieser Schauprozess gemacht?

    Fejgin: Man brauchte wenigstens jemanden von Bedeutung, jemanden, der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta, das sind sie, die freiwilligen Strafkommandos, wie dieses Aidar. Sie hat am besten gepasst, weil sie eine Frau ist. Die haben wohl damit gerechnet, dass sie leicht zu brechen sei, grob gesagt, um sie zu einem Geständnis zu zwingen unter Androhung einer langen Haftstrafe und so weiter.

    Woher stammt diese ganze Geschichte mit der Richtschützin, die für den Tod der russischen Journalisten Woloschin und Korneljuk verantwortlich sein soll? Konnte sie die Treffer beeinflussen?

    Polosow: Die Feuerleitung ist eine recht komplexe Sache. Wobei Pilot und Artillerist zwei unterschiedliche Dinge sind.

    Davon abgesehen wird sie beschuldigt, den Beschuss von einem Gebiet geleitet zu haben, das von Widerstandskämpfern kontrolliert wurde: Die Anklage behauptet, sie sei in das vom Bataillon Sarja kontrollierte Gebiet vorgedrungen, habe einen Mast bestiegen, die Zielkoordinaten angepasst, sei dann heruntergestiegen, habe die Positionen des Bataillons Sarja umlaufen und sei dabei in Gefangenschaft geraten.

    Was ist das für ein Mast? Konnte man von ihm aus erkennen, dass es sich um Journalisten handelte?

    Polosow: Nein. Die Journalisten konnte man als solche überhaupt nicht erkennen, sie trugen weder besondere Helme noch Flakwesten. Daher wurde dieser Anklagepunkt fallengelassen.

    Ein Gutachten hat festgestellt, dass dieser Mast der einzige Punkt ist, von dem aus man überhaupt hätte Menschen erkennen können. Deshalb wird sie nun des Mordes an Zivilisten aufgrund ihrer persönlichen Abneigung gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine beschuldigt.

    Nicht alle Opfer werden untersucht. Warum nicht? Weil der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Kam außer Woloschin und Korneljuk noch jemand bei diesem Beschuss ums Leben?

    Polosow: Es sind nur Freischärler des Bataillons Sarja getötet worden. Allerdings will die Anklage nicht alle Opfer untersuchen. Warum nicht? Weil anderenfalls der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Wie haben in diesem Fall die Ukrainer gezielt feuern können?

    Feigin: Der Beschuss war ja gar nicht gezielt. Die schossen, wohin sie konnten. Sie kennen die ungefähren Koordinaten, also wird nachjustiert und gefeuert. Möglicherweise gab noch ein Zivilist per Telefon ein Signal, so geht das üblicherweise vor sich.

    Im Prinzip kamen damals alle zufällig ums Leben, auch die Journalisten vom WGTRK.

    Das heißt also, als unsere Journalisten getötet wurden, kam ein Anruf aus Moskau und es wurde schlicht befohlen, den idealen Sündenbock  zu finden?

    Fejgin: Ganz genau.

    Wie erklären die Ermittler denn die Tatsache, dass eine Bürgerin der Ukraine auf russischem Gebiet vor Gericht steht wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen auf dem Staatsgebiet derselben Ukraine – an denen Russland angeblich nicht beteiligt ist?

    Feigin: Das ist eine Frage der sogenannten Rechtshoheit. Es gibt da den Artikel 12 des Strafgesetzbuchs, nach dem ein ausländischer Staatsangehöriger tatsächlich in Russland vor Gericht gestellt werden kann, wenn eine Straftat gegen einen russischen Bürger oder gegen die Interessen Russlands begangen wurde. Dann kann die betreffende Person strafrechtlich belangt werden. Das Problem ist ein anderes: Da sie der allgemein-strafrechtlichen Linie gefolgt sind, haben sie de facto die Kriegskomponente ausgeklammert, die in der Genfer Konvention geregelt ist. Warum? Weil es sich nicht um einen internationalen, bewaffneten Konflikt gehandelt hat. Warum er nicht international ist? Weil Russland seine Beteiligung daran leugnet.

    Polosow: Sie sprechen zudem nicht davon, dass sie entführt worden ist, sondern sie behaupten, sie sei selbst eingereist. Aus allgemein-humanitären Erwägungen heraus habe Plotnizki, so die Lesart der Anklage, zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, dass Sawtschenko einfach freigelassen werden müsse.

    Das heißt also, eine Woche lang saß sie in dieser Wehrverwaltung, und dann sagt er: 'Kommt, wir lassen sie frei’?

    Polosow: Ja, sie ist eine Frau und es gibt keine getrennten Toiletten und nur einen einzigen Raum, da können wir sie doch nicht gemeinsam mit männlichen Kriegsgefangenen festhalten, soll er gesagt haben, außerdem müsse sie auch verpflegt werden etc. Dann hat er sie angeblich an einen Mann mit dem Rufnamen „Cap Moisejew“ übergeben, der soll sie anschließend an den ungeregelten Grenzübergang Sewerny in der Nähe von Donezk gebracht und gesagt haben: Du bist frei, geh, wohin du willst. Und aus irgendeinem Grund geht sie nicht in Richtung Charkiw, sondern in Richtung Woronesh.

    Für die Erfüllung des Straftatbestands nach Artikel 322, Abschnitt 1, „Illegaler Grenzübertritt“, bedarf es des unmittelbaren Vorsatzes. Man braucht ein Motiv. Warum gehst du dorthin? Was ist dein Ziel? Sie ist in ihrem Leben noch nie in Russland gewesen. Warum sollte sie dorthin gehen?

    Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich.

    Lass uns über das Verfahren sprechen. Wie seid ihr zu Nadeshda Sawtschenkos Anwälten geworden?

    Feigin: Am 9. Juli 2014 wurde bekanntgegeben, dass sich eine gewisse Nadeshda Sawtschenko auf russischem Staatsgebiet befindet und sich strafrechtlich vor Gericht zu verantworten hat. Und am 10. Juli, also buchstäblich am darauffolgenden Tag, rief mich Ljudmila Koslowskaja an, die Leiterin der Stiftung Offener Dialog. Das ist eine polnisch-ukrainische Organisation mit Sitz in Warschau. Sie sagte: Also, folgende Geschichte: Sawtschenko wurde ein Verteidiger namens Schulshenko zugeteilt, im Augenblick werde im Außenministerium die Frage erörtert, wer sich des Falls annehmen solle, da es ein sehr schwerwiegender Fall sei.
    Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits die Aufnahmen von Sawtschenkos Befragung gesehen, wo sie Plotnizkis Fragen sehr frech beantwortet. Ich habe mir diese Aufnahmen noch einmal angesehen und nach nur zehn, fünfzehn Minuten gesagt: Gut, ich bin bereit. Der Chef des Konsularischen Dienstes beim Außenministerium der Ukraine rief mich an und sagte: Ich habe hier Vera Sawtschenko sitzen, Nadeshdas Schwester, könnten Sie ihr erklären, was jetzt zu tun ist? Darauf sagte ich: Es ist ganz offensichtlich, dass dieser Fall angesichts des Krieges kompliziert ist und ein politischer sein wird; alles, was ich momentan anbieten kann, ist, dass dieser Prozess sehr öffentlichkeitswirksam vonstatten gehen wird. Es wird nichts von dem geben, was, wie wir wissen, im Falle Senzows vorgefallen ist. Wir wussten bereits, dass Senzow gefoltert worden war. Am selben Tag bekam ich den von Vera Sawtschenko unterzeichneten Auftrag.

    Warum haben sie gerade Euch als Anwälte ausgewählt?

    Feigin: Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass sich jeder um diesen Fall gerissen hätte. Der Fall ist ja in der Tat toxisch. Kolja [Polosow] wird es bestätigen, er bekam einen Anruf: „Was treibst du da? Das ist dein Ende – sowohl beruflich als auch sonst." Darum ist es lachhaft zu behaupten, es hätte einen ernsthaften Wettbewerb gegeben. Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich. Daher gab es auch in der Anfangsetappe, als der Fall noch nicht das war, wozu er heute geworden ist, nicht wirklich sonderlich viele Interesse.

    Na schön. Doch warum habt ihr euch so auf diesen Fall gestürzt? Er ist politisch und eine Niederlage vorprogrammiert.

    Polosow: Auch wenn es in Russland für solche Fälle keine funktionierende Gerichtsbarkeit gibt, sind wir überzeugt, dass das System dennoch bezwungen werden kann. Wir haben schon Erfahrung: Dies ist nicht unser erster Fall mit großer öffentlicher Resonanz, über den man nicht nur in Russland spricht. Davor haben wir unsere Erfahrung mit Pussy Riot gemacht. Ob diese Erfahrung ein Erfolg oder ein Misserfolg war, ist eine andere Frage. Aus Fehlern lernt man, nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Und daher waren wir der Ansicht, dass wir diesen Fall der Nadeshda Sawtschenko schultern können.

    Wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Verstehe ich das richtig, dass die Tätigkeit eines politischen Anwalts nicht wirklich Anwaltstätigkeit ist, sondern vielmehr ein politisches Statement?

    Polosow: Die Tätigkeit des politischen Anwalts ist mehr als gewöhnliche Anwaltschaft. Es gibt die juristische Ebene, auf der Rechtsmittel eingelegt, bestimmte Prozessentscheidungen angefochten werden, nach Unschuldsbeweisen gesucht und Schuldbeweise angefochten werden. Damit befassen sich hundert Prozent aller Anwälte. Wir fügen dieser Ebene noch die öffentliche Kommunikation mit Politikern verschiedener Schichten hinzu, ob im Ausland oder hier, das spielt keine Rolle.
    Wir helfen dabei, bestimmte politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Da wird, wie zum Beispiel im Fall von Nadeshda Sawtschenko, eine Person in die Oberste Rada gewählt, wird Abgeordnete der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und erlangt damit Immunität (die sich Russland übrigens anzuerkennen weigert).
    Dazu kommt noch eine Medienkampagne, um den Kreis derer zu erweitern, die auf die eine oder andere Weise in diesen Prozess involviert sind.

    Verstehe ich richtig, dass in einer solchen Situation die Freilassung keine Priorität ist?

    Feigin: Nein, im Gegenteil. All das ist letztendlich auf die Freilassung ausgerichtet, denn nur das kann die Freilassung des Angeklagten bewirken. Andernfalls, wie im Fall Senzow, wo es keine politische Anwaltschaft gibt, kriegt er trotzdem 20 Jahre. Eins musst du verstehen: Wenn du öffentlich nicht davon sprichst, dass jemand unschuldig ist und du beweist das nicht mit Prozessmitteln, sondern mittels politischer Methoden, dann ist das allen scheißegal, es ist allen gleich. Denn wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Das ukrainische Justizministerium wird eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat.

    Was wird weiter mit Sawtschenko geschehen?

    Feigin: Sie wird zweifellos schuldig gesprochen und verurteilt werden.

    Zu 23 Jahren?

    Feigin: Ob nun zu 20 oder 15 Jahren, für die spielt das überhaupt keine Rolle. Die Urteilsverkündung ist für den 21. und am 22. März angesetzt. Nach zehn Werktagen – am 1. bzw. 2. April wird das Urteil dann rechtskräftig. Ab diesem Moment wird das ukrainische Justizministerium im Rahmen der Konvention über die Auslieferung von Verurteilten aus dem  Jahr 1983, an der auch die Ukraine und Russland beteiligt sind, eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat, in die Ukraine, damit sie ihre Strafe dort ableisten kann. Dies ist die wahrscheinlichste Variante.

    Das wäre dann gewissermaßen die Organisation eines Austauschs?

    Feigin: Ja, und die anderen schicken dafür Jerofejew oder Alexandrow nach Russland.

    Habt ihr nicht den Eindruck, dass die Ukrainer selbst gar nicht wirklich wollen, dass sie nach Hause zurückkehrt?

    Feigin: Nein. Denn wenn das der Fall wäre, wenn auch nur etwas davon nach außen dringen würde, dann wäre Poroschenko im A***.

    Warum?

    Fejgin: Das würde bedeuten, jemand spielt mit ihren Leiden ein politisches Spiel. Die ukrainische Gesellschaft, in der es ganz gewiss eine öffentliche Meinung gibt, würde das niemals verzeihen.

    Wird Senzow auch Teil dieses Deals sein?

    Feigin: Nein. Sawtschenko ist ein Sonderfall, das ist eine Kriegsgefangene, die sich im Ergebnis einer militärischen Operation auf dem Gebiet des – faktischen – Feindes wiederfand. Mir wurde gesagt, dass Putin ursprünglich gar nicht über Senzow sprechen wollte. Na schön, die Sawtschenko, das ist eure Gangsterbraut. Aber Senzow? Von dem will ich nicht ein Wort hören, er ist russischer Staatsbürger, wenn wir ihn an euch ausliefern, dann bedeutet das was, bitteschön? Die Krim gehört nicht uns? Doch das ist nur ein Gerücht, das haben mir in der Ukraine Leute erzählt, die mit den Gesprächen im Normandie-Format zu tun haben.
    Ob das so ist oder nicht, kann ich nicht sagen, doch das ist deren Logik: Voilà, die Krim ist unser, den Prozess machen wir, wem auch immer wir wollen.

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  • Gibt es Leben in Donezk?

    Gibt es Leben in Donezk?

    Über die vergangenen Monate ist es in den Medien stiller geworden um den Osten der Ukraine, auch, weil seit Oktober 2015 der russische Einsatz in Syrien ins Zentrum des internationalen Interesses getreten ist. Das russische Internetportal SLON veröffentlicht nun einen Text, der die derzeitigen Zustände in der selbstproklamierten Donezker Volksrepublik aus erster Hand schildert.

    Doch zuvor eine kurze Chronik der Ereignisse: Im November 2013 begannen die Proteste gegen die Regierung Janukowitsch in der Ukraine, im Februar 2014 zerfiel die alte politische Führung. Im März folgte die russische Annexion der Krim, im April besetzten prorussische Demonstranten Verwaltungsgebäude in mehreren Gebieten der Ostukraine und riefen die Volksrepublik von Donezk, später die von Lugansk aus. Mithilfe der Armee versuchte die ukrainische Führung die Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Während die militärischen Konflikte andauerten, wurden im September 2014 und im Februar 2015 die beiden Minsker Abkommen ausgehandelt, ab September 2015 auch der Waffenstillstand in groben Zügen umgesetzt, wenngleich weiterhin vereinzelte Kampfhandlungen stattfinden. Genauere Informationen und Hintergründe zu diesen Themen bieten unsere Texte zur Annexion der Krim, zum Krieg im Osten der Ukraine und zur selbstproklamierten Donezker Volksrepublik DNR.

    SLON leitet seinen aktuellen Beitrag folgendermaßen ein:

    „Der Autor dieses Texts, ein in Donezk lebender und arbeitender Journalist, bat uns darum, seinen Namen in der Veröffentlichung nicht zu nennen. Obwohl es in diesem Artikel so gut wie nicht um Politik geht, sondern lediglich um den Alltag in der durch Separatisten von der Ukraine abgetrennten Region, könnten beim sogenannten Ministerium für Staatssicherheit (MGB) der Donezker Volksrepublik (DNR) Fragen aufkommen. Zumal es in der DNR in jüngster Zeit vermehrt zu Festnahmen von Aktivisten und Ehrenamtlichen gekommen.

    ‚Donezk ist ein Keller, aber hier wird hin und wieder gefeiert, geheiratet, kommen Kinder zur Welt. Menschen sind seltsame Wesen, sie überleben immer‘, bemerkt der Autor. Was von außen betrachtet wie dunkelste Vorzeit wirkt, empfindet man unter kriegsähnlichen Bedingungen irgendwann als Normalität – sowieso ist der Begriff der Normalität im postsowjetischen Raum durch Revolutionen, Kriege, Totalitarismus und den Schock des Übergangs zur Marktwirtschaft ja stark ins Wanken gekommen. Nicht von ungefähr meinen die in diesem Artikel beschriebenen Pensionäre, sie wären ‚wieder in der UdSSR gelandet‘.“

    Die Frage: „Gibt es Leben in Donezk?“ ist merkwürdig und verrät einen sofort als Ortsfremden, einen, der nicht mit den hiesigen Realien vertraut ist. Leben gibt es immer, wo noch Menschen leben. Sogar in Stalingrad im Dezember 1942 oder in Berlin wie im April 1945. Warum dann nicht auch im jetzt verhältnismäßig friedlichen Donezk, in dem laut verschiedenen Schätzungen circa 600.000 Menschen leben, oder im gesamten von der DNR kontrollierten Gebiet, in dem 700.000 Menschen ihre Rente in Rubel erhalten und insgesamt fast zwei Millionen leben.

    Diese Menschen müssen Tag für Tag irgendwas essen, irgendwo arbeiten, zur Schule und zum Arzt gehen, heiraten, und manchmal sterben sie auch an ganz friedlichen Krankheiten. Und dann werden auch sie feierlich auf Friedhöfen in Särgen verschiedener Preis- und Qualitätsklassen beigesetzt und mit Trauerfeiern verabschiedet. Alles wie im 530 Kilometer entfernten Woronesch, bloß ein bisschen komplizierter.

    Zunächst einmal: Die Stadt ist tadellos sauber, die kommunalen Dienste arbeiten einwandfrei. Ebenso regelmäßig und ohne Störungen funktioniert der gesamte öffentliche Verkehr. Eine Fahrt mit dem Trolleybus oder der Tram kostet anderthalb Rubel (wobei der Preis für den Trolleybus allerdings gerade auf drei Rubel erhöht wurde), die Fahrscheine sind farbig bedruckt, das Design ändert sich praktisch jeden Monat. In den Bussen gibt es keine Fahrscheine, die Fahrt kostet drei Rubel.

    Der Krieg ist nicht mehr zu spüren. Besonders, wenn man ihn nicht spüren will. Bewaffnete Menschen sieht man seit den radikalen Säuberungsaktionen gegen die hiesigen Kosaken im April letzten Jahres so gut wie keine auf den Straßen, betrunkene Volksmilizen erst recht nicht. Schüsse sind zu hören, aber die hier lebenden Menschen unterscheiden zwischen Beschuss und Anflug. Jede Rentnerin im Trolleybus kann bei weit entfernten Schießgeräuschen großkalibriger Maschinengewehre sagen: das ist am Flughafen, oder: das sind Übungen auf dem Schießplatz in Durnaja Balka.

    Und dann ist da natürlich noch die Sperrzeit. Von 23:00 Uhr bis 5:00 Uhr früh. Sie wird streng eingehalten – nach 22:00 Uhr ist es schwer, ein Taxi zu bestellen, besonders in der Innenstadt. Die Taxifahrer sind auch nur Menschen, auch sie müssen rechtzeitig zu Hause sein, und die meisten Patrouillen sind im Zentrum unterwegs.

    Naja, und aus verständlichen Gründen gibt es weder einen Flughafen noch Eisenbahnverbindungen.

    Die Bevölkerung

    Wie viele Menschen leben in Donezk? Ein endloses Thema, heute genauso wie vor dem Krieg. Früher lag die Stadt knapp unterhalb der Millionengrenze. Eine zuverlässige aktuelle Statistik gibt es nicht. Der vom Oberhaupt der DNR Alexander Sachartschenko ernannte Bürgermeister Igor Martynow (ehemals Direktor eines Parks für Kultur und Erholung) behauptete eine Zeitlang, gemessen an der Menge des hergestellten Brotes würden in Donezk etwa 600.000 Menschen leben, und ließ, wie zuvor die gewählten Bürgermeister, wöchentliche Geburtsstatistiken drucken. Die Statistiken zeigten, dass die Geburtenrate um die Hälfte oder gar ein Drittel gesunken war.

    Laut einer ukrainischen Statistik haben 1,7 Millionen Menschen „einzelne Regionen“ der Gebiete Lugansk (Anfang 2014 bewohnt von 2,2 Millionen Menschen) und Donezk (Anfang 2014: 4,3 Millionen) verlassen und sich in anderen Gegenden der Ukraine angesiedelt. Fast 1 Million Menschen sind nach Russland ausgereist und etwa 400.000 nach Belarus. Besonders unter der Ausreise von Unternehmern, Professoren, Ärzten und Ingenieuren hat die Stadt zu leiden. Unter den Gebildeten und gut Situierten lag der Anteil der Ausgewanderten sicher bei über 50 Prozent. Nach fast zwei Jahren des Exils haben viele von ihnen in Lwiw, Kiew oder Dnipropetrowsk Fuß gefasst und nicht vor, in die geschundene Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren.

    In Donezk selbst jedoch sind Unterhaltungen darüber, wie sehr sich die Stadt zum Besseren gewandelt habe und wie viele Menschen zurückkehren würden, zum Volkssport und geworden und gelten als Zeichen, „dass es bald Frieden geben wird”. Beurteilt wird das zum Beispiel an der Menge von Autos auf den Straßen. Teure Autos gibt es im Vergleich zum Vorjahr wesentlich mehr. Manchmal bilden sich sogar Staus.

    Die Stadt

    Am meisten haben in Donezk die Außenbezirke gelitten, die an Kampfschauplätze grenzen – die Umgebung des Flughafens, die Vororte Peski, Marjinka. Man kann durchaus mal eben eine Spritztour in die halbverlassenen und beschädigten Viertel des Kiewski Rajon unterhalb der Putilowski-Brücke unternehmen und nach einer kurzen Exkursion in zehn Minuten wieder am Puschkin-Boulevard sein, dem Ballungszentrum der besten (regulär arbeitenden) Restaurants der Stadt. In den betroffenen Bezirken sind vor allem kaputte Fenster und ausgebrannte Buden und Verkaufspavillons zu sehen.

    Überall sind die Schulen und Kindergärten geöffnet. Schon im August und September des vergangenen Jahres waren mit zwei humanitären Konvois 1000 Tonnen neuer russischer Schulbücher gekommen. Ukrainische Geographie und Geschichte wurde verboten, jetzt ist das erste Thema nach der Heimaterdkunde die Waldtundra. Zu Beginn des Jahres wurde zusätzlich das Fach Staatsbürgerliche Erziehung zum Donbass-Bürger eingeführt. Für alle, von der ersten bis zur elften Klasse. Der Kurs ist in drei Abschnitte unterteilt: Donbass – mein Heimatland, Selbsterziehung zum Bürger der Donezker Volksrepublik, Donbass und Russki Mir. Um im Stundenplan Platz zu machen, hat man die Ukrainisch-Stunden reduziert und das Fach Ethik abgeschafft. Außerdem ist das Essen in den Kindergärten und Schulen seit dem 1. Januar kostenfrei. Eine extrem wichtige Erleichterung.

    Es gibt Kinderfeste, Pionierhäuser, Arbeitskreise und Tanzschulen. Adressen von zurückgekehrten Yogalehrern kursieren wie früher die Valuta. Schwimmbäder und Sportclubs sind wieder in Betrieb. Die Theater geöffnet. Alle sind bemüht, den Krieg nicht zu bemerken und alle möglichen „genauen Angaben“ über einen baldigen Frieden aufzuschnappen.

    Stromausfälle gibt es in Donezk und Makejewka so gut wie keine. Nur in der direkten Einschlagzone kommt es manchmal dazu, wenn eine Stromtrasse getroffen wird – in der sogenannten grauen Zone (ein neutraler Streifen zwischen den Kriegsparteien, der nach dem Abzug der Waffen von der Demarkationslinie entstanden ist, wie im Minsker Abkommen vereinbart).

    Bis zuletzt wurden sogar, anders als in der Ukraine, die Tarife für kommunale Dienstleistungen nicht erhöht. Wobei die Preise nach dem auf eins zu zwei festgesetzten Wechselkurs von Griwna zu Rubel berechnet und fixiert sind.

    Probleme gab es mit der Heizung und dem Benzin. Benzin wird aus Russland eingeführt, doch das Jahr 2015 stand ganz im Zeichen der Benzinkrisen. Mal gab es schlicht keinen, mal lag der Preis für einen Liter 95er bei 57 Rubel [0,70 Euro; zum Vergleich: in Moskau kostet der Liter circa 40 Rubel]. Benzin und Gas kamen über Briefkastenunternehmen des Oligarchen Sergej Kurtschenko in die DNR, der als Janukowitschs Brieftasche gilt. Die intransparenten Versorgungswege führten zu einer Reihe von Konflikten und organisierten Demonstrationen gegen ukrainische Oligarchen in Donezk, woraufhin in den Gasleitungen schlagartig der Druck abfiel. Heute ist die Wärmeversorgung stabil.

    Geld und Lebensmittel

    Die Gespräche der Menschen, die in der Stadt geblieben sind, drehen sich heute weniger um Politik als vielmehr ums Geld. Ärzte und Lehrer bekommen erst seit letztem Sommer regelmäßig Gehalt. Damals wurde der Wechselkurs von Rubel zu Griwna per Befehl auf zwei zu eins festgelegt (auf dem freien Markt liegt der Kurs bei drei zu eins). Die Gehälter rechnete man einfach um, indem man die ukrainischen mit zwei multiplizierte und in Rubel auszahlte. Lehrer und Ärzte hatten zuvor um die 4000 Griwna [im Juli 2015 etwa 170 Euro] verdient, jetzt bekommen sie im Monat also alle etwa 7000 bis 8000 Rubel [85 bis 100 Euro]. Dieses Gehalt gilt als gut. Etwa genauso viel verdienen zum Beispiel Mitarbeiter von lokalen Fernsehsendern. Für einen Job in einem Unternehmen mit einem Gehalt von 5000 Rubel [62 Euro] stehen die Leute Schlange. Aber es gibt auch nicht gerade viele funktionierende Unternehmen.

    Einige wenige Fabriken und Bergwerke sind in Betrieb, deren Prozessketten mit der Ukraine verbunden sind. Das sind Fabriken von Rinat Achmetow und Zechen, die Kohle an die Ukraine liefern. Ich hatte Gelegenheit, mit Mitarbeitern des Potschenkow-Bergwerks in Makejewka zu sprechen. Die dortigen Grubenarbeiter bekommen ihr Gehalt regelmäßig in Griwna auf ukrainische Konten gezahlt – im Durchschnitt etwa 10.000 [circa 340 Euro]. Nach hiesigem Maßstab sind sie reich. Ähnlich sieht es im Sassjadko-Bergwerk aus. Aber das sind einzelne Glückspilze.

    Ansonsten ist eine Deindustrialisierung im Gange. In Sneshnoje wurde eine bekannte Fabrik stillgelegt, die Schaufeln für Hubschrauberturbinen herstellte, in Donezk steht das Topas-Werk still, das früher das Funkmess-Überwachungssytem Koltschuga produzierte, in Makejewka ruht das Eisenhüttenwerk, stillgelegte Fördertürme werden zu Metallschrott verarbeitet.

    Die Preise für Lebensmittel sind in der DNR niedriger als auf der Krim, aber höher als im benachbarten ukrainischen Mariupol, an das die nicht anerkannte Republik unmittelbar grenzt. Urteilen Sie selbst: Schweinefleisch kostet 250 bis 320 Rubel [3 bis 4 Euro], fetter Speck 300 bis 320 Rubel [3,70 bis 4 Euro], tiefgefrorenes Hühnerfleisch 120 Rubel [1,50 Euro], Reis 60 Rubel [0,75 Euro] das Kilo. Das sind Lebensmittel, die nicht für jeden zugänglich sind. Wozu jeder Zugang hat, sind die humanitären Hilfspakete. Das Vorhandensein eines Autos oder eines Mannes, der von Montag bis Freitag zum Beispiel im besagten Mariupol Arbeit gefunden hat, ist ein bedeutender Vorteil. Viele Familien leben ausschließlich von ukrainischen Lebensmitteln, und von Sonntag auf Montag sowie freitags sind die Schlangen entlang der Blockposten für Ausreise aus oder Einreise nach Donezk besonders lang. Benzinkosten werden mithilfe des Internets gespart. Sehr beliebt ist die Seite BlaBlaCar, Mitfahrer bezahlen 150 bis 200 Griwna [5 bis 7 Euro] pro Kopf.

    In den letzten Monaten wurde es sehr beliebt, die Rolle Russlands bei der Sicherstellung des Lebens der Republik hervorzukehren. Früher sprach man in Donezk nur ungern über die „Kuratoren aus dem Kreml“ und darüber, woher die Rubel in der DNR kommen. Doch als im Herbst vorübergehend der Minsker Friedensprozess in Gang kam, als mit harten Maßnahmen ein zweimonatiger beidseitiger Waffenstillstand durchgesetzt wurde, machte sich gewisse Ratlosigkeit breit: „Lassen die uns etwa im Stich?!“ Wenn jetzt weiter über „russische Experten“, russische Armeeangehörige oder russisches Geld geredet wird, dann ist das daher auch ein Anzeichen dafür, dass Russland nicht vor hat, die Republiken aufzugeben.

    Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, welcher Anteil des hiesigen Haushalts durch eingeführte Rubel abgedeckt wird. Laut Nachforschungen deutscher Journalisten handelt es sich um circa 80 Millionen Euro pro Monat, die Russland als Hilfe bereitstelle. Das ergibt knapp eine Milliarde Euro im Jahr.

    Humanitäre Hilfe

    Noch ein Vorteil im Rennen ums Überleben ist die Möglichkeit, humanitäre Hilfspakete zu erhalten. Am weitesten verbreitet und am magersten sind die aus dem Fonds Wir helfen, der dem ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow gehört. Sein Fonds ist der größte Abnehmer von Nahrungsmitteln aus der Ukraine. Pro Monat werden circa 20.000 Tonnen Nahrungsmittel nach Donezk und Makejewka gebracht (nur dort läuft die Ausgabe der Hilfsgüter). Freiwillige Helfer sortieren in der Donbass Arena Monatsrationen in Tüten mit Firmenaufdruck, versehen sie mit „Nicht zum Verkauf“-Aufklebern. Die Freiwilligen arbeiten ehrenamtlich, bekommen dafür aber üppigere Lebensmittelrationen.

    Fette humanitäre Hilfe kommt aus Israel und Russland. Die israelische kommt über die Sochnut, die Jewish Agency for Israel und steht jedem zu, der jüdische Wurzeln nachweisen kann. Hier bilden sich ebenfalls stattliche Schlangen, auch Damen in Nerzpelzen sind zu sehen – in Donezk ist es keine Schande, humanitäre Hilfe zu bekommen. Die Tüten aus Russland und Israel sind besser bestückt und enthalten Fleischkonserven. Mit der Hilfe aus Russland ist es komplizierter. Die berühmten weißen Konvois helfen eher auf staatlicher Ebene – mit Lebensmitteln für Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, mit Benzin für Fahrzeuge der Ambulanz, Polizei und des Katastrophenschutzministeriums sowie mit Baumaterial und Schulbüchern. Dass Hilfsgüter in Tüten ausgegeben werden, kommt eher selten vor. Ich kenne persönlich nur zwei Familien, die von sozialen Einrichtungen russische Hilfspakete erhalten. In einem Fall handelt es sich um die Familie eines Volksmilizen, sie sind Aussiedler aus Slawjansk, in dem anderen um eine alleinerziehende Mutter mit vielen Kindern.

    Am wohlhabendsten, wenn man das so sagen kann, sind in der DNR die Rentner. Darunter finden sich – kein Scherz – einige, die nichts dagegen hätten, wenn so ein Krieg ohne Geschützfeuer noch eine Weile andauern würde. Überhaupt ist alles wie zu Sowjetzeiten: Es gibt keine erkennbare soziale Ausdifferenzierung, und die Kinder und Enkel suchen die Nähe der Alten – denn die haben Geld. Die allermeisten Pensionäre erhalten ukrainische Renten. Die Mittel aus dem Rentenfonds der DNR werden dafür diskret „Hilfe aus Russland“ genannt. Die Summe ist für alle gleich: um die 2500 Rubel im Monat.

    1220 Griwna [circa 40 Euro] im Monat bekam früher, in der Ukraine, eine alte Dame aus einer der Siedlungen in Makejewka, mit der ich einmal ausführlich über das Leben debattierte. Die Unterscheidung in Reich und Arm verläuft jetzt entlang ganz anderer Grenzen. „Bei uns im Haus wohnt ein ehemaliger Grubenarbeiter“, erzählte sie. „Der bekommt 4000 Griwna [circa 135 Euro] ukrainische Rente. Dazu die Hilfe aus Russland. Und dann bekommt ja auch noch seine Frau Rente, so kommen sie zu zweit auf 20.000 Rubel [circa 245 Euro]. Solche Leute eben. Essen sogar Fleisch.“

    Ukrainische Renten bekommen die Menschen, indem sie sich im benachbarten Mariupol oder Pawlograd als temporäre Aussiedler registrieren lassen – selbst oder mit Hilfe einer der zahlreichen Firmen, die sich dem Thema „Rententourismus“ widmen. Neben Rentnerfahrten in die Ukraine gibt es auch das sogenannte Karten-Business, das heißt, jemand fährt mit zwei Dutzend Kreditkarten auf die ukrainische Seite und hebt am Bankautomaten gegen eine gewisse Provision die Renten ab.

    Auch Geschichten im Geiste von Gogols Toten Seelen gibt es: Weil die DNR von allen elektronischen Registern abgekoppelt ist, fließt weiterhin Geld auf die Rentenkonten, auch wenn der Inhaber bereits verstorben ist.

    Die medizinische Situation ist schwierig. Viele Ärzte sind schlicht ausgewandert. Was noch existiert und funktioniert sind das Zentrum für Brandverletzungen, die regionale Unfallchirurgie und die neuro- und herzchirurgischen Zentren der Kalinin-Klinik. Das ist im Moment der einzige Ort im ganzen Donbass, an dem noch Herzoperationen durchgeführt werden. Vor dem Krieg gab es vier solcher Abteilungen – eine in Lugansk, zwei in Donezk und eine in Mariupol.

    Die medizinische Versorgung in der DNR ist ausdrücklich kostenlos. Medikamente kommen aus Russland. Es gab einen Fall, da wurde das Forschungslabor der medizinischen Hochschule, das beste in der ganzen Region, von bewaffneten Leuten geschlossen, nachdem man für eine Kontrolluntersuchung Geld genommen hatte. Wo das Labor das Geld für die Chemikalien hernehmen soll, das ist seine eigene Sache.

    Business

    Man soll nicht glauben, dass es in schwierigen Zeiten allen schlecht geht. In Donezk gibt es eine Menge Menschen, die sich ziemlich gut eingerichtet haben.

    In erster Linie gehören dazu die Volksmilizen. Sie sind jetzt alle unter Vertrag und bekommen Gehalt. Im Schnitt 14.000 Rubel [170 Euro]. Dazu kommen Uniform, Verpflegung im Verband und manchmal Lebensmittelhilfen für die Familien. Dabei ist der „große“ Krieg seit einem Jahr vorbei – seit Debalzewo.

    Es gibt auch lokale Unternehmer. Die Geschäfte drehen sich hier vor allem um die Geldflüsse in Rubel. Erfolgreich läuft der Einzelhandel mit Lebensmitteln. Die nationalisierte Supermarktkette ATB ist der Kette „Supermarkt der Republik Nr. 1“ (Perwy respublikanski supermarkt) gewichen.

    Kleine Läden finden Wege, Waren aus der Ukraine einzuführen. Leute, die häufig über die Grenze müssen, bringen im Kofferaum Fleisch, Milchprodukte, Kosmetik, Unterwäsche und Haushaltschemie mit. Fast alles davon ist Mangelware.

    Es gibt viele Bargeldservice-Firmen. Für das Abheben von ukrainischen Karten streichen sie mitunter bis zu 30 Prozent ein. Der Prozentsatz für russische Konten ist bedeutend kleiner: Mit einer Karte der Sberbank kostet das Abheben sechs Prozent, bei größeren Summen ab 10.000 Rubel verringert sich der Kommissionssatz auf fünf Prozent.

    In meinem Lieblingscafé Gastropub am Prospekt Mira wurde letzte Woche eigens für mich das Licht angemacht. Ich war tagsüber der einzige Gast. Aber die Restaurants auf dem Puschkin-Boulevard sind in der Regel gut besucht. Es gibt jetzt auch viel Werbung mit Flyern, die werden einem packenweise ins Autofenster gereicht. Beworben wird alles Mögliche: Saunen, Massage- und Friseursalons, Tätowierstudios, Ankauf von Gebrauchtwagen mit ukrainischer Registrierung, KFZ-Werkstätten.

    Die ukrainischen Multiplex-Kino-Ketten sind in Donezk nicht in Betrieb, aber alte Kinotheater haben geöffnet – hierher schaffen es russische Uraufführungen und sogar ukrainisch synchronisierte Weltpremieren. Bei Letzteren sind sogar die Plakate in ukrainischer Sprache bedruckt.

    Das Echo des Krieges: Dienstleistungen wie die Rücksetzung von IMEI-Codes auf Handys zwecks Abhörverhinderung (300 Rubel [3,70 Euro] auf dem Markt für Radiotechnik) oder die Herstellung von exklusiven Schall- und Mündungsfeuerdämpfern für Kalaschnikow-Maschinengewehre durch in Fabriken angestellte Dreher.

    Das Leben in Donezk pulsiert den ganzen Tag und verhallt gegen 19:00 Uhr, um in der Nacht vollkommen stillzustehen. Die Menschen leben allen Widrigkeiten zum Trotz und vermeiden es, über schlechte Nachrichten zu sprechen. Für schlechte Nachrichten kommt man unter Umständen ins Ministerium für Staatssicherheit.

    Wollte man es auf eine Formel bringen: Angst, Geldlosigkeit und die Hoffnung, dass die Kanonen stumm bleiben – das ist es, was das Leben in Donezk aktuell ausmacht.

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  • „Ich habe sie im Genick getroffen“

    „Ich habe sie im Genick getroffen“

    Um den 20. Februar 2014 eskalierten die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was genau damals geschehen ist, bleibt bis heute in Vielem unklar und gibt Anlass zu Spekulationen, die unversöhnlich aufeinanderprallen. So wird die Verantwortung für die Gewalt und die Opfer oft ausschließlich auf der Seite der Regierungskräfte oder der Demonstranten verortet, obwohl die Realität wesentlich komplizierter ist.

    Kurz vor dem  Jahrestag der Ereignisse hat 2016 im russisch- wie ukrainischsprachigen Internet ein Interview mit einem Maidan-Aktivisten für Aufruhr gesorgt, der berichtet, wie er am 20. Februar 2014 aus dem besetzten Kiewer Konservatorium das Feuer auf die Regierungskräfte eröffnet hat. Die Aussagen des Interviews rücken viele allzu einfache Versionen gerade, lassen selbst aber auch zahlreiche Fragen offen: Welche Rolle haben diese Schüsse gespielt? Waren sie es, die – nach bereits zwei vorhergehenden Tagen voller Gewalt und mit insgesamt 39 Todesopfern – dann weitere Angriffe der Sondereinheit Berkut provoziert haben? Inwieweit sind die Aussagen, die im übrigen mit den später rekonstruierten Fakten im Wesentlichen übereinstimmen (siehe unsere Links unter dem Text), vom Wunsch des Befragten beeinflusst, seine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen?

    Das Interview führte Iwan Sijak von bird in flight, einem Internetmagazin, das auf Russisch in der Ukraine erscheint und eine länderübergreifende Leserschaft besitzt. Das Magazin leitet den Text folgendermaßen ein:

    „In der Geschichte der modernen Ukraine existiert kein wichtigeres Datum als der 20. Februar 2014. Damals wurden auf den Kiewer Straßen 48 Maidan-Aktivisten und vier Milizionäre erschossen. Bald darauf verließ Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land, es begann die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Im weiteren Sinne brachte dieser Tag den ersten Schritt zum Verlust von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums und von vielen Tausend Leben. 

    Am frühen Morgen des 20. Februar konnte man keines dieser Ereignisse vorausahnen. Es hatte bereits schwere Kämpfe gegeben, bei denen 31 Aktivisten und 8 Sicherheitskräfte umgekommen waren, die Miliz [bis September 2014 war das die Bezeichnung der Polizei – dek] hatte die Protestierenden massiv zurückgedrängt und bezog schon Position auf dem Maidan. Auf dem Platz waren bloß noch einige hundert erschöpfte Aktivisten. Es bestand kein Zweifel, dass der nächste Sturm das Ende des Aufstandes bedeuten würde und dieser als schlichte ‚Massenunruhen‘ in die künftigen Lehrbücher eingehen würde. 

    Seine präzisen taktischen Aktionen schlugen die Sicherheitskräfte in die Flucht und verhinderten den Untergang der Revolution der Würde – mit solch vagen Worten beschreibt die ukrainische Wikipedia die Rolle Iwan Bubentschiks in der Geschichte. Zum ersten Mal erzählte er über die Ereignisse an diesem Tag im Film von Volodymyr Tykhyy Branzi (Die Gefangenen). Im Vorfeld der Premiere traf unser Korrespondent Iwan Sijak den aus Lwiw stammenden Maidan-Aktivisten, um dessen Version der Ereignisse zu erfahren.“

    Iwan spricht Ukrainisch, bird in flight gibt seine Worte auf Russisch wieder.

    „Ich möchte eine Angelschule für Kinder aufmachen. Das war es, worum ich mich vor dem Maidan gekümmert habe. Als in Lwiw die Studenten anfingen gegen Janukowitsch zu protestieren, bin ich hingefahren, um sie zu unterstützen. Alle sagten, man müsse nach Kiew, also bin ich hin. Schwer zu sagen, an welchem Datum genau, aber es war der erste Tag. Ich war vom ersten Tag an auf dem Maidan.

    Zunächst standen wir an der Säule [Denkmal für die Unabhängigkeit der Ukraine], haben die Studenten beschützt. Dann bildeten sich die sogenannten ‚Hundertschaften‘, ich bin der Neunten beigetreten. Wir wohnten in der Gontschar-Straße, im Haus der Partei Narodny Ruch, und sind jede Nacht um halb zwölf runter zur Metrostation unter dem Maidan, als Wachen. Wir hielten alle Ausgänge unter unserer Kontrolle, denn von dort konnten die Sondereinsatzkräfte auftauchen, für Sabotageaktionen oder um die Proteste aufzulösen.

    Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan.

    Ich erinnere mich, an der Gruschewskaja Straße standen die Sicherheitskräfte des Innenministeriums, die ließen uns nicht durch [zum Regierungsviertel]. Wir hatten einen Brief dabei, dass wir Bürger der Ukraine seien und das Recht hätten, uns frei zu bewegen. Haben gesagt, wenn sie unser Recht darauf bis zum nächsten Tag nicht wiederherstellen, werden wir stürmen. Und so kam es auch. Am nächsten Tag flogen schon Steine und Molotow-Cocktails.

    – In den Tagen vor dem 20. Februar haben die Spezialeinheiten von Janukowitsch alles unternommen, um den Maidan zu zerschlagen. Sie legten das Gewerkschaftshaus, das sehr wichtig für uns war, in Schutt und Asche. Wir haben dort gewohnt, geschlafen, haben die Toilette dort benutzt, dort Essen bekommen und medizinische Versorgung. Danach, am nächsten Morgen, gab uns Gott die Chance, ins Konservatorium hineinzukommen. Wir haben einen Roma-Jungen zum Fenster hochgehievt, er hat von innen die Türen geöffnet. Dort konnten wir ein bisschen Schlaf kriegen. Jemand schlief eine Stunde, jemand eine halbe, je nachdem wie viel man eben konnte während der furchtbaren Attacken, die gegen uns im Gang waren. Viele waren verzweifelt, ich aber nicht. Ich glaube fest an die Kraft Gottes und an die Gerechtigkeit.

    Im Konservatorium gab es Jungs mit Jagdgewehren. Die schossen mit Schrot auf die Spezialkräfte, die knapp 70 Meter von uns entfernt waren. Aber ich habe sie von den Fenstern vertrieben, denn als Antwort begann die Miliz das Haus mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, sie wollten unseren einzigen Zufluchtsort in Brand setzen. Der Schrot ging denen nur auf die Nerven.

    Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich zu viel verlange. Also habe ich für 20 gebetet. Und gegen Morgen tauchte dann ein junger Kerl auf mit einer Kalaschnikow und 75 Patronen in einer Tennistasche. Viele würden gerne hören, dass wir die Maschinenpistole den Tituschki abgenommen haben, während der Kämpfe am 18. Februar. Sie hatten damals Waffen erhalten, um uns zu töten. Aber so war das nicht.

    – Ich schoss aus dem vom Maidan aus gesehen letzten Fenster im zweiten Stock, hinter den Säulen hervor. Von hier aus waren die Milizionäre beim Denkmal mit ihren Schilden gut zu sehen. Sie standen gedrängt hinter Sandsäcken, rund 200 Mann, mehr hätten dort nicht hingepasst. Immer wieder stießen Trupps mit Pumpguns vor. Die schossen direkt auf die Barrikaden, knallhart.

    Ich habe auf die gezielt, die das Kommando hatten. Hören konnte ich nichts, aber ich sah sie gestikulieren. Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse. Schießen habe ich in der Sowjetarmee gelernt. Ich habe auch eine Ausbildung beim Militärgeheimdienst gemacht. Wir wurden dort für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten trainiert.

    Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse.

    Ich habe sie im Genick getroffen, heißt es, und das stimmt. Sie standen zufällig mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht warten, bis sie sich umdrehen. So hatte Gott sie hingestellt, so geschah es.

    Die anderen musste ich nicht töten, nur auf die Beine zielen. Ich verließ das Konservatorium und bewegte mich entlang der Barrikaden. Schoss, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten 20 bis 40 Maschinengewehre. Bat die Jungs, einen schmalen Schlitz zwischen den Schutzschilden für mich offen zu lassen. Das wird jetzt mancher nicht gern hören … Die weinten vor Freude. Die wussten, dass wir das unbewaffnet nicht schaffen.

    – Ich kam bis zum Gewerkschaftsgebäude, dann hatte ich keine Patronen mehr. Aber es hatte sich bereits herumgesprochen, und die Sicherheitskräfte rannten davon. Sie warfen alles hin. Sie kletterten übereinander weg wie die Ratten.

    Nicht alle ihre Einheiten schafften es, den Maidan-Aktivisten zu entkommen. Unsere Jungs kletterten über die Barrikaden und sind hinter ihnen her. Sie nahmen Gefangene, Gruppen von zehn, zwanzig Leuten und führten sie hinter den Maidan, Richtung Kiewer Stadtverwaltung. Die aktivsten von unseren Helden verfolgten sie bis zur Institutsstraße, und dann kam bald der Befehl, auf die Demonstranten zu schießen.

    Mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig.

    Das war ein schwerer Moment, denn ich wusste, dass ich die Schüsse gegen unsere Jungs aufhalten konnte. Auf dem Maidan versprachen mir ein paar Leute, Patronen zu bringen – ich sage nicht, wer, aber es waren Personen mit einigem Einfluss. Ich glaubte ihnen, lief hin und her … Das waren die schwersten Minuten meines Lebens, ich war völlig hilflos. Es heisst immer, auf dem Maidan gab es viele Waffen. Aber das stimmt nicht. Niemand hätte sonst zugelassen, dass die Miliz auf unsere Leute schießt. Aus meiner Hundertschaft auf der Institutsstraße sind Igor Serdjuk und Bogdan Wajda umgekommen.

    – Ich verteidige meine Heimat, mein Volk. Als ich keine Patronen mehr hatte, war das für mich, als hätte man einem Chirurgen das Skalpell genommen. Ein Patient braucht dringend Hilfe, doch der Chirurg hat kein Skalpell … Und der Mensch stirbt vor den Augen des Arztes.

    Ich habe in der ATO-Zone Berkut-Leute getroffen, die für die Ukraine kämpfen. Aber ich will nur mit Leuten zu tun haben, die wie ich sind, oder besser. Es gab gewisse brenzlige Momente … Wenn sie bewusst Krieg führen, und nicht für Orden oder Privilegien, dann kann der Krieg eine Läuterung für sie sein. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen.

    Auf dem Maidan sind wir einen Schritt in die richtige Richtung vorangekommen und um eine Erfahrung reicher geworden, die uns weitermachen lässt. Aber mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig. Deswegen will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Und sie mit mir? Nach der Premiere des Films wahrscheinlich schon.

    Meine Opfer sind Verbrecher, Feinde. Ich muss reden, damit die anderen wissen, was mit Feinden zu tun ist.“


    Informationen und Links:

    Bei der Diskussion darum, wer wann auf wen geschossen hat, darf eines nicht vergessen werden: Gegen friedliche Demonstrationen im November und Dezember 2013 setzten Polizei, Spezialeinheiten und der Geheimdienst SBU brutale Gewalt ein. Währenddessen schwollen die kleinen, pro-europäischen Proteste im November zu einer riesigen, landesweiten Protestbewegung an. Ziviler Widerstand und Selbstorganisation kennzeichneten diese größtenteils gewaltfreie Bewegung, an der russischsprachige Ukrainer genauso ihren Anteil hatten wie ukrainischsprachige. Politiker aus Janukowitschs Lager liefen zur Opposition über, seine Machtbasis bröckelte bereits vor dem 20. Februar. All das kann und soll den Einsatz von Gewalt seitens einiger Demonstranten nicht rechtfertigen. Die Ereignisse müssen aber im Zusammenhang gesehen werden.

    Daher hier einige Links zu Artikeln und Dokumentationen, die die Proteste und ihre Eskalation zu rekonstruieren versuchen. Die Redaktion beabsichtigt dabei keine einheitliche, widerspruchsfreie Darstellung. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse ist das auch kaum möglich.

    Die Proteste:
     
    Der 20. Februar 2014:

     

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  • Die verlorene Halbinsel

    Die verlorene Halbinsel

    Seit einigen Wochen wird die Versorgung der Krim über die ukrainische Festlandverbindung mehr und mehr erschwert. Zunächst waren offenbar allein informelle Gruppen für die Blockadebestrebungen verantwortlich, nun hat sich auch die ukrainische Regierung eingeschaltet. Auf wessen Konto die Sprengungen der Hochspannungsleitungen am 20. und 21. November gingen, scheint weiter unklar – doch sie werden die Einwohner der Krim nur noch mehr von Kiew entfremden, kommentiert Andrej W. Kolesnikow.

    Die Krim ist selbst ein Symbol – ein Symbol des Triumphs und des Stolzes, so 52 % der vom Lewada-Zentrum befragten Russen – und sie produziert ausschließlich Symbole. Denn ihre materielle Bedeutung ist nicht besonders groß. Wenn man ehrlich ist, wurde das Gebiet im Stich gelassen. Von Russland im Stich gelassen: Nach Krymnasch die Sintflut.

    Deutlich wurde dies nach der Sprengung der Hochspannungsmasten und dem Blackout der Halbinsel, die sich nun wirklich langsam in Aksjonows Die Insel Krim verwandelt hat. Das Interesse an der Krim und Ukraine erlischt in Russland und der Welt mehr und mehr. Möglicherweise wären auch die Bewohner der zur Insel gewordenen Halbinsel zu der nüchternen Erkenntnis gelangt, dass dieses Gebiet den Großen Bruder gar nicht in Bezug auf Hilfe und Investitionen interessiert, sondern nur als Flagge und Reliquie. Denkbar wäre das gewesen, wäre es nicht zur Unterbrechung der Stromversorgung gekommen und zur dadurch doppelt so gravierenden Entscheidung Petro Poroschenkos, die Transportwege auf die Halbinsel zu blockieren.

    Mit einem Mal erinnern sich alle wieder an die Ukraine, und der hybride Krieg im Donbass verwandelt  sich in einen Handels- und Informations- (und in diesem Sinne auch einen hybriden) Krieg um die Krim. Keine einzige Forderung der Krimtataren, die die ukrainische Seite übermittelt, wird erfüllt, stattdessen wird die Ablehnung gegenüber der Ukraine stärker, sowohl vonseiten der Krimbewohner als auch vonseiten der Kontinentalrussen.

    Wladimir Putin bekommt gleich mehrere Trümpfe auf die Hand. Er wird auch hier wieder in der Rolle Batmans auftreten, des Beschützers von über einer Million Menschen, denen Licht und Wärme genommen wurde. Und der Welt wird wieder die animalische Fratze der ukrainischen Fascho-Juden präsentiert. Auch die leicht abgenutzte Bedrohung durch die ukrainische Regierung kann man völlig überteuert wiederverkaufen. Es ist sowieso merkwürdig, dass die russische Propaganda die Blockade der Krim bislang noch nicht mit der Blockade Leningrads verglichen hat.

    Die ukrainische Regierung und die informellen Widersacher Putins haben, wie es oft geschieht, politisches Regime und einfache Menschen verwechselt. Sie wollten sich am Regime rächen, trafen aber die einfache Bevölkerung. Das Regime wird dadurch natürlich nur stärker, die belagerte Festung wird noch belagerter und somit zu einem sakralen Objekt, und die Werktätigen scharen sich noch enger um ihren Batman, der mit seinen Bomben Syrien den Frieden bringt.

    Genau den gleichen Effekt – die Ausbildung des Stockholm-Syndroms gegenüber ihrem Präsidenten – hatten die westlichen Sanktionen bei den Russen. Hier allerdings erfolgte die „Bombardierung von Woronesh“ vor allem durch die russische Führung selbst, die ihren Mitbürgern mittels Gegensanktionen einen Teil der Lebensmittel verwehrte, deren Qualität verschlechterte und die Preise eigenhändig in die Höhe trieb. Die Sanktionen aber hatten hauptsächlich die Eliten und Unternehmen getroffen. Im Falle der Krim nun sind es nicht die eigenen Leute, die den Betroffenen die Lebensgrundlage nehmen, sondern die ehemalig eigenen Leute, die zu Fremden werden. Es wird ja auch nicht gegen irgendwelche feststehenden Gangster aus der Führungsriege ausgekeilt, sondern gegen alle Bewohner der Halbinsel.

    Selbstverständlich wird die Krim für den Westen unter keinen Umständen zu einer Tauschwährung oder zum Verhandlungsgegenstand. Doch wird es bei den westlichen Führern wohl kaum auf viel Gegenliebe stoßen, dass die ukrainischen Eliten so effektive Unterstützung geleistet haben, um das positive Image des russischen Präsidenten in den Augen der russischen Bürger zu fördern. Solche Turbulenzen haben ihnen gerade noch gefehlt.

    Putins Russland wollte die Ukraine zu sich hinüberziehen, hat sie aber auf lange Sicht verloren. Die ukrainische Führung hat durch die Bestrafung der Krimbewohner die Krim verloren. Und Putin eine Steilvorlage geliefert.

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    Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Ein möglicher Schulterschluss zwischen Russland und dem Westen nach den jüngsten Terroranschlägen könnte auch Auswirkungen auf die Ukraine-Krise haben. Was hieße das für den Status der Krim, die Sanktionen gegen Russland, den Kurs der NATO? Kann es gar zu einer raschen Entspannung der Lage in der Ostukraine kommen? Arkadi Mosches dekliniert in EJ die Szenarien durch und bleibt skeptisch.

    (Der Originaltext wurde vor dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei am 24.11.2015 veröffentlicht.)

    Die weitaus meisten Beobachter sind sich einig, dass die schrecklichen Anschläge der letzten Tage den Kontext der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wesentlich verändert haben. Objektiv betrachtet ist das der Fall, weil eine gemeinsame Bedrohung zur Einigkeit zwingt. In dieser Hinsicht sind die Worte Wladimir Putins, der die Franzosen als Verbündete bezeichnete, von großer Bedeutung. Aber auch auf subjektiver Ebene stimmt es, denn jene Politiker und professionelle Lobbyisten im Westen, die auch schon zuvor dazu aufgerufen hatten, die durch die Ukraine-Krise entstandenen „Missverständnisse“ in den Beziehungen zu überwinden und zu „Dialog und Zusammenarbeit“ zurückzukehren, erhalten damit ein schlagkräftiges Argument. Im übertragenen Sinne haben Nicolas Sarkozy und der derzeitige deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel, die diesen Standpunkt vertreten und im Oktober Moskau besucht hatten, in ihrer Auseinandersetzung mit den französischen und deutschen Staatsoberhäuptern François Hollande und Angela Merkel die Initiative übernommen.

    Daher sollte man bereits in allernächster Zukunft erwarten, dass Bewegung in diese Diskussion kommt, und wahrscheinlich auch, dass praktische Schritte um den sogenannten Abtausch von der Ukraine und Syrien erfolgen. Es ist allerdings alles andere als selbstverständlich, dass ein solcher Abtausch tatsächlich Ergebnisse bringen wird.

    Erstens ist nicht wirklich klar, worin er bestehen könnte. Soll es um eine Änderung der Positionen des Westens zur Krim gehen? Diese Frage steht derzeit faktisch nicht auf der Tagesordnung. Formhalber abgegebene Verlautbarungen zählen nicht, und eine juristisch verbindliche Anerkennung der Zugehörigkeit der Halbinsel zur Russischen Föderation ist für den Westen unmöglich, was allen Beteiligten, auch dem Kreml, klar sein sollte. Geht es um eine Abkehr von der Osterweiterung der NATO und der EU? Wiederum: Da ohnehin weder Washington noch die europäischen Hauptstädte einen besonders starken Wunsch nach einer Erweiterung verspüren, könnten inoffiziell bestimmte Zusicherungen gegeben werden. Aber zum einen ist fraglich, ob Moskau ihnen Glauben schenken würde, zum anderen: Was soll mit dem Programm der schrittweisen Integration der Ukraine, Moldawiens und Georgiens in die EU geschehen, um das es sich ja beim Assoziierungs- und Freihandelsabkommen handelt? Soll sich Europa die russische Sichtweise mit einer Zukunft des Donbass' als Teil der Ukraine zu eigen machen? Berlin und Paris üben ohnehin schon maximal möglichen Druck auf Kiew aus, um von der Ukraine eine einseitige und vorgreifende Umsetzung des Minsker Abkommens in einer Auslegung zu erreichen, die für die DNR und LNR vorteilhaft ist. Weiterer Druck und Einmischungen in den konstitutionellen Prozess könnten dazu führen, dass das politische System der Ukraine destabilisiert wird und dass an die Stelle Petro Poroschenkos ein radikalerer Führer tritt, womit sich der Konflikt nur verstärken würde.

    Zweitens muss innerhalb der EU in einer ganz bestimmten Richtung gearbeitet werden. Es geht hier nicht um die berüchtigte „wertebasierte Politik“: Dass vor Kurzem die Sanktionen gegen Minsk ausgesetzt wurden beweist, dass Geopolitik und Pragmatismus Brüssel ganz und gar nicht fremd sind; nein, es geht um Prozeduren, auf denen die Union basiert. Im März 2015 hat der Europarat nämlich einen Beschluss gefasst (Paragraph 10 für jene, die es ganz genau wissen wollen), der unmissverständlich besagt, dass die gegen Russland gerichteten Sanktionen von der vollständigen Umsetzung des Minsker Abkommens abhängen, sprich, von der Rückgabe der Kontrolle über die Grenze an die Ukraine. Selbstverständlich ist dieses Dokument nicht in Stein gemeißelt, es kann durch ein anderes ersetzt werden. Doch dies kann nicht schnell geschehen. Zunächst wird eine öffentliche Diskussion entbrennen, dann schaltet sich das Europaparlament ein, und irgendwann werden sich die europäischen Führer überlegen, dass ihnen persönlich der politische Preis für die Aufhebung der Sanktionen zu hoch sein könnte.

    Drittens ist der Westen nicht mit der EU gleichzusetzen. Selbst wenn man für eine Sekunde die USA, Kanada und Australien außer Acht lässt, kann man doch eine andere überaus machtvolle politisch-bürokratische Maschinerie nicht ignorieren: die NATO. In den letzten anderthalb Jahren ist die transatlantische Allianz, wie man sagt, „zu ihren Wurzeln zurückgekehrt“ und orientiert sich nun gründlich in Richtung Abwehr von Sicherheitsrisiken ihrer Mitgliedsländer, die deren Ansicht nach vom Osten ausgehen. In einem Klima des gegenseitigen Misstrauens wird es sehr schwierig sein, die in Fahrt gekommene Allianz aufzuhalten. Moskau seinerseits wird wie gewohnt Gegenmaßnahmen ergreifen. Damit hätte eine Einigung in einzelnen Fragen der nahöstlichen Agenda keinerlei signifikante Bedeutung.

    Zuletzt das Wichtigste: Der russisch-ukrainische Konflikt an sich wird nicht einfach verschwinden. Selbst wenn eine weitere Eskalation im Osten der Ukraine vermieden werden kann, bekommt es der Westen, allen voran die EU, mit russischen Sanktionen gegen Kiew zu tun, die im Januar eingeführt werden, wenn die bereits erwähnte Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU in Kraft tritt. Hinzu kommt die Umschuldung, der Gastransport durch die Ukraine und der Ankauf von russischem Gas für den innerukrainischen Bedarf, Fragen von europäischen Bürgern und Unternehmen zur Krim, gegen die die Sanktionen ganz sicher nicht aufgehoben werden etc. Sollte dann jemand die Nerven verlieren und der Osten wieder in Flammen aufgehen, so kann man sämtliche Entwürfe einer möglichen Aussöhnung sofort zu Grabe tragen.

    Leider hat der Konflikt zwischen Russland und dem Westen für den heutigen Tag systemischen Charakter und geht weit über die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten zur Ukraine und zu Syrien hinaus. Dieser Konflikt schwelte schon lange und er wird nicht schnell überwunden werden können, schon gar nicht durch irgendeinen „Abtausch“.

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  • Wladislaw Surkow

    Wladislaw Surkow

    Wladislaw Surkow, den man zuweilen auch als „Putins Rasputin“, „Graue Eminenz im Kreml“ oder „Chefideologen des Landes“ bezeichnet1, war von 1999 bis mindestens 2013 maßgeblich an den Public-Relations-Strategien des Kreml und der Organisation von Putins Wahlkampagnen beteiligt. Er war stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, stellvertretender Regierungschef Russlands und persönlicher Berater des Präsidenten. Darüber hinaus fungierte Surkow für Lobbygruppen als wichtiger Ansprechpartner in der Regierung. Nachdem Putin am 15. Januar 2020 überraschend eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt hatte, gab es im russischen Machtapparat gravierende Umstrukturierungen. Surkow gab bekannt, den Staatsdienst zu quittieren und kündigte an, sich zunächst einmal „der Meditation“ hinzugeben. Viele Beobachter zweifeln allerdings, dass Surkow tatsächlich von der politischen Bühne abgetreten ist.

    1964 in Tschetschenien geboren, schrieb sich Surkow 1981 in Moskau für ein Studium der Metallurgie an der wichtigsten Technischen Hochschule des Landes (Moskauer Staatliches Institut für Stahl und Legierungen, heute: MISiS) ein. Nach zwei Jahren brach er das Studium ab und absolvierte von 1983 bis 1985 den Militärdienst in einer in Ungarn stationierten Artillerie-Einheit. Zurück in Moskau schrieb sich Surkow 1986 für Regie-Kurse am Moskauer Institut für Kultur und Kunst (heute: MGIK) ein, wurde allerdings ein Jahr später exmatrikuliert.

    Im Jahr 1987 lernte er in einem Karateklub den jungen Unternehmer Michail Chodorkowski kennen, der ihn zunächst als Bodyguard einstellte und ihm bereits kurze Zeit später die Leitung der Werbeabteilung übertrug, in der Surkow eine rasante Karriere machte.

    1996 wechselte Surkow infolge von internen Streitigkeiten mit Chodorkowskis Partner Leonid Newslin zur konkurrierenden Alpha-Bank des Oligarchen Michail Fridman. Zwei Jahre später übernahm Surkow den Posten des stellvertretenden Direktors und Leiters der PR-Abteilung im russischen Fernsehsender ORT, wo er unter anderem Boris Beresowski und Alexander Woloschin kennenlernte. Als dieser 1999 die Leitung der Präsidialadministration übernommen hatte, folgte ihm Surkow als sein Stellvertreter. Danach bekleidete Surkow hohe Positionen in der Regierung. Unter anderem war er dafür zuständig, die Partei Einiges Russland in ihrer Gründungsphase zu konsolidieren.2

    Beim 5. Kongress der Naschi 2010 - Foto © Gemeinfrei
    Beim 5. Kongress der Naschi 2010 – Foto © Gemeinfrei

    Auf Surkows Betreiben wurden die kremltreuen Jugendorganisationen Iduschtschije wmeste (dt. Die zusammen Gehenden, 2000) und Naschi (dt. Die Unsrigen, 2005) ins Leben gerufen. Darüber hinaus gilt Surkow als Autor der Konzeption der Souveränen Demokratie.3 Der Name Surkows tauchte auch wiederholt im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten der Ukraine auf. So war er an den Verhandlungen im Rahmen des Minsker Friedensprozesses im Jahr 2015 beteiligt und erzwang in der Folge den Rücktritt des Verteidigungsministers der selbstproklamierten Donezker Volksrepublik (DNR), Igor Strelkow.4

    Schon damals hatte Wladislaw Surkow sein Image als „Graue Eminenz“ und Drahtzieher im Hintergrund eingebüßt. Nicht etwa, weil sein Einfluss auf die informations- und polittechnologischen Kampagnen des Kreml geschwunden wäre, sondern weil er wie kaum ein anderer der hohen Regierungsbeamten im Rampenlicht der Medien stand und in gewisser Weise den Regierungsstil der russischen Machteliten personifizierte.5

    Und darüber ist er sich durchaus im Klaren. 2009 publizierte er unter dem Pseudonym Natan Dubowitski den Roman Okolonolja (Nahe Null), der bereits zwei Jahre später in einer extravagenten Theaterinszenierung von Kirill Serebrennikow einem ausgewählten Publikum dargeboten wurde.6 Es bleibt unklar, ob dieser „Gangsta Fiction“-Roman einem diffusen Bekenntnisdrang oder einer Selffashioning-Strategie des Kreml-Ideologen geschuldet ist. In jedem Fall traf er als eine Art „Manifest der zynischen Vernunft“ den Nerv der Zeit.7 Erzählt wird die befremdliche Geschichte eines professionellen Lobbyisten, der als Ghostwriter und Imagemaker die politischen und kriminellen Eliten bedient und darüber hinaus als Moderator bei Interessenkonflikten auftritt. Hinter diesem Maskenspiel wird das Selbstbild Surkows erkennbar – hinter der Maske des Polittechnologen taucht die eines echten Künstlers auf, die ihrerseits unzählige weitere Masken verdeckt – politische Mythen, Halbwahrheiten, Intrigen und Gerüchte, die den Autor Wladislaw Surkow und sein öffentliches Image umgeben. Mit seinem extravaganten Sendungsbewusstsein verkörpert Surkow eine subtile Mischung aus Machtgier, Korruption, Glamour, künstlerischen Ambitionen und ruchlosem Zynismus, die als Quintessenz des politischen Stilbewusstseins im heutigen Russland gelten kann.

    aktualisiert am 19.02.2020


     

    1. Pomeranzew, Peter (2011): Putin’s Rasputin, in: London Review of Books ↩︎
    2. Šegulev, Ilja / Romanova, Ljudmila (2012): Operacija „Edinaja Rossija“: Neizwestnaja istorija partii vlasti, Moskau, S. 23 ↩︎
    3. Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kulʼtura: Wsgljad iz utopii: Materialy obsuždenija v „Nezavisimoj gazete“,Moskau ↩︎
    4. The Insider: Vladislav Surkov – „Zakljatyj drug“ Ukrainy ↩︎
    5. The Atlantic: The Hidden Author of Putinism ↩︎
    6. Pomeranzew, Peter (2011): Putin’s Rasputin, in: London Review of Books ↩︎
    7. Lipovetsky, Mark (2011): Charms of the Cynical Reason: The Trickster’s Transformations in Soviet and Post-Soviet Culture, Boston, S. 271 ↩︎

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  • „Die Ukraine hat uns betrogen“

    „Die Ukraine hat uns betrogen“

    Was immer man denkt über die Umstände des Referendums vor eineinhalb Jahren: In Sewastopol sind viele von Herzen froh, nun zu Russland zu gehören. Iwan Shilin von der Novaya Gazeta hat ein Stimmungsbild zusammengetragen – kleine Kuriositäten inklusive.

    Drei Tage vor dem Feiertag hatten die Medien Sewastopols über die Sperrung der Straßen informiert: von 5 bis 12 Uhr. Doch um 8 Uhr flitzen immer noch Autos in beiden Richtungen über die Uliza Lenina, die Hauptstraße der Stadt.

    „Sie müssen wenden“, bedeutet ein Polizist einem Toyota, der ins Zentrum fahren will. „Ich hab den hier“, der Fahrer streckt einen roten Ausweis aus dem Fenster. „Alles klar, bitte.“ Der Polizist gibt den Weg frei.

    Nach dem Verkehr zu urteilen gibt es viele Fahrer mit einem roten Ausweis. Die Versammlung der Stadtbewohner ist für 9 Uhr angekündigt. Doch schon gegen 8 Uhr sind beim Denkmal der Stadtgründerin Katharina der II. viele Menschen anzutreffen. Ständig begrüßen Neuankömmlinge aus allen Richtungen Bekannte: „Einen frohen Feiertag!“ Viele lächelnde Gesichter.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Wo soll der Umzug beginnen?“, frage ich einen Kämpfer der Selbstverteidigungskräfte, der auf der Straße umhergeht.
    „Kommt darauf an, zu welcher Organisation Sie gehören.“
    „Ich bin auf eigene Faust da.“
    Der Kämpfer blickt erstaunt: „Dann wohl auf dem Suworow-Platz.“

    Der Kämpfer sagte das, jedoch habe ich keine Hinweise gefunden, dass man die Menschen zum Feiertag dort hinbeordert hätte. Die typische Antwort der Menschen, die kommen: „Die Vorgesetzten mussten uns nicht auffordern, wir sind von selbst gekommen.“ Die Bedeutung dieses Feiertags ist den meisten unbekannt, man weiß wenig über die Ereignisse von 1612. In Sewastopol bezieht man den Tag der Einheit des Volkes auf sich.

    Wir werden in die Ukraine kommen, wir werden nach Weißrussland kommen

    Um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn des Umzugs, versinkt die Straße in einem Meer von Flaggen. Eine weißrussische fällt mir auf. Hochgehalten wird sie von einem grauhaarigen Mann im Tarnanzug. Wassili Wassiljewitsch ist 66 Jahre alt, 30 davon hat er in der Schwarzmeerflotte gedient.

    „Ich selbst bin aus Weißrussland, deshalb trage ich diese Flagge. Damit habe ich den ganzen Krim-Frühling bestritten, ich war bei den Selbstverteidigungskräften Sewastopols“, erzählt er. „Auch hier bei uns wollten die sich auf dem Nachimow-Platz versammeln, diese Ukr… – diese Ukrainer, aber wir haben sie aufs Schönste verjagt. Großenteils Junge waren es. Haben sich hier eingeschmuggelt als angebliche Studenten, als angebliche Bauarbeiter. Ich glaube, das waren keine Studenten oder Bauarbeiter, das waren gut ausgebildete Kämpfer. Doch wir vom Schwarzen Meer sind unbezwingbar: Wir haben denen die Leber auf den Asphalt geschmiert.

    Den Russischen Frühling auf die Krim und Sewastopol zu beschränken sei Unsinn, findet Wassili Wassiljewitsch.

    „Gerechterweise müssten alle slawischen Länder zu einem einzigen werden“, fährt er fort. „Ich überlege mit den Jungs schon, wie wir das hinkriegen. Wir gehen in die Ukraine, gehen nach Weißrussland, nach Serbien. Alles wird zu einem einzigen Staat.“
    „Wann?“, erkundige ich mich.
    „Das sind erst Pläne, noch nichts Konkretes.“
    „Wird der Staat Russland heißen?“
    „Natürlich, wie soll er denn sonst heißen?“

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    15 Minuten vor dem Marsch wird Musik eingeschaltet – über Sewastopol sind ja viele Lieder geschrieben worden. Die Leute treten von den Bürgersteigen auf die Fahrbahn und stellen sich in Kolonnen auf. Die kleinste Kolonne, die Selbstverteidigungskräfte Sewastopols, zählt nur etwa 50 Personen. Ich nähere mich einem Mann, der mit einem Transparent dasteht. Alexej ist 25 Jahre alt und arbeitet als Autoschlosser. In seiner Freizeit ist er bei der Selbstverteidigung.

    Mit der Ukraine haben wir zusammengelebt wie mit einer Ehefrau

    „Warum wir nicht in der Ukraine geblieben sind?“, wiederholt er meine Frage. „Wissen Sie, es ist wie im Familienleben. Eine Pralinen-Blumen-Phase gab es zwar nicht, aber am Anfang war das Zusammenleben erträglich. Als dann Juschtschenko an die Macht kam, kündigte sich Uneinigkeit an: Aus irgendwelchen Gründen begann Kiew, mit den USA und der EU zu verkehren. Aber das war eigentlich eher wie ein Freund der Ehefrau, den sie bald satt hatte. Und da trat dann unser Mann, Janukowitsch, auf den Plan. Ja, und als dann der Maidan kam und siegte, hat uns die Ukraine meiner Meinung nach einfach betrogen, ist zum Nachbarn gegangen. Und wollte dann noch unser Kapital: Kämpfer für die Eroberung der Krim und Sewastopols. Aber da haben wir gezeigt, dass wir stark sind. Zumal Russland uns unterstützte.“

    Alexej stand während des Krim-Frühlings am Checkpoint in Tschongar.

    „Als im Fernsehen fast täglich über verhaftete bewaffnete Kämpfer berichtet wurde, war das natürlich erfunden“, sagt er. „Es gab einzelne Versuche, Waffen hineinzuschaffen, wobei die Fahrer bei der Festnahme gewöhnlich sagten, die seien doch für uns. Aber wir stellten alles auf den Kopf und beschlagnahmten die Waffen. Ich glaube schon, dass diese Hilfe für die Kiew-Anhänger bestimmt war.“ Der Ukraine wünscht Alexej, dass sie „möglichst schnell zur Vernunft kommt“.

    Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit

    Der Umzug beginnt. Mindestens 15.000 Teilnehmer. Die erste Kolonne steht auf dem Nachimow-Platz, die letzte nicht weit vom Suworow-Platz. Vor der Kolonne der Nationalen Befreiungsbewegung werden eine Trikolore und Putin-Porträts hergetragen.

    „Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit“, sagt der Mann, der vorne geht. „Sie ist ein höchst vielfältiges Land: Lemberg zieht es in die eine Richtung, Iwano-Frankowsk wird ohnehin bald an Ungarn übergehen, und wir wollten zu Russland gehören. Aber Kiew hat uns, als wir noch zusammengehörten, zweimal Mieses angetan: Das erste Mal 2006, als beschlossen wurde, dass das Erlernen der ukrainischen Sprache Pflicht wird (Die Novaya Gazeta fand übrigens keine Bestätigung für diese Information – I.Sh.), und das zweite Mal ein Jahr später, als Timoschenko ankündigte, sie werde Sewastopol in die Knie zwingen (Timoschenko hat mehrmals erklärt, sie habe nie etwas Derartiges gesagt). Und deswegen konnte uns nichts mehr halten, als es zum Euromaidan kam. Jetzt hat sich die Ukraine außerdem auch auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen: Sie tanzt nach der Pfeife der Weltregierung. Sie wissen doch, dass Obama, Merkel und all die anderen nur Marionetten sind?“

    Ich nicke verständig.

    „Putin versucht, sich dem zu widersetzen. Die Weltregierung richtet die Länder zugrunde, nur Auserwählte führen ein Leben im Reichtum – haben Sie von der ‚goldenen Milliarde‘ gehört? Auch die Ukraine wird man zugrunde richten, die lässt keiner in den Club der Elite.“

    Unverhofft kommt eine Frau zu mir geeilt und streckt mir eine Zeitung entgegen. „Nationale Befreiungsbewegung: Für Souveränität“, lese ich. Auf der Titelseite das Gesicht des Abgeordneten Fjodorow. „Die Propagandamaschine, die uns von früh bis spät das Gehirn wäscht, ist mächtig“, schreibt er nicht etwa über Kisseljow oder Solowjow. „Doch die USA verstehen das Wesen des „russischen Wunders“ nicht.“ Das „russische Wunder“ sind nach Auffassung des Abgeordneten Fjodorow die Siege in den Kriegen gegen Napoleon und Hitler. Schwer zu sagen, ob sich Barack Obama für deren Rolle eignet. Aber er ist ja ohnehin nur eine Marionette … Dann folgen Klischeeartikel: Zentralbank – Agent der USA, Verfassung – zugeschnitten auf den Westen. Auflage 100.000 Exemplare.

    Es hätte eine Föderalisierung gebraucht

    Der Umzug, der um den ganzen zentralen Stadtring hätte führen sollen, endet abrupt: Die Polizei lässt die Leute nicht auf die Uliza Bolschaja Morskaja. Aber das stört niemanden. Die Leute rollen ihre Flaggen und Transparente zusammen und verziehen sich einfach. Sie haben den ganzen Weg über nichts skandiert, sind einfach mitgelaufen und haben der Musik zugehört: Ein Orchester spielte einen Marsch.

    Ein Teil der Stadtbewohner bleibt auf dem Lasarew-Platz, um sich zu fotografieren. Ich bemerke eine Frau mit vier Medaillen auf der Brust. Darunter auch eine Für die Heimkehr der Krim.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Nein, nein, ich habe natürlich nicht gekämpft“, wehrt sie ab und stellt sich vor: Tatjana Jermakowa, Präsidentin der Russischen Gemeinschaft Sewastopols. „Die Medaille hat man mir wahrscheinlich dafür verliehen, dass ich seit 1990 immer wieder Kampagnen für die Heimkehr der Krim und Sewastopols nach Russland initiiert habe. Damals, 1990, zeichnete sich schon ab, dass die UdSSR zusammenbrechen würde, und so stellten wir die Puschkin-Gesellschaft für Russische Kultur auf die Beine. Wir reisten nach Moskau, um Gorbatschow zu treffen, dann Chasbulatow, 1992 nahmen wir an einer Sitzung teil, auf der die Verfassungswidrigkeit der Übergabe der Krim an die Ukraine anerkannt werden sollte. Dann, als die Versuche, sich Russland anzuschließen, gescheitert waren, setzten wir uns für die russische Kultur ein: In Russland feiert man jetzt am 6. Juni [Puschkins Geburtstag – dek] den Tag der Russischen Sprache. Unsere Gesellschaft gehörte zu den Initiatoren dieses Feiertags.“

    Auf meine Frage, ob Sewastopol in der Ukraine hätte bleiben können, antwortet Jermakowa: „Die Ukraine hat ihre Fehler schon lange vor dem Euromaidan begangen. Wir haben beispielsweise jedem Präsidenten Briefe geschrieben: Föderalisieren Sie das Land, wir brauchen mehr Selbständigkeit, wir wollen kein Ukrainisch lernen, wir wollen eigene Gesetze. Aber es wurde jedesmal abgelehnt. Deswegen nein. Sewastopol war immer ein Vorposten Russlands auf der Krim, mit uns hätte man behutsamer umgehen müssen.“

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