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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Auf Andrej Makarewitsch und seine Band Maschina Wremeni – ein Urgestein der russischen Rockmusik – konnten sich jahrzehntelang breite Teile der Bevölkerung einigen. 

    Das änderte sich im Frühjahr 2014, als Makarewitsch – noch vor der Krim-Angliederung und dem Krieg im Donbass – vor einer „entfesselten Propaganda“ und einem möglichen Krieg mit der Ukraine warnte. Beim Friedensmarsch zeigte er sich mit einem Peace-Symbol und einer Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Wenig später hing im Zentrum Moskaus ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Die Fünfte Kolonne“ – dazu die Gesichter von Makarewitsch, Juri Schewtschuk, Boris Nemzow, Alexej Nawalny und Ilja Ponomarjow.

    Die Lage spitzte sich weiter zu, als Makarewitsch im August 2014 ein Konzert in der Ukraine gab – in einem dortigen Lager für Geflüchtete aus den umkämpften Donbass-Gebieten. 

    Dem Musiker wurde öffentlich „antirussisches“ Handeln vorgeworfen, Politiker sprachen von „Kooperation mit Faschisten“, in staatsnahen Medien erschienen Beiträge und Sendungen wie 13 Freunde der Junta, die Makarewitsch als Volksverräter darstellten, und das Netz füllte sich mit Hasskommentaren über den Musiker.

    Die Shitstorms gegen Makarewitsch nehmen auch vier Jahre später kein Ende, wie ein aktueller Vorfall zeigt, in den sogar Außenamtssprecherin Maria Sacharowa involviert ist. Diesen kommentiert Oleg Kaschin auf Republic und fordert: Lasst den Klassiker in Ruhe!

    Bevor ihr jemanden vom Dampfer der Modernität werft, denkt an seine Bedeutung für die Kultur unseres Landes – möglicherweise wiegt sie schwerer als die Worte und Taten, für die ihr ihn bestrafen wollt. 

    Natürlich ist es in Zeiten von Harvey Weinstein und Kevin Spacey merkwürdig, das zu sagen. Am nächsten an Weinstein und Spacey dran scheint in unserem Kontext der Abgeordnete Sluzki, doch nein, eine lineare Logik greift hier nicht. Sluzki steht eine Untersuchung in der Staatsduma bevor, aber sonst wohl erstmal nichts; zumindest gibt es bisher keinen Anlass zu sagen, dass alle gegen Sluzki wären. Klar, da sind diese drei Journalistinnen, da sind ein paar ihrer Kollegen, die sogar vor der Duma protestierten oder wie Sergej Dorenko zum Boykott aller Nachrichten mit Sluzki aufriefen.

    Hingegen hat Wjatscheslaw Wolodin bereits Partei für den der Belästigung Beschuldigten ergriffen, und Duma-Kollegen, also Leute, die das Disziplinarverfahren gegen Sluzki durchführen werden, äußern sich nicht negativ über ihn. In diesem Sinne ist er von Weinstein offenbar noch meilenweit entfernt. 

    Weniger davon entfernt ist Andrej Makarewitsch. Der Vergleich mag weit hergeholt erscheinen, aber im Grunde ist es so: Den Platz, den in westlichen Gesellschaften sexuelle Belästigung einnimmt, besetzt bei uns echter oder (öfter) angeblicher Antipatriotismus.

    Die Rolle einer gesellschaftlichen Naturgewalt, die Makarewitsch auf die Unzulässigkeit seiner Worte hinweist, spielen die loyalistische Presse und einige offizielle Personen. Darunter auch Maria Sacharowa vom Außenministerium. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass ein beiläufiger Facebook-Kommentar ordentlich eingedampft wurde. Wörtlich hieß es da: „Mir scheint, die staatliche Propaganda hat ein 25. Einzelbild erfunden, das die Menschen wahrhaftig in boshafte Deppen verwandelt“ und daraus wurde dann: „Makarewitsch nannte die Russen boshafte Deppen.“ Ausgerechnet dank jenen, die sich derart ereifern, wurde dieser Satz dermaßen ungeheuerlich und unzumutbar, als hätte Makarewitsch Russland den Krieg erklärt, und nicht nur erklärt, sondern sofort auf Kreml, Christ-Erlöser-Kathedrale und noch auf irgendeinen Kindergarten das Feuer eröffnet.  

    Als Zielscheibe staatlicher und staatsnaher Kritik steht Makarewitsch nicht alleine da – die Propaganda fällt in Russland regelmäßig über Leute her, die etwas gesagt haben, was irgendwie daneben war. Das letzte prominente Beispiel war die „Kraft, Unverschämtheit und Grobheit“ des Schauspielers Alexej Serebrjakow [Hauptdarsteller in Leviathandek]. 

    Aber das Lieblings-Angriffsobjekt ist Makarewitsch, der die Macht der loyalistischen Missbilligung erstmals 2014 zu spüren bekam, als die Hetzjagd auf ihn begann für seinen Auftritt im Frontgebiet im Donbass, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Innerhalb von vier Jahren wurde Makarewitschs Image durch die Bemühungen von kremltreuen Medien und Aktivisten ernsthaft korrigiert – er ist nicht mehr unser Mick Jagger, kein ehrwürdiges Rock-Urgestein, sondern eher ein moderner Galitsch: für die einen Feind und ausgekochter Anti-Sowok, für die anderen, im Gegenteil, das Gewissen der Nation. In jedem Fall aber vor allem eine politische Figur, die vor einer einfachen Entscheidung steht – entweder durchhalten bis zum Zusammenbruch des Regimes, und dann am Tag der Bestattung der russischen „Himmlischen Hundertschaft“ am Roten Platz irgendwas Trauriges singen oder still und heimlich abziehen und seine Bürger-Lyrik einem immer größer werdenden Exilpublikum präsentieren. Klar ist die zweite Variante ungleich wahrscheinlicher und realistischer als die erste, doch eine dritte gibt es offenbar einfach nicht mehr (obwohl es sie ja gerade noch gab – vor nur zehn Jahren sang Makarewitsch bei der Inauguration Dimitri Medwedews und musste sich gegen Angriffe der liberalen Öffentlichkeit verteidigen).

    Es geschieht ein furchtbares Unrecht, wenn das Schicksal eines unbestrittenen Klassikers der heimischen Popmusik formal in die Hände der Jungs von Lenta.ru und der Mädels von NTW gerät. Die Band Maschina Wremeni wird kommenden Frühling fünfzig, mit ihren Songs sind tatsächlich mehrere Generationen aufgewachsen (Nasche obschtscheje detstwo proschlo na odnich bukwarjach/dt. „Wir haben als Kinder alle aus der gleichen Fibel gelernt“). Man kann sie durchaus als einzigartige kulturelle Institution bezeichnen – wenn schon nicht wie das Bolschoi-Theater, so doch mindestens wie das Alexandrow-Ensemble, und eine solche Institution hat in jedem Fall eine sorgsame Behandlung verdient. 

    Tun wir doch nicht so, als würden beiläufige Kommentare auf Facebook tatsächlich jemanden kränken. Das sieht mir eher nach dem Testlauf irgendwelcher Medientechnologien aus, nach der Konstruktion eines Skandals aus dem Nichts, einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Gut, offenbar braucht ihr solche Experimente, wie man längst erkennen kann, seid ihr ganz versessen auf Informationskriege. Aber was veranlasst euch, gerade mit diesem Menschen zu experimentieren, einem altehrwürdigen Künstler? Wenn er dadurch einen Herzinfarkt erleidet, wie gut schlaft ihr dann noch, wie lebt ihr dann überhaupt weiter?

    Man kann darüber diskutieren, ob das Fernsehen seine Zuschauer zu boshaften Deppen macht, aber es steht völlig außer Frage, dass konkret Andrej Makarewitsch einen solchen Umgang nicht verdient, und sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie seine Ankläger es tun, ist reinste, destillierte Niedertracht. 
    Rein formal ist nicht bekannt, ob diese Niedertracht einen konkreten Autor hat. Sie verteilt sich auf beliebte Online-Publikationen, Boulevardblätter, staatliche Fernsehsender und öffentliche Personen, die es anscheinend nötig haben, Makarewitsch einen Tritt zu versetzen. Aber all diese Medien und all diese Personen eint, dass jeder von ihnen durch einen einzigen Anruf aus dem Kreml zu stoppen wäre.

    Sergej Kirijenko, der 1999 beim Wahlbündnis Union der rechten Kräfte (SPS) die Liste anführte, sollte sich daran erinnern, wie während der Wahlkampfes gerade Maschina Wremeni Konzerte zur Unterstützung der SPS gab und in den TV-Wahlspots sang – wahrscheinlich für Geld, aber Kirijenko hat ja dieses Geld investiert, weil er dachte, gerade die Stimme Makarewitschs (und nicht etwa Kobsons) sei imstande, ihm die Stimmen der Wähler zu bringen.

    Die russische Gesellschaft und vor allem jener Teil, um den es beim Thema Hetze gegen Makarewitsch geht, befindet sich derzeit nicht in einem Zustand, wo man auf ihre Klugheit und Nachsicht zählen könnte. Daher hätte es keinen Sinn, Makarewitschs Äußerung und ihre Unzulässigkeit inhaltlich zu erörtern – die Wahrheit kommt derzeit oft nicht im Disput ans Licht, sondern in direkten Anweisungen.

    So wendet man sich besser direkt an Kirijenko und seine Kollegen: Zeigt Gewissen, gebietet der Jagd auf Makarewitsch Einhalt, und lügt nicht, dass ihr das nicht könnt. 

     

    Das Lied „Marionetten“ aus dem Jahr 1974 war in der Sowjetunion verboten. Erst während der Perestroika wurde es auf der Compilation „Zehn Jahre später“ veröffentlicht

     


     


    Ende Februar 2014 , direkt nach den Ereignissen auf dem Maidan und noch vor der Angliederung der Krim, äußerte sich Andrej Makarewitsch in einer Kolumne, die auf Snob erschien. Diese Äußerungen bilden den Anfang der Demontage, der der Frontmann der Gruppe Maschina Wremeni laut Oleg Kaschin bis heute ausgesetzt ist und die im obigen Text kommentiert wird.

    Deutsch

    Über die Widerwärtigkeit

    Ich mache mir Sorgen ob der Ereignisse in der Ukraine. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir das, was in diesem Zusammenhang bei uns geschieht. Ich habe schon Eindruck, dass unsere Staatsmacht denkt: Das Land, das Volk – das sind die, die regieren. Wenn ein Herrscher jedoch nicht auf sein Volk hört und er ihm darüber hinaus Gewalt antut, so wird das Volk ihn wegfegen. Insofern hat in der Ukraine eine ganz typische Revolution stattgefunden. Und bei all meiner Abscheu gegenüber Revolutionen, kann ich sie nicht als ungerechtfertigt bezeichnen. Jetzt kann man, soviel man will, mit den Flügeln schlagen oder die aufständischen Bürger als „braune Pest“ bezeichnen – es sieht einfach widerwärtig aus.

    An eine solch entfesselte Propaganda und einе solche Menge von Lügen kann ich mich seit den besten Breshnew-Zeiten nicht erinnern. Und das lässt sich auch gar nicht vergleichen: Damals gab es viel weniger Möglichkeiten. Leute, was wollt ihr denn bloß? Ein öffentliches Klima schaffen für den Truppen-Einmarsch in das Gebiet eines souveränen Staates? Die Krim abhacken?

    Das Zentralkomitee der KPdSU hatte sich vor der Entsendung von Truppen in die Tschechoslowakei nicht mit dem Volk abgestimmt. Und was war, außer dass sie sich vor der ganzen Welt bloßgestellt haben?
    Heute sind dort zwei Länder statt einem. Und was ist mit dem einen und dem anderen? Haben wir ihre Liebe gewonnen? Oder sonst irgendwas?

    Es ist ja bereits gelungen, eine ziemlich große Masse von Idioten und Unbelehrbaren mit instabiler Psyche zu Zombies zu machen. Mit der Waffe in der Hand reißen sie sich schon darum, die russischsprachige Bevölkerung zu retten – als hätte sie darum gefleht. Und sie hat es tatsächlich geglaubt. Mensch, ihr Fernsehmacher, was wollt ihr denn bloß? Auf lange Zeit die Völker entzweien, die Seite an Seite leben? Das gelingt euch. Aber wisst ihr auch, wie das endet? Wollt ihr einen Krieg mit der Ukraine? Genau wie mit Abchasien wird das nicht klappen: Die Leute auf dem Maidan sind schon abgehärtet und wissen, wofür sie kämpfen: für ihr Land, für ihre Unabhängigkeit. Und für wen wir? Für Janukowitsch? 

    Mensch, Leute, warum habt ihr ihn in Russland versteckt? Ein ehrlicher Mensch wird keine Verbrecher und Diebe decken. Ein Dieb schon. Warum bringt ihr euch vor der Menschheit in Verruf? Ich weiß, es ist euch scheißegal, aber trotzdem?

    Natürlich wurden in der Ukraine zahlreiche Dummheiten begangen – mit der russischen Sprache, mit dem Abriss von Denkmälern. Aber es ist unvermeidbar, dass eine Revolution von solchen Dummheiten begleitet wird – eine gespannte Feder entlädt sich  in die Gegenrichtung. Aber danach findet alles seinen Platz – Dummheit kann nicht ewig dauern.

    Mensch, Leute, wir müssen mit denen leben. Wie bisher in Nachbarschaft. Und nach Möglichkeit in Freundschaft. Und wie sie leben, das entscheiden sie selber.

    Oder habt ihr Lust zu schießen? Es heißt, Patriotismus stärkt und festigt.

    Nicht für lange.


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  • Krim

    Krim

    Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Dieses Datum verbindet sich mit dem Schlüsselereignis der dritten Amtsperiode von Wladimir Putin: der Annexion der Krim. An diesem Tag formalisierte Putin den Anschluss der Krim an die Russische Föderation, der die Besetzung der Halbinsel durch russische Sondertruppen und ein sogenanntes Referendum unter russischer Kontrolle vorangegangen waren. Auf der Krim setzte Putin einen im Detail vorbereiteten Plan um, für den sich im Kontext des ukrainischen Euromaidan – Massendemonstrationen, die zu einem Machtwechsel in Kiew führten und die Westorientierung der Ukraine bestärkten – die Gelegenheit ergab. 

    Die militärische Aktion und Russlands Verletzung des Völkerrechts, das von der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates ausgeht, überraschten nicht nur die westliche Politik, sondern auch die Bevölkerung der Krim und Russlands. Die USA und die EU reagierten mit Sanktionen. Dieses Sanktionsregime ist im Zuge des Krieges in der Ostukraine noch verstärkt worden. 

    Dieser Krieg, in dem Russland lokale Separatisten im Donbass unterstützt, hat die Krimthematik zunehmend überschattet. Auch wenn die offizielle Politik westlicher Staaten weiterhin auf der Nichtanerkennung der Annexion der Krim beruht, so geht dies einher mit der Einschätzung, dass sich am derzeitigen Status quo in nächster Zeit wenig ändern wird. Diese Haltung lässt das Thema somit nicht zur Priorität werden. 

    Dieser politische Kontext ist ein wichtiger Teil der Erklärung dafür, warum im Rückblick die Konturen der Ereignisse von 2014 verschwimmen und auch in der deutschen Berichterstattung und Öffentlichkeit bedenkliche Schlussfolgerungen möglich sind. Die Krim-Annexion war, anders als mitunter behauptet, nicht das Resultat einer Mobilisierung der Krim-Bevölkerung für einen Anschluss an Russland, und die Krim war auch nicht „schon immer Teil Russlands“, was der Annexion den Anschein einer historischen Berechtigung verleiht.

    Zugehörigkeit der Krim

    In der ersten Hälfte der 1990er Jahre gab es auf der Krim politische Gruppierungen, die für die Unabhängigkeit der Krim beziehungsweise einen Anschluss an Russland eine Mehrheit der regionalen Bevölkerung mobilisieren konnten. Diese Bewegung scheiterte an inneren Spaltungen und an ihrer Unfähigkeit, auf die realen sozioökonomischen Probleme der Region einzugehen. Dazu kam noch die bewusste Entscheidung des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, die Zugehörigkeit der Krim zum postsowjetischen ukrainischen Staat nicht in Frage zu stellen – das Interesse an einem guten Verhältnis zum Westen war wesentlich höher.1 Die regionale Mobilisierung auf der Krim mündete letztendlich in einen schwachen, durch seine sichtbare Institutionalisierung in der ukrainischen Verfassung jedoch symbolisch bedeutsamen Autonomiestatus der Krim. 

    Auch wenn russische Politiker wie zum Beispiel der ehemaliger Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow, seitdem mitunter versuchten, mit Blick auf ihre Wählerschaft in Russland die Krimthematik politisch zu instrumentalisieren, gab es bis 2014 keine breitere Mobilisierung auf der Krim. Die wirtschaftliche Entwicklung der Region stagnierte, der kleine, durch die Krimverfassung definierte Spielraum der Autonomie blieb ungenutzt. Die Integration der seit dem Ende der Sowjetunion zurückgekehrten Krimtataren, die von Stalin nach Zentralasien und Sibirien deportiert worden waren, wurde nicht zur Priorität Kiews, aber am politischen Wahlverhalten gemessen, war die Region fest in den Südosten der Ukraine integriert.

    Chruschtschows Geschenk

    Die inzwischen weit verbreitete, zu wenig hinterfragte These des historischen Anspruchs Russlands auf die Krim ist das Resultat einer höchst selektiven Interpretation der Geschichte. Das russische Narrativ der „russischen Krim“ leitet sich ab aus der Zeit von 1783, der Eroberung der Krim durch Zarin Katharina der Großen, bis 1954, dem vermeintlichen Geschenk Chruschtschows an die ukrainische Sowjetrepublik. Die Tatsache, dass die Krim vor 1783 jahrhundertelang unter krimtatarischer und osmanischer Herrschaft war, wird in der russischen Geschichtsschreibung ausgeblendet und ist im Westen einfach zu wenig bekannt. Darüber hinaus hält sich das stark simplifizierende Bild des Transfers der Krim als Chrutschtschows persönliches Geschenk an die Ukraine im Rahmen der 1954 gefeierten „brüderlichen“ russisch-ukrainischen Beziehungen (eine sowjetische Interpretation des Perejaslaw-Vertrags von 1654, in dem sich die Kosaken unter Hetman Bohdan Chmelnyzky durch einen Treueeid den Schutz des russischen Zaren Alexej I. sicherten). Archivdokumente zeigen, dass Chruschtschow zwar eine zentrale Rolle beim territorialen Transfer der Ukraine zukommt, dass er jedoch nicht in einer politisch derart gefestigten Position war, die eine alleinige Entscheidung erlaubt hätte, und dass wirtschaftliche Gründe eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielten. Der Symbolgehalt von 300 Jahren Perejaslav wurde hingegen erst im letzten Moment hinzu addiert.2

    Narrativ der „russischen Krim“

    Das russische Narrativ des Krimnasch („Die Krim gehört uns“), das Kontinuität auf die facettenreiche Geschichte der multiethnischen Krim projiziert, speist sich aus einer selektiven Geschichtsschreibung. Die Region spielt dabei vornehmlich eine Symbolfunktion, die bereits in der Zarenzeit geprägt, in der Sowjetunion umgewidmet und in der postsowjetischen Zeit wiederbelebt wurde. Die Grenzen zwischen Mythen und Fakten sind hierbei fließend. Die Krim ist die Region mit einem subtropischen Klima an der Südküste, die viele an die südeuropäischen Länder, vor allem an Italien und Griechenland erinnert, und in der die russische Zarenfamilie und Aristokratie (nicht nur aus Russland) Urlaub machte. Die Region ist fest in der russischen Literatur und Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert. Puschkin, Tolstoi und Tschechow gehören zu den prominentesten Autoren, die die Krim in ihren Gedichten und Erzählungen verewigten. Die Krim wurde schließlich zum sowjetischen Urlaubsparadies der Arbeiterklasse, Pioniere und Parteinomenklatura umdefiniert.

    Um die Krim ranken sich zahlreiche, von verschiedenen Völkern geprägte Legenden und Mythen. Viele Küsten- und Bergformationen tragen bildhafte krimtatarische Namen. Diese haben die Zeit der krimtatarischen Deportation überlebt und sind (wie beispielsweise der Berg Ai-Petri, ein beliebtes Touristenziel in der Nähe von Jalta) bis heute ein fester Bestandteil der regionalen Identität.

    Am Beispiel der Krim gelang sowohl dem zaristischen Russland als auch dem sowjetischen Regime die Umdeutung verlustreicher Schlachten – während des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs – in russische beziehungsweise russisch-sowjetische Heldentaten. Die Präsenz der Schwarzmeerflotte vor der Küste Sewastopols, die nach 1991 zum Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine wurde und nach langen Verhandlungen Ende der 1990er Jahre unter Verrechnung ukrainischer Schulden für Energielieferungen aus Russland aufgeteilt wurde, symbolisiert diesen Teil der Geschichte. 
    Die Stadt Chersones in der Nähe von Sewastopol gilt als die Wiege der russisch-orthodoxen Zivilisation – seit 2014 ist die mutmaßliche Taufe von Großfürst Wladimir in Chersones Ende des 10. Jahrhunderts erneut zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden.

    Terra incognita 

    Seit der Annexion der Krim durch Russland ist die Krim für westliche Beobachter und UkrainerInnen ohne familiären Bezug zur Krim weitgehend zur terra incognita geworden. Der ukrainische Staat erlaubt den Zugang zur Region nur in einem streng definierten gesetzlichen Rahmen, und die Einreise in die Region über Russland stellt einen Verstoß gegen ukrainisches Gesetz dar. Aus den Berichten derer, die die Krim seit 2014 verlassen haben – Schätzungen zufolge etwa 40.000 bis 60.000 Menschen, darunter mindestens zur Hälfte Krimtataren3 – und aus den Berichten krimtatarischer und Menschenrechtsorganisationen sowie einiger weniger westlicher JournalistInnen, lässt sich das Ausmaß der in erster Linie gegen die krimtatarische Bevölkerung gerichteten Repressionen ablesen. Außerdem ist ein Wandel von einer von Russland geschürten Hochstimmung 2014 in eine eher abwartende Haltung erkennbar. 

    Einer repräsentativen Umfrage4 zufolge, die das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) von März bis Mai 2017 mit Hilfe eines internationalen Dienstleisters und ausgebildeten lokalen Interviewern durchführte, ist unter der Krim-Bevölkerung eine Orientierung nach innen festzustellen. Die Kontakte der Krim-Bevölkerung zum Rest der Ukraine sind fast vollständig unterbrochen. Eine schon immer stark ausgeprägte regionale Identität (krymchanin = „Krim-Bewohner“) wurde durch die Ereignisse von 2014 noch gestärkt. Die ZOiS-Umfrage zeigt in diesem Zusammenhang, dass nur sechs beziehungsweise ein Prozent der Befragten Russland beziehungsweise die Ukraine als ihr Zuhause begreifen.  Zugleich haben die Menschen auf der Krim ein sehr geringes Vertrauen in die lokalen und regionalen politischen Institutionen. Die Umfrage veranschaulicht darüber hinaus das Ausmaß sozialer und wirtschaftlicher Nöte der Bevölkerung. 

    Nach der Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 hat der Kreml die Wahlbeteiligung und die Zustimmung für Putin auf der Krim als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Krim zu Russland dargestellt. Damit schrieb er eine neue Seite in die mythenumwobene Geschichte der Halbinsel.


    1. Sasse, Gwendolyn (2007): The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge ↩︎
    2. ebd. ↩︎
    3. Freedom House: Crimea ↩︎
    4. Sasse, Gwendolyn (2017): Terra Incognita: The Public Mood in Crimea, ZOiS Report 3/2017. Die Umfrage hatte zum Ziel, einen Einblick in die Stimmung und das Alltagsleben auf der Krim zu bekommen. Die derzeitige Lage auf der Krim entspricht nicht den soziologischen Idealbedingungen für eine Umfrage. Dennoch kann die Schlußfolgerung nicht sein, lieber gar nicht zu versuchen, die Stimmen der betroffenen Menschen hörbar zu machen. Die Umfrage versteht sich als ein Beitrag dazu, die Situation auf der Krim im öffentlichen Diskurs präsenter zu machen. ↩︎

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  • Ein Held ist, wer nicht schießt

    Ein Held ist, wer nicht schießt

    „Von diesem Abend“, so sagt Kirill Serebrennikow, Leiter des Moskauer Gogol Centers, „werden wir noch unseren Enkeln erzählen.“ Zu Gast ist Swetlana Alexijewitsch. Es ist ihr erster öffentlicher Auftritt in Moskau, seit sie 2015 den Literaturnobelpreis erhielt.

    Die Belarussin, die in der Ukraine geboren ist und auf Russisch schreibt scheint selbst ein homo (post-)sovieticus, dem sie in ihren Büchern nachgeht. In ihren „Stimmen-Collagen“ behandelt sie die großen Themen, wie den Großen Vaterländischen Krieg, den Afghanistan-Krieg oder den Alltag während und nach den wilden 1990ern. Die Geschichten, die ihre Protagonisten erzählen, wirken dabei wie eine Gegenerzählung zur offiziellen Propaganda, zu sowjetischen Mythen und „Heldengeschichten“.

    Bis heute positioniert sich Alexijewitsch politisch, kritisiert das Regime Alexander Lukaschenkos in Belarus oder den Krieg in der Ostukraine. Das macht ihr nicht nur Freunde. Unlängst erschien auf Regnum ein Interview mit der Schriftstellerin, das diese abgebrochen und dessen Veröffentlichung sie untersagt hatte. Während des Gesprächs ist der Journalist Sergej Gurkin die Schriftstellerin immer wieder für ihre Positionen angegangen. Als Alexijewitsch beispielsweise Verständnis für „den ukrainischen Kampf gegen die russische Sprache“ – wie es Gurkin ausdrückte – äußerte, unterstellte er ihr, den Leuten verbieten zu wollen, in der Sprache zu sprechen, in der sie denken.
    Gurkin führte das Interview ursprünglich für das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg, das sich jedoch gegen den Abdruck entschied. Schließlich publizierte er den Text bei der Nachrichtenagentur Regnum, die für ihre kremlfreundlichen Positionen bekannt ist. Auf Social Media waren sowohl das Interview selbst als auch die Vorgehensweise des Journalisten heftig diskutiert worden. Gurkin wurde von Delowoi Peterburg entlassen.

    An dem Abend im Gogol-Zentrum jedoch blieben ähnliche Zwischenfälle aus. Die Novaya Gazeta druckt die Rede von Swetlana Alexijewitsch ab: Sie ist ein bedingungsloses Plädoyer für den Frieden.

    „Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück.“ – Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch / Fotos © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    „Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück.“ – Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch / Fotos © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Ich glaube, das, was ich heute sagen will, kann man nicht als Vortrag bezeichnen: Ein Vortrag braucht Distanz. Bei dem Thema Ich will nicht über den Krieg schreiben habe ich die nicht – es ist das Thema, das mich in den 40 Jahren meiner Tätigkeit am meisten bewegt hat. 

    Als ich in Afghanistan war, sah ich einen unserer Soldaten. Gerade noch hatte er unsere Dokumente kontrolliert – und als wir den Generalstab verließen, lag er tot da. Getötet nicht von Naturgewalten, sondern von einem anderen Menschen. Ich bin absolute Pazifistin. Niemand wird mich überzeugen, dass das menschliche Leben mit irgendetwas aufzuwiegen ist – es ist ein Gottesgeschenk, und wir haben es nicht bekommen, um im Donbass oder in Syrien zu sterben. Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen, aus diesem System aussteigen und nicht daran teilnehmen. Ich glaube, unsere Nachkommen werden uns für Barbaren halten, weil wir so mit dem menschlichen Leben umgehen.  

    Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen

    Die Köchinnen, die am Zweiten Weltkrieg teilnahmen, erzählten, sie hatten riesige Kessel. Darin kochten sie Brei und Suppe für 400 bis 500 Menschen, aus der Schlacht kamen dann aber nur zehn zurück. Sie kamen völlig verändert wieder, wussten nicht, wer sie waren, konnten den anderen nicht in die Augen sehen. Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht. Ich glaube, das ist uns in der Verherrlichung des Sieges entglitten. Das ist ein Sieg, der sich kaum von einer Niederlage unterscheidet.

    Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück. Jetzt sind wir fast bis ins Mittelalter zurückgeworfen. Als ich durch Moskau fuhr, sah ich unglaublich viele Menschen, die irgendeiner religiösen Zeremonie beiwohnten. Das ist eine Form der Flucht vor dem, was derzeit passiert. Eines Tages sind wir von dem rechten Weg abgekommen, den wir scheinbar eingeschlagen hatten, aber auf dem wir doch nie ins 21. Jahrhundert geschritten sind.

    Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht

    Als ich im Jahr 2000 in Europa war, freuten die sich für uns, sagten: „Endlich gehört ihr zu uns.“ Die Angst vor dem Atomkrieg hatte die Welt gelähmt. Wir müssen verstehen, wie wir wieder zu Kriegsmenschen wurden, warum wir vergessen haben, was uns die Väter erzählten.

    Für mein Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht erzählte mir eine Frau: Bei Verkündung des Kriegsendes verschossen sie und ihre Kameraden die gesamte Munition aus dem Waffenarsenal – Granaten, Patronen – hintereinander weg. Am nächsten Tag kam eine Kommission in diese Einheit und wollte die Schuldigen finden – und alle waren aufrichtig erstaunt: Wieso denn? Die Leute dachten, nach all den Tränen, all dem Leid könne es nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut – „zu radioaktiver Asche“ soll da jemand werden.

    Die Leute dachten es könne nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut

    Mir scheint, Frauen und Kinder verfügen über ein Wissen um den menschlichen Irrsinn, der sich auf welche Weise auch immer in unserer Natur festgesetzt hat. Eine meiner Heldinnen sagte: „Ich erzähle Ihnen von einem solchen Krieg, bei dem sogar ein General kotzen muss“ – das ist eine der besten Geschichten in dem Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Sie erzählte: Wenn der Nahkampf beginnt und die Leute ganz dicht voreinander stehen, verschwindet der Mensch und es bleibt nur mehr Biomasse. Wenn sie einander in Augen und Bäuche stechen, wenn sie nicht schreien, sondern brüllen, wenn einzig der Instinkt funktioniert – dann zeigt sich, dass wir eigentlich nur hauchzart mit Kultur bestäubt sind.

    Viele Frauen, die den Krieg erlebt haben, sagten, man müsse nicht über den Sieg reden und sich daran erinnern. Erinnern müsse man sich an die Erfahrung, ein Mensch zu bleiben, nicht zu töten. Neulich habe ich im Fernsehen gesehen, wie Soldaten von Blasmusik begleitet in den Donbass geschickt werden. Aber ich finde, heute ist der ein Held, der nicht schießt.

    Wenn der Nahkampf beginnt, dann verschwindet der Mensch und es bleibt nur ein biologisches Wesen

    Dostojewski hat in seinen Tagebüchern davon geschrieben, wie viel Mensch im Menschen steckt. Es sind gar nicht so viele, die darüber nachdenken und persönliche Verantwortung für das Weltgeschehen übernehmen. Nicht einmal die heutige Religiosität hat dazu geführt. Sondern sie hat alle zu einer Art Volkskörper gruppiert, der bekanntlich fühlt, aber nicht denkt.

    In meinen Büchern will ich Versionen von Menschen zeigen, die aus verschiedenen Perspektiven auf ein bestimmtes Ereignis blicken. Eine Pilotin hat den einen Krieg erlebt,  eine Frau, die im Nahkampf war, einen anderen, und eine MG-Schützin einen dritten. Aber alle sagten hinterher: Hauptsache, man sieht dem, auf den man schießt, nicht in die Augen. Denn Krieg verlangt Dumpfheit, nur so kann man töten.

    Strelkow sagte, im Donbass sei es in der ersten Woche am schwierigsten gewesen, die Leute dazu zu bringen, aufeinander zu schießen. Weil man dafür aus Friedenszeiten heraustreten muss an einen Ort, wo man für etwas, wofür man normalerweise eingesperrt wird, Medaillen bekommt. Und am Anfang haben die Leute das ungern gemacht, gezwungenermaßen.

    Als ich im Krieg war, wurde mir klar, dass ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ein anderer wird und nicht mehr der ist, den die Mama zum Beispiel in die Ballettschule gebracht hat. Als ob sich ein Dämon einnisten würde, ernährt von Kriegskultur, die unsere Gesellschaft durchdringt und bedingungslos beherrscht.

    Ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ist nicht mehr der, den die Mama einst zum Ballett gebracht hat

    Das Böse ist besser trainiert als das Gute. Die Kunst hat übrigens eine dunkle Seite, die vom Bösen inspiriert ist.

    Im Krieg habe ich gesehen, wie viel Schönheit es da gibt, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen – wenn Geschosse im Nachthimmel fliegen, wenn die Kameraden abends singen, jeder in seiner Sprache. Im Angesicht des Todes offenbaren die Menschen das, was sehr tief in ihnen verborgen liegt. In den ersten Wochen meiner Zeit in Afghanistan stieß ich auf eine Ausstellung moderner Waffen. Der Mensch hat sehr viel Zeit dafür aufgewendet, das Böse schön zu machen.

    In Zukunft erwarten uns noch schrecklichere Kriege – nicht mehr Mensch gegen Mensch, sondern Mensch gegen Natur. Sie wird uns auf die Probe stellen, wie bei Fukushima. Ein starker Taifun kann die Zivilisation in einen Haufen Müll verwandeln.

    Im Krieg habe ich gesehen, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen

    Ich war in Tschernobyl, als die Leute von dort evakuiert wurden. Ein Soldat sagte, eine Frau dort bekämen sie nicht einmal gewaltsam aus ihrem Haus gezerrt. Als ich hinkam, sah sie mich, allein unter Männern, und sagte: „Kindchen, ist das denn Krieg? Schau, die Vögel fliegen, sogar eine Maus hab ich heut früh gesehen, unsere Soldaten sind hier – und ich soll diesen Grund und Boden verlassen?“ Die Welt ringsum ist unverändert – der Himmel, die Blumen, die Erde scheinbar so, wie wir sie kennen. Doch auf die Erde darf man sich nicht setzen, die Blumen darf man nicht pflücken, die Früchte nicht essen. Das neue Böse hat keinen Geruch. Du hörst es nicht und  spürst es nicht, weißt nicht, auf wen du schießen sollst. Tschernobyl hat die Menschen von einer Realität in die andere geworfen. Als ich durch diese Zone fuhr, fühlte ich mich weder als Russin noch als Belarussin noch als Französin, sondern als Vertreterin einer biologischen Art, die vernichtet werden kann. Wir haben sehr in die Zukunft geschaut, aber tun so, als wäre nichts geschehen.

    Tschernobyl hat alles verändert. Was bedeutet „nah“ und „fern“, wenn am vierten Tag die radioaktiven Wolken über Afrika schweben? Was heißt „unsere“ und „fremde“: Wir haben in Belarus keine eigenen Atomkraftwerke, aber der Wind wehte ein paar Tage von der Ukraine in den Norden, und Tschernobyl wurde auch unser Problem.

    Was wir heute Krieg nennen, sieht nicht mehr so aus wie früher. Das Böse hat viele neue Gesichter, die wir oft nicht auseinanderhalten können. Für die Zukunft sind wir überhaupt nicht bereit.   

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  • Krieg im Osten der Ukraine

    Krieg im Osten der Ukraine

    Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

    Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

    Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

    Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

    Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

    Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

    Eskalation

    Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

    In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

    Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

    Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

    Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

    Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

    Verhandlungen

    Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

    Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

    Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

    Entwicklung seit Minsk II

    Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

    Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

    Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

    Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


    1. vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“ ↩︎
    2. vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program ↩︎
    3. vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege ↩︎
    4. Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew ↩︎
    5. The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben ↩︎
    6. vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert ↩︎
    7. Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine ↩︎
    8. vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine ↩︎
    9. vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy ↩︎
    10. vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen ↩︎
    11. vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg ↩︎
    12. vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine ↩︎
    13. vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen ↩︎
    14. vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij ↩︎
    15. vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine ↩︎
    16. vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand? ↩︎
    17. vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen ↩︎
    18. osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017 ↩︎
    19. vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016 ↩︎
    20. vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell – testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas ↩︎
    21. vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016 ↩︎
    22. vgl. unhcr.org: Ukraine ↩︎
    23. vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update ↩︎

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    Russischer Winter

    Im Donbass gibt es im Moment die schwersten Kämpfe seit Langem zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten. In Awdijiwka harren zehntausende Einwohner ohne Strom und Heizung aus, auf beiden Seiten der Frontlinie gibt es Tote. Neue Tote in einem Konflikt, der nach UN-Angaben bislang knapp 10.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Waffen haben trotz des 2015 vereinbarten Minsker Friedensabkommens nie geschwiegen.

    In einigen russischen Medien wird derzeit über die konkrete Gemengelage vor Ort spekuliert, während andere analysieren, wie sich die Haltung des neuen US-Präsidenten Trump künftig auswirken könnte. Auf dem unabhängigen Online-Portal Republic fragt Journalist Oleg Kaschin dagegen nur am Rande nach möglichen Interessen oder Stellungskämpfen, sondern fokussiert auf Gefühle und Befindlichkeiten innerhalb der russischen Gesellschaft.

    Kaschin selbst polarisierte mitunter mit Aussprüchen wie dem, dass die Ukraine von Russland keinen Kniefall erwarten könne, gilt jedoch als  scharfsinniger Kritiker des Kreml und der russischen Ukraine-Politik.

    In seinem Kommentar nun fragt Kaschin: Ist das, was im Donbass geschieht, eigentlich jemals in den Köpfen angekommen?

    Beschuss von Awdijiwka und Donezk – das klingt wie eine Nachricht aus dem vorletzten Winter, die wie durch ein Missverständnis in den Informationsstrom von 2017 geraten ist. Dimitri Peskows Wortschöpfung „eigenmächtige Kampfeinheiten“, denen die Schuld an der Eskalation zugeschrieben wird, ist dermaßen schwammig, dass man darunter fassen kann, wen man will – sowohl prorussische Separatisten als auch ukrainische Freiwilligenbataillone, die unabhängig handeln, oder aber auch die ukrainische Armee (in dem Sinne, dass die Ukraine ein eigenmächtiger Staat ist und seine Kampfeinheiten entsprechend auch eigenmächtig sind). Die unvorsichtige Äußerung eines ukrainischen Generals, die ukrainischen Streitkräfte würden „Schritt für Schritt“ vordringen, hatte Peskow ebenfalls aufgeschnappt: Seht, die Ukrainer haben selbst zugegeben, dass sie angreifen, also sind sie der Aggressor. Und ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem eine anonyme Quelle aus deutschen Regierungskreisen davon spricht, die ukrainische Seite sei an einer Zuspitzung interessiert, wird in der offiziellen russischen Presse schon den dritten Tag munter zitiert.

    Interessant ist eine Beobachtung der russischen Life-Journalistin Anastasija Kaschewarowa. Sie schreibt, Drehteams staatlicher russischer Fernsehsender aus Moskau seien schon frühzeitig nach Donezk geschickt worden – und zieht den naiven Schluss, dass die russischen Geheimdienste offensichtlich wussten, die Ukrainer würden einen Angriff beginnen. Aber genauso gut kann man die Entsendung von Journalisten in den Donbass als Beweis dafür nehmen, dass man in Moskau schon frühzeitig über einen bevorstehenden Angriff der Separatisten im Bilde war – schließlich sind solche Informationen für Russland einfacher zugänglich als die Pläne der ukrainischen Armee. 

    Geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg

    Noch vor kurzem wurde dem Donbass gern ein ähnliches Schicksal wie Transnistrien vorausgesagt. Vorerst jedoch erinnert er eher an Bergkarabach. Denn die beiden Seiten stehen dem derzeitigen politischen Schwebezustand und umstrittenen Status nicht gleichgültig gegenüber, wie es dagegen in Moldawien der Fall ist. Stattdessen kommt es bei jeder erstbesten Gelegenheit zu Gefechten, unter ständiger Gefahr eines großen Krieges. Aber auch der Vergleich mit Bergkarabach hinkt ein wenig: In dem südkaukasischen Konflikt sind beide Seiten zumindest in einem, wenn auch ausgedachten, Geist erzogen, nämlich im Geist einer fanatischen Verbundenheit mit der für beide Länder heiligen Erde.

    Im Donbass dagegen klingt schon allein das Wort Koksochim (so heißt die beschossene Fabrik in Awdijiwka, von der die Wärmeversorgung der Stadt abhängt) dermaßen finster, dass bei seinem Klang nicht einmal das Herz des glühendsten Patrioten höher schlagen wird. Tote Erde, bevölkert von lebenden Menschen – so müsste man den Donbass im Moment wohl korrekterweise nennen.

    Nach nicht einmal drei Jahren herrscht hier Krieg in seiner reinsten Form, jeglicher Verzierungen entledigt: ohne ergreifende Losungen, eingängige Parolen, weltweite Aufmerksamkeit und ohne klaren Schlusspunkt, auf den ein garantierter Frieden folgt.

    Das alles ist in den Jahren 2014 und 2015 verlorengegangen und geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg. 
    Es ist schwer zu sagen, ob Donald Trump sich darüber im Klaren ist oder ob er überhaupt Zeit hat, sich darüber Gedanken zu machen – zwischen Migrantenbekämpfung und Mauerbau an der mexikanischen Grenze. Doch liegt es auf der Hand, dass es dabei gerade um ihn geht: Jede Salve bei Awdijiwka ist an den neuen amerikanischen Präsidenten adressiert, selbst wenn er das gar nicht im Blick hat.

    Für den Kreml gehörten die vorherigen Phasen dieses Kriegs zu einem großen, in vielen Teilen imaginierten, internationalen Spiel, in dem gleichermaßen nonchalant mal Sewastopol, mal Aleppo auf den Tisch geworfen wurden. Donezk kam irgendwo dazwischen – auch wenn das niemand laut gesagt hat.

    Der Kreml hat die Beziehungen zur Ukraine nach 2014 nie als bilateral angesehen. Das Propagandabild eines Barack Obama, der Kiew unmittelbar steuert, hat auf die eine oder andere Weise sicherlich die Vorstellung Moskaus und ganz persönlich die von Putin über das Geschehen widergespiegelt. Alles Weitere hängt vom Rahmen ab, den der Kreml sich ausdenkt: Wenn es nun keinen Obama gibt, dann gibt es auch keine Regeln, nach denen man mit ihm spielen muss. Aber was nun die neuen Regeln sind, das wird man via Trial and Error herausfinden müssen.

    Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata

    Diese Logik kann man übrigens gleichermaßen auch auf die ukrainische Seite anwenden: Schließlich wurde über Trumps Loyalität gegenüber Russland in den vergangenen Monaten derart viel geredet, dass wohl keine Menschenseele sie im tiefsten Herzen anzweifeln konnte. Was muss passieren, damit die Stimme des amerikanischen Präsidenten in diesem Konflikt erklingt? Keiner weiß es, aber alle glauben, dass sie erklingen wird; also muss man ausprobieren. Und egal wie unterschiedlich die Ziele und Weltanschauungen Moskaus und Kiews sein mögen, Instrumente haben beide nur wenige, und das erste dieser Instrumente ist leider die Artillerie.

    Das ist der einzig mögliche Schluss aus der Verschärfung um Awdijiwka: Ja, wir haben es mit einem diplomatischen Feldexperiment zu tun. Beide Seiten tasten in einer verfahrenen Situation mit Grad-Raketenfeuer neue Grenzen des Möglichen ab. Die Neutralität der russischen Machthaber gleicht einer Parodie, wenn die einzige offizielle Positionierung ein verhaltenes Mitgefühl für die Separatisten ist, bei denen sowieso allen klar ist, wie unabhängig diese von Moskau sind (nämlich gar nicht).

    Aus diplomatischer Sicht ist das wahrscheinlich wirklich die bequemste Positionierung. Aber so bequem sie auch für internationale Deals ist, so unmoralisch ist sie in Bezug auf die sterbenden und ohne Obdach dastehenden Bewohner des Donbass auf beiden Seiten der Front.

    Dasselbe gilt in Bezug auf die russischen Soldaten, deren Intervention (natürlich in der für diesen Krieg traditionell anonymen Form des Nordwinds) nun sowohl in Donezk als auch in Kiew erwartet wird. Menschenleben und Zerstörungen sind belanglos, es gibt nur gewichtige internationale Interessen und die vom Kreml geliebte Geopolitik, in der ein Anruf von Trump tatsächlich wesentlich mehr wert ist als hunderte Awdijiwkas und ihre Bewohner.

    Die Chronologie dieses Krieges in Donezk ist verwirrend – es ist nicht einmal klar, ob man ihn als andauernd begreifen soll, oder ob man sagen kann, dass es vor einer Woche keinen Krieg gab, und er jetzt, da in Awdijiwka geschossen wird, von Neuem begonnen hat. Streng genommen hat es diesen Krieg im Leben der russischen Gesellschaft nie gegeben – es gab das Jahr 2014 mit Fernsehgeschichten über Banderowzy und Jubel ob des Russischen Frühlings, es gab anschließend ein Umschalten der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit auf andere Themen. Und nun gibt es das Awdijiwka von heute, das nur noch als belangloser Hintergrund zu den Weltnachrichten läuft.

    In der Zeit, als die Ukrainer sich ihrer Selbstwahrnehmung nach auf dem Höhepunkt eines Vaterländischen Krieges befanden, scherzte in Russland die patriotische Öffentlichkeit, dass die russische Armee auf dem Schlachtfeld sogar dann gewinne, wenn sie gar nicht anwesend ist. Zwei Jahre später kommt dieser patriotische Witz wie ein Bumerang zurück: Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata, die sich auch noch Jahrzehnte später durch völlig unerwartete Probleme bemerkbar machen können. 

    In Russland verhält sich mittlerweile eine breite Masse gegenüber lebendigen Menschen so, als seien diese Statisten in TV-Geschichten. Es gibt eine allgemeine Bereitschaft, über den Krieg nur noch in der Sprache einer frei erfundenen Geopolitik zu sprechen, eine Gleichgültigkeit gegenüber Todesopfern und ein Desinteresse daran, ob die russische Armee sich an Konflikten beteiligt, und wenn ja, auf welcher Grundlage. All das hat die russische Gesellschaft auf jeden Fall verändert.

    Bisher ist nicht klar, wer stärker traumatisiert ist – der, der bei der Beerdigung geweint hat, oder der, der den Tag der Beerdigung verbracht hat, ohne auch nur entfernt daran gedacht und sich nicht im geringsten dafür interessiert zu haben. Statt des Russischen Frühlings ist jetzt Russischer Winter. Aber wenn sein Schnee schmilzt, werden Schmutz und Blut, die unbemerkt unter ihm liegen, noch ihre Rolle spielen.

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    Doshd heißt auf Deutsch Regen. Es sind mehrere Tropfen, die nach offiziellen ukrainischen Angaben nun das Fass zum Überlaufen brachten: Die Ausstrahlung des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doshd über Kabel wurde in der Ukraine verboten. Über Internet und Satellit dagegen kann der Sender weiter kostenpflichtig empfangen werden.

    Entschieden wurde dabei nach formalen Kriterien: Unter anderem waren Journalisten des Senders ohne offizielle ukrainische Erlaubnis auf die Krim gereist, außerdem hatte der in Moskau registrierte und ansässige Kanal Landkarten gezeigt, die, entsprechend der russischen Verfassung, auch die Krim als Teil Russlands abbildeten. Zudem habe der Sender an Neujahr zwei Komödien ausgestrahlt, in denen russische Silowiki zu positiv dargestellt würden.

    Auch Letzteres ist in der Ukraine per Gesetz untersagt, schon zuvor war deswegen die Ausstrahlung einiger sowjetischer oder russischer Filme nicht gestattet worden, ebenso existiert eine Verbotsliste „antiukrainischer“ Bücher. Seit der Krim-Angliederung durch Russland und dem Krieg im Donbass gibt es immer wieder Vorstöße in diese Richtung.

    Wurden sie bislang schon viel diskutiert, brach im Fall von Doshd nun eine besonders heftige Debatte aus – hauptsächlich unter unabhängigen Medienschaffenden der beiden Länder. Denn Doshd ist nicht irgendein Sender. In einer weitgehend staatlich kontrollierten Medien- und TV-Landschaft ist Doshd der unabhängige russische Fernsehsender, der es auch in Russland nicht leicht hat: Im Frühjahr 2014 hatten mehrere Satelliten-Anbieter den Kanal aus ihrer Angebotspalette genommen, seitdem ist er nur noch über Internet und einige lokale Betreiber erreichbar.

    Trifft es mit Doshd nun genau die Falschen? Ja, meint Kirill Martynow. Und erklärt in der Novaya Gazeta, warum das Verbot dennoch unausweichlich gewesen sei.
    Die Zeitung befragte außerdem verschiedene ukrainische Journalisten zu dem Fall – einzelne davon bildet dekoder ebenfalls ab.

    Die Ausstrahlung des unabhängigen Fernsehsenders „Doshd“ über Kabel ist in der Ukraine nun verboten / Foto © youtube
    Die Ausstrahlung des unabhängigen Fernsehsenders „Doshd“ über Kabel ist in der Ukraine nun verboten / Foto © youtube

    Die Ukraine hat die Übertragung des Senders Doshd aufgrund einer formalen Rechtsverletzung verboten. Es ging um die positive Darstellung von Vertretern russischer Behörden wie Polizei, Geheimdienst oder Armee. Sofort wurde dieser Skandal zu instrumentalisieren versucht, und zwar von denen, die in den vergangenen drei Jahren den Konflikt zwischen unseren beiden Ländern angeheizt haben. Am meisten sind gerade jene über die Pressefreiheit im Nachbarland beunruhigt, die von der Vernichtung der Ukraine träumen und von der Vernichtung des Senders Doshd und überhaupt aller Lebensformen, die sich äußerlich von Prochanow und Dugin unterscheiden.

    Man hätte Doshd nicht verbieten sollen, denn seine Existenz auf dem Territorium der Ukraine hat den nationalen ukrainischen Interessen nicht im geringsten widersprochen. Natürlich muss der aus Moskau sendende Doshd russische Gesetze befolgen, weshalb er etwa entsprechende Karten zeigt (mit der Krim als Teil Russlands), und zuweilen vom Leben russischer Silowiki erzählt. Aber kein einziger Zuschauer in Kiew dürfte wohl Zweifel daran gehabt haben, dass er es zum einen mit einem russischen Sender und zum anderen mit einem Sender zu tun hat, der eine konsequente Anti-Kriegs-Position vertritt.

    Die Existenz des Senders Doshd ist für die Ukraine nur von Nutzen, wie überhaupt alle von Nutzen sind, die in Russland für friedliche Koexistenz und Einhaltung internationaler Vereinbarungen zwischen den Ländern stehen. Russisch-ukrainische Kultur- und Bildungsprojekte sind heute nötiger denn je, denn in jedem Fall werden wir ja auch weiterhin Nachbarn bleiben müssen. Schließlich beginnt östlich von Charkiw kein großer Ozean. Allerdings weiß fast niemand in den beiden Ländern, wie man solche Projekte realisieren kann – zu viel gegenseitiger Hass hat sich aufgestaut.

    Die Tragödie unserer derzeitigen Situation besteht darin, dass Russland insgesamt von den Ukrainern als feindliches und aggressives Land angesehen wird. Die Fragen, ob du ein guter Mensch bist oder welche politischen Ansichten du hast, treten in den Hintergrund. Auch dafür gibt es objektive Gründe: Die Russen haben die Krim und ein wenig nationale Größe bekommen, die Ukraine aber haben sie verloren. Das sollte man ruhig zugeben – es ist ja genug Zeit vergangen seit dem Beginn unserer „geopolitischen Erfolge“, um daraus nun auch mal ein paar Schlüsse zu ziehen.

    Aus der Frage nach dem Status der Krim folgt: Man muss sich entscheiden, wie man die Karten zeichnet. Das ist nicht das Werk der Ukrainer

    Es gibt drei schlichte Tatsachen. Erstens: Die Ukraine ist ein eigenständiges und anderes Land. Zweitens: Dieses Land wird sich in absehbarer Zukunft bei seinen politischen Entscheidungen niemals an Moskau orientieren. Und drittens: Ein Teil des ukrainischen Territoriums wird nicht von Kiew kontrolliert, die Ukraine sieht sich deshalb als kriegführenden Staat und führt entsprechende Regeln ein. Hört auf, euch darüber zu wundern: Die nette Kolonial-Ukraine, wo ihr so gerne im Sommer Urlaub gemacht habt, gibt’s nicht mehr. Aus diesen drei Fakten und insbesondere aus der Frage nach dem Status der Krim folgt, dass es unmöglich ist, russische und ukrainische Gesetze gleichzeitig zu befolgen und in beiden Ländern zu arbeiten. Man muss sich entscheiden, wie man die Karten zeichnet. All das ist nicht das Werk der Ukrainer.

    Die Geschichte mit dem Doshd-Verbot in Kiew kann noch – so wollen wir hoffen – einen glücklichen Ausgang nehmen. Weitaus schwieriger ist es, sich die Perspektiven der russisch-ukrainischen Beziehungen im Ganzen vorzustellen. Wie werden wir in fünf oder zehn Jahren gemeinsam in einem Osteuropa leben, mit der Krim und den Kriegserfahrungen im Gepäck? Alles deutet darauf hin, dass der Weg zurück zu einer freundschaftlichen Koexistenz, wenn er denn überhaupt möglich ist, lang und schwierig sein wird. Es wäre gut, dies schon jetzt zu verstehen und sich keinen unnötigen Illusionen hinzugeben.

    Und gut wäre auch, wenn all die Kämpfer für die ukrainische Pressefreiheit, die auf ihren Moskauer Sofas sitzen, ebenso aktiv für dieses in der Verfassung verankerte Recht innerhalb ihres eigenen Landes kämpfen würden. Medien sollten weder in der Ukraine noch in Russland geschlossen oder verboten werden. Aber sollen doch die Ukrainer ihre Probleme lösen, und wir kümmern uns um unsere eigenen. Das ist das Beste, was wir im jetzigen Moment tun können, in einer Zeit, in der das Gefühl der geopolitischen Größe uns nach und nach wieder verlässt.


    Es gab zahlreiche Reaktionen in Medien und sozialen Netzwerken, darunter auch viel Unverständnis für diese Entscheidung in Kiew. Die Novaya Gazeta hat nachgefragt, lässt zum Warum gewichtige Stimmen für ein solches Verbot aus der ukrainischen Öffentlichkeit zu Wort kommen – wir haben drei davon ausgewählt:

    Mustafa Najem, Parlamentarier und Journalist

    [bilingbox]Ich mag diesen Fernsehsender, mir gefällt er gut. Seinerzeit setzte er einen gewissen Trend, und was sie gemacht haben, war immer qualitativ hochwertig. Andererseits haben wir es real mit Kriegszeiten und mit Beziehungen zwischen zwei Ländern zu tun. Und ob es uns gefällt oder nicht, der Fernsehsender Doshd hat seinen Sitz in Russland.

    Als ehemaliger Journalist verstehe ich wohl, dass Doshd gezwungen ist, die Gesetze der Russischen Föderation zu achten, sonst drohen ihnen noch größere Repressionen als die, denen sie schon früher ausgesetzt waren. Es ist offensichtlich, dass sie ihre Inhalte den Gesetzen anpassen müssen, was Territorialfragen betrifft, insbesondere die Geschichte mit der Krim. Und gleichzeitig müssen sie sich an die Verfassung der Russischen Föderation halten. Aber andererseits gibt es auch die Verfassung der Ukraine, derzufolge die Verbreitung solcher Informationen über die Krim schlichtweg einen Verstoß darstellt.

    Darin besteht der Konflikt zwischen den beiden Ländern, und Doshd ist in diesem Fall ein Opfer dieses Konflikts.

    Als Politiker verstehe ich, wie die Entscheidung aus der Perspektive des ukrainischen Staates begründet ist.

    Natürlich wären für den ukrainischen Zuschauer alternative Informationen über das, was in Russland passiert, notwendig und nützlich. Solche, die er nicht aus ukrainischen oder russischen Staatsmedien erhält. Das würde sogar gewisse Chancen auf Wiederannäherung bieten. Aber hier muss man einen wichtigen Punkt verstehen. Sehen sie, ich mag Piter, ich habe dort Freunde und würde gern öfters dort sein. Das ist mein persönliches Bedürfnis. Aber in Anbetracht der heutigen Situation verstehe ich, dass ich dort nicht sein kann. Das ist die Politik. Wir alle sind Opfer dieser Geschichte.~~~Я люблю этот телеканал, мне он нравится. В свое время они задали некий тренд, и то, что они делали, имело высокое качество. С другой стороны, есть реальность военного времени и реальность отношений между двумя странами. И хоти мы этого признавать или нет, телеканал «Дождь» является резидентом Российской Федерации.

    Будучи журналистом в прошлом, я понимаю, что они вынуждены выполнять законы Российской Федерации, иначе им грозят еще большие репрессии, чем применялись в отношении них раньше. Очевидно, что они должны согласовывать то, что касается территорий, в частности истории с Крымом. А также должны соблюдать Конституцию Российской Федерации. Но, с другой стороны, есть конституция Украины, по которой распространение информации подобного характера о Крыме является просто нарушением уже ее конституции.

    Как политик, с точки зрения страны я понимаю обоснованность этого решения.

    Конечно, украинскому зрителю нужна и была бы полезна альтернативная информация о том, что происходит в России. Полученная не от государственных СМИ Украины и не от государственных СМИ России. Она бы даже дала какой-то шанс на воссоединение. Но здесь нужно понимать важный момент. Смотрите, я люблю Питер, у меня там друзья, и я хотел бы бывать там часто. Конечно, лично мне это нужно. Но видя сегодняшнюю ситуацию, я понимаю, что там я быть не могу. Это политика. Мы все являемся жертвой этой истории.[/bilingbox]

    Witali Portnikow, Kommentator bei Radio Svoboda Ukraine

    [bilingbox]Für mich ist die Sache mit dem Sendeverbot für Doshd in der Ukraine eindeutig.

    Aber sagen Sie mir bitte, warum hatte Doshd überhaupt eine Sendeerlaubnis?

    Warum haben russische Fernsehsender, seit die Krim okkupiert wurde und der Krieg im Donbass begonnen hat, hier überhaupt irgendwelche Möglichkeiten, Sendungen auszustrahlen? Die politische Einstellung des Senders spielt überhaupt keine Rolle! Eine Entscheidung über die Rückgabe einer Sendelizenz kann erst dann getroffen werden, wenn die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt und die Kriegsverbrecher verurteilt sind.~~~У меня нет никаких вопросов о запрете вещания телеканала «Дождь» на территории Украины.

    Почему российские телеканалы с момента оккупации Крыма и начала войны в Донбассе имеют хоть какие-то возможности для вещания здесь? Не имеет никакого значения политическая позиция телеканала! Решение о возвращении лицензии возможно только после восстановления территориальной целостности Украины и совместного осуждения военных преступников.[/bilingbox]

    Pawel Kasarin, Journalist

    [bilingbox]Ich würde nicht sagen, dass die Entscheidung sehr verwunderlich ist. Sie entspricht dem Gesetz und war unausweichlich. Aber ich würde gerne etwas betonen – immer wenn jemand eine Parallele zieht zwischen der Ukraine und der russischen Medienaufsicht, vergisst er dabei Folgendes: Auch drei Jahre nach dem Beginn von Krieg und Aggression ist der ukrainische Staat nicht dazu übergegangen, das Internet zu regulieren. Und die Zuschauer, die bislang Doshd gesehen haben, können den Sender auch jetzt über einen kostenpflichtigen Zugang im Netz gucken.~~~Я не готов говорить, что здесь есть что-то удивительное. Это было закономерно и неизбежно. Только я бы хотел уточнить, что всякий раз, когда проводят параллели между Украиной и Роскомнадзором, все забывают такую вещь: украинское государство спустя три года после начала войны и агрессии не дало себе права регулировать интернет. Те зрители, которые смотрели «Дождь», они и сейчас могут купить платную подписку и смотреть его в интернете.[/bilingbox]

    Übersetzung dieser Kommentare durch dekoder-Redaktion

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  • Exportgut Angst

    Exportgut Angst

    Sergej Medwedew ist eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers in Russland, was Fragen der neuesten russischen Geschichte und der internationalen Politik angeht. Er ist Professor an der Moskauer Higher School of Economics und bringt sich regelmäßig in die öffentliche Debatte ein, schreibt für das unabhängige Wirtschaftsblatt Vedomosti, das russische Forbes und andere Portale.

    Hier setzt er sich mit dem Umgang Russlands im Fall MH17 und den Einsätzen in Syrien auseinander. Er sieht in Russland eine außenpolitische Strategie aus den Spättagen der Sowjetunion wiederauferstehen, in der sich für ihn auf spezifische Weise Schwäche und Drohgebärden mischen. Diese These macht er in einem engagierten Meinungsstück stark, das am Dienstag – unmittelbar nach der jüngsten diplomatischen Verwerfung zwischen der russischen Führung und den USA – auf slon.ru erschienen ist.
     

    Die vergangene Woche brachte in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen einen neuen Point of no Return, wie man so sagt. Zum einen wurde der Bericht der Untersuchungsgruppe zu MH17 veröffentlicht, der besagt, dass das Flugzeug von einer BUK-Rakete getroffen wurde, die aus Russland geliefert und vom Territorium der Separatisten aus abgefeuert wurde. Zum anderen haben die westlichen Staaten Russland und seine Verbündeten für den barbarischen Bombenangriff auf ein Krankenhaus im syrischen Aleppo in die Verantwortung genommen: Laut dem französischen Außenministerium kommen diese Angriffe einem Kriegsverbrechen gleich, die New York Times schreibt in einem ungewöhnlich scharfen Editorial, Putin verwandle Russland „in eine Outlaw Nation“, und die Kritiker des Regimes sprechen von neuem davon, ein Prozess in Den Haag sei unvermeidlich, und im Kreml herrsche bereits Panik.

    An dieser Stelle sollte man nun wohl darüber schreiben, dass dem Westen etwas klargeworden ist. Darüber, dass die Maschine der westlichen Rechtsprechung zwar langsam arbeitet, dafür aber zuverlässig. Man könnte das Flugzeugattentat der libyschen Geheimdienste über dem schottischen Lockerbie in Erinnerung rufen. Damals brauchte es elf Jahre, bis Gaddafi die Verdächtigen auslieferte, und 15, bis die Familien der Opfer Entschädigungszahlungen erhielten. Aber all das würde der Sache nicht gerecht: Die Analogie mit der Regionalmacht Libyen funktioniert nicht. Die derzeitigen Enthüllungen rufen das Gefühl eines Déjà-vu hervor: Ähnliche Points of no Return hat es in den vergangenen drei Jahren schon eine ganze Menge gegeben, und jedes Mal haben Russland und der Westen gleich darauf eine neue rote Linie überschritten und ihre Rutschpartie auf der nie endenwollenden schiefen Ebene fortgesetzt, sich gegenseitig beschuldigend und aufeinander einhackend, als wären sie mit einer unsichtbaren Kette aneinandergefesselt.

    Im 21. Jahrhundert ist die hauptsächliche Exportware Russlands nicht Öl oder Gas, sondern Angst

    Nein, es wird weder ein Nürnberger noch ein Den Haager Tribunal geben, noch irgendein anderes. Eher schon erwarten Russland vieljährige Untersuchungen, Schuldsprüche in Abwesenheit und Verpflichtungen zu Entschädigungen in Millionenhöhe, die Russland, versteht sich, nicht anerkennen wird. Das wird eine neue Runde von Sanktionen zur Folge haben, Blockaden russischer Auslandsvermögen mit den dazugehörigen Skandalen und Rechtsstreitigkeiten, die sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinziehen werden. Wozu also Parallelen ziehen zu Lockerbie. Sinnvoller ist es, sich an die Tragödie mit der koreanischen Boeing zu erinnern, die von einem sowjetischen Abfangjäger am 1. September 1983 über der Insel Sachalin abgeschossen wurde – bis heute gibt es keine endgültige Klarheit in diesem Fall, die Schuldigen sind nicht benannt, und das Land, das das Flugzeug vom Himmel geholt hat, gibt es nicht mehr.

    Mit anderen Worten: Katastrophale Konsequenzen werden Russland wohl nicht erwarten. Eher sogar im Gegenteil: Die jüngsten Beschuldigungen des Westens fügen sich in die langfristige Strategie des Kreml ein, das Bild eines unvorhersehbaren und gefährlichen Akteurs zu erwecken, der die globalen Regeln bricht und den alle zu fürchten haben. Offensichtlich waren weder der Abschuss der Malaysischen Boeing noch die Bombardierungen ziviler Objekte in Syrien bewusste Handlungen seitens Russland, doch entspringen sie jener Hochrisikosphäre, die Moskau auf postsowjetischem Gebiet und im Nahen Osten erschaffen hat, und sind zwangsläufige Folgeerscheinungen des seltsamen hybriden Krieges, den Russland in der ganzen Welt führt.

    Die gestrige Verfügung Putins ist die jüngste Handlung in diesem Krieg. In ihr wird angeordnet, die internationalen Vereinbarungen mit den USA über die Aufbereitung von Plutonium auszusetzen, zugleich wird eine Gesetzesvorlage in die Duma eingebracht mit ganz offensichtlich unerfüllbaren Forderungen an die USA: Das Magnitzki-Gesetz sei aufzuheben, ebenso alle Sanktionen gegen Russland. Für die durch die Sanktionen entstandenen Verluste müssten Kompensationen gezahlt werden, und in allen Ländern der NATO, die dem Bündnis nach 2000 beigetreten sind, sollten die USA ihre Streitkräfte und ihre militärische Infrastruktur reduzieren. Das Abkommen über die Plutonium-Aufbereitungen hatte der Sache nach sowieso nicht funktioniert, aber Russland erweckt den Anschein, dass es seinen Einsatz im geopolitischen Spiel erhöht. Es gibt zu verstehen, dass es bereit ist, den Westen atomar zu erpressen (siehe der „radioaktive Staub“ aus den Schauermärchen Dimitri Kisseljows) und die gesamte Struktur von Vereinbarungen über die atomare Abrüstung zu demontieren.

    Export von Angst

    Der hybride Krieg des Kreml – das ist eine Politik von Schwäche und Arglist des Informationszeitalters. Da Russland nicht die notwendigen militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Ressourcen besitzt, um in der Ukraine oder in Syrien zu gewinnen, führt es Einzeloperationen zur Destabilisierung der Lage in diesen beiden Ländern durch und provoziert eine Konfrontation mit dem Westen. Allerdings wendet es diese dann in letzter Minute ab und startet eine umfangreiche Desinformations- und Propagandakampagne mit dem Ziel, das Bild der Vorgänge zu verzerren und die Position des Westens zu verwischen, die bereits an sich nicht präzise definiert und unentschlossen ist. Das Ziel des hybriden Krieges ist es, Unvorhersehbarkeit, Chaos und Angst zu erzeugen, und dadurch eine instabile Umgebung zu schaffen. In der lässt es sich weitaus leichter bluffen, wenn man schlechte Karten auf der Hand hat.

    Russlands Angst-Vorräte liegen gespeichert in den Schichten der russischen Geschichte, in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, in den alltäglichen Beziehungen zwischen Bürger und Staat

    Im Grunde genommen ist im 21. Jahrhundert die hauptsächliche Exportware Russlands nicht Öl oder Gas, sondern Angst. Der Preis für die beiden ersten wird im Laufe der Zeit fallen, derjenige der zweiten hingegen steigen. In der Risikogesellschaft, von der die wichtigsten Philosophen und Soziologen unserer Zeit schreiben, von Ulrich Beck bis Anthony Giddens, gewinnen diejenigen, die es schaffen, Angst hervorzubringen und aus ihr Kapital zu schlagen, indem sie sie in eine politische und wirtschaftliche Ressource verwandeln. Auf diesem Feld ist Russland ein Big Player und ein wichtiger Rohstofflieferant: Seine Angst-Vorräte liegen gespeichert in den Schichten der russischen Geschichte, in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, in den alltäglichen Beziehungen zwischen Bürger und Staat.

    Das System der internationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts – das sich beginnend mit dem 11. September 2001 herausgebildet hat (in Russland sogar ein wenig eher, vom September 1999 an, den Bombenexplosionen in Wohnhäusern in Buinaksk, Moskau und Wolgodonsk und den „Sprengstoff-Übungen“ des FSB in Rjasan) – folgt den Szenarien von Thomas Hobbes, der eine Anarchie der zwischenstaatlichen Beziehungen und einen Krieg „aller gegen alle“ vorhergesagt hat, und nicht dem von Immanuel Kant, der für Europa auf der Suche war nach einem „ewigen Frieden“. Das Russland Putins ist ein Produzent und Nutznießer dieser Hobbesschen Welt, denn in ihr ist Russlands Hauptressource gefragt: die Angst, und Russlands wichtigste Dienstleistung: der Sicherheitsdienst. Das ist eine klassische Strategie der Schutzgeld-Erpressung: Es wird auf symbolische Art und Weise eine Bedrohung konstruiert, und dann eine Kryscha gegen sie angeboten, zu einem Preis, der schon nicht mehr symbolisch ist.

    Das Schlüsselwort hier lautet: Schwäche. Nachdem Russland erst den Kalten Krieg und dann den auf ihn folgenden Frieden verloren hat, den Megaprofit aus dem Ölverkauf wie die Reste seiner Reputation verspielend, ist es nicht dazu in der Lage, globale Probleme konstruktiv zu lösen. Es zieht stattdessen vor, sie zu verschlimmern. Russland nimmt keine Flüchtlinge aus der Dritten Welt bei sich auf, um sie zu integrieren, sondern es lenkt ihren Strom über die Grenzübergänge in Finnland und Norwegen nach Westeuropa, es nutzt sie als ein Instrument im hybriden Krieg, um so die Migrationskrise in Europa zu verschärfen und eine Negativstimmung Migranten gegenüber hervorzurufen. Es löst nicht die humanitären und politischen Probleme Syriens, sondern mischt sich in den bestehenden Konflikt mit egoistischen geopolitischen Zielen ein und bringt ihn so auf eine neue Ebene. Es steuert nichts zur internationalen Untersuchung der Katastrophe des Flugs MH17 bei, sondern bringt diese aus dem Tritt, indem es ständig neue, einander widersprechende Versionen präsentiert. Es arbeitet mit der WADA und den internationalen Sportverbänden nicht zusammen, um so der Doping-Epidemie im Sport Herr zu werden, sondern versucht die WADA zu diskreditieren und zu beseitigen, dadurch, dass immer neue Informationen ins Gespräch gebracht werden, und, wie vermutet wird, auch durch Hacker-Attacken.

    Das ist eine klassische Strategie der Schutzgeld-Erpressung: Es wird auf symbolische Art und Weise eine Bedrohung konstruiert, und dann eine Kryscha gegen sie angeboten

    Und dabei muss man sagen, dass diese Strategie Russlands bisher gar nicht schlecht funktioniert. Mit gemeinsamen Bemühungen haben das Verteidigungsministerium, das Außenministerium, Russia Today und verschiedene Strumtruppen der „Volksdiplomatie“ – von Fussballfans bis zu Motorrad-Trupps und Internet-Trollen, die das westliche Netz überschwemmen – den Export an Angst und Unvorhersagbarkeit maximal gefördert, bei minimalen Kosten.

    Der Westen bildet sich heute schon ein, an jeder Ecke eine russische Bedrohung zu sehen – in den Truppenbewegungen Assads und in den Provokationen von Donezker Separatisten, in jedweder Computerattacke (vom Einbruch in die Server der Demokratischen Partei der USA bis zur Attacke auf die Server von Yahoo, an der, wie die Internet-Firma selbst meint, russische Regierungsstellen beteiligt waren), in den unidentifizierbaren U-Booten in der Ostsee, in den turbulenten Vorfällen mit Migranten in europäischen Städten, in der Finanzierung von Donald Trump und Marine Le Pen. Es ist derzeit gar nicht wichtig, in welchem Maße Moskau mit jeder dieser Episoden etwas zu tun hat, ob es sich um geplante Aktionen handelte oder ob einzelne patriotisch gestimmte Bürger selbst aktiv geworden sind: Russland hat einen schillernden Raum der Unbestimmtheit geschaffen, in dem seine Rolle dämonisiert und, aller Wahrscheinlichkeit nach, überzeichnet wird – aber genau das ist es offenbar, worauf Putin es angelegt hat.

    Das globale Schreckgespenst

    Die Kosten dieser Produktion von Angst sind minimal: Die Ausgaben für die russischen Luftschläge in Syrien belaufen sich nach den Schätzungen von RBC auf weniger als eine Milliarde US-Dollar nach aktuellem Kurs – das ist Kleingeld für russische Verhältnisse, das ist die Hälfte des Stadions Zenith auf der Kreuzinsel [in St. Petersburg – dek] oder fünf Kilometer der [für den Auto- und Bahnverkehr bei den olympischen Winterspielen 2014 gebauten – dek] Trasse Sotschi-Krasnaja Poljana. Wie Präsident Putin es so vielsagend ausgedrückt hat: „Wir können da recht lange unsere Übungen durchführen, ohne unserem Haushalt einen wesentlichen Schaden beizufügen.“ Nehmen wir noch das Budget hinzu für die internationale Nachrichtenagentur Rossija sewodnja, die Arbeit mit der russischen Diaspora und mit Politikern wie Schröder oder Berlusconi sowie die Unterstützung rechtspopulistischer und separatistischer Parteien, die einen politischen Krim-Tourismus auf die Beine gestellt haben, so kommt immer noch eine vergleichsweise geringe Summe dabei heraus. Nichts im Vergleich mit den ruinösen Investitionen in die Infrastruktur der Angst während des Kalten Krieges.

    Auf der anderen Seite verfügt der Westen heute sehr viel weniger als vor 30 Jahren über den zum Widerstand notwendigen Willen und die Organisation dazu. Die lange Friedensperiode hat ihn geschwächt, die Epoche des Postmodernismus und des Postheroischen haben ihn demoralisiert. Der Westen ist passiv, uneins mit sich und aufs Wirtschaftliche fokussiert, und Russland nutzt erfolgreich diese Schwäche seines Opponenten. Mit minimalen Mitteln wurde der Archetyp der russischen Bedrohung wieder zum Leben erweckt. Er war im westlichen Unterbewusstsein seit den Zeiten Gorbatschows schon fast in Schlaf gefallen, aber jetzt erhebt er sich wieder zu voller Größe, wie ein ausgehungert herumirrender Bär im Frühjahr. Und es ist kein Zufall, dass die russischen Fussball-Fans, die Vorfront von Putins hybridem Krieg, riesige Transparente auf ihren Reisen mitschleppen mit einem zähnefletschenden Bär, und dass die Hacker-Truppe, die den WADA-Server geknackt hat, sich Fancy Bear nennt – ihr Logo zeigt einen Bären in der Maske von anonymous. Die Symbol-Ökonomie aus der Zeit des Kalten Krieges ist nach 30 Jahren in ihre Ausgangsposition zurückgekehrt: Für die Russen ist Obama an allem Schuld, die Amerikaner suchen nach der russischen Bedrohung noch unter ihrem Bett.

    Russland hat einen schillernden Raum der Unbestimmtheit geschaffen, in dem seine Rolle dämonisiert und, aller Wahrscheinlichkeit nach, überzeichnet wird

    Übrigens hat der Westen es nicht eilig damit, sich eine Lebensversicherung und Schutzleistungen beim „Sicherheitsdienst Russland“ zu besorgen. Damit die Strategie eines erpresserischen Banditen aufgeht, muss er es schaffen, dem Kaufmann seinen „Schutz“ aufzuzwingen. Der Westen aber drängt nicht allzu sehr auf Verhandlungen über eine „neue Sicherheitsstruktur“ und sieht in Putin keinen neuen Stalin nach dem Vorbild von 1945, mit dem man sich an den Kartentisch setzen muss, um die Welt in Einflusssphären aufzuteilen. Deshalb wäre es noch zutreffender, Russland nicht mit einem mafiösen Erpresser zu vergleichen, sondern mit einem Rüpel „aus dem Viertel“, einem Gopnik. Wie es ein Internet-Witz sagt: Russland hat sich von den Knien erhoben, um sich gleich darauf wieder auf die Fersen hinzuhocken [das ist der bei den Gopniki beliebte slavic squat dek].

    Ein solcher Gopnik hält ein ganzes Viertel in Schach, ohne reale Kraft zu besitzen, er manipuliert die gesetzestreue Bevölkerung mithilfe wohldosierter Drohungen. In seinem Arsenal hat er eine Reihe kleiner Rituale (einen Schwachen verprügeln, jemandem ein Mobiltelefon abpressen, die Polizei provozieren, das Messer zücken, das Hemd vor der Brust zerreißen), um seiner Umgebung zu demonstrieren, dass er dazu bereit ist, Gesetz und Konvention zu brechen. Doch vor äußeren Kräften und organisiertem Widerstand gibt der Gopnik sofort klein bei, wofür es allerdings nötig ist, dass solche zur Verfügung stehen. Im derzeitigen System der internationalen Beziehungen – Obama geht und Europa ist durch den Brexit geschwächt – gibt es solche Kräfte nicht.

    Russland hat sich in ein Schreckgespenst globalen Ausmasses verwandelt, und vergleichen sollte man es nicht mit Libyen oder Nordkorea, sondern mit der Sowjetunion der frühen 1980er Jahre

    Wie also weiter? Erst einmal hat es den Anschein, dass das Ziel der hybriden Kriege erreicht ist: Man hört Russland wieder zu, und man fürchtet es wieder. Aber diese Furcht gleicht der vor dem Iran oder vor Nordkorea, die schon einige Jahrzehnte lang die Rolle der globalen Bösewichte spielen.

    In den Klub der weltweit führenden Nationen, in dem es bis 2014 einen rechtmäßigen Platz hatte, ist Russland nicht eigentlich zurückgekehrt, eher hat es sich in ein Schreckgespenst globalen Ausmaßes verwandelt, und vergleichen sollte man es nicht mit Libyen oder Nordkorea, sondern mit der Sowjetunion der frühen 1980er Jahre. Ganz genauso hatte diese damals alle Ressourcen und allen Respekt verspielt und alle Verbündeten verloren. Ohne Kraft, globale Probleme zu lösen, betrieb sie eine desaströse Außenpolitik, vom Wettrüsten bis zum Afghanistan-Krieg. Ihre weltweiten Ansprüche und ihre Träume von verlorener Größe – äußerlich aufgedonnert, aber innen hohl – waren lachhaft, und so verwandelte sich die Sowjetunion in einen Gefechtskopf, vollgestopft mit Schutt, in ein Denkmal ihrer selbst. Man glaubte, es sei für immer und ewig standfest – bis es plötzlich, in einem einzigen Augenblick, zusammenstürzte. „Es war für ewig, bis es denn vorbei war“ – so heißt es in einem aktuellen Buch von Alexei Yurchak zum Zerfall der UdSSR. Das Ende derartiger Projekte kommt immer unerwartet, es hat immer etwas Läppisches, und aufhalten lässt es sich nie.

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  • „Das jetzige Regime ist todgeweiht“

    „Das jetzige Regime ist todgeweiht“

    Im Frühjahr und Sommer 2014 sah man Igor Girkin (genannt Strelkow, „der Schütze“) nahezu täglich im russischen Fernsehen: Der ehemalige FSB-Mitarbeiter aus Moskau war, wie er selber angibt, maßgeblich an der Operation zur Angliederung der Krim beteiligt. Im Mai 2014 wurde er dann Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik und führte in Slawjansk persönlich die pro-russischen Separatisten an. Mit seinem Rücktritt noch im August desselben Jahres verschwand er wieder von den Fernsehbildschirmen. Er lebt seitdem in Moskau, wo er die Bewegung Noworossija leitet. Außerdem ist er Vorsitzender der Allrussischen Nationalen Bewegung, deren Ziel die „Wiedergeburt Russlands als russischer Nationalstaat“ ist, wie es in einer kürzlich veröffentlichten Deklaration heißt.

    Im Interview mit Znak spricht der überzeugte Nationalist über die von ihm angestrebte Vereinigung Russlands mit der Ukraine und Belarus, über das dreckige Geschäft der Politik und potentielle Spione in Putins Umfeld.

     

    „Ich sehe eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten“ – Ex-Separatistenführer Igor Girkin. Foto © Dom kobb/Wikipedia
    „Ich sehe eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten“ – Ex-Separatistenführer Igor Girkin. Foto © Dom kobb/Wikipedia

    Die Bewegung Noworossija hat ihr Quartier in ein paar kleinen Zimmern unweit der Metrostation Taganskaja. Renoviert wurde lange nicht mehr, man muss aufpassen, wo man hintritt. Beim Eintreten verrät der Geruch: Hier ist der Lebensraum einer Katze.  Während des ganzen Interview schläft ein riesiger roter Kater, genannt der „Grimmige“, auf Strelkows Tisch. An der Wand hängt ein Kalender mit einem Portrait von Nikolaus II., ein ebensolches steht auf Strelkows Tisch.

    Neulich haben Sie eine Deklaration veröffentlicht. Ich würde gern zunächst nachvollziehen, wer die Verfasser dieser Deklaration sind. Außerdem enthält sie doch offensichtliche Widersprüche. Einerseits ist darin die Rede von europäischen Werten, von einer Annäherung an die Staaten der Ersten Welt, andererseits von der Notwendigkeit, die Ukraine und Belarus zurückzubekommen. Meiner Meinung nach lässt sich das nicht miteinander vereinbaren.

    Erstens ist die Deklaration ein Gemeinschaftswerk. Ich war an der Redaktion beteiligt und habe den einen oder anderen Absatz selbst geschrieben. Aber ich streite nicht ab, dass der Grundtext von Vertretern des nationalistischen Flügels stammt.

    Allerdings ist es eine Deklaration, es sind nicht die Zehn Gebote, die in Stein gemeißelt sind. Ein Arbeitspapier. Es kann sich verändern, wenn ein Wechsel der realpolitischen Zustände es erfordert. Sie müssen zugeben, dass alle demokratischen oder rechtlichen Normen nur gelten können, wenn sich der Staat oder die Gesellschaft in einem einigermaßen ruhigen Zustand befinden. In einer schweren Krise sind sie nicht nur wirkungslos, sie können sogar zu einem beschleunigten Zerfall von Staat und Gesellschaft beitragen.

    Derzeit stellt die Deklaration, schlicht gesagt, eine Sammlung unserer Wünsche dar – das, was wir im Idealfall gern sehen würden, wenn der Übergang aus der jetzigen Situation ohne herausragende Erschütterungen vonstattengeht.

    Ich verstehe trotzdem nicht ganz, möchten Sie eine Wiedervereinigung mit der Ukraine und Belarus oder möchten Sie Demokratie?

    Ich lese Ihnen mal den Wortlaut vor: „Wir treten ein für die Vereinigung der Russischen Föderation mit der Ukraine und Belarus sowie weiteren russischen Gebieten zu einem gesamtrussischen Staat, für die Umwandlung des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion in eine bedingungslos russische Einflusszone.“

    Gut möglich, dass die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht

    Nun sagen Sie mir mal, wo steht da was von Krieg? Ich kann mir vorstellen, dass sich jemand, der diesen Satz liest, Strelkow vorstellt, den Überfall auf Slawjansk, die Geschehnisse auf der Krim, die fünf Kriege, die ich auf dem Buckel habe und davon ausgeht, dass dieser Strelkow definitiv eine Art Wehrmacht errichten und in die Ukraine, Belarus oder sonst wo einfallen wird. Aber wo steht das in der Deklaration?

    Gut möglich, dass unsere politischen Gegner, die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht.

    Wie stellen Sie sich diese Vereinigung denn ohne Blutvergießen vor?

    Ich sage es Ihnen nochmal, die Deklaration ist eine Reihe von Wünschen. Das, was wir anstreben. Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man zum Beispiel gar nicht Krieg führen. Mit besonnener Politik und unter der Voraussetzung, dass man Belarus nicht als ein mögliches Objekt der Plünderung betrachtet, wäre eine Vereinigung denke ich gut möglich, und zwar ohne jeden Krieg und ohne Blutvergießen.

    Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man keinen Krieg führen. Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage

    Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage. Der Krieg ist schon im Gange, da können wir nicht mehr raus. Jetzt müssen wir diesen Krieg gewinnen, denn im Fall einer Niederlage verlieren wir nicht nur in der Ukraine, sondern überall. Da bleibe ich bei meiner Meinung.

    Das Dilemma wurde alternativlos mit der Angliederung der Krim. Dieser Schritt war richtig, aber ich möchte hier nicht seine Richtigkeit, sondern seine Bedeutung betonen. Seitdem gibt es keine anderen Möglichkeiten der Befriedung mehr: Entweder muss man die Junta zerschlagen oder vor ihr kapitulieren.

    Und dennoch, wenn wir Ihrem Szenario folgen, dann kann doch von einer weiteren Annäherung an die „Erste Welt“, von der Sie in der Deklaration sprechen, gar keine Rede sein. Es werden nur weitere Sanktionen folgen.

    Ich war nie Jurist, meine Grundausbildung sind die fünfmonatigen Seminare an der Akademie des russischen FSB, wo ich im Kampf gegen den Untergrund und in der Organisation der Arbeit mit dem Untergrund ausgebildet wurde.

    Trotzdem, wenn es um so ernsthafte Dinge wie eine Deklaration geht, muss man sie wörtlich lesen und nichts erfinden. Wir sind dafür, Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus der sogenannten Ersten Welt für Russland zu gewinnen. Da steht nichts davon, dass wir eine Freundschaft mit der gesamten Ersten Welt auf allen Ebenen und zu ihren Bedingungen wollen.

    Nein, wir sind für die Errichtung eines souveränen, freien und – so komisch das aus meinem Mund auch klingen mag – eines Rechtsstaates in Russland. Wenn das erreicht ist, kommen wir ganz von selbst auf ein Level mit den Ländern der Ersten Welt.

    In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – ‚klauen, verkaufen, ins Ausland bringen‘

    Außerdem sind wir jetzt in wirtschaftlicher Hinsicht wunderbar in das System der Ersten Welt eingebunden. Nämlich auf der Ebene vom Rohstoffanhängsel, der Pipeline, durch die man alle unsere Ressourcen aus uns rauspumpt. Und im Gegenzug bekommen wir finanzielle Mittel, die dann ebenfalls außer Landes geschafft werden. In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – „klauen, verkaufen, ins Ausland bringen“.

    Sie haben von einem möglichen Machtwechsel in Russland gesprochen. Wollen Sie um die Macht kämpfen? Haben Sie vor, für die Duma zu kandidieren?

    Nein. Die Politik reizt mich überhaupt nicht. Sie interessiert mich nicht. Ich weiß nur zu gut, was Politik bedeutet. Als ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter weiß ich das ganz genau: Es ist eine schmutzige Sache, bei der jeder lügt. Lügen ist mir ein Gräuel.

    Warum haben Sie sich dann auf die Politik eingelassen?

    Aus demselben Grund, warum ich auf die Krim gefahren bin und später nach Slawjansk. Ich habe schon lange keinen Gefallen mehr am Krieg. Wie schon Napoleon sagte: Für den Krieg braucht man ein bestimmtes Alter. Ein Mann über vierzig, erst recht wenn er den Krieg kennt, will nicht mehr kämpfen. Er hat viel gesehen und weiß genau, dass es daran nichts Romantisches gibt. Das Erlebte lastet auf einem, und das Risiko reizt einen auch nicht mehr – im Krieg jedoch ist das Risiko unvermeidbar.

    Aber ich habe meine Pflicht erfüllt. Für die Krim habe ich nichts bekommen, noch nicht einmal ein Dankeschön. Dasselbe habe ich in Slawjansk getan. Wenn man mich nicht buchstäblich dazu gezwungen hätte, die Maske abzunehmen (wie und warum ist eine andere Geschichte), würdet ihr immer noch glauben, dass der Oberst Strelkow ein cooler Hauptmann des GRU mit superbreiten Schultern ist, der mit links Flugzeuge von Himmel holt und mit einem Schuss ganze Panzerkolonnen abfackelt.

    Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten

    Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. In Kriegszeiten kann ich sie ergreifen – das ist überhaupt kein Problem. Ich habe kein Interesse an diesen ganzen Spielchen mit Wahlen, Umfragewerten und der Notwendigkeit, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen und dafür zu lügen.

    Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten. Weil es das Schicksal nun mal so wollte, dass ich eine gewisse Popularität, eine gewisse Bekanntheit erlangt habe, habe ich kein Recht, sie nicht zu nutzen, quasi mein Pfund zu vergraben wie in dem berühmten Gleichnis.

    Sie wollen also friedlich um die Macht kämpfen?

    Wir werden nicht auf friedliche Weise um die Macht kämpfen, im Augenblick werden wir überhaupt nicht um die Macht kämpfen.

    Und was haben Sie dann vor?

    Wir haben schon lange gesagt, dass das jetzige Regime todgeweiht ist, es verschlingt sich selbst. Vor unseren Augen passiert die Selbstzerstörung eines Regimes, das sich nicht verändern will. Es zerfällt auf der Ebene der Wirtschaft, der Politik, sogar auf der Ebene der Machtvertikale, weil diese zersplittert.

    Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe

    Unsere Aufgabe ist es nicht, dieses Regime zu stürzen. Allein deswegen nicht, weil man am Beispiel der Ukraine sieht, wozu so ein Umsturz führt. Unsere Aufgabe ist es, in dem Moment, in dem das Regime zu bröckeln beginnt, die nötige Kraft aufzubringen, um das Land zu erhalten.

    Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe und die Errichtung einer neuen politischen Zukunft.

    Also darum, in der Krisensituation die Macht zu übernehmen?

    Ja, in gewisser Weise schon. Eine andere Möglichkeit an die Macht zu kommen, gibt es derzeit einfach nicht. Jeder Mensch, der in unserem Land lebt und kein pathologischer Heuchler oder Pateimitglied von Einiges Russland ist, begreift, dass die Wahlen einfach nur Fiktion und Betrug sind, und das seit Anfang der 90er.

    Sie wissen doch, dass man in unserem Land Nationalisten für gewöhnlich einfach wegsperrt. Haben Sie keine Angst, dass Sie und Ihre Mitstreiter sich plötzlich im Gefängnis wiederfinden?

    Habe ich nicht. Nicht weil ich glaube, dass man mich nicht einbuchten könnte, sondern weil ich einfach keine Angst davor habe, das ist alles. Wissen Sie, das ist der Unterschied zwischen mir und einem Nawalny: Nawalny war sein Leben lang Politiker, hat Geld verdient, für ihn hat der persönliche Komfort sehr großen Wert. Ich mag Komfort auch gern. Ich bin kein Eremit oder Mönch, ich trinke gern ein ordentliches Glas Bier, hab nichts gegen ein gutes Essen und reise gern. Aber ich war in meinem Leben auch in solchen Situationen, die Alexej Nawalny nicht mal vom Hörensagen kennt.

    Ich kann mir vorstellen, was mit mir passieren könnte, wenn ich ins Gefängnis oder in U-Haft komme. Glauben Sie mir, ich kenne schlimmere Situationen.
    Vielleicht wirkte es nach außen anders, aber als ich in Slawjansk war, wurde mir klar: Das Hauptquartier ist mein Leben. Wobei die Chancen zu überleben wesentlich schlechter stehen, als die Chancen zu siegen. Ich bin kein derart zurückgebliebener Abenteurer, um unerschütterlich an den Sieg zu glauben. Mir war klar, dass die Chancen nicht sehr hoch sind und dass wir im Großen und Ganzen ins Ungewisse steuern, dass man uns vielleicht helfen würde, vielleicht aber auch nicht. Im Endeffekt hat man uns halb geholfen.

    Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante

    Mir war auch klar, dass die Chancen da lebend rauszukommen für mich persönlich etwa eins zu zehn standen. Ich bin nicht wegen des Ruhms dahin gegangen. Mir ist die Öffentlichkeit bis heute unangenehm, ich mag es nicht, wenn man mich auf der Straße wiedererkennt und ein Autogramm von mir will…

    Geben Sie dann ein Autogramm?

    Inzwischen hat man mich ein bisschen vergessen, und ich kann endlich wieder mit der Metro fahren. Manch einer schaut mich jetzt genauer an und versucht das Gesicht zuzuordnen, aber von den Fernsehbildschirmen bin ich verschwunden. An den Namen Strelkow erinnert man sich vielleicht noch, aber nicht mehr an das Aussehen.

    Aber, um wieder zu ihrer Frage zurückzukommen: Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Außerdem denke ich nicht, dass man mich einbuchten würde, ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante.

    Früher haben Sie gesagt, dass Sie Wladimir Putin unterstützen. Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm geändert?

    Sehen Sie den Schrank da in der Ecke? Hinter dem steht ein Porträt von Wladimir Putin, verstaubt. Früher hing es mal an der Wand. Es hing da bis zum Beginn des Syrien-Abenteuers.

    Putin verhält sich wie ein defätistischer Kapitulant

    Aber es hing da nicht, weil ich ein großer Putin-Anhänger bin und ihn für den besten Anführer im Land halte, sondern weil während des Kriegs die Hoffnung bestand, dass er sich wie ein Oberbefehlshaber verhalten würde, und nicht wie ein defätistischer Kapitulant. Ich war bereit, ihn als Oberbefehlshaber anzuerkennen. Aber jetzt bewegt sich Putin eins zu eins auf dem Weg von Milošević. Wenn er diesen Weg wieder verlässt, wenn wir wieder den Putin von 2014 vor uns haben und ein paar Bedingungen erfüllt sind, dann kann es gut sein, dass ich ihn wieder unterstütze.

    Welche Bedingungen?

    Als Putin 2014 den innen- und außenpolitischen Kurs scharf gewechselt hat, hätte er gleichzeitig die Kader austauschen müssen. Jegor Proswirnin kritisiert mich furchtbar dafür, aber das ist ein Zitat von Stalin, das einfach jedem im Gedächtnis ist: „Die Kader entscheiden alles!“ Wenn man die wichtigste und nützlichste Sache einem Halunken und Gauner anvertraut, wird er sicher etwas klauen, verschusseln, verkaufen.

    Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus seinem Umfeld zusammengestellt, aus Judo- und Hinterhof-Kumpels. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

    Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus Judo- und Hinterhof-Kumpels zusammengestellt. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

    Ich war fest davon überzeugt, dass ein Prozess der Kadererneuerung einsetzen würde, dass er mit Blick auf die neuen Aufgaben eine handlungsfähige Truppe zusammenstellen würde. Denn es ist doch unmöglich dem Westen auch nur im Politischen Paroli zu bieten, wenn die Kinder des Außenministers in Großbritannien studieren, wenn die eigenen Kinder in den Niederlanden leben, wenn Exfrau und Kinder vom Hauptzuständigen für die Ukraine in London leben. Man kann den Feind nicht bekämpfen, wenn man unter den ausführenden Kräften potentielle Spione hat. Wobei ich glaube, dass ein paar davon nicht nur potentiell sind.

    Aber das ist nicht geschehen. Später, als wir in die Konfrontation mit dem Westen getreten sind, hätten wir ein Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft schaffen müssen. Wenn man außenpolitische Souveränität will, braucht man wirtschaftliche Souveränität. Eine Pipeline kann nicht unabhängig sein. Man hätte entweder eine Umgestaltung der Wirtschaft beginnen müssen oder zu einer Politik zurückkehren müssen, die mit der Wirtschaft übereinstimmt.

    Denn bei uns laufen ja Politik und Wirtschaft in verschiedene Richtungen, deswegen laufen wir im Endeffekt nirgendwo hin, sondern treten auf der Stelle und verlieren auf beiden Linien.

    Aber man spricht doch von Importsubstitution?

    Die können sagen, was sie wollen. Aber dass beispielsweise Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline.

    Ich habe letztens eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten und eine Pipeline an die Tafel gemalt, über die Erdöl von Russland in den Westen fließt. Dort wird es dann verkauft und ein Teil des Geldes fließt wieder zurück – um dann sofort wieder in den Westen zurückzugelangen. Aber die Pipeline verfügt über eine gewisse Durchlässigkeit. Sagen wir, es werden 100 % Ressourcen gewonnen, aber nicht alles davon erreicht den Westen, denn eine Pipeline trägt eine gewisse Bürde. Das sind Atomwaffen, Armee, Flotte, Wissenschaft, Kultur, Sozialleistungen, Rentner und der Staatsapparat. Diese Bürde verschlingt etwa 50 % von dem, was in den Westen gelangen könnte.

    Dass Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline

    Deswegen hat der Westen ein Interesse daran, dass sich diese Bürde verringert, und auch Kudrin ist dafür, diese Bürde zu beseitigen. Nur sind das Sie und ich, das ist unsere Souveränität, unsere Unabhängigkeit, unsere Armee, das gehört uns. Derjenige, der seine eigene Armee nicht ernähren will, ernährt die fremde.

    Haben Sie mal in Betracht gezogen, der Gesamtrussischen Nationalen Front beizutreten, um Putin bei der Durchführung von Reformen zu unterstützen?

    Wenn Sie in einen Misthaufen kriechen, dann ist Ihnen doch klar, dass Sie sich schmutzig machen werden, oder? Das geht gar nicht anders. Mich widert das an, ich sehe diese ganzen Leute und mir ist klar, dass man ihnen jede beliebige Angelegenheit aufdrücken könnte. Gestern waren sie noch Kommunisten, bis 1991, dann wurden sie alle Liberale und Demokraten, später treue Staatsanhänger und Patrioten.

    Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die

    Aber ich bin kein Fähnchen im Wind und möchte mit solchen Leuten auch nicht in einem Boot sitzen. Sie können nichts außer klauen und sich den Machthabern anpassen. Wenn morgen bei uns Hitler an die Macht käme, wären sie sofort alle in der NSDAP, wenn morgen die Amerikaner bei uns landen würden, würden sie die mit Freudentränen empfangen. Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die.

    Ich versuche mit aller Kraft [meine Ansichten] zu vermitteln. Ich habe eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten, danach hat man mich überall verboten. Sogar in der Provinz. Überall gehen Anrufe meiner ehemaligen Kollegen ein und es heißt „geht nicht“. Dafür reicht die mit Feigheit und Loyalität durchtränkte Machtvertikale noch. Eine mächtige Blockade wurde um mich errichtet, selbst Erwähnungen sind verboten.

    Sogar als Herr Posner über die „Deklaration der Faschisten“ sprach, hat er nur Proswirin und Krylow erwähnt, aber nicht Strelkow. Man solle den berümten Mann vergessen, danach kann man dann irgendwas mit ihm anstellen. Nur fehlt ihnen die Zeit dafür, sie haben Zeitnot [orig. Dt.– dek]. Sie bräuchten etwa fünf Jahre.

    Und die haben sie nicht?

    Nein. Sie haben maximal zwei. Sie betreiben gerade eine Politik à la Trischkas Kaftan: Ist ein Teil löchrig geworden, schneiden sie woanders etwas weg und flicken es damit. Aber der Rock wird immer knapper, überall nur Löcher. Zwei Kriege, in denen wir zur Hälfte drin, zur Hälfte draußen sind.

    Den einen hätten wir im Handumdrehen gewinnen können, haben aber Schiss bekommen. In den zweiten sind wir eingestiegen und haben bald kapiert, dass wir den nicht gewinnen können, aber ein Bein hängt immer noch in der Falle. Unser Kontingent wächst beständig, die gesamte syrische Armee von Assad wird von uns versorgt. Es gibt keine strukturellen Reformen oder wenigstens die Einsicht, dass sie vonnöten wären. Nun hat man Kudrin aus dem Ärmel gezogen – vielleicht kann der ja Wunder bewirken? Aber das ist unmöglich.

    Lassen Sie uns nochmal zum Anfang unseres Gesprächs zurückkehren. Angenommen, Sie schaffen es, die Macht zu übernehmen, wenn das Land zu bröckeln beginnt. Was machen Sie dann mit ihren politischen Gegnern? Beispielsweise mit den Liberalen?

    Sie hätten wohl gern, dass ich Ihnen Balsam auf die Seele gieße? Sie werden natürlich alle an der Kremlmauer hängen – die Kommunisten, die Liberalen, die Jedinaja-Rossija-Parteigänger. Kleiner Scherz. Ich muss Sie enttäuschen. Das wird es aus einem einfachen Grund nicht geben: Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe.

    Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe

    Ich habe zu allen Nationen ein gutes Verhältnis, nur liebe ich die eigene am meisten. Wir müssen die Chance auf eine Zukunft haben, nicht zu humanistischen Gleichmachern  werden – ich bin grundsätzlich gegen Gleichmacherei. Ich denke, dass es ohne Unterschiede keine Entwicklung geben kann. Ich bin für die Entwicklung jeder einzelnen nationalen Kultur, aber dabei für die Einheit von Russland. Ich möchte darauf hinaus, dass das russische Volk sehr geschwächt ist, und jeder Mensch ist wertvoll.

    Natürlich ist beispielsweise Anatoli Borissowitsch Tschubais für mich nicht wertvoll, und andere Menschen von seiner Art sind für mich auch nicht wertvoll. Aber gegenüber den gewöhnlichen liberalen Weißbändchenträgern habe ich keine feindlichen Gefühle. Ich denke, wenn wir es schaffen, einen normalen Staat zu errichten, werden sie ihren Platz darin finden. Dann mögen sie in Gottes Namen glücklich und reich werden und viele Kinder kriegen.

    Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal über den Donbass sprechen. Vor dem Hintergrund der letzten Erklärung von Lawrow zum Verbleiben des Donbass in der Ukraine und unserer Nichtanerkennung des Donbass – bereuen Sie überhaupt nicht, was Sie getan haben?

    Nein, das tue ich nicht. Erstens ist es dumm, etwas zu bereuen, was schon getan ist. Man kann begangene Sünden bereuen als Christ, aber etwas zu bereuen, das ich aus Aufrichtigkeit getan habe, ist sinnlos.

    Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun

    Ich bin nicht für Geld, Reichtum oder Ruhm dahin gegangen. Ich bin dahin gegangen, um der ansässigen russischen Bevölkerung zu helfen und habe das nach meinen Kräften und Möglichkeiten getan. Vielleicht habe ich nicht genug geholfen, vielleicht hätte ich mehr tun können. Aber im Großen und Ganzen bin ich davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun.

    Ich bin davon überzeugt, dass Kiew eine russische Stadt ist, und dass Russland ohne Kiew nicht Russland ist, sondern die Russische Föderation. Und die Russische Föderation ist nicht Russland, leider.

     

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  • Russki Mir

    Russki Mir

    Russki Mir (dt. „Russische Welt“) ist ursprünglich ein Kulturkonzept, das in seiner ideologisierten Form auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt wird. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität.
    Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg, der jeweils am 9. Mai in großen Paraden und darüber hinaus in zahlreichen Produkten der Populärkultur inszeniert wird. Die Russische Welt umfasst ihrem Anspruch nach alle Gebiete, in denen die russische Kultur präsent ist.1

    Die Anfänge der Russischen Welt gehen mindestens zehn Jahre zurück. Präsident Putin definierte das Konzept programmatisch bei einem Treffen mit Kulturschaffenden im Jahr 2006: „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch leben, in Russland oder außerhalb. Verwenden Sie diesen Ausdruck so oft wie möglich – Russische Welt.“2 Putin erklärte das Jahr 2007 offiziell zum „Jahr der russischen Sprache“ und verwies dabei auf die Wichtigkeit des Russischen als eines verbindenden Elements zwischen den Bürgern der Russischen Föderation und den „Landsleuten“ im nahen Ausland.
    Neben der Sprache wurden aber auch eklektisch einzelne Elemente aus den Werken von Philosophen wie Wladimir Solowjow, Nikolaj Berdjajew oder Iwan Iljin zur Begründung der Ideologie der Russischen Welt herangezogen.
    Inhaltlich ist die Ideologie der Russischen Welt weitgehend konturlos und unbestimmt. Immer wieder werden eigene „geistig-moralische Werte“ beschworen, die sich angeblich grundlegend von den Idealen eines als feindlich wahrgenommenen Westens unterscheiden.3

    Vom kulturellen Projekt zur Ideologie

    Aus einem zunächst nur kulturellen Projekt wurde aber bald eine politische Ideologie, die zur Rechtfertigung der russischen Intervention in Georgien (2008) und der Angliederung der Krim (2014) eingesetzt wurde. Die Militäraktion in Südossetien wurde vom damaligen Präsidenten Medwedew mit dem Schutz der „Landsleute“ begründet (die meisten Südosseten verfügen über russische Pässe).
    Wladimir Putin verkündete bereits am Nationalfeiertag 2013, dass „die Russische Welt nicht auf dem Prinzip ethnischer Exklusivität“ beruhe, sondern offen für alle sei, die „sich selbst als Teil Russlands und Russland als ihre Heimat“ betrachteten.4 Ein Jahr später hob der Präsident hervor, Russland habe auf der Krim bewiesen, dass es seine „Landsleute“ beschützen und „Wahrheit und Gerechtigkeit“ verteidigen könne.5

    Auch in den ostukrainischen Kriegsgebieten zeigt der Begriff der Russischen Welt seine Wirkmächtigkeit: In der Präambel der Verfassung der Donezker Volksrepublik wird er gleich vier Mal erwähnt.6

    In der nationalen Sicherheitsstrategie, die am 31. Dezember 2015 in Kraft trat, taucht das Konzept der Russischen Welt zwar nicht explizit auf, es gibt aber ein ganzes Kapitel, das sich der Kultur widmet.
    Artikel 81 hält explizit fest, dass die russische Sprache folgende Aufgaben erfülle: Sicherung der staatlichen Einheit des Landes, Kommunikation zwischen den einzelnen Nationen der Russischen Föderation, Integration im postsowjetischen Raum sowie Kulturleben der Landsleute im Ausland.7

    Die Stiftung Russki Mir

    Parallel zur politischen Instrumentalisierung des Kulturprojekts erfolgte eine Institutionalisierung der Russischen Welt. Seit 2007 existiert eine staatliche Stiftung mit dem Namen Russki Mir, die im Jahr 2015 aufgrund der Wirtschaftskrise allerdings nur etwa 60 Prozent der vorgesehenen 750 Millionen Rubel [etwa 10,5 Millionen Euro] erhielt.8 Auf ihrer Website legt die Stiftung offen, dass ihr Ziel in der „Förderung der Verbreitung objektiver Information über Russland, über die russischen Landsleute und Schaffung einer Russland wohlgesonnenen öffentlichen Meinung“ bestehe.9

    Die Stiftung Russki Mir ist hauptsächlich im kulturpolitischen Bereich tätig. An ausgewählten ausländischen Universitäten werden Russische Zentren eingerichtet, die Sprachunterricht und Bibliotheksdienste anbieten.10
    Bereits die hochkarätige Zusammensetzung des Stiftungsbeirats zeigt, welche Wichtigkeit dieser Organisation beigemessen wird: Aus dem Kabinett sind der Bildungsminister, der Kulturminister und der Außenminister vertreten.

    Der Vorsitzende der Stiftung Russki Mir, Wjatscheslaw Nikonow, befindet sich ganz auf der Linie der patriotischen Staatsideologie. Die Ukraine hält er für einen „failed state“, der über „keine Regierung, keine Armee, keine Wirtschaft, keine innere Einheit, keine Demokratie und keine Ideologie“ verfüge.11 Russland sei demgegenüber eine starke Nation, die auf bedeutende historische Errungenschaften zurückblicken könne.

    Nikonow beschreibt die russische Geschichte als fortwährende Expansion – von der sibirischen Landnahme über die Kolonisierung Amerikas bis zur Eroberung des Kosmos.12 In solchen Verlautbarungen zeigt sich auch der Unterschied zu ähnlichen Institutionen anderer Länder wie etwa der Goethe-Institute.

    Die Reichweite des ideologischen Konzepts der Russischen Welt ist allerdings beschränkt. In einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Dezember 2014 in Russland stellte sich heraus, dass 71 Prozent der Befragten noch nie von Russki Mir gehört hatten.13


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    Ein bisschen Frieden

    Spot an, die halbe Welt schaut zu: Die ukrainische Krim-Tatarin Jamala gewinnt den Eurovision Song Contest 2016 – nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Russland und mit einen Lied, das die leidvolle Geschichte ihres Volkes unter Stalin besingt. „Zu politisch“, kritisierten manche, die den Song auch als eine Anspielung auf die Situation der Krim-Tataren heute verstehen.

    Andrej Archangelski befindet auf Colta.ru: Ja, der ESC ist politisch. Und das ist gut so.

    Derzeit begegnen Millionen russischer Fernsehzuschauer einmal jährlich dem realen Europa – wortlos, wie Stierlitz seiner Frau. Millionen russischer Fernsehzuschauer haben Gelegenheit – ohne ideologische Interpretation und in natürlicher Umgebung – eben jene Europäer anzuschauen. Die uns unsere Identität nehmen wollen und denen deswegen der Untergang droht. Europa wirkt dabei ziemlich einheitlich: einander ähnelnde Frauen in glitzernden Roben, beziehungsweise Männer in gestreiften Jacketts mit lustigen Fliegen.

    Der will uns vernichten? Der mit der Streifenhose und dem lustigen Namen?

    Die Bilder vom ESC müssten im Prinzip hart aufeinanderprallen mit dem, was der Fernsehzuschauer täglich von Europa zu sehen und hören bekommt. Im Prinzip müsste er sich fragen: Das also sind unsere Feinde? … Die sollen uns vernichten wollen? … Der da? Mit seinem Propeller und der Streifenhose und dem lustigen Namen? …   

    Doch die Moderatoren schlagen an diesem Tag tatsächlich einen anderen Ton an als sonst. Als ESC-Kommentator muss man, abgesehen von der grundlegenden Intonation, auch auf die Spielart achten – wie in einer Partitur: „wohlwollend, aber mit leichter Ironie“ oder „mit einem Anflug von Ärger“. All diese Nuancen wurden bereits in der sowjetische Sprecherschule erarbeitet,  Vorbilder gibt es also genug. Doch eines ist klar – diese Sendung bleibt harmlos (krass wird’s erst morgen). 

    Es ist eine heikle Arbeit: Millionen von Zuschauern wissen zu lassen, dass die Eurovision in unserem Fernsehen „eine vorübergehende Erscheinung“ ist, „ein Spiel“, „ein Muss“ – und dabei mit der Stimme regelrecht zu zwinkern. Und all das nur, weil es der russischen Staatsmacht kurioserweise immens wichtig ist, den Wettbewerb derjenigen zu gewinnen, deren Lebensstil sie erklärtermaßen verachtet.

    Worte, wie in Bronze gegossen

    Der Sieg Jamalas war für alle überraschend (deswegen ist ein Wettbewerb ein Wettbewerb), für das russische Fernsehen aber ganz besonders. Bei der Jurywertung war ja mit riesigem Abstand Australien auf Platz 1 gelandet, beim Publikumsvoting Russland.

    „Die Politik war am Ende stärker als die Musik“, so begann der Moderator bei Rossija 1 Boris Kortschewnikow seinen Kommentar zum Ergebnis. Bis zum nächsten Morgen waren diese Worte in Bronze gegossen, wie auch folgende fixe Formulierungen: „Die Völker Europas haben für den russischen Interpreten gestimmt“, und: „Die Abstimmung war politisch“. Für die Propaganda eine tadellose Formel.

    Hier können uns Linguisten weiterhelfen: Das Wort „Politik“ gehört in Russland dem Staat. Er hält 99 % der Aktien an diesem Wort. Als psychologischen Abwehrmechanismus auf dieses unnatürliche Monopol entwickeln die Menschen seltsame Konzepte, an die sie irgendwann selbst glauben, wie etwa: „Kultur und Politik existieren unabhängig voneinander“, Kultur oder Sport „sollen nicht politisch sein“.

    Wenn man das so sagt, kann man genauso gut sagen: „Kultur und Sport dürfen nicht den Menschen gehören“, denn Politik umfasst sowohl Sport als auch Kultur.

    Bei einem Menschen oder einem Ereignis das Politische vom Nichtpolitischen zu trennen, ist äußerst schwierig. Und wozu auch? Wenn das Politische doch ursprünglich das „Menschliche“ bedeutet.

    Natürlich ist der ESC politisch – das ist weder ein Geheimnis, noch ein Problem

    Die schreckliche Wahrheit ist, dass der Eurovision Song Contest tatsächlich politisch ist – doch ist das weder ein Geheimnis, noch ein Problem. Und zwar genau deswegen, weil Politik eigentlich den Menschen gehört und niemand Angst vor ihr hat.

    Der Wettbewerb ist schon allein dadurch politisch, dass jede Abstimmung von Millionen Menschen über eine beliebige Frage auch immer ein Plebiszit ist. Und wird auf einen Staat Einfluss haben. Allein durch seine Existenz glättet der Wettbewerb internationale Wogen, bringt Menschen auf andere Gedanken.

    Wenn 26 Länder einander Herzchen und Likes schicken – klar ist das Politik. In ihrer neuen Bedeutung, wo im Zentrum der Mensch steht, und nicht der Staat. Dass einige Länder nie für bestimmte andere voten – auch das ist Politik. Wie im übrigen auch, dass manche Punkte als symbolische „Bitte um Verzeihung“ zu verstehen sind (Deutschland hat seine 12 Punkte Israel gegeben) – auch das wird keine musikalische Bedeutung haben.

    Vielleicht geht das als „erster Schritt zur Versöhnung“ in die Geschichte ein

    Dass die Ukraine und Russland einander im Publikumsvoting „wieder, als ob nichts gewesen wäre, wie damals“ fast die höchste Punktzahl gaben (Russland der Ukraine 10 Punkte, die Ukraine Russland 12) – das zeigt, dass die Eurovision geschafft hat, was bisher niemandem gelungen ist.

    Gott sei Dank gibt es diese Art von Politik. Beten sollte man für eine solche Politik, auf die Knie fallen vor ihr. Dass der russische Sänger der ukrainischen Sängerin zum Sieg gratulierte – wer weiß, vielleicht geht das als erster Schritt zur Versöhnung in die Geschichte ein, und insofern ist Sergej Lasarew durchaus ein Sieger, aber in einem anderen, wichtigeren Sinn – dem moralischen.    

    Der politische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wurde eins zu eins auf die Musik übertragen. Und dabei wohlgemerkt nicht geglättet, dafür ganz und gar ins Menschliche gedreht. Natürlich konkurrierten nicht die Sänger, sondern das Image des jeweiligen Landes. In diesem Wettkampf hat die Ukraine gesiegt. Weil (zumindest) in der heutigen Kultur ein Opferkult und kein Siegerkult vorherrscht, was Michail Jampolski sehr treffend beschreibt.

    Heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern

    Das ist für die russische Propaganda eine wertvolle Lektion – heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern. Mit dem Ergebnis, dass die Ukraine wieder weltweit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der nächste Songcontest ist ein Garant der Sicherheit für die Ukraine, denn jetzt werden alle teilnehmenden Länder, einschließlich Russland, daran interessiert sein, dass die Ukraine ein sicherer Ort ist.

    Mit anderen Worten: Der Sieg der Ukraine bedeutet die Legitimität der Ukraine. Und diese Tatsache wird, um es mit dem sowjetischen Agitprop zu sagen, manch heißen Kopf herunterkühlen.

    Schon jetzt gibt es rhetorische Figuren: Teilnehmen oder nicht teilnehmen, und wenn ja, mit wem (еine Variante wäre Schnur von der Petersburger Gruppe Leningrad). Das wird nun  eine politische Entscheidung, und gefällt wird sie nicht im Fernsehen.

    Wenn es heißt, nächstes Jahr braucht Russland einen Künstler „mit so einem Lied, wie Jamala“, der bitte auch von tragischen Vorfällen singt (gemeint sind etwa die tödlichen Ausschreitungen in Odessa 2014), dann vergisst man komplett die unterschiedlichen Auswahlverfahren in Russland und der Ukraine.

    Russland will vorerst „weiter mitspielen“

    Jamala gewann aufgrund einer landesweiten Abstimmung, sie hatte starke Konkurrenz und setzte sich mit nur wenig Vorsprung durch: Eben weil es riskant ist, mit so einem Lied an einem Wettbewerb für Unterhaltungsmusik teilzunehmen. Doch ein Künstler kann ein solches Risiko eingehen, ein Staat nicht.  

    In Russland wurde der diesjährige Kandidat von einem TV-Sender ausgewählt; das wird wahrscheinlich auch nächstes Jahr so sein – und die Bürokratie trifft keine riskanten oder extravaganten Entscheidungen. Am ehesten wird es ein Kompromiss werden, eine möglichst neutrale Variante. Für das „Teilnehmen“ hat sich bisher (gleich nach dem Finale, das ist wichtig) die erste stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses der Staatsduma, Jelena Drapeko, ausgesprochen. Ein gutes Zeichen: Man will also vorerst „weiter mitspielen“ und nicht die Welt ignorieren.    

    Die Welt ignorieren funktioniert ohnehin nicht. Unmöglich. Das ist das wichtigste Ergebnis des Eurovision Song Contest – für Russland. Natürlich nur, wenn es fähig ist, das zu verstehen.

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