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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Administrative Ressource

    Administrative Ressource

    Am 24. März 20061 fuhr der Polit-Stratege Wladislaw Surkow in eine unscheinbare Nebenstraße im Moskauer Stadtteil Kitaj-Gorod. Hier, unweit der FSB-Zentrale an der Lubjanka, befand sich das Hauptquartier der Russischen Partei des Lebens. Surkows Mission war es, diese winzige Öko-Partei des Putin-Vertrauten Sergej Mironow mit einigen anderen kleineren Gruppen zu einer Mitte-Links-Partei mit Wachstumspotential zusammenzuführen. Mit ausdrücklicher Unterstützung des Präsidenten sollte so eine neue loyale Kraft geschaffen werden, die in kontrollierter Konkurrenz zur Regierungspartei steht und diese möglicherweise eines Tages würde ersetzen können. Ein, wie Surkow es ausdrückte, zweites Standbein der Macht.2 Es soll hier nicht um die Partei Gerechtes Russland gehen, die infolge dieser Aktion entstand – sondern darum, was Surkow dort eigentlich tat, an diesem Freitag in Kitaj-Gorod.

    Der Kreml-Berater – damals war Surkow stellvertretender Chef der einflussreichen Präsidialadministration – bediente sich des sogenannten administratiwny ressurs (dt. Administrative Ressource). Dieser relativ unscharfe Begriff wird im politischen Diskurs Russlands und anderer post-sowjetischer Staaten oft verwendet. Er ist mitunter schwer von einfacher Korruption zu unterscheiden, da die Nutzung der Administrativen Ressource oft nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Folgen hat. Im weitesten Sinne bezeichnet er eine Art Amtsbonus: Einen Vorteil, den Amtsinhaber aus ihrer formalen Machtposition ziehen und gegenüber Mitbewerbern und Kontrahenten in Wirtschaft und Politik einsetzen können. In diesem Fall nutzte Surkow die hohe Organisationsfähigkeit der staatlichen Behörden und die informellen Verbindungen zwischen Mironow und Putin, um die politische Landschaft im Sinne der Regierung zu beeinflussen.

    Die Administrative Ressource (im Russischen meist abgekürzt: „adminressurs“) ist also das Potential von Vertretern der Exekutive auf allen Verwaltungsebenen, organisatorische und finanzielle Ressourcen innerhalb des Staatsapparates für die eigenen Zwecke zu nutzen. Dazu zählen die Mehrheitsbeteiligung des Staates an den größten Fernsehsendern ebenso wie die Möglichkeit, Polizei, Sicherheitsdienste, Gerichte und zahlreiche Lizenzierungsbehörden für Einflussnahme auf den politischen Prozess zu missbrauchen.3 Durch Einsatz dieser Instrumente werden unter anderem Wählerstimmen mobilisiert und unerwünschte Kandidaten und Gruppen eingeschüchtert oder ganz aus dem Rennen genommen – zum Beispiel durch plötzliche polizeiliche Ermittlungen.

    Die vielen Gesichter des adminressurs

    Ein Beispiel: Im September 2013, kurz vor den Bürgermeisterwahlen in Moskau, häuften sich die Berichte, dass Rentner Anrufe von der Pensionsverwaltung erhielten. Die Beamten stellten den Senioren einen Präsentkorb mit Nahrungsmitteln in Aussicht – wenn sie ihn spätestens bis zum Tag vor den Wahlen abholen würden.4 Bediente sich der amtierende (und später wiedergewählte) Bürgermeister Sergej Sobjanin seiner Behörden, um eine wichtige Wählergruppe mithilfe von Geschenken von sich zu überzeugen?

    Ein weiteres Beispiel: Im April 2016 durchsuchte die Steuerfahndung Büros der ONEXIM-Gruppe von Michail Prochorow. Der Firmengruppe gehört unter anderem das Investigativportal RBC. Das Medium war, so interpretierten es zahlreiche Beobachter, in seiner Berichterstattung zu weit gegangen und wurde durch den Einsatz der Steuerbehörde nun subtil darauf hingewiesen. Die Chefredaktion musste gehen.

    Schließlich ein Fall, den die Organisation Golos im August 2016 aufdeckte: Von 241 Firmen, die im Jahr 2015 über eine Million Rubel an die Partei Einiges Russland gespendet hatten, erhielten 80 im Laufe des Jahres staatliche Aufträge im Gegenwert von mehr als dem Zehnfachen des gespendeten Betrags.5 Über den Umweg von Unternehmen, die für ihre Spenden „belohnt“ wurden, gelangten so effektiv Staatsmittel in die Kassen der Regierungspartei. Hier überschneiden sich Korruption und Nutzung der Administrativen Ressource.6

    Die Sache hat System

    All diese Fälle von Parteigründungen und indirekter -finanzierung über Wahlgeschenke bis hin zum gezielten Einsatz der Steuerfahndung zeigen, wie breit das Spektrum der Administrativen Ressource ist. Wie zentral dieses Phänomen ist, wird jedoch noch einmal deutlicher, wenn man es in einen breiteren analytischen Zusammenhang stellt.

    Der Politikwissenschaftler Richard Sakwa sieht Russland als „dualen Staat“: Einerseits strukturiere die Verfassung das politische Geschehen, indem sie demokratische Verfahren als Legitimationsgrundlage politischer Handlungen definiere und Normen der Rechtsstaatlichkeit setze. Formal müssen sich alle Akteure daran orientieren. Andererseits werde diese konstitutionelle Ordnung ständig durch informelle Praktiken der Exekutive samt ihrer Beamtenschaft konterkariert: Diese parallele Existenz von zwei widersprüchlichen Funktionsprinzipien – dem demokratisch-konstitutionellen und dem informell-„parastaatlichen“ – hemme die Entwicklung hin zu offenem demokratischem Wettbewerb, schütze aber zugleich auch vor einem Abgleiten in vollumfänglichen Autoritarismus.7

    Begriff und Gebrauch der Administrativen Ressource zeigen genau diese Doppelbödigkeit, die Hybridität der russischen Politik. Regime, die keinen Wert auf demokratische Legitimation legen, müssen sich keiner komplexen legalistischen Mittel bedienen, um ihre Ziele zu erreichen. Die russische Verfassung hingegen – und das Bedürfnis, nach außen auf demokratische Verfahren innerhalb des Landes verweisen zu können –  zwingt die Eliten dazu, ihre politischen Ziele wenigstens formal innerhalb der geltenden Regeln zu verfolgen. Daher die Parteigründungen auf Initiative des Kreml, daher die Steuerfahndung, und daher auch die Wichtigkeit der Wahlen – an deren Ausgang auch aufgrund des Einsatzes der Administrativen Ressource kaum ein Zweifel besteht.


    1. Vielleicht auch am 26. – die Quellen widersprechen sich hier. Für einen Auszug aus dem geleakten Gesprächsprotokoll des Treffens siehe: Kommersant: Stenogramma-minimum ↩︎
    2. March, Luke (2009): Managing opposition in a hybrid regime: Just Russia and parastatal opposition, in: Slavic Review 68(3), S. 504-527, hier S. 511 ↩︎
    3. Siehe etwa Hale, Henry (2005): Regime Cycles: Democracy, Autocracy and Revolution in Post-Soviet States, in: World Politics 58(1), S. 133-165, hier S. 144; Blakkisrud, Helge (2011): Medvedev’s New Governours, in: Europe-Asia Studies, 63(3), S. 367-395, hier S. 386 ↩︎
    4. Slon.ru: Moskovskaja mėrija zadarivaet pensionerov produktovymi naborami ↩︎
    5. Rbc.ru: «Golos» obnaružil schemu skrytogo finansirovanija «Edinoj Rossii» ↩︎
    6. Eine Einführung in die Begrifflichkeit und auch die wirtschaftliche Dimension der Administrativen Ressource gibt der Ökonom Rustem Nureew hier: Administrativnyj resurs i ego ėvoljucija v postsovetskoj Rossii ↩︎
    7. Sakwa, Richard (2010): The dual state in Russia, in: Post-Soviet Affairs, 26(3), S. 185-206 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Krieg der Silowiki

    Krieg der Silowiki

    In Russlands Elite tobt ein Machtkampf. Am Donnerstag, 28. Juli, hat Wladimir Putin innerhalb eines Tages gleich mehrere Führungsposten umbesetzt: Bei dem heftigen Stühlerücken erhielten zwei FSB-Männer Gouverneursposten in Kaliningrad und Jaroslawl. Während der ehemalige Gouverneur der Oblast Kirow, der einst liberale Politiker Nikita Belych, in U-Haft sitzt, ging sein Amt nun an Igor Wassiljew über – einen ehemaligen KGB-Kollegen Putins. Das Zollamt bekam ebenfalls einen neuen Leiter: Wladimir Bulawin. Auch der war jahrzehntelang bei den Geheimdiensten tätig.

    Bei dieser Art von russischem Macht-Roulette wird durchaus auch Milde gewährt: Gegen den Gouverneur Sewastopols, das von Korruptionsskandalen erschüttert ist, wird nicht ermittelt. Sondern die Krim wurde als eigenständiger föderaler Kreis kurzerhand abgeschafft und der ehemalige Gouverneur empfiehlt sich nun als bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten – in Sibirien.

    Experten werten das für Außenstehende komplett undurchsichtige Ämterkarussell zwei Monate vor den Parlamentswahlen als geschickten Schachzug: um nämlich die Geheimdienste FSB und FSO zu stärken und die regionalen Machteliten so unter Kontrolle zu halten – und zwar schon im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2018.

    Ekaterina Schulmann warnt auf slon.ru jedoch vor allzu voreiligen Schlüssen und Vereinfachungen. Die These der renommierte Politologin dagegen lautet: Die Konkurrenz unter den Silowiki wächst – und das ist gut so.

    Weshalb sollte sich ein gewöhnlicher Bürger für Veränderungen in den Verwaltungsstrukturen und für den Kampf der Silowiki untereinander interessieren, wenn er selbst nicht in diesen Strukturen arbeitet und kein Silowik ist?

    Die Notwendigkeit, die FSB-Abteilung Innenrevision unterscheiden zu können von der Abteilung für Wirtschaftssicherheit ebendort, den speziellen Sicherheitsdienst des Präsidenten zu unterscheiden vom Föderalen Dienst für Bewachung (FSO) insgesamt, die Abkürzung GUEBiPK entschlüsseln zu können, sowie auf der Karte problemlos die Dörfer Jaschtscherowo, Akulinino, Sosny und Osero zu finden – das hat etwas ziemlich Überflüssiges und Entwürdigendes.    

    Viel vernünftiger erscheint das Aufspüren von „Tendenzen“ und „Trends“ in all den zusammengewürfelten Zufälligkeiten, die unsere Nachrichten täglich füllen. Versuchen wir mal, das Geschehen wenigstens ansatzweise zu verstehen. Ohne, dass man dafür irgendwelche komplexen Schemata wie „dieser und jener ist ein Mann XYs“ abspeichern muss, noch irgendwelche Namen zu kennen braucht.   

    Keine „Säuberung“, sondern der Lauf der Dinge

    Was wir hier sehen, ist keine koordinierte Kampagne, kein „Kampf gegen Korruption“, keine „Säuberung“, sondern der unvermeidliche Lauf der Dinge: Innerhalb der Elite verschärft sich die Konkurrenz, weil die Ressourcen knapper werden. Das ist die Hauptursache für das, was passiert. Es gibt ein paar zusätzliche Gründe, die zeitlich damit zusammenfallen:

    Der wichtigste davon ist der naturgegebene Generationenwechsel (die „ersten Begleiter“ des Präsidenten sind alt geworden, junge Silowiki sind in die Generalsränge hineingewachsen und haben nun einen Generalsappetit). Was ist also hier anders?

    Der Jäger kann schnell zum Gejagten werden

    Der Unterschied zwischen Korruptionsbekämpfung und Säuberung liegt eigentlich ausschließlich in der Haltung der Person, die diese Termini benutzt (Operation „Saubere Hände“ ist eher was Gutes, Ausrottung von Andersdenkenden – schlecht) – organisatorisch ist es praktisch dasselbe. Die weltweite Erfahrung mit Unternehmungen dieser Art zeigt: Charakteristisch für sie ist die Bildung spezieller Organe (Sonderausschüsse, eigene Unterabteilungen der Staatsanwaltschaft, Chambre Ardente etc.), manchmal auch die Einführung spezieller Gesetze.
    Es braucht außerdem eine ideologische Grundlage, die vorab deklariert wird (das Jahr des großen Umbruchs, Feuer auf das Hauptquartier, ethnische Säuberung), und keine nachträgliche mediale Ausschlachtung jedes weiteren „Opfers“.     

    In unserem Fall funktioniert die Jagd nach dem Motto „Jeder wie er will und kann“. Für erfolglose Teilnehmer gibt es keine Sicherheitsgarantie – der Spieß kann umgedreht und der Jäger zum Gejagten werden, wie der Fall Sugrobows zeigte.  

    In diesem neuen Krieg sinkt der Wert der „persönlichen Loyalität zum Präsidenten“. Alle sind ungefähr gleich loyal in dem Sinn, dass alle die gleichen Worte sagen. Eine Vielfalt von Ansichten und Meinungen bei wichtigen Fragen gibt es innerhalb der herrschenden Bürokratie schon ziemlich lange nicht mehr. Einfacher ausgedrückt: Wenn alle Patrioten und Staatsfreunde sind, wird der Wettbewerb, wer der glühendste Patriot und wer der überzeugteste Staatsfreund sei, gar nicht mehr durchgeführt.

    DEN EINEN KREML GIBT ES NICHT UND AUCH KEINE ANWEISUNGEN

    Schon lange ist empirisch nachgewiesen, dass es keinerlei formale „Anweisungen aus dem Kreml“ gibt. Genauso wie es nicht den einen Kreml gibt – sondern einen kollektiven Akteur. Erst recht ist der „direkte Erlass des Präsidenten“ ein apparativer Mythos – sofern er nicht in Form einer öffentlichen Erklärung oder eines Dekrets daherkommt. Einen fiktiven Kreml umringen Klans von Bürokraten, die ihm unterschiedlich nahe stehen. Und jeder von ihnen versucht zu erraten, was genau die Obrigkeit im Sinn hat, um entsprechend zu handeln.   

    Da um administrative und finanzielle Ressourcen gekämpft wird, muss man wissen, dass es sich bei den Gegnern aber eigentlich gar nicht um Klans, sondern vielmehr um Interessengruppen handelt. Eine solche Gruppe ist nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der Belegschaft einer Behörde. Deswegen ist es nicht ganz richtig, von einer Konfrontation zwischen FSB und FSO oder zwischen FSB und Innenministerium zu sprechen. Das ist wieder so ein Mythos wie die vor einigen Jahren beliebten „Kremltürme“. Denen hatte man sogar irgendwelche ideologischen Diskrepanzen zugeschrieben: in den einen säßen die „Liberalen“, in den anderen die „Hardliner“.

    Die Grenzen sind fließend

    So wird zum Beispiel die Abteilung Innenrevision eines jeden staatlichen Gewaltorgans um FSB-Kader aufgestockt. Innerhalb des FSB selbst wiederum steht diese Abteilung ebenfalls im Konflikt mit anderen Verwaltungsbereichen. Es ist nicht unüblich, dass die Stellvertreter eines Amtschefs verschiedene Gruppen repräsentieren, längst nicht alle von ihnen sind Strohmänner der Leitung.

    Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass Grenzen und Zusammensetzung dieser Gruppen fließend sind. So gerne man das Machtsystem Russlands auch mit der Mafia vergleicht, es ist dennoch anders strukturiert: Es besteht nicht aus Verbänden, die ihrem Patron bis in den Tod treu ergeben sind, sondern aus Opportunisten mit gewöhnlicherweise wachsendem Appetit. Es eint sie weder eine Ideologie noch Pläne zur Neustrukturierung Russlands noch die Liebe zum Chef, sondern einzig und allein die Hoffnung auf ihr Stück vom Ressourcenkuchen.

    Die scheinbar beständigen Parteien „alte Freunde Putins“ oder „Kollegen aus der DDR“ lösen sich auf, die „Datschenkooperative Osero“ wird vom Dorf Jaschtscherowo ersetzt.   

    Da wir es hier weder mit einer Anti-Korruptionskampagne noch mit einer Säuberung wie zu Sowjetzeiten zu tun haben, lohnt es sich, einige wichtige Merkmale des Geschehens hervorzuheben:

    Es gibt keine oberste Säuberungszentrale

    Erstens gibt es keine oberste Säuberungszentrale, kein Kampagnenkommando; jeder bemüht sich nach Maßgabe eigener Vorstellungen. Derzeit sieht der FSB wie der führende Vollstrecker und das „Richtschwert“ aus, doch innerhalb des Geheimdienstes ist eine Umgestaltung der Abteilung für Wirtschaftssicherheit  im Gange – vor dem Hintergrund dessen, dass die Abteilung Innenrevision gestärkt wird. Die Schwächung des Ermittlungskomitees kann eine Stärkung der Generalstaatsanwaltschaft bedeuten. Der Kampf um den Zoll – eine Quelle mächtiger Finanzströme – wird zum Objekt harter Konkurrenz werden, unter anderem auch abteilungsintern.  

    Es gibt keinen endgültigen Sieger

    Zweitens wird es keinen endgültigen Sieger geben. Damit das System in seiner aktuellen Form bestehen bleibt, muss es das labile Gleichgewicht zwischen den Schlüsselakteuren stützen – kein einziger von ihnen kann alle anderen besiegen. Ja, es können sich nicht einmal zwei führende Spieler herauskristallisieren, die gegeneinander antreten.

    Beispiele dafür, wie das System dieses Gleichgewicht aufrechterhält, konnten wir bei der Gründung der Nationalgarde sehen. Sie ist ein neues, starkes Organ, sowohl personalmäßig (vorgesehen sind darin bis zu 400.000 kampfbereite Mitarbeiter) als auch, was die Nähe seines Chefs zum Präsidenten betrifft. Zeitgleich mit der Auslagerung der gesamten bewaffneten Einheit aus dem Innenministerium stärkt man das Ministerium aber, indem man das Föderale Migrationsamt (FMS) und den Föderalen Dienst für Drogenkontrolle (FSKN) darin eingliedert. Dem neuen Gesetz zufolge gibt man der Nationalgarde keine Ermittlungs- und Fahndungsvollmachten, und ihr Leiter wird Mitglied des großen, nicht aber des kleinen Sicherheitsrates (kein ständiges Ratsmitglied).

    Zeitgleich mit der Einführung eines Gesetzespakets zur Gründung der Nationalgarde beginnt eine Umgestaltung und Verstärkung jener FSB-Unterabteilungen, die für Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftssicherheit zuständig sind. Parallel dazu wiederum werden mehrere Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten zu Gouverneuren ernannt. So versucht das System, Schieflagen zu vermeiden.

    Die angeregten Strafverfahren verlaufen im Sand

    Drittens werden die angeregten Strafverfahren weder vertieft noch erweitert, wie das für Säuberungsprozesse eines Apparates von Fremdkörpern oder für großangelegte Kampagnen zur Korruptionsbekämpfung ansonsten üblich ist. Im einen wie im anderen Fall zieht jeder Beteiligte konzentrische Kreise von Kollegen und Bekannten hinter sich her, in schwierigen Fällen auch Verwandte, Nachbarn und sonst alle, deren Namen er sich beim Verhör entsinnen kann.

    In der jüngsten Geschichte Russlands entsprach allein der Fall YUKOS diesem Muster. Und der wurde, auch wenn er das gesellschaftliche Klima enorm beeinträchtigte und die Standards der Gerichts- und Rechtsschutz-Maschinerie sinken ließ, nicht zum Musterszenario für folgende Prozesse. Sondern er verkapselte sich als Einzelfall im Körper des Systems – weder abgestoßen noch integriert.

    Die gegenseitigen Angriffe der Silowiki untereinander sind jedoch eher punktuell. Es sind nicht so viele davon betroffen, und das Ziel ist oft nicht die Inhaftierung als solche, sondern eine Untersuchungshaft (wo man mit dem Opfer um einiges leichter darüber verhandeln kann, ob es Erwirtschaftetes und unter seiner Kontrolle Befindliches würdigeren Personen überlassen will) oder eine simple Amtsenthebung.

    Vergleichweise vegetarische Gepflogenheiten

    Natürlich ist das alles ein Entwicklungsprozess eines Systems – und hier ist das Fehlen von Intention und Drehbuch merkwürdigerweise dem Allgemeinwohl eher zuträglich. Das Ausbleiben von Massenverhaftungen und geräuschvoll beginnende, doch milde (außergerichtlich) verlaufende Verfahren gegen Staatsbedienstete lassen zwar den kollektiven Sinn für Gerechtigkeit unbefriedigt (Gerechtigkeit ist allem Anschein nach generell eins der aussterbenden Dinge des Jahrhunderts). Doch man muss auch zugeben, dass die Beibehaltung vergleichsweise vegetarischer, elitärer Gepflogenheiten gewissermaßen ein Szenario der Art abwendet, wie wir es in aller Pracht in der Türkei bewundern können.

    Die Silowiki kontrollieren sich gegenseitig

    Eine Situation, in der Silowiki in ständiger Ressourcenknappheit und permanenter Angst voreinander leben müssen, kann natürlich nur eine Parodie auf das System von Gewaltenteilung und gesellschaftlicher Kontrolle sein, das es in Demokratien gibt. Aber immer noch besser als allmächtige Silowiki, die vor Nichts und Niemanden Angst haben.  

    In so einem Krieg, wie wir ihn derzeit beobachten, sind die Beteiligten erstens dazu gezwungen, ein Minimum an Leistung zu zeigen (salopp gesagt, wenigstens durchblicken zu lassen, dass sie ihre Arbeit machen, darauf achten, dass die Elektritschkas fahren und die Zolleinnahmen steigen).

    Zweitens nutzen alle Konfliktparteien aktiv die Presse. Wir sind daran gewöhnt, das Leaks zu nennen und als irgendwie unehrenhaft für Journalisten und Medien zu erachten. Doch tatsächlich macht eine solche Öffentlichkeit die politischen Akteure selbst abhängig von der allgemeinen Meinung: Wenn deine Schuhschachteln und Fotos jederzeit in den Nachrichten gezeigt werden können, überlegst du dir unwillkürlich, ob du, solange du im Amt bist, nicht wenigstens nach außen hin lieber bescheidener lebst, und den Palast mit den hellblauen Türmchen erst im Ruhestand bauen lässt.      

    Das System braucht die Konkurrenz, zum Glück

    Doch diese positiven Effekte können nur dann eintreten, wenn der Krieg der Silowiki keinen eindeutigen Sieger hervorbringt. Wenn sich nicht eine neue Superstrafbehörde KGB 2.0 herausbildet, die alle anderen säubert und selbst vor niemandem Angst hat.

    Zum Glück fordern die Interessen einer Systemsicherheit (und nicht einer erdachten „Staatssicherheit“) eine Bewahrung des Gleichgewichts, die nur zu erreichen ist, wenn die Konkurrenzsituation bestehen bleibt. Es ist eben die Existenz eines Siegers und nicht der Krieg aller gegen alle, die zu dem führen kann, wonach Beobachter oft gefragt werden: zur Spaltung der Führungselite und zu Umsturzplänen.

    Einen Komplott zu schmieden hat dann Sinn, wenn das dadurch entstehende Risiko niedriger ist als das Risiko, das eine Niederlage im Wettstreit der Eliten mit sich bringt. Mit anderen Worten: Wenn es einen absoluten Sieger gibt und alle anderen sind Verlierer, werden sich diese Verlierer zusammenmauscheln – Schlimmeres kann ihnen ja nicht mehr passieren. Wenn aber niemand den Sieg davonträgt, keine Runde die letzte ist und alle Teilnehmer etwas zu verlieren haben, dann büßen Pläne zur gewaltsamen Machtergreifung ihren Reiz ein. Daher wird die oberste Staatsgewalt mit allen Mitteln dazu beitragen, dass der Kampf unentschieden bleibt.

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  • Oden an die Hunde von Schuwalow

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Kein Hundeleben, das die Corgis des russischen Vize-Premiers Igor Schuwalow führen: Der Fonds für Korruptionsbekämpfung des Oppositionsführers Alexej Nawalny ermittelte unlängst, dass sie im Privatjet zu internationalen Hundeausstellungen geflogen wurden. Olga Schuwalowa, die Frau des führenden Politikers, widersprach den Vorwürfen nicht und merkte nur an, die Corgis würden auf den Schauen „die Ehre Russlands verteidigen“.

    Erst im Juli war Schuwalow außerdem vorgeworfen worden, eine ganze Etage mit Wohnungen mitten im Zentrum Moskaus aufgekauft zu haben. Woher der Reichtum des Politikers genau kommt, der vor seiner Politikkarriere ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen sein soll, bleibt offen.

    Warum, so fragt der Historiker und Journalist Sergej Medwedew auf slon.ru, regen sich nur so wenige in Russland darüber auf? Und er geht sogar noch weiter: Nicht nur, dass sich keiner darüber aufrege – im Grunde legitimiere der Protz erst die Macht.

    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru
    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru

     

    „Was blickst du so finster, Bruder“, fragte Kirila Petrowitsch, „gefällt dir etwa mein Hundezwinger nicht?“ – „Doch“, antwortete Dubrowski barsch, „der Zwinger ist herrlich, Ihre Leute werden wohl kaum ein so schönes Leben haben wie Ihre Hunde.“  (Alexander Puschkin, Dubrowski)


    Wenn es Igor Iwanowitsch Schuwalow nicht gäbe, würde es sich lohnen, ihn zu erfinden: mit dem adelig klingenden Namen und dem Schloss in Österreich, dem Londoner Apartment im ehemaligen Gebäude des MI6-Geheimdienstes in Whitehall und dem Familiensitz in Saretschje, wo auch Suslows Parteien-Datscha steht. Mit dem Rolls-Royce für 40 Millionen Rubel und einem eigenen Stockwerk in einem Wolkenkratzer am Kotelnitscheskaja-Ufer. Mit all diesen Dingen aus der Kategorie „Wirkt albern, aber die Leute kaufen es“ und der Bereitschaft, für Putin „auch mal zurückzustecken“. Und nun auch noch mit dem Corgi-Paar, das mit dem Businessjet von Hundeschau zu Hundeschau geflogen wird.

    Er ist eine richtige Pelewin-Figur. Der Cargo-Kult auf zwei Beinen. Ein Destillat vom postsowjetischen Transit.

    Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde

    Da helfen auch keine Anwaltsvergangenheit und kein Teflonlächeln. Keine treuherzigen Erklärungen im Stil von „Alles hart erarbeitet“ und „Alles rechtmäßig versteuert“. Und keine Ehegattin, die ganz einfältig erläutert, die Corgis flögen, um die Ehre Russlands zu verteidigen. Und noch nicht einmal Margarita Simonjan, die auf Echo noch unmissverständlicher verkündet: „Ich denke, nur reiche Leute sollten Beamte werden, nur … ein Mensch, der sehr viel Geld verdient und sich im Business bewiesen hat. Bis 40, und mit 45 dann ein richtiger Kerl ist – also Boote, Flugzeuge, Brillanten und Pelze kauft …“ Wahrlich, wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.

    Manchmal scheint es, als sei das Projekt Schuwalow eine PR-Provokation. Eine Bombe gegen das bestehende Regime. Eine moderne russische Marie Antoinette samt ihrem „Sollen sie doch Kuchen essen“. Ein Katalysator für Revolution und Volkszorn.

    „Er macht es, weil er ’ s kann“

    Aber die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus. Von Revolution ist keine Spur, und statt Zorn gibt es nur Schmunzeln und Internethumor. Alle enthüllenden Posts von Nawalny versinken im Treibsand der russischen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die zynisch ist, anämisch und anomisch, und die Gewalt und Macht wesentlich höher schätzt als Recht und Moral.

    Meme und Karikaturen über Schuwalows Hunde posten und teilen stets dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer. Der Rest des Landes betrachtet es mit Gleichgültigkeit und folgt der unumstößlichen Volksweisheit: „Er macht es, weil er´s kann.“

    Wie der Politologe Wladimir Gelman feststellt, steht dies in fundamentalem Widerspruch zur spätsowjetischen Kampagne für den „Kampf gegen Privilegien“. Eine der wichtigsten Losungen der Perestroika. Als die Publizisten dazu aufriefen, zu den leninschen Normen der Partei-Bescheidenheit zurückzukehren, und als man sich im Volk Apokryphen darüber erzählte, wie Jelzin, als er schon Erster Sekretär im Moskauer Stadtkomitee der KPdSU war, mit dem Trolleybus zur Arbeit fuhr.

    Warum reagiert die Gesellschaft nicht?

    Wo ist das alles hin? Warum reagiert die Gesellschaft weder auf Nachrichten über Korruption noch auf den provokanten Konsum der Staatsdiener?

    Gelman spricht von Ermüdung und Apathie: Mit der Peitsche kommt man gegen das Beil nicht an. „Die Erfahrung vom erfolglosen Kampf gegen Privilegien in der Epoche der Perestroika und die nachfolgenden Ereignisse, in denen der russischen Öffentlichkeit – mit wenigen Ausnahmen – die Rolle von Statisten zukam, haben die Russen davon überzeugt, dass eine Auflehnung gegen eine Obrigkeit, die über die Stränge schlägt, sinnlos, wenn nicht sogar gefährlich ist.“

    Auf der anderen Seite gibt es einen gemeinhin anerkannten Gesellschaftsvertrag, der da heißt Alle klauen. Die Nachrichten über Korruption, der verschwenderische Konsum und provokante Luxus der Wirtschaftselite fungieren als Ablassbrief für ebensolches Verhalten quer durch alle Gesellschaftsschichten: Der Blick nach oben verschafft den Menschen das moralische Recht Steuern zu hinterziehen, Schmiergelder zu zahlen oder anzunehmen und über die eigenen Verhältnisse zu leben.

    „Alle klauen“ – so heißt der Gesellschaftsvertrag

    Das Beispiel der Obrigkeit erzeugt eine „Alles-ist-erlaubt“-Atmosphäre in der Gesellschaft: Wenn die Hunde des Vize-Premiers mit Privatjets fliegen, warum darf die gesamte Führungsriege der Wolgograder Region dann nicht in die Toskana fliegen, um den Geburtstag des Gouverneurs Boschenow zu feiern? Wenn ein Wagen mit Blaulicht die durchgezogene Mittellinie durchkreuzen darf, warum kann ein gewöhnliches Auto dann nicht den Stau auf dem Seitenstreifen umfahren?

    Macht fußt auf der Behauptung des eigenen Status, nicht auf Wahlen

    Aber neben der traditionellen Kungelei über die verschiedenen sozialen Schichten hinweg gibt es auch noch eine tieferliegende, strukturelle Ursache, warum Schuwalows zur Schau gestellter Reichtum das Regime nicht diskreditiert, sondern sogar legitimiert: Macht fußt in Russland nicht auf Wahlen, sondern auf Gewalt und auf der Behauptung des eigenen Status. Sprich darauf, wie effektiv jemand durch Gewalt- und Symbolwirkung den Diskurs beherrscht. Für die Legitimation der Macht braucht es den Überfluss: öffentliche Prügelstrafen, demonstrativen Luxus und die Verachtung von Gesetz und moralischen Normen. Genau so funktioniert auch die Macht eines Kirila Petrowitsch Trojekurow in der patriarchalen Welt von Dubrowski.

    So betrachtet sind diese ganzen Darstellungen von Reichtum – Putins Schlösser, die Uhr des Patriarchen, der Autokorso der Absolventen der FSB-Akademie mit den Mercedes-Geländewagen, die Bentley-Festzüge in Tschetschenien, Schuwalows Hunde oder die Löwen in Kadyrows Privatzoo – allesamt Attribute patriarchaler Macht. Und gewichtige Argumente in der Ständehierarchie, gegen die wiederum nur wieder dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer und ein paar engagierte Städter aufbegehren. Der Großteil der Bevölkerung nimmt sie schweigend hin, als unvermeidliche, herrschaftliche Kapriolen, die man zuweilen sogar sozial gutheißt.

    Ein Geschenk von Soros, das wäre kompromittierend

    Die Corgis im Business-Jet haben also keine kompromittierende Symbolwirkung. Im Gegenteil: Sie bestätigen nur das Recht auf Macht, die Kastenzugehörigkeit. Etwas anderes wäre es natürlich, wenn die Hunde nicht Toscha und Cäsarewitsch hießen, sondern Maidan und Bandera. Oder wenn Schuwalow sie von Soros geschenkt bekommen hätte. Oder wenn sie weiße Bänder an ihrem Halsband tragen würden. Das wäre kompromittierendes Material! Aber der Besitz von Anwesen und Konten im Ausland und die herrschaftlichen Allüren, kurzum der Euter, den man bei den modernen russischen Koreikos jederzeit fühlen kann, gilt unter den Bedingungen des jetzigen Regimes als Zeichen von Loyalität und Zugehörigkeit zum System.

    Eine katastrophale Kluft in der Gesellschaft

    Die aktuelle Evolutionsstufe der russischen Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Herrschaftsschicht das einfache Volk nun endgültig vom Hals geschafft hat. Sie kümmert sich nicht länger um ein schickliches Image. Im Gegenteil: Sie erhebt ihre Privilegien und Launen sogar zur Norm.

    Herrschaftliche Megaprojekte – angefangen bei den Olympischen Spielen und der Fußball-WM bis hin zu Hochgeschwindigkeitszügen und den Maßnahmen zur Erhöhung des Komforts in Moskau – bei gleichzeitiger Zerstörung der sozialen Infrastruktur, die Verachtung für die Not der Menschen, die immer wieder in den Äußerungen von hohen Beamten und Abgeordneten durchklingt: All das zeugt vom endgültigen Verlust der sozialen Solidarität und von der katastrophalen Kluft, die sich in der russischen Gesellschaft auftut. Eine der wesentlichen Folgen der Putinschen Konterreformen.

    Dienstadel wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen

    Während der letzten hundert Jahre, seit 1917, hat sich Russland bemüht, eine moderne Gesellschaft zu errichten. Sie sollte auf Prinzipien der Solidarität, der politischen Gleichheit und auf einem Gesellschaftsvertrag gründen (auch wenn das in vielerlei Hinsicht nur proklamierte Ziele blieben, denn auch in der UdSSR herrschten Statusprivilegien und eine berufliche Ständeordnung). Aber im 21. Jahrhundert setzte eine vernichtende De-Modernisierung ein – und zwar der Macht, der Gesellschaft, der Ökonomie und des kollektiven Bewusstseins.

    Alles in allem entfernt sich Russland von der modernen Bürokratie und vom Oligarchen-Staat aus Zeiten des Frühkapitalismus. Und es steuert auf eine feudale, aristokratische Regierung zu. Auf die Schaffung eines Dienstadels wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen, dem Urvater der russischen Staatsmacht. Sein neuestes Denkmal wird am 3. August in Orlow enthüllt.

    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0
    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0

    Auch Igor Schuwalow setzt hierbei mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend, wenn auch im britischen Stil – von den königlichen Corgis bis zum Anwesen in der Whitehall Street.

    Es wird neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte

    Verfolgt man diese Abstiegslinie auf den Stufen der Geschichte weiter, müssten wir vom Dienst- bald zum Erbadel kommen. Nicht ohne Grund bezeichnete der Politologe Jewgeni Mintschenko die 2010er Jahre schon 2012 als einen „dynastischen Abschnitt“ im Evolutionssystem. Charakteristisch ist für diesen Abschnitt das Streben der Elite, eine Erbschaftsaristokratie zu errichten. Sie soll ermöglichen, den erworbenen Besitz an die Sprösslinge weiterzugeben. Allein das Erbrecht kann die Elite vor erneuten Umverteilungen bewahren, die bei einem Machtwechsel in Russland unvermeidlich wären. Und in Zeiten von Krieg, Terror und Sanktionen Stabilität und Nachfolgerschaft gewährleisten.

    Dafür wird es neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte, einen rechtlichen Sonderstatus für Adelige, Immunität, Garantien der Unantastbarkeit von Privatleben und Besitz (wie das funktioniert, zeigte bereits die Verurteilung der Ökologen Jewgeni Witischko und Surena Gasarjan wegen einer Aufschrift am Zaun der Datscha des Gouverneurs Alexander Tkatschow). Und es braucht Informationsschutz für Eintragungen von Aristokraten in Grundbüchern, damit Ermittlungen wie „Tschaika“ oder „Anwesen auf der Kotelnitscheskaja“ nicht mehr vorkommen.

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Dass es auch für die Haustiere der Herrschaften einen Sonderstatus braucht, versteht sich von selbst. Konnte doch Mitte des Jahrhunderts ein Bauer, der die Hand gegen den Hund eines Adeligen erhebt, zum Tode verurteilt werden. Und weil Sergej Jessenin einst ein anrührendes Gedicht für den Hund von Katschalow schrieb, werden die zeitgenössischen Dichter wohl Oden an die Hunde von Schuwalow verfassen müssen. Denn sie verteidigen in der Tat die Ehre Russlands. Sie sind Russlands Symbole und Role Models. Sie sind das Beispiel für prestigeträchtigen Konsum und eben jenen Erfolg, über den die fachkundige Margarita Simonjan zu urteilen weiß.

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  • Der Geist der Korruption

    Der Geist der Korruption

    Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, Administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

    Das Phänomen der Korruption in Russland ist komplex und bisher nur unzureichend erforscht. Illegale Bereicherung wird in der Gesellschaft auf beinahe allen Ebenen als akzeptable, legitime Form betrachtet, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Verwurzelung im Alltagsleben sowie die Mannigfaltigkeit der Korruptionsformen drücken sich auch in der Sprache aus. Im offiziellen Diskurs wird oft das Fremdwort Korrupzija gebraucht.

    Ein Phänomen mit vielen Namen

    In der Umgangssprache finden sich zahlreiche, teils duldsame Jargon-Ausdrücke: die Substantive wsjatka oder wsjatotschnitschestwo (von wsjat, dt. nehmen), sanos, otkat und Ausdrücke wie sanesti (dt. etwas vorbeibringen), otkatit (dt. etwa zurückschaffen, im Sinne von Korrputionsgegenleistung), dat na lapu (dt. auf die Pfote geben), podmasat (dt. einschmieren) und viele andere. Literarische und traditionelle Wörter wie kasnokradstwo (dt. etwa Veruntreuung, wörtlich Haushaltsklau) oder msdoimstwo (dt. Bestechung), die in Wörterbüchern und klassischen Werken noch vorkommen, sind fast völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden.

    Außerdem kommen sowohl in der offiziellen wie in der alltäglichen Sprachpraxis Euphemismen zum Einsatz, durch die von Seiten der Sprecher zum Ausdruck kommt, dass mafiöse Praktiken oder die Verflechtung von Staat und Unterwelt legitimiert sind. Der wichtigste dieser Ausdrücke ist der halboffizielle Terminus Administrative Ressource. Dieser meint die Ausnutzung einer Stellung in der staatlichen Hierarchie, um sich Teile der öffentlichen Mittel anzueignen oder Familienangehörigen lukrative Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen.

    Hier werden zwar Gegenleistungen nicht unmittelbar erkauft, aber es wird doch in einem korrumpierenden Sinne der Vorgang der Ressourcenverteilung manipuliert – was Korruptionsnetzwerke weiter wachsen lässt.

    Ehrlich verdientes Geld galt als verwerflich

    Die Ursache wird verständlich, wenn man die sozialen Praktiken und Einstellungen aus der sowjetischen Epoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems miteinander vergleicht.

    Mit Marx kann kann man die sowjetische Ära als Epoche der asiatischen Produktionsweise begreifen. Dies meint Ausbeutung ohne die Bildung von Eigentum. In der UdSSR war nicht nur das Privateigentum an „Werkzeugen und Produktionsmitteln” verboten, auch der gewöhnliche Besitz, die persönlichen Habseligkeiten, wurden beschränkt.

    Eine aggressive Form der Uneigennützigkeit wurde dagegen verherrlicht. Ein Arbeiter, der weniger erhielt als den Gegenwert seiner Arbeit und keine Gehaltserhöhung forderte, wurde als „selbstlos“ gepriesen, und sogar ehrlich verdientes Geld galt im sowjetischen Diskurs als verwerflich.

    Die Korruption, die in der UdSSR blühte, betraf nicht so sehr finanzielle Eigentumsverhältnisse (also die Möglichkeiten des Privateigentums) als vielmehr die Anhäufung von Einfluss und die Fähigkeit, mit Staatsbesitz so umzugehen, als sei es der eigene.

    Immobilien und Geld häuften sich zu Sowjetzeiten nur in einem sehr engen Kreis an. Traditionell hatte (in Russland) dabei nur der oberste Herrscher das Recht, Bürgern Eigentum zuzuteilen: Vor der Revolution war der Zar der einzige rechtmäßige Eigentümer überhaupt. Im sowjetischen Russland war es hingegen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und seine Führung.

    Postsowjetische Massen-Korruption

    Die Propagierung der Uneigennützigkeit hatte in der UdSSR fast schon religiösen Charakter. Und die Angst wegen Unternehmertums zu sterben1 war ein Teil der ideologischen Indoktrination. Nach dem Zerfall des sozialistischen Systems verbanden sich daher drei gedankliche Linien, die ein festes Programm bildeten:

    • einerseits Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit 
    • andererseits ein praktisches Verlangen, endlich ein eigenes Haus, eine eigene Wohnung oder ein eigenes Stück Land zu besitzen
    • und schließlich ein fester Glaube daran, dass alles vom Chef abhängt.

    Dadurch kam es im Folgenden zu dem verblüffenden historischen Phänomen der postsowjetischen Massen-Korruption.

    Die nach dem Zerfall der UdSSR gesetzlich erlaubte allgemeine Bereicherung wurde von den meisten Leuten geradezu als Erlaubnis von oben aufgefasst. Stillschweigend akzeptierte die Gesellschaft die Bedingungen, unter denen das sogenannte Volkseigentum in Privateigentum umgewandelt wurde. Allerdings erfolgte die Privatisierung größtenteils nach dem Motto „jeder nimmt, was er kann“.

    Ein traditionelles Mittel der Staatsführung

    Dass die ehemaligen Chefs und Geheimdienstmitarbeiter am meisten abbekamen, hat niemanden verwundert. Als die Ära des späten Jelzin in die Ära Putin überging, herrschte ein Konsens bezüglich der nun folgenden Umverteilungen. Der oberste Chef und Eigentümer hatte nach Auffassung der meisten Russen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, persönlich die Verteilung aller Ressourcen sicherzustellen und dabei alle drei Aspekte des Eigentums zu legitimieren: Besitz, Handhabung und Verteilung.

    Die massiven Proteste gegen Korruption im März 2017 deuteten zwar einen zaghaften Wertewandel an, doch insgesamt bleibt das Protestpotential eher gering: Veruntreuung von Staatseigentum und Bestechlichkeit werden nicht als Exzess oder Verletzung des geschriebenen Gesetzes gesehen, sondern als traditionelles Mittel der Staatsführung.

    Auf Korruptionsenthüllungen von ausländischen oder russischen Organisationen (wie dem Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, Transparency International, ICIJ etc.) reagiert nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft mit Protestaktionen: Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews brachten am 26. März 2017 zwar landesweit einige zehntausende Menschen auf die Straße, die große Mehrheit der Gesellschaft quittierte diese Enthüllung aber mit Schweigen. Die krassesten Veruntreuungen von staatlichem Eigentum, die zum Teil mit der russischen Staatsspitze verbunden sind, werden als legitim aufgefasst. Und jeglicher Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, wird schon innerfamiliär unterbunden: Die Familienmitglieder wissen, dass sie ihr gesamtes Eigentum verlieren können, wenn einem Kettenglied in der gegenwärtigen Machtvertikale danach ist.


    1. Es ist bemerkenswert, dass Versuche einer selbständigen unternehmerischen Tätigkeit ohne die Genehmigung der politischen Führung stets verhindert wurden – auch mit der Todesstrafe. Im Jahr 1984 wurde Juri Sokolow, der Direktor des Feinkostladens Jelissejew, in Moskau wegen „Diebstahls sozialistischen Eigentums in besonders hohem Ausmaß” erschossen. Im Jahr 1987 traf es den Chef eines Gemüselagers: Mchitar Ambarzumjan. Da die Sowjetunion ein Land des ständigen Mangels war, wurden besondere Handelsketten eingerichtet, über die nur besonders nah an der politischen Führung stehende Personen mit Waren versorgt werden sollten. Versuche der Mitarbeiter, dabei über die gesteckten Grenzen hinauszugehen, wurden zur „ungesetzlichen unternehmerischen Tätigkeit” erklärt – ungesetzlich dabei war der Charakter der „[gnose-1943]Blat[/gnose]-Aufteilung”. Von hier aus verbreitete sich der Korruptionssumpf, der nach Ansicht einiger Ökonomen die gesamte Wirtschaft der Sowjetunion in den Ruin trieb. ↩︎
    2. Weiterführende Literatur: ↩︎
    3. Passarge, Malte/Behringer, Stefan/Babeck, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Handbuch Compliance international: Recht und Praxis der Korruptionsprävention, Berlin; [Russland: S.445-480] ↩︎
    4. Dawisha, Karen (2014): Putin’s kleptocracy: who owns Russia? New York ↩︎
    5. Golunov, Sergey (2014): The elephant in the room: corruption and cheating in Russian universities, Stuttgart

      ↩︎

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  • Korruption in Russland – soziologische Aspekte

    Korruption in Russland – soziologische Aspekte

    Korruption wird in Russland manchmal wie das Wetter gesehen: Etwas, was das Leben schwierig macht, worauf man selbst jedoch keinen Einfluss hat. Viele nehmen Korruption als unveränderlichen Teil des Lebens wahr. Weil alle, vor allem aber „die da oben“ korrupt seien, wundert oder echauffiert sich auch niemand mehr, wenn wieder ein neuer Korruptionsskandal ans Licht kommt. Korruption ist in vielen Bereichen allgegenwärtig: Sie vermindert die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen und ist ein Hindernis für die Modernisierung des Landes.

    International vergleichende Studien attestieren Russland regelmäßig ein sehr hohes Korruptionsniveau. Da Korruption im Verborgenen stattfindet, ist ihre genaue Bestimmung allerdings schwierig, die Dunkelziffer hoch. Das Nationale Antikorruptionskomitee schätzt die jährlichen Verluste auf 300 Millarden US-Dollar. Das entspricht 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.1 Allerdings findet Korruption nicht zwingend monetär statt (etwa in Form von Bestechungsgeldern), sondern auch als Gefallen und Gegengefallen, oft innerhalb persönlicher Netzwerke.

    Wie konnte es so weit kommen?

    Die Ursachen sind komplex und vielfältig: Sie reichen von tradierten historischen Praktiken wie dem Kormlenie über institutionelle Mängel wie einem schwachen Rechtsstaat bis hin zu ökonomischen Gründen wie niedrigen Gehältern, die dazu verleiten, Bestechungsgelder anzunehmen.

    Korruption war bereits in der Sowjetunion verbreitet, zum Beispiel in Form von Gefälligkeiten innerhalb persönlicher Blat-Netzwerke, die vorrangig dazu dienten, Mangelwaren auszutauschen. Doch erst die Systemtransformation und die Monetarisierung in den 1990er Jahren ermöglichten den Anstieg der Korruption auf ein systemisches Ausmaß. Inzwischen gibt es keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von Korruption durchdrungen ist: Politik, Justiz, Wirtschaft, Verwaltung, Militär, Kirche, Polizei bis hin zum Gesundheits- und Bildungswesen.

    Korruption, der ständige Begleiter

    In vielen Alltagsbereichen ist Korruption so fest verankert, dass sie von den Betroffenen nicht mehr als solche wahrgenommen wird – „Geschenke“ an Ärzte und Lehrer sind ebenso Normalität wie das Einberechnen von Bestechungszahlungen in unternehmerische Kostenkalkulationen: Laut Transparency International Russland liegt der Handelspreis für Milch 15 bis 20 Prozent höher, als er müsste: Die Hersteller kalkulieren den Mehrpreis ein, um Beamte für Lizenzen schmieren zu können.2 Dadurch ist letztlich jeder von Korruption betroffen, selbst Personen, die kein Schmiergeld annehmen oder zahlen.

    Spätestens wenn es um die eigene Gesundheit oder um Kindergartenplätze für den Nachwuchs geht, sind viele Russen zu Korruption bereit (und gezwungen). So wird auch das meiste Schmiergeld in der Alltagskorruption im Gesundheits- und Bildungsbereich aufgewendet, und das Korruptionsrisiko gilt hier, neben der notorisch korrupten (Verkehrs-)Polizei, als besonders hoch.3

    Und ein Ende nicht in Sicht

    Rhetorisch wird der Korruption seit Jahren der Kampf angesagt. Besonders Dimitri Medwedew setzte die Korruptionsbekämpfung während seiner Präsidentschaft auf die Agenda. Doch obwohl regelmäßig neue Gesetze und Initiativen verabschiedet werden, verbessert sich in der Praxis nur wenig. In einer Lewada-Umfrage von 2014 gaben 39 Prozent der Russen an, Korruption in der Politik habe in den letzten 15 Jahren zugenommen; 33 Prozent sahen sie als unverändert an und nur 20 Prozent bemerkten einen Rückgang.4

    Der Grund für die ineffektive Bekämpfung liegt nicht zuletzt im politischen System Putins, in dem Institutionen, die für die Korruptionsbekämpfung zentral sind, sukzessive geschwächt wurden: freie Medien, unabhängige Gerichte, die politische Opposition und die Zivilgesellschaft. Der korruptionsanfällige Bürokratieapparat hingegen wurde enorm ausgebaut.

    Antikorruptionsinitiativen haben es immer schwerer: Der Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny ist ebenso staatlichen Repressalien ausgesetzt5 wie Transparency International und die INDEM-Stiftung, deren Arbeit durch das Agentengesetz behindert wird. Gleichzeitig haben zuletzt mehrere investigative Recherchen auf Korruption unter einigen Vertrauten von Präsident Putin hingewiesen – und darauf, dass solche Verwicklungen meist straffrei bleiben.6

    Auch in der Bevölkerung ist das Vertrauen gering, dass die Korruption wirksam bekämpft werden kann: In einer kürzlich durchgeführten Umfrage7 geben 70 Prozent der Respondenten an, nicht an ihre wirksame Eindämmung zu glauben (immerhin 44 Prozent sehen allerdings Putin als einen Bekämpfer der Korruption). Nimmt man all diese Voraussetzungen zusammen, so scheint ein Rückgang der Korruption nicht absehbar.


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  • YUKOS

    YUKOS

    Nach der Übernahme durch Michail Chodorkowskis MENATEP-Invest-Gruppe 1995 entwickelte sich das Erdölunternehmen Yukos zum erfolgreichsten seiner Art in Russland. Ab 2003 wurde Yukos mit rechtlich zum Teil zweifelhaften Strafrechtsprozesssen zerschlagen und weitgehend unter staatliche Kontrolle gebracht. Der Fall ist beispielhaft für den Anspruch der russischen Exekutive, zentrale wirtschaftliche Prozesse zu kontrollieren und keine politisch aktiven Unternehmer zu dulden.

    Im Jahr 1995 übernahm die Finanzgruppe MENATEP-Invest, die Michail Chodorkowski mit seinen Kollegen Leonid Newslin und Platon Lebedew 1990 gegründet hatte, die Erdölfirma YUKOS und baute sie zum zweitgrößten Erdölproduzenten Russlands aus. Im Rahmen einer langfristigen Entwicklungsstrategie plante YUKOS, mit dem viertgrößten russischen Erdölunternehmen Sibneft zu fusionieren und dadurch zum größten Energiekonzernen weltweit zu werden. YUKOS führte auch Gespräche mit den amerikanischen Erdölproduzenten Exxon Mobil und Chevron über einen Einstieg in das neu gegründete Unternehmen.

    Seit Sommer 2003 ging der russische Staat juristisch gegen YUKOS und seine Eigentümer vor, was sowohl die Fusion mit Sibneft als auch den Einstieg ausländischer Investoren unterband. Viele Beobachter gingen dabei davon aus, dass die Unterstützung oppositioneller Parteien durch Chodorkowski und seine persönlichen politischen Ambitionen dabei eine entscheidende Rolle spielten. Das staatliche Vorgehen konzentrierte sich auf zwei Bereiche: Erstens wurden Strafprozesse gegen den Sicherheitschef von YUKOS Alexej Pitschugin sowie gegen die Hauptaktionäre Lebedew und Chodorkowskij aufgenommen. Pitschugin wurde in einem streng abgeschirmten Prozess wegen womöglicher Anstiftung zum Mord von Politikern und Unternehmern1 zu lebenslanger Lagerhaft verurteilt, während Lebedew und Chodorkowski wegen Steuerhinterziehung und Privatisierungsbetrug Ende Mai 2005 zunächst neun Jahre Haft erhielten. In einem zweiten Verfahren wegen Unterschlagung von 218 Millionen Tonnen Öl und Geldwäscherei im Dezember 2010 lautete das Urteil für beide auf je sechs weitere Jahre Gefängnis.

    Zweitens erhoben die Steuerbehörden Steuernachforderungen gegen YUKOS und seine Tochterfirmen, sodass das Unternehmen im Frühjahr 2006 für Bankrott erklärt wurde. Zur Begleichung der Steuerschulden wurde das größte Produktionsunternehmen des YUKOS-Konzerns, Juganskneftegaz, bereits im Dezember 2004 für 9,35 Mrd. US-Dollar zwangsversteigert. Die Versteigerung gewann überraschend die unbekannte Firma BFG. Ende des Monats erklärte der staatliche Erdölkonzern Rosneft, für das Gebot von BFG aufzukommen und damit Juganskneftegaz zu erwerben. Das Management wurde durch Vertreter von Rosneft ersetzt, wo Putins Vertrauter Igor Setschin den Vorstandsvorsitz übernahm. Sowohl beim Strafrechtsprozess als auch beim Steuerverfahren gegen YUKOS-Aktionäre wurden erhebliche Verstöße gegen russische und internationale Rechtsprinzipien festgestellt. Ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag verpflichtete den russischen Staat 2014 zu einer Entschädigungszahlung an die ehemaligen YUKOS-Aktionäre in Höhe von 51,6 Milliarden US-Dollar. Russland focht das Urteil an und erhielt im April 2016 Recht: Die Entscheidungen des Den Haager Schiedgerichts wurden im Revisionsprozess am Bezirksgericht in Den Haag für ungültig erklärt. Die Group MENATEP Limited der ehemaligen YUKOS-Aktionäre kündigte ihrerseits an, das Urteil anzufechten.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die YUKOS-Affäre einen zentralen Indikator für die Qualität des russischen Rechtssystems, die wirtschaftspolitische Orientierung der staatlichen Regierung und das Investitionsklima in Russland darstellt. Zum einen bestätigte die YUKOS-Affäre, dass Putin kein politisches Engagement von Unternehmern duldet. Auch durch die Begnadigung Chodorkowskis im Dezember 2013 hat der Kreml-Chef noch einmal demonstriert, dass seine Macht über dem Rechtssystem steht. Zum zweiten folgte nach der Yukos-Affäre eine Reihe von Übernahmen von Energieunternehmen durch die Staatskonzerne Rosneft und Gazprom, sodass der staatliche Anteil an der Energieproduktion deutlich angestiegen ist. Viele ausländische Investoren mussten das Land verlassen. Zum dritten hat die YUKOS-Affäre die Machtverhältnisse innerhalb der staatlichen Exekutive zugunsten loyaler und staatsinterventionistischer Politiker, die aufgrund ihrer Geheimdienstvergangenheit als Silowiki bezeichnet werden, verändert. In diesem Zusammenhang wird von einigen Beobachtern ein grundlegender Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik von marktwirtschaftlichen zu staatsinterventionistischen Projekten konstatiert.


    1. Luchterhandt, Otto (2005): Rechtsnihilismus in Aktion – Der Jukos-Chodorkowskij-Prozess in Moskau, S. 29ff. In: Osteuropa 2005 (7), Berlin, S. 29 ↩︎

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  • Putin und das Offshore-Kettensägenmassaker

    Putin und das Offshore-Kettensägenmassaker

    Panama Papers und keinen interessiert’s: Obwohl die Leaks darauf hinweisen, dass zahlreiche enge Mitstreiter Putins und höchste Regierungsmitarbeiter über Briefkastenfirmen in dubiose Offshoregeschäfte verwickelt sind – der Kreml hatte sich nach der Veröffentlichung betont gelassen gegeben. Zwar will die Staatsanwaltschaft den Vorwürfen nachgehen, Präsidentensprecher Peskow sprach jedoch von „Spekulationen“ und davon, dass die beteiligten Journalisten von „ehemaligen Angehörigen des amerikanischen Außenministeriums und der CIA“ finanziert würden. Andrej Kostin, Chef der staatlichen Großbank VTB, bezeichnete eine Verstrickung Putins in Offshore-Strukturen als „Blödsinn“.

    Ausführlich berichteten etwa die renommierte Wirtschaftszeitung Vedomosti, die unabhängige Novaya Gazeta oder der unabhängige Online-Fernsehsender Doschd. Regierungsnahe Medien oder auch das reichweitenstarke Staatsfernsehen hatten den Fall zunächst nicht aufgegriffen. Doch selbst wenn es eine breitere mediale Berichterstattung dazu gäbe: Korrupte Politiker überraschen in Russland niemanden, schreibt die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann in ihrem Blog auf Snob.ru. Für den globalen Kampf gegen die Korruption machen die Leaks ihr aber dennoch Hoffnung.

    Man muss sich klarmachen, dass der Adressat dieser Enthüllungen nicht das russische Publikum war, sondern die Länder des Westens: ihre Wähler, ihre Medien und ihre Eliten. Die Bürger der Russischen Föderation sind nicht einmal die wichtigsten Protagonisten der Enthüllungen. Der wahre Protagonist ist das weltweite Netz der Geldwäsche, die Internationale der Korruption.

    Im Staatswesen eines gesunden Menschen (im Unterschied zum Staatswesen eines Rauchers) kann es in solchen Situationen zwei verschiedene Konsequenzen geben – oder eine Mischung aus beiden: ethische und juristische.

    ZWEI VERSCHIEDENE REAKTIONEN

    Hier zwei lebhafte Beispiele der einen oder anderen Art: Der Premierminister von Island kündigt seinen Rücktritt an, in Panama leitet die Staatsanwaltschaft eigene Ermittlungen gegen die Offshore-Firmen ein. Wir können sehen, wie ein Land der ersten und ein Land der dritten Welt durchaus konsequent auf die Enthüllungen reagieren.

    Island hat eine ethische Reaktion gezeigt – noch vor der Eröffnung von Strafverfahren: Dem Politiker ist klar, dass diese Art von Veröffentlichungen das Vertrauen in ihn untergräbt, und ohne Vertrauen kann er nicht weiter arbeiten. Panama hat mit rechtlichen Schritten reagiert: Das Land erklärt, dass es sich selbst um das kümmern werde, was auf seinem Territorium stattfindet, und dass es die Recherche der Journalisten genau prüfen werde.

    WIR SIND NICHT DIE ADRESSATEN

    In Russland werden wir weder das eine noch das andere erleben. Die einen Amtsträger werden überhaupt keine Stellungnahmen abgeben, die anderen werden sagen, dass man uns den Informationskrieg erklärt habe und es nichts zu diskutieren gebe. Und eigene Untersuchungen – obwohl wir ja mit Rosfinmonitoring und der Staatsanwaltschaft über entsprechende Dienste verfügen – wird höchstwahrscheinlich niemand einleiten.

    Und genau darum sind wir nicht die Adressaten dieser Enthüllungen. Wir denken immer, dass uns jemand ein bisschen aufschrecken will, so als würden wir im Theater sitzen und uns langweilen – es sei denn, man serviert uns ein Kettensägenmassaker. Aber es ist nicht das Ziel dieser Publikationen, den Leser emotional aufzurütteln. Wichtig ist nicht das Himmelschreiende der Veröffentlichungen, sondern ihre schlagende Beweiskraft. Gerade diese wühlt die Menschen in jenen Ländern auf, in denen es Recht, Gesetz und funktionierende Institutionen gibt.

    DER BEGINN EINER NEUEN ÄRA

    Inwiefern der Beweis erbracht ist, dass russische Staatsangestellte in Offshore-Geschäfte verstrickt sind, kann ich nicht beurteilen: Die schiere Anzahl der Dokumente ist sehr groß, und für eine differenzierte Analyse benötigt man die entsprechende Qualifikation und Kompetenz.

    Aber was ich sehe, ist die enorme, mehrere Jahre dauernde Arbeit eines großen Netzwerks von Autoren aus mehreren Dutzend Ländern. Das übertrifft jedes Vorstellungsvermögen. Derartigen horizontalen Vernetzungsstrukturen gehört die Zukunft, und nicht den vertikalen und gleichgeschalteten.

    Die jetzigen Enthüllungen sollte man deshalb als Beginn einer neuen Ära betrachten. Vor unseren Augen entstehen neue Werte, Strukturen und Praktiken jener Epoche, in der wir leben werden. Egal, ob wir das anerkennen oder nicht. Man muss schon ein sehr beschränkter Mensch sein, wenn man diese Geschichte als Versuch begreift, „etwas Schlechtes über Putin zu sagen”.

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  • Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der Konzern YUKOS, in den 1990er Jahren entstanden und in den damaligen zwielichtigen Auktionen privatisiert, avancierte zunächst zu einem unternehmerischen Aushängeschild Russlands. Von 2003 bis 2006 wurde Yukos dann in einer Reihe aufsehenerregender Prozesse vom Staat zerschlagen und in staatsnahe Besitzverhältnisse überführt. Seine Gesellschafter – als prominentester unter ihnen der politisch ambitionierte Michail Chodorkowski – wurden verhaftet. Kein anderes Ereignis bündelt die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche im ersten Jahrzehnt dieses Jahrunderts in so eindrucksvoller und dramatischer Weise.

    Zehn Jahre nach diesen Ereignissen verpflichtete ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag den russischen Staat zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 51,6 Milliarden US-Dollar. Russische Vermögens- und Kulturwerte im Ausland könnten hierfür gepfändet werden. Russland strebt nun in einem neuen Prozess die Rücknahme dieses Urteils an. RBC, ein auf Wirtschaftsthemen spezialisiertes Internetportal, hat 800 Seiten Prozessunterlagen beider Seiten analysiert und geht hier der Frage nach: Worum und warum streiten die Parteien weiterhin?

    Zwar wird die YUKOS-Affaire auch von deutschsprachigen Medien immer wieder aufgegriffen, dieses Material von RBC bietet jedoch eine ausgesprochen vollständige Zusammenschau der letzten Ereignisse und ist dazu reich an Insiderinformationen, wie etwa über das von der russischen Seite angestrengte linguistische Gutachten.

    Um dieses komplexe Thema in der nötigen Tiefe darstellen zu können, publizieren wir zeitgleich auch mehrere speziell hierfür verfasste Gnosen.

    Laut dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag wurde den ehemaligen YUKOS-Aktionären Schadensersatz von russischer Seite in Höhe von 50 Mrd. EUR zugesprochen. RBC hat den Verlauf des darauf folgenden Prozesses am Haager Bezirksgericht untersucht, von dessen Ergebnis maßgeblich abhängen wird, ob die YUKOS-Aktionäre diese Summe tatsächlich beanspruchen können.

    Im Januar 2015 hatte Russland beim Bezirksgericht die Aufhebung des Haager Schiedsgerichtsurteils beantragt (RBC hat die Argumente der russischen Seite eingehend analysiert), im Weiteren wurde über den Verlauf des Prozesses nichts mehr bekannt. Im Mai 2015 jedoch haben die Aktionäre von YUKOS  (Yukos Universal, Hulley Enterprises und Veteran Petroleum, die gemeinsam etwa 70 % des Ölkonzerns kontrollieren) ihre Erwiderung auf Russlands Antrag eingereicht. Die Vertretung der russischen Seite hat Mitte September darauf schriftlich geantwortet.

    Der Zugang zu beiden Dokumenten, die zusammen mit den entsprechenden Anhängen mehr als 800 Seiten lang sind, gelang dank eines zeitlich parallel laufenden Verfahrens am District Court of Columbia in Washington DC, USA. Dort wollen Yukos, Hulley und Veteran die Anerkennung des Haager Schiedsspruchs auf dem Gebiet der USA erreichen, damit sie im amerikanischen Rechtsraum russisches Staatsvermögen sperren lassen dürfen. Russland (in diesem Prozess vertreten durch die Kanzlei White & Case) hat am 20. Oktober [2015 – dek]  beim Washingtoner Gericht beantragt, die Haager Entscheidung nicht anzuerkennen.

    Bei den Dokumenten, die Russland bei dem amerikanischen Gericht eingereicht hat (und die in die amerikanische Gerichtsdatenbank aufgenommen wurden), handelt es sich auch um Unterlagen, die die Parteien während des laufenden Prozesses am Bezirksgericht in Haag ausgetauscht haben. Im Mai hatten die YUKOS-Aktionäre (vertreten durch die Amsterdamer Kanzlei De Brauw Blackstone Westbroek) dem Gericht eine 400-seitige Antragserwiderung zugesandt. Am 16. September reichte Russland seine ebenso viele Seiten umfassende Antwort darauf ein. Wie der Vertreter Russlands, der Juraprofessor Albert Jan van den Berg dem amerikanischen Richter mitteilte, geht das Verfahren nun in die Schlussphase: Am 9. Februar 2016 finden vor dem Bezirksgericht in Den Haag die Anhörungen statt, das Urteil wird für April 2016 erwartet.

    Austausch von Liebenswürdigkeiten

    Obwohl das Haager Bezirksgericht weder imstande noch befugt ist, die Entscheidung des Schiedsgerichts zu revidieren (es können ausschließlich eng begrenzte rechts- und verfahrenstechnische Fragen verhandelt werden), haben Russland und YUKOS ihre Aussagen dazu genutzt, ihren langjährigen Propagandakrieg fortzusetzen. Die Aktionäre von YUKOS verwenden 23 Seiten ihrer Stellungnahme darauf, aus anderen Gerichtsverfahren zu zitieren (darunter die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Klagen von Michail Chodorkowski und Platon Lebedew sowie der YUKOS-Aktionäre) und Erklärungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anzuführen, die zeigen sollen, dass „das Verhalten der Russischen Föderation gegenüber YUKOS zum Gegenstand weltweiter Verurteilung geworden ist“. Der Verteidigung von YUKOS zufolge hat „die internationale Gemeinschaft, einschließlich internationaler Organisationen, NGOs sowie weiterer Institutionen und Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens weltweit, die Angriffe der Russischen Föderation auf YUKOS und die mit ihr verbundenen Personen einhellig verurteilt“.

    In den Erklärungen der YUKOSsianer werden Persönlichkeiten aufgezählt, die öffentlich für YUKOS eingetreten sind – etwa US-Präsident Barack Obama, Ex-Präsident George Bush, Hillary Clinton, die europäischen Politiker Jerzy Buzek und Catherine Ashton, der britische Premierminister David Cameron, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der frühere deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Von den Persönlichkeiten aus Russland, die die Angriffe auf YUKOS verschiedentlich kritisiert haben, werden Ex-Premierminister Michail Kassjanow, der ehemalige Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow, der erste Vize-Premierminister Igor Schuwalow, der frühere Medwedew-Berater Igor Jurgens, der Wirtschaftswissenschaftler Jewgeni Jasin sowie die Oppositionspolitiker Wladimir Ryshkow und Garri Kasparow genannt.

    Ein eigenes Kapitel verwenden die Vertreter von YUKOS auch darauf, die „Missachtung des internationalen Rechts und des internationalen Systems zur Beilegung von Streitigkeiten durch die Russische Föderation“ zu illustrieren. „Die Versuche Russlands, den Haager Schiedsspruch aufheben zu lassen, passen ins Gesamtbild seines Verhaltens – nämlich, dass es Entscheidungen internationaler Gerichte und Tribunale nicht respektiert. Russland hat nicht eine Entscheidung eines Investitionsschiedsgerichts freiwillig erfüllt“, heißt es in der Erwiderungsschrift der YUKOS-Aktionäre. Als Beweis werden Beispiele angeführt, wie etwa die Weigerung Russlands, im Fall der Festsetzung des holländischen Schiffs Arctic Sunrise und der Festnahme der an Bord befindlichen Greenpeace-Aktivisten an einem Schiedsverfahren nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen mitzuwirken, oder die nur selektive Umsetzung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Russland. Die Verteidigung von YUKOS kommt zu dem Schluss, dass das laufende, von Russland beim Bezirksgericht in Den Haag angestrengte Verfahren sich konsequent in eine lange Reihe von Prozessen einfügt, in denen Russland „unbegrenzte Ressourcen“ darauf verwendet, sich der Befolgung von Entscheidungen internationaler Gerichte und Schiedsgerichte zu widersetzen.

    Russland erwidert darauf mit der Feststellung, dass der internationale Ständige Schiedshof in Den Haag „dem Einfluss unausgesetzter Lobby- und PR-Kampagnen“ der ehemaligen YUKOS-Aktionäre sowie „der russischen Oligarchen, die Yukos Universal, Hulley und Veteran kontrollieren, ausgesetzt war“. Die russische Seite weist das Bezirksgericht darauf hin, dass die früheren YUKOS-Aktionäre schon seit langem eine internationale Kampagne betreiben würden, um eine einseitige Wahrnehmung der YUKOS-Affäre durchzusetzen. So rechnet die russische Vertretung beispielsweise vor, dass die mit YUKOS verbundenen Organisationen einschließlich der in Gibraltar ansässigen GML, in den Jahren 2003–2009 nicht weniger als 3,7 Mio. US-Dollar auf Lobbyaktivitäten zugunsten ihrer Interessen in den USA verwendet hätten.

    Die Erörterung der von den YUKOSsianern so bezeichneten „Missachtung des internationalen Rechts durch Russland“ hält die russische Seite im Kontext des besagten Verfahrens für unangebracht, die Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zugunsten von YUKOS bewertet sie als politisch voreingenommen und ohne eigenständige Sachkenntnis. Russland unterstreicht noch einmal gesondert, dass das Gericht die Erklärung von Michail Kassjanow nicht berücksichtigen solle, da dieser seine Zeugenaussage beim Haager Schiedsgerichtshof später widerrufen habe (was die YUKOS-Verteidigung verschweigt).

    „Alle diese Materialien [Urteile anderer Gerichtsverfahren, Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens] stellen einen Versuch dar, die Russische Föderation durch für das Verfahren irrelevante und politisch motivierte Anklagen zu diskreditieren“, schreibt die russische Seite.

    Linguistisches Gutachten

    Russland setzt vor allem auf die Behauptung, dass die Haager Schiedsrichter, die YUKOS 50 Mrd. US-Dollar zugesprochen haben, ihr Mandat nicht in eigener Person wahrgenommen und damit ihre Berufsethik verletzt hätten, da der kanadische Jurist Martin Valasek, der offiziell nur als Assistent des Richters fungierte, entscheidenden Einfluss auf die Verhandlung genommen habe. In seiner Stellungnahme für das Bezirksgericht behauptet Russland unter Berufung auf ein vorgelegtes linguistisches Gutachten, dass der Text der Entscheidung des Haager Tribunals zum Großteil nicht von den Schiedsrichtern selbst, sondern von Valasek verfasst worden sei. Wenn dies zuträfe, wäre es ein schwerer Verstoß gegen das Mandat des Gerichtshofs, der eine Aufhebung des Urteils rechtfertigen könnte.

    Russland hat zu diesem Zweck die forensische Linguistin Carol Chaski herangezogen, die mittels statistischer Verfahren zu dem Schluss kam, dass Valasek „mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit“ (d. h. einer Genauigkeit von über 98 %) 71 % des Abschnitts zum Schadensersatz verfasst habe und dass (mit einer Fehlertoleranz von unter 5 %) 79 % des Passus zu vorläufigen Einwendungen und 65 % des Passus zu den Verbindlichkeiten von ihm stammten. Die von ihr angewandte Methode zur Autorschaftsbestimmung umfasst der russischen Verteidigung zufolge die in der theoretischen Linguistik angewandte syntaktische Standardanalyse sowie neueste statistische Verfahren. Sie wurde über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren entwickelt und unter anderem vom Justizministerium der USA gefördert.

    In dem im Januar eingereichten Prozessantrag hatte die russische Seite hervorgehoben, dass Valasek, der ursprünglich als ausschließlich für Verwaltungsarbeiten zuständig vorgestellt worden war, tatsächlich erheblich mehr Zeit auf das Schiedsgerichtsverfahren verwendet hätte als jeder der Schiedsrichter. Nach den Aufzeichnungen des Gerichtssekretärs hat er eine Rechnung über 3006,2 Arbeitsstunden ausgestellt, davon 2625 während der Hauptverhandlung. Damit ist sein Zeitaufwand um 65 % höher als der des Schiedsgerichtsvorsitzenden Fortier in der gleichen Prozessphase (1592 Stunden).

    In der Erwiderung der YUKOS-Vertreter heißt es jedoch, dass die Verdächtigungen hinsichtlich der Rolle von Valasek bei der Vorbereitung des endgültigen Urteils nicht stichhaltig seien. Sie wendet ein, dass von den Arbeitsstunden des Gerichtsassistenten während des Verfahrens nicht auf die Aufgaben geschlossen werden könne, die er in dieser Zeit wahrgenommen habe. Selbst wenn die Unterstützung durch Valasek über die Regelung rein administrativer Fragen hinausgegangen sei, handele es sich um gesetzlich zulässige Tätigkeiten, so der Anwalt der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Russland führt hingegen an, dass der Haager Schiedsgerichtshof sich weigert, weitere Einzelheiten der Tätigkeit Valaseks offenzulegen. Dies bekräftigt nach Auffassung der russischen Seite die Vermutung, dass der Gerichtsassistent faktisch an der Entscheidung in der Hauptverhandlung beteiligt war.

    Eine Armee von Juristen und die Taktik der Prozessverschleppung

    Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre werfen Russland vor, den Prozess um Jahre hinausgezögert zu haben. Bei dem Schiedsgerichtsverfahren in Den Haag habe Russland eine „Armee von Juristen“ aufgefahren: Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Verfahrens waren 17 Juristen anwesend, und bei der Hauptverhandlung stieg ihre Anzahl auf 39 Personen. Dabei habe Russland alles getan, um den Prozess hinauszuzögern, so der Anwalt der YUKOSsianer.

    Die Verhandlung in dieser Sache war eine der langwierigsten in der Geschichte – es dauerte zehn Jahre, bis die YUKOS-Aktionäre ein endgültiges Urteil erwirken konnten. Der Hauptgrund für diese beispiellos lange Verfahrensdauer sei das „obstruktive Verhalten“ der russischen Seite gewesen, die versucht habe, die Verfahrensfristen zu torpedieren, und sich auch anderer Methoden der Prozessverschleppung bedient habe. Sie habe darum ersucht, den Prozess in drei separate Verfahren aufzuspalten und sich geweigert, an der Festsetzung der Verhandlungsdaten mitzuwirken, schreibt der Vertreter der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Schließlich wurde der Prozess in zwei Verfahren aufgeteilt, die jeweils fast fünf Jahre dauerten. Anschließend versuchte Russland, die Hauptverhandlung ein weiteres Mal zu unterteilen – in ein Verfahren zu den Verbindlichkeiten und in eines zur Frage des Schadensersatzes. Dieser Antrag wurde zwar abgelehnt, aber er führte zu drei Verhandlungsrunden, in denen Dokumente vorgelegt wurden, und zwei verfahrensrechtliche Verhandlungen, wodurch der Prozess nach Angaben des YUKOS-Verteidigers unnötig hinausgezögert wurde. Wenn dem Ersuchen stattgegeben worden wäre, würde das Schiedsgerichtsverfahren bis heute andauern.

    Eine weitere Prozessverschleppungstaktik der russischen Seite bestand den YUKOSsianern zufolge darin, dass sie Vorauszahlungen für die Inanspruchnahme des Gerichts nicht rechtzeitig leistete. Dies gefährdete die Fortführung der Verhandlungen und den Zeitpunkt der Vorentscheidung und der endgültigen Urteilsverkündung. So weigerte sich Russland zwischen Ende 2008 und Mitte 2009 – während der Vorbereitung der Vorentscheidung und der Verhandlung über die Zuständigkeit des Gerichts – seinen Anteil an den Kosten in Höhe von 750.000 Euro zu zahlen. Das hätte den Prozess fast zum Stillstand gebracht. Letztlich wurde der Betrag auf Ersuchen des Gerichts von den Klägern beglichen, denen Russland das Geld mit neunmonatiger Verspätung und erst nach zweimaliger Mahnung durch das Haager Schiedsgericht erstattete. Dieses Szenario wiederholte sich vor der Verkündung des endgültigen Urteils im Sommer 2014. Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre hinterlegten für die beklagte Partei 250.000 Euro, von denen Russland nach Angaben der YUKOS-Vertretung 20.000 Euro noch immer nicht getilgt hat.

    Die Vertreter der russischen Seite erklären diese Verzögerung mit Verfahrensanforderungen der staatlichen Bürokratie und der Notwendigkeit, zahlreiche Genehmigungen einzuholen. Sie bestreiten kategorisch, dass Russland bewusst versucht habe, den Prozess in die Länge zu ziehen.


    Die Entschädigungen in der YUKOS-Sache in Zahlen
    114,174 Mrd. $
    an Entschädigungszahlungen haben die ehemaligen YUKOS-Aktionäre – Yukos Universal Limited, Hulley Enterprises Limited und Veteran Petroleum Limited – gefordert.
    50 Mrd. $
    muss Russland den ehemaligen YUKOS-Aktionären nach dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag als Entschädigung zahlen.
    1,86 Mrd. €
    Entschädigung muss Russland den YUKOS-Aktionären aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zahlen.
    300.000 €
    muss Russland den YUKOS-Aktionären als Rückvergütung ihrer Auslagen beim EGMR erstatten.
    Um 2,6 Mio. $ pro Tag
    steigt seit dem 15. Januar [2015 – dek] aufgrund des Zahlungsverzugs die gemäß der Entscheidung des Haager Schiedsgerichts an die YUKOS-Aktionäre auszuzahlende Summe.
    887 Mio. $ pro Jahr
    betragen die Verzugszinsen für Russland, wenn es die 50 Mrd. $ im Jahr 2015 nicht zahlt.
    130 Mrd. Rubel (knapp 2 Mrd. €)
    für die Zahlung der Entschädigung aus dem YUKOS-Verfahren am EGMR finden sich nicht im Entwurf für den Haushalt 2016.
    500 Mio. Rubel (7,5 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan für das Jahr 2016 für die Zahlung von Entschädigungsgeldern im Zusammenhang mit den Entscheidungen des EGMR vorgesehen.
    1,242 Mrd. Rubel (18,6 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan 2016 für juristische Dienstleistungen zur Vertretung der Interessen Russlands am EGMR vorgesehen.
    2,695 Mrd. Rubel (40 Mio. €)
    aus dem Haushalt sind im Jahr 2016 zur Gewährleistung des Schutzes der Interessen der Russischen Föderation „in internationalen Urteilen“ eingeplant.​

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  • Leviathan

    Leviathan

    Der Film Leviathan von Andrej Swjaginzew ist ein 2014 erschienenes russisches Sozialdrama. Der international beachtete und mit dem Golden Globe gekrönte Film löste in Russland aufgrund der kritischen Darstellung der russischen Lebensrealität heftige Kritik aus.

    Der Leviathan (hebräisch: der sich Windende) ist in der jüdisch-­christlichen Mythologie ein bösartiges, von Menschen unbezwingbares Mischwesen aus Krokodil, Drache, Schlange und Wal und findet sich unter anderem im Alten Testament im Buch Hiob. Im 17. Jahrhundert wählte der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Werk die Figur des Leviathans, um die Allmacht des Staates zu beschreiben.

    Der Film Leviathan (2014) von Andrej Swjaginzew greift diesen Gedanken auf und kritisiert die Machtfülle der Triade aus Staat, Verwaltung und Kirche in Russland. Das Sozialdrama thematisiert – wie bereits Swjaginzews Film Elena (2011) – Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit in Russland. Im Film wird mit einem kolossalen Walgerippe der Bezug zum Seeungeheuer Leviathan hergestellt, das metaphorisch für die drei zentralen Themen des Films – Chaos, Boshaftigkeit und Neid – steht.

    Gedreht inmitten der spektakulär-­rauen Küstenlandschaft des russischen Nordens, erzählt Leviathan in der epischen Bildsprache des Kameramanns Michail Kritschman ein Familiendrama, in dem die Hauptfigur Nikolaj Sergejew sich einem korrupten Bürgermeister widersetzt, der es auf sein Grundstück abgesehen hat. Die biblische Warnung Hiobs vor dem Leviathan trifft in diesem Fall auf den allmächtigen und skrupellosen Bürgermeister zu: „Niemand ist so kühn, dass er ihn reizen darf.“ Im aussichtslosen Kampf um seine Rechte sucht Nikolaj die Unterstützung eines alten Freundes, des gut vernetzten Moskauer Anwalts Selesnjow, aber auch mit seiner Hilfe lässt sich das staatliche Monster nicht besiegen. Stattdessen verliert Nikolaj in der modernen Adaption der Hiobsgeschichte sein gesamtes bisheriges Leben.1

    Der Film stieß im Ausland auf große Beachtung und bekam viel positive Resonanz. Die Zeitung Die Welt schrieb, dass „selten jemand den von vielen Russen so empfundenen Alltag himmelschreiender Ungerechtigkeit und die Hilflosigkeit der Bürger [schonungsloser] dargestellt“ hat.2Leviathan gewann als erster russischer Film seit Jahrzehnten einen Golden Globe und war als bester fremdsprachiger Film für einen Oscar nominiert.

    Im zunehmend patriotisch gestimmten gesellschaftlichen Klima Russlands jedoch, in dem staatlich gesteuerte Medien üblicherweise ein positives Russlandbild zeichnen, stieß der Film auf heftige Kritik und Ablehnung, und Swjaginzew wurde als Vaterlandsbeschmutzer beschimpft.3 Der Philosoph Michail Ryklin sieht den Grund für die Ablehnung darin, dass „Russlands Bürger darin ihr Spiegelbild erblicken (zumindest im Ansatz) und sich erschrecken. Diese Blickrichtung wird ihnen aber – insbesondere nach der Besetzung der Krim – von Putins Fernsehpropaganda erfolgreich abgewöhnt“.4

    Die Regierung kritisierte den Film, da er Klischees über trinkende Russen und korrupte Funktionäre verbreite und Regierungskritik übe. Kulturminister Wladimir Medinski war dabei einer der schärfsten Kritiker, obwohl der Film aus Mitteln des Ministeriums gefördert worden war. Er sprach sich in der Folge dafür aus, solch „unpatriotische“ Filme nicht mehr zu fördern und schlug Richtlinien vor, die es ermöglichen sollen, Filme, die die Nationalkultur schädigten, zukünftig zu verbieten. Auch die Kirche sprach sich gegen Leviathan aus, da er zu pessimistisch sei und es an positiven Helden mangele.5

     


    1. Süddeutsche.de: Hiobs Traum ↩︎
    2. Welt.de: „Leviathan“ – Golden-Globe-Sieger spaltet Russland ↩︎
    3. Spiegel.de: Russischer Film „Leviathan“: Verkommene Menschen in einem verkommenen Land ↩︎
    4. Kino-­krokodil.de: Der russische Leviathan​ ↩︎
    5. Süddeutsche.de: „Leviathan“ – Golden-Globe-Sieger spaltet Russland ↩︎

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  • Warum sind Polizisten bestechlich?

    Warum sind Polizisten bestechlich?

    Antikorruptionskampagnen, höhere Gehälter und verschärfte Strafen für Bestechung helfen nicht gegen Korruption. An der Moskauer Hochschule für Wirtschaft HSE wurde eine Untersuchung mit tatsächlichen Mitarbeitern der russischen Polizei durchgeführt. Sie nahmen an einem Spiel teil, das ihre Neigung zur Korruption aufzeigen sollte. An diesem Spiel nahmen auch gewöhnliche Studenten teil. Die Polizisten waren dabei insgesamt öfter bereit, Bestechungsgelder zu nehmen oder zu zahlen, sogar wenn es sich offensichtlich nicht lohnte. Korruptionsprinzipien und -normen waren für sie wichtiger als Gewinne oder Risiken.

    Eine Gruppe von Forschern der Hochschule für Wirtschaft hat sich ein für Russland leidiges Thema vorgenommen: die Korruption bei der Polizei.

    Sie sind davon überzeugt, dass Korruption in einer bestimmten Kultur und bestimmten Prinzipien begründet liegt, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind: Wenn man einem Mitarbeiter der Staatlichen Straßenverkehrsinspektion Geld zusteckt, kann man sich ziemlich sicher sein, dass er das Geld nimmt und bei dem Vergehen ein Auge zudrückt. Wenn man einem Polizisten vorschlägt, man könne sich doch „einigen“, gibt es eigentlich keinen Zweifel, dass das funktioniert.

    Innerhalb der Polizei haben sich mittlerweile feste Korruptionsstrukturen herausgebildet. Beamte der mittleren Ebene nehmen Bestechungsgelder von den normalen Bürgern und – damit es nicht herauskommt – teilen sie sie hinterher mit ihren Vorgesetzten. So entsteht ein funktionierendes Korruptionsnetz. Dabei haben die Polizisten, wie die Studie zeigt, diese Prinzipien derart verinnerlicht, dass sie nicht von ihnen ablassen, selbst wenn die Korruption sich finanziell nicht lohnt. Sie sind bereits eine in sich geschlossene Gruppe, die durch eine bestimmte Kultur mit bestimmten Werten und Prinzipien verbunden ist.

    Zu diesem Ergebnis kamen die Wissenschaftler aufgrund eines Experiments, das mit russischen Polizisten vom Polizeihauptmann bis hin zum Oberst durchgeführt wurde, von denen alle einen Zusatzlehrgang der Akademie des russischen Innenministeriums absolviert hatten. Das Durchschnittsalter der Versuchspersonen betrug 36 Jahre. Die russische Polizei befand sich während der Untersuchung gerade in einer Phase der Umstrukturierung.

    Dieselbe Untersuchung wurde mit Studierenden der Hochschule für Wirtschaft durchgeführt. Ihre Ergebnisse wurden mit denen der Polizeibeamten verglichen.

    Korruptionsspiel

    Das Experiment bestand aus einem Spiel. Ziel war nicht, einem konkreten Beamten seine Neigung zur Bestechlichkeit nachzuweisen, sondern zu verstehen, wie die Polizisten interagieren und was ihr Verhalten motiviert. Es wurde kein echtes Geld verwendet.

    Die Offiziere wurden in Gruppen zu je 5 Mann eingeteilt, alle saßen am Computer. Sie wussten, dass sie mit Leuten aus dem Raum, in dem sie saßen, in einer Gruppe waren, wussten aber nicht mit wem.

    Das Spiel bestand aus 24 Runden, die in drei Spielphasen aufgeteilt waren.

    Erste Spielphase

    In jeder Runde erhält jeder Teilnehmer 100 Punkte, das ist sein Einkommen. Dieses kann er mithilfe einer beliebigen Menge von Bestechungseinnahmen aufbessern. Dabei werden die Handlungen des Spielers mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit überwacht. Wird er geschnappt, muss er alle Bestechungspunkte zurückgeben und noch dazu 50 Strafpunkte zahlen.

    Die Mitglieder einer Gruppe können Geld in einen gemeinsamen Topf geben, quasi als kollektives Bestechungsgeld für den Vorgesetzten, der sie kontrolliert. Schaffen sie 500 Punkte zusammenzubringen, hört die Überwachung auf.

    Nach jeder Runde zählen die Teilnehmer, wie viel Geld sie bekommen und wie viel sie ausgegeben haben, dann treffen sie ihre Entscheidung für die nächste Runde.

    Damit wird modellhaft folgende Situation nachgestellt: Nehmen wir ein konkretes Polizeirevier. Die Offiziere der mittleren Ebene stehen vor einer schwierigen Wahl: Ihr Gehalt ist niedrig, es besteht jedoch die Möglichkeit, es durch Bestechungsgelder aufzubessern. Dabei besteht das Risiko, dass sie von ihren Vorgesetzten erwischt werden. Dieses Risiko kann man jedoch senken, wiederum mithilfe von Schmiergeldern: Für eine Belohnung verschließt der Vorgesetzte die Augen vor dem Vergehen des Untergebenen. Auf diese Weise entsteht ein Korruptionsnetz.

    Neuer Vorgesetzter

    In der zweiten Spielphase nach acht Runden werden die Regeln geändert: Nun kann der gemeinsame Topf plötzlich unkontrolliert verschwinden. Wenn dies geschieht, sind die Gelder der Teilnehmer verbrannt, ihre Bestechlichkeit wird nicht länger gedeckt.

    Im richtigen Leben sähe das so aus: Der Vorgesetzte wird durch einen Neuen ersetzt. Von ihm ist nicht bekannt, ob er Schmiergelder akzeptiert oder nicht. Wenn er ehrlich ist, hat die Existenz eines gemeinsamen Topfs keinen Sinn mehr. Schmiergeld nimmt der neue Vorgesetzte sowieso nicht und er hat auch nicht vor, die Vergehen seiner Untergebenen zu decken.

    Gehaltserhöhung

    In der dritten Runde steigt das Einkommen der Teilnehmer auf 300 Punkte, Schmiergeld nicht eingerechnet. Doch wenn man geschnappt wird, muss man alle Bestechungsgelder zurückzahlen, plus in dieser Runde 300 Punkte. Doch die Spieler wissen nicht, ob der Vorgesetzte bestechlich ist oder nicht, genau wie in der zweiten Spielphase.

    Tatsächlich wurde diese Methode – Gehaltserhöhung in Kombination mit drastischen Strafen – im Kampf gegen die Korruption in Georgien und vielen anderen Ländern angewandt.

    In einer solchen Situation sollte jemand, der kein Risiko will, besser kein Bestechungsgeld annehmen.

    Kultur zwingt Polizisten bestechlich zu bleiben

    Die Unterschiede zwischen den Studenten und den Polizisten wurden sofort offensichtlich. Die Wissenschaftler hatten die Regeln sachlich neutral erklärt. Den Studenten war bis zum Schluss nicht klar, dass es sich um eine Art Test auf Korruptionsanfälligkeit handelte. Den Polizisten hingegen war dies sofort klar, als sie die Spielregeln hörten.

    Die Studenten bevorzugten insgesamt wesentlich öfter ehrliches Verhalten, während die Polizisten in der Mehrheit der Fälle Korruptionsnetze aufbauten.

    Interessant war, dass die Polizisten in der ersten Spielphase weniger Bestechungsgelder nahmen, später dann die Zahl der Bestechungsfälle anstieg, obwohl sich Korruption wirtschaftlich immer weniger lohnte. Dies bestätigte, dass in Bezug auf Korruption folgendes Gesetz gilt: Je mehr Druck der Beamte ausgesetzt ist und je höher das Risiko, desto aktiver nimmt er Bestechungsgelder an. Mithilfe der Bestechungsgelder versucht er, die gestiegenen Risiken zu kompensieren. Faktisch bedeutet das, dass Antikorruptionskampagnen im Rahmen der geltenden Normen nicht funktionieren. Doch Kultur und Normen bei der Polizei ändern sich sehr langsam.

    Die Entscheidung, kein Schmiergeld mehr an die Vorgesetzten zu zahlen, trafen die Polizisten erst in der dritten Spielphase, und auch dann nicht in allen Fällen. Die Studenten versuchten insgesamt seltener, ihre Vorgesetzten zu bestechen. Solche Versuche hatte es vor allem in der ersten Spielphase gegeben, in der zweiten und dritten Phase nahmen sie ab.

    Die Strategie der Studenten war verständlich: Sie nahmen Bestechungsgelder während der ersten und zweiten Spielphase, als es sich lohnte, in der dritten Phase bevorzugten sie ehrliches Verhalten. Die Polizisten ließen sich dagegen eher von gewissen Normen und Prinzipien leiten, denen eine Korruptionskultur zugrunde liegt. De facto verhalten sich Polizisten solidarisch und wählen, ohne sich untereinander abzusprechen, die korruptionsträchtigsten Vorgehensweisen.

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    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“