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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alexej Nawalny

    Alexej Nawalny

    „Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

    Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

    Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

    Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

    Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

    Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

    Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

    Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

    Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

    Korruption als die Wurzel allen Übels?

    Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

    Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

    Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

    Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

    Nawalny gleich Putin minus Korruption?

    Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

    Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

    Gefahr für den Kreml?

    Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

    Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

    Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

    Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

    Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

    Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

    Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

    Aktualisiert am 16.02.2024


    1. youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↩︎
    2. shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! ↩︎
    3. Fond borby s korrupciej ↩︎
    4. RBK: Navalnyj podal isk k Putinu ↩︎
    5. Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch ↩︎
    6. Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach ↩︎
    7. vgl. 2018.navalny.com ↩︎
    8. snob.ru: Navalnyj i nacionalizm ↩︎
    9. youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija ↩︎
    10. Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija ↩︎
    11. RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» ↩︎
    12. Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. ↩︎
    13. Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj ↩︎
    14. Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. ↩︎
    15. Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin ↩︎

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  • Entwertung akademischer Grade

    Entwertung akademischer Grade

    Zwei Entwicklungen haben in Russland zu einer Entwertung akademischer Grade geführt: Erstens ist die Zahl der Hochschulabsolventen stark gestiegen, sodass Diplome alleine schon durch deren inflationäre Zunahme an Wert verloren haben. Zweitens sind akademische Titel, wie zahlreiche Plagiats- und Korruptionsskandale zeigen, zu einer käuflichen Ware geworden, sodass sie häufig nichts mehr über die Bildungsqualität aussagen.

    Die Wissenschaft galt vor allem in den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen als ein Aushängeschild der Sowjetunion, und so besaßen Hochschuldiplome einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR führte die jahrelange Unterfinanzierung zu einem Niedergang der russischen Wissenschaft. Viele Hochschulen senkten in den 1990er Jahren die Studienanforderungen, um möglichst viele gebührenzahlende Studenten aufzunehmen und dadurch die fehlenden staatlichen Mittel zu kompensieren. Auch Korruption wurde zum festen Bestandteil des Bildungssektors und half dabei, diesen am Laufen zu halten. In der Folge wurden Abschlüsse zu einer käuflichen Ware. Jeder, der einmal  in den großen Städten mit der Metro gefahren ist, erinnert sich an zahlreiche Schilder „Diplom zu verkaufen“. Experten gehen davon aus, dass in Russland jährlich bis zu 500.000 gefälschte Diplome verkauft werden.1

    Seit Mitte der 1990er gibt es eine Inflation von Hochschulabsolventen: Derzeit nimmt die Mehrheit der Schüler im Anschluss ein Studium auf, womit das Hochschuldiplom allein schon unter quantitativen Aspekten an Wert verloren hat. Zugleich sind die Abschlüsse nur noch bedingt aussagekräftig, da Arbeitgeber nicht wissen können, ob diese echt oder gefälscht sind. Dadurch verlieren praktisch alle Diplome an Wert. Für Arbeitgeber bedeutet es, dass weniger das Diplom, als vielmehr persönliche Kontakte durch „Vitamin B“, das in Russland häufig als Blat bezeichnet wird, für die Einstellung eine wichtige Rolle spielt. In diesem Zusammenhang spricht man von der Entwertung der Diplome (dewalwazija diplomow).

    Dissernet

    Die Entwertung betrifft neben Hochschuldiplomen auch höhere akademische Titel wie den Doktorgrad. In Anlehnung an das deutsche Portal Vroniplag, das hierzulande Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten aufdeckte, entstand 2013 das russische Pendant Dissernet. Die Initiative, die unter anderem von dem Wissenschaftler Michail Gelfand und dem Journalisten Sergej Parchomenko betrieben wird, hat sich auf die Untersuchung von akademischen Abschlussarbeiten hochrangiger Beamter und Politiker spezialisiert. In seiner noch recht jungen Geschichte konnte Dissernet bereits zahlreiche Plagiatsfälle aufdecken2; darunter zum Beispiel 2014 bei dem damaligen Minister für Kommunikation und Massenmedien Nikolaj Nikoforow und bei dem damaligen Minister für Transportwesen Maxim Sokolow, sowie bei dem Leiter der Drogenkontrollbehörde Viktor Iwanow, der bis 2016 im Amt war. Dissernet hat zudem ans Licht gebracht, dass an einigen Universitäten ganze Promotionsausschüsse gegen Bezahlung oder auf politischen Druck hin Doktortitel vergeben haben, darunter an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU – Rossiski gosudarstwenny gumanitarny Uniwersitet) in Moskau, wo 52 illegitime Doktortitel vergeben wurden und an der Russischen Staatlichen Sozialen Universität (RGSU – Rossiski gosudarstwenny sozialny Uniwersitet), wo es ebenfalls eine Vielzahl plagiierter Dissertationen gab, darunter zum Beispiel die von Kulturminister Wladimir Medinski. Dissernet konnte bereits in mehreren Tausend wissenschaftlichen Arbeiten Plagiate aufdecken, was den Massencharakter unterstreicht.

    Nicht zuletzt durch diese prominenten Fälle findet eine kontinuierliche Entwertung wissenschaftlicher Grade (dewalwazija utschonych stepenei) statt. Inzwischen hat das Bildungsministerium auf diese Situation reagiert und versucht stärker gegen Korruption, wissenschaftliches Fehlverhalten und Plagiate vorzugehen.


     

    1. Groschew, Igor/Groschewa, Irina (2010): Ključevye faktory korrupcii v rossijskoj sisteme obrazovanija [Schlüsselfaktoren der Korruption im russischen Bildungswesen – dekoder], in: Terra Economicus 2010 (8/3), Rostow am Don, S. 115 ↩︎
    2. Der Spiegel: Wladimir Guttenberg ↩︎

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    Wladimir Medinski

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  • Video #1: Alischer Usmanow gegen Alexej Nawalny

    Video #1: Alischer Usmanow gegen Alexej Nawalny

    Der russische Medienmagnat Alischer Usmanow wehrt sich gegen die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny – nicht nur vor Gericht.

    Die beiden Originalvideos finden sie hier und hier.


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  • Usmanow vs. Nawalny

    Usmanow vs. Nawalny

    Der Battle ist eröffnet: Seit dem heutigen Dienstag beschäftigt sich ein Moskauer Gericht mit der Verleumdungsklage von Alischer Usmanow gegen Alexej Nawalny. Usmanow hatte diese eingereicht, nachdem der Oppositionspolitiker ihn im Video Nennt ihn nicht Dimon der Bestechung beschuldigt hatte. Über ein undurchsichtiges Stiftungsnetzwerk soll Usmanow dem russischen Regierungschef Medwedew etwa ein Grundstück zugespielt haben.

    Doch Usmanow beließ es nicht bei rechtlichen Schritten: In zwei unterschiedlichen Videos hatte Usmanow Mitte Mai auf Nawalnys Anschuldigungen reagiert. Oligarch und Medienmogul Usmanow – er ist Eigentümer des Verlagshauses Kommersant – richtete extra einen YouTube-Kanal ein, um Nawalny zu kontern.

    Nawalny veröffentlichte beide Filme auch in seinem eigenen Kanal, dort wurden sie inzwischen fast drei beziehungsweise zwei Millionen Mal aufgerufen – auf Usmanows eigenem Kanal dagegen knapp 1 beziehungsweise 1,5 Millionen Mal. Daraufhin hat Nawalny wiederum per Video reagiert.

    Es ist das erste Mal, dass ein Oligarch und Mitglied der Moskauer Elite öffentlich auf derartige Anschuldigungen antwortet und dazu Stellung nimmt – noch dazu über ein Medium, in dem Nawalny viel mehr zuhause ist als Usmanow selbst. Einzelne Politiker, wie etwa Wladimir Milow, sehen hinter Usmanows Video-Botschaften gar einen „Befehl von oben“ , auch um von den Anschuldigungen gegen Medwedew abzulenken.

    Politologe Gleb Pawlowski erläutert im Interview mit fontanka.ru, inwiefern der Beef des Oligarchen und des Oppositionspolitikers auch Ausdruck eines neuen Politik-Verständnisses ist, warum ein Gerichtsurteil eh kaum jemanden interessieren werde – und weshalb Usmanow sicherlich nicht im Auftrag Putins gehandelt habe.

    Irina Tumakowa: Gleb Olegowitsch, hat der Kreml Usmanow wirklich „darum gebeten“ oder hatte Alischer Burchanowitsch selbst das Bedürfnis, sich zu äußern?

    Gleb Pawlowski: Welcher „Kreml“ genau? Auf welcher Ebene? Ich glaube nicht, dass man Alischer Usmanow in so einer Angelegenheit einfach „bitten“ kann. Das wäre unter seinem Niveau. Wenn er nicht hätte reagieren wollen, genauer – wenn er nicht vor Wut schäumen würde, hätte er, wie sonst übrigens auch, nicht einen einzigen Finger krumm gemacht. Aber das hier hat ihn offensichtlich getroffen. Das konnte man an seinem Verhalten sehen, an seiner ziemlich ungehaltenen Redeweise. Glauben Sie mir, der kann sich zusammenreißen, wenn er will. Ich habe gesehen, wie er mit anderen redet und sie siezt und nicht duzt, wie hier.

    Das Entscheidende an diesem Auftritt ist aber, dass unser Leben sich gerade verändert. Etwas, das noch vor ein, zwei Jahren außergewöhnlich war, das wir vergessen hatten, wird wieder normal. Denn das ganze oberste kremlnahe Establishment hat ja geschwiegen. Hat nicht reagiert. Es hat einen ignoriert. Langsam, aber sicher werden sie jetzt alle redseliger. So auch Usmanow. Und ich glaube, das ist gut so.

    Was ist gut daran?

    Man muss kapieren: Die Politik ist wieder da. Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden und würde erst irgendwann dann zurückkommen, wenn Putin geht, und so weiter. Aber das heute – das ist bereits Politik. Alle fangen an, ihre Interessen zu verteidigen. Auch Usmanow tut das. So gut er kann.

    Er hat Klage eingereicht und könnte, sagen wir, drei Milliarden Schadensersatz verlangen, aber er denkt sich Videofilmchen aus.

    Vielleicht dachte Usmanow am Anfang, es würde reichen, diesen Flegel mit rechtlichen Mitteln in die Schranken zu weisen. Usmanow hat dank seines Geldes die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Legale und andere.

    Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden. Aber das heute – das ist bereits Politik

    Außerdem hat er die Möglichkeit, formal vor Gericht zu gewinnen, denn Nawalny wird vieles einfach nicht nachweisen können, rein formal ist die Sache wasserdicht. Dann hat Usmanow gesehen, dass seine Klage den Flegel kein bisschen beeindruckt. Dass im Gegenteil er, Usmanow, sich mit dieser Klage selbst ein Bein gestellt hat. Dass nämlich Nawalny sich über eine weitere Plattform für seinen Triumph nur freut. Die Entscheidung des Gerichts ist völlig nebensächlich, weil niemand sie ernstnehmen wird. Als ihm das klar wurde, hat Usmanow beschlossen nachzulegen.

    Usmanow empfindet sich selbst nicht nur als starke und wichtige Persönlichkeit, sondern gewissermaßen als eine Stütze des Staates. Also ist er mit seiner Position an die Öffentlichkeit getreten. Er hat seine Werte dargelegt. Die Argumente genannt, die für ihn sprechen. Etwas, das in unseren Machtstrukturen seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich war. Es war verschwunden, wir hatten vergessen, wie man das macht. Jetzt wird das wieder zunehmen.

    Usmanow hat seine Werte dargelegt, Argumente genannt, die für ihn sprechen. So etwas war seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich. Jetzt wird das wieder zunehmen

    Mit der Zeit werden auch irgendwelche Gouverneure anfangen zu reden. Jedenfalls die, die sich ausreichend sicher sind, dass man sie nicht einbuchtet.

    Es wird der Moment kommen, da auch Igor Iwanowitsch Setschin mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit tritt. Ich glaube, wir werden es sogar erleben, dass selbst Putin irgendwann nicht mehr nur durch den Mund Peskows spricht. Es wird bei uns lauter werden im staatlichen Bereich.

    Dann hat Usmanow diese Tradition begründet?

    Nein, nein. Ich erinnere mich noch gut, wer angefangen hat. Das war jemand, der jünger war als Usmanow, und in gewisser Weise schillernder. Es war Ramsan Kadyrow.

    Als Wendepunkt kann man den Mord an Boris Nemzow sehen. Diejenigen, die das getan haben, wollten das Thema einfach für immer totschweigen, aber das führte nur dazu, dass der Eisberg Risse bekam. Und als man dann Kadyrow beschuldigte, fing er an zu reden.

    Ich glaube also, dass wir uns längst im Zustand einer Politisierung befinden. Später haben sich andere Kadyrow angeschlossen. Die Staatsmacht begann zu sprechen.

    Usmanow mit seinem Auftritt zählen Sie also zur „Staatsmacht“?

    Zur „Staatsmacht“ im weitesten Sinn. Unsere „Staatsmacht“ – das ist quasi ein Rat von Führungskräften der Aktiengesellschaft Russische Föderation. Übrigens hat sich die Position von Präsident Putin in diesem Rat gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands.

    Das heißt, Putins Rolle ist mittlerweile mehr eine formelle und weniger eine maßgebliche?

    Ja, Ehrenvorsitzende von Gesellschaften treffen in der Regel keine Entscheidungen. Der Vorstandsvorsitzende ist jemand, der unterzeichnet, sanktioniert, die Einigkeit der Gesellschaft verkörpert. Das ist die Rolle, die Putin spielt.

    Wer hat Putin als „geschäftsführenden Direktor“ abgelöst?

    Da ist noch niemand, und ich glaube, genau das können wir tagtäglich beobachten. Genauer, die Funktion des geschäftsführenden Direktors hat sich aufgespalten und ist auf mehrere Gruppen verteilt worden.

    Putins Rolle hat sich gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands

    In solchen Fragen, wie der von Baschneft oder der Privatisierung von Rosneft, hätte Putin vor fünf Jahren zweifellos vom ersten bis zum letzten Punkt die bestimmende Rolle für sich beansprucht.

    Jetzt aber konnten wir beobachten, wie er unter dem Druck von Setschin seine Position um 180 Grad geändert hat. Natürlich werden die Entscheidungen trotzdem im Namen Putins getroffen.

    Und wer trifft sie gerade tatsächlich?

    Verschiedene Menschen, und sie bilden Koalitionen, die unterschiedlich starken Einfluss besitzen. Es existiert kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Apolitische Bürokratien, die sich nicht beeinflussen lassen durch Minister- und Premierministerwechsel, sondern einfach ihre Arbeit machen, die gibt es bei uns nicht. Deshalb läuft heute alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen alle hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten.

    Zu welcher dieser Einflussgruppen gehört Usmanow? Oder steht er für sich allein?

    Nein, für sich allein steht er definitiv nicht. Zu welcher Koalition er gerade gehört, weiß ich nicht, aber sicher ist, dass er manchen näher steht und anderen ferner. Und es ist ja auch nicht ungefährlich, sich eindeutig zu positionieren. Man wird automatisch zur potentiellen Zielscheibe für andere Gruppen. Deswegen halten sich alle schön zurück.

    Sie sagen, Entscheidungen werden nicht mehr nur von einer Person für alle anderen getroffen; die Staatsmacht fängt an, sich zu erklären. Bewegen wir uns auf eine etwas normalere Gesellschaft zu?

    Wir bewegen uns auf eine normale Gesellschaft zu insofern, als gerade die Politisierung ein normaler Trend ist. Nicht normal dagegen war der jahrelange Trend zur Entpolitisierung. Das Streben, einen Konflikt oder öffentliche Debatten einfach auszumerzen – das war nicht normal.

    Es gibt kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Heute läuft alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten

    Nach und nach haben wir angefangen zu glauben, dass das schon immer so war und auch in den nächsten zehn, zwanzig Jahren so bleiben könnte. Doch jetzt hat eine Politisierung eingesetzt. Und natürlich wird sie bis zu einem gewissen Grad zu einer Öffnung führen.

    Es wird normal für uns werden, dass bestimmte Menschen bestimmte Ansichten vertreten, wir werden diese Ansichten kennen und diskutieren. Sie werden von anderen Menschen deswegen attackiert werden. Das alles ist normal.

    Usmanow hat Nawalny ohne große Show, dafür mit Argumenten geantwortet. Ist das gut oder schlecht für den Kreml?

    Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen. Was Putin angeht, so höre ich förmlich, wie er zu so einem Video sagt: „Was soll das nun schon wieder?“

    Er war schon immer gegen solche Formen der öffentlichen Verteidigung. Das geht also nicht von Putin aus.

    Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen

    Wenn jemand Usmanow um eine öffentliche Stellungnahme gebeten hat, könnte dieser jemand nun nicht mehr sagen, das sei irgendwie daneben gewesen. Dieser jemand muss behaupten, dass Usmanow großartig war. Ich glaube nicht, dass sich irgendwer mit Usmanow wegen dieses Filmchens streiten wird, sondern sie werden sagen: „Dem hast du‘s aber richtig gegeben.“

    Und die Hälfte von diesen Leuten wird das auch so meinen, da bin ich mir sicher. Weil sie sich selbst betrügen. Sie leben im Nebel der einstigen Überlegenheit des Kreml über allen anderen. Und jetzt löst sich diese Überlegenheit eben auf wie Nebel.

    Heute ist der Kreml nicht mehr die Avantgarde, sondern gewissermaßen der rückständige Bodensatz. Diese Dinge spüren viele aber nicht.

    Diese Leute, die im Nebel leben, die Usmanow vermutlich gebeten haben …

    Warum interessieren die Sie überhaupt so brennend?

    Mich interessiert, was sie in Zukunft unternehmen werden. Wohin sie ihr Erfindergeist im Kampf gegen Nawalny führen wird.

    Sie müssen einfach verstehen, dass diese Leute inkompetent sind. Das kann man auch ohne diese ganzen Geschichten sagen. Diese Inkompetenten werden uns noch eine Weile an der Macht erhalten bleiben. Aber die Inkompetenz äußert sich in ernsteren Dingen als in diesem Kinderkram. Wir müssen einfach einsehen, dass wir vorübergehend unter der Verwaltung einer Gruppe von Inkompetenten stehen.

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  • Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Sie heißen Dar, Gradislawa und FSKI (Stiftung für sozial-kulturelle Initiativen). Und diese wohltätigen Stiftungen haben die Menschen am vergangenen Wochenende landesweit auf die Straßen gebracht. Zumindest indirekt. 
    In seinem Korruptionsbericht über Premier Dimitri Medwedew deckt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ein ganzes Netz vermeintlich wohltätiger Stiftungen auf, über die der Premier heimlich Reichtümer anhäufe, etwa eine Luxus-Datscha, aber auch Weingüter und Yachten.

    Solche Stiftungen müssen ihre Jahresberichte öffentlich machen – auch um sicherzustellen, dass sie nicht unter das NGO-Agentengesetz fallen. Insofern müssten ihre Tätigkeiten leicht nachzuvollziehen sein – Anna Baidakowa von der Novaya Gazeta wurde allerdings eines Besseren belehrt. 

    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Dar [dt. Gabe/Geschenk] – so heißt die Stiftung, der das Gut Milowka in Pljos gehörte. Dort wurde Dimitri Medwedew im Urlaub ausgemacht. Wir sandten der Stiftung eine Anfrage, eine Sekretärin bestätigte den Eingang telefonisch. 
    Doch als sich die Korrespondentin der Novaya Gazeta auf die Suche nach dem Dar-Büro macht, stellt sich heraus, dass sich an der Meldeadresse, 2. Spassonaliwkowski Pereulok 6, eine Baustelle befindet, die Firma Codest International S. r. L. errichtet hier einen Wohnhauskomplex. 
    Die Sekretärin lehnte ab, der Korrespondentin am Telefon die tatsächliche Büroadresse zu nennen (wenn es sie denn gibt), und bat um eine schriftliche Anfrage.

    Null Rubel für Hilfsaktionen

    Einzige Informationsquelle darüber, wie die mit Medwedew in Zusammenhang gebrachten Stiftungen ihre Mittel verwenden, sind Datenbanken wie SPARK, wo man unter anderem Berichte über den zweckgebundenen Einsatz der Mittel findet. Dort kann man etwa erfahren, dass die Stiftung für regionale gemeinnützige Projekte Dar im Jahr 2015 1,4 Milliarden Rubel [knapp 19.000.000 Euro] in Form von Spenden erhielt und 454,6 Millionen [rund 6.069.000 Euro] für zweckgebundene Maßnahmen ausgab.

    Doch waren das keine sozialen und wohltätigen Hilfsaktionen, Konferenzen oder Seminare – für diese Posten wurden 0 Rubel verwendet. Sondern es waren allesamt „sonstige Maßnahmen“. Wobei für Gehälter, Dienstreisen und Instandhaltung von Autos und Gebäuden 224,7 Millionen [rund 2.991.000 Euro] ausgewiesen wurden und weitere 574 Millionen [rund 7.640.000 Euro] für „Grundausstattung, Inventar und andere Besitztümer“.

    Leider ist so einem Bericht nicht zu entnehmen, welche „sonstigen Maßnahmen“ gemeint sind. Für einige Jahre gibt es gar keine Berichte, und da, wo es welche gibt, bleiben jedes Mal am Jahresende 6 bis 8 Milliarden [rund 1 bis 1,3 Millionen Euro] ungenutzt liegen.

    Oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche

    Zu manchen Ausgaben der Stiftung Dar kann man in der Kartothek des Schiedsgerichts etwas finden. Dass Dar zum Beispiel im Jahr 2010 der Firma OOO Rikko-Stil in Krasnodar 603,4 Millionen Rubel gezahlt hat für den Bau eines „nicht für Wohnzwecke bestimmten Gebäudes mit Sportschwimmbecken an der Adresse: RF, Oblast Iwanowo, Rajon Priwolschsk, Dorf Milowka, Tschernew-Gut (Gut Milowka)“, lässt sich aus Dokumenten zu einem Prozess herleiten: Dar hatte von Rikko-Stil eine Vorauszahlung für Arbeiten zurückgefordert, die Rikko-Stil nicht erfüllt hat – den Großteil der bezahlten Summe.

    Die Jahresberichte anderer Stiftungen in der allgemein zugänglichen Datenbank geben ebenso spärlich Auskunft, oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche.

    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Nach Erkenntnissen des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) hatte Gradislawa, eine Stiftung zum Erhalt von historischem und kulturellem Erbe, das Gut in Milowka von Dar als Spende erhalten. Über Gradislawa erfährt man zum Beispiel nur, dass die Stiftung im Jahr 2013 mit irgendeiner unternehmerischen Tätigkeit Einnahmen in Höhe von 531.000 Rubel [rund 8.770 Euro] erzielte und aus einer ungenannten Quelle weitere 749 Millionen [rund 12.365.000 Euro] bezog, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden.

    Von allen Stiftungen rund um Dimitri Medwedew ist die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) die transparenteste. Zwar figurierte sie in den Ermittlungen auch nicht als Rechtsträger von Immobilien, doch steht sie mit Dar in Verbindung: Deren Tochtergesellschaft Verwaltungsteam der Stiftung Dar ist unter derselben Adresse gemeldet wie die Stiftung FSKI.

    Büroräume in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert

    Die FSKI selbst befindet sich aber nicht in irgendeinem Business-Center, wo dutzende Firmen ihre Büroräume mieten, sondern in einem ebenerdigen Haus aus dem 19. Jahrhundert, auf der Bolschaja-Ordynka-Straße 70. Die Vorstellung, dass sich eine Organisation, als deren Präsidentin Swetlana Medwedewa auftritt, eine kleine alte Villa mit irgendeiner fremden Organisation teilt, fällt schwer.

    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Die FSKI ist in der ganzen Liste die einzige Stiftung mit funktionierender Website. Darauf sind die Projekte der Stiftung beschrieben. Doch Antworten auf die Fragen, von wem sie die Spendengelder bekam, und wie und wofür sie diese ausgab, sucht man dort vergebens.

    749 Millionen aus einer ungenannten Quelle, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden

    Die Korrespondentin der Novaya Gazeta versuchte also, die Jahresberichte direkt bei den Stiftungen zu bekommen. Am Telefon der FSKI meldete sich ein Mädchen namens Kristiana, die ihre Funktion und ihren vollen Namen nicht nennen wollte. Sie erklärte, die Stiftung veröffentliche ihre Berichte „auf diversen anderen Websites“, es fiel ihr aber schwer zu sagen, auf welchen konkret.
    Nach Rücksprache mit der Leitung rief sie zurück und sagte, die Berichte würden auf der Website des Justizministeriums nur ein Jahr lang gespeichert, dort seien sie einsehbar gewesen, der Bericht für 2016 erscheine allerdings erst am 15. April.

    Allerdings stimmt das nicht: Auf dem Portal des Justizministeriums findet man Berichte gemeinnütziger Organisationen ab dem Jahr 2014. Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden.

    Trotzdem schickte die Stiftung der Redaktion ein Paket: Eine Mappe mit Broschüren über die Gefahr von HIV, ein Buch zum Gedenken an Leute, die bei Bränden Tapferkeit bewiesen haben, Titel „Brennendes Herz“, und noch einen Stapel Druckwerk über Programme, die die Stiftung auf ihrer Website auflistet (danke dafür – Anmerkung der Redaktion Novaya Gazeta). Offenbar ist das eben der FSKI-Tätigkeitsbericht.

    Ein greifbares Projekt der FSKI sind immerhin die Diagnosezentren Weiße Rose, in denen Frauen kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen angeboten werden. Der zahlreichen Erwähnungen im Netz nach zu schließen gibt es diese Zentren wirklich, im Jahr 2014 berichtete die Weiße Rose den Erhalt von 90,7 Millionen Rubel [rund 1.480.000 Euro], für Gehälter habe sie 303.000 Rubel [rund 4.930 Euro] aufgewendet, für 18 Millionen [rund 293.000 Euro] Vermögenswerte gekauft.

    Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden

    Die Stiftung Gradislawa ist nicht besonders offen für Pressegespräche. Die Telefonnummer, die bei der Registrierung angegeben wurde, ist die von Generaldirektor Iwan Karabinski. Während des Gesprächs mit der Novaya-Korrespondentin wollte er keine Email-Adresse oder Faxnummer angeben, meinte: „Ich kann Sie ja nicht als Journalistin identifizieren“, und schlug vor, eine Anfrage im Büro vorbeizubringen.

    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    An der Kotelnitscheskaja-Nabereshnaja 25, Gebäude 1, steht ein Bürohaus, aber es gibt kein Schild von Gradislawa. Die Security an der Pforte teilt mit, dass Iwan Igorewitsch Karabinski persönlich nicht hier sitze, sondern hier sitze Roman Kalistratowitsch Kostezki. Auf einen Anruf des Security-Mitarbeiters hin kommt der heraus, ein großer Mann im Jackett, das Haar graumeliert. Er stellt sich als stellvertretender Direktor vor und nimmt die Anfrage entgegen.

    Wir versuchten unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka

    Den Anruf der Novaya-Korrespondentin bei Sozgosprojekt nahm eine Frau entgegen. Auf die Frage, wo man die Rechnungslegung der Stiftung einsehen könne und ob es eine offizielle Website gebe, antwortete sie: „Nein, wir haben keine Website“, und legte auf. Also versuchten wir, unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka.

    Die Stiftung ist registriert unter der Adresse Uliza Rossolimo 17, Gebäude 2 – das ist das Business-Center Rossolimo. In der Eingangshalle hängt eine Liste der Organisationen, die dort ihren Sitz haben, auch Sozgosprojekt ist angegeben, mit Telefonnummer – dieselbe, die in den Gründungsunterlagen steht: 8 495 287-45-61. Als die Novaya-Korrespondentin jedoch dort anrief, sich vorstellte und um Entgegennahme ihrer Anfrage bat, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung: „Falsch verbunden“ … und legte auf.

    Dann versuchten unter derselben Nummer die Leute vom Sicherheitsdienst des Business-Centers zum Sozgosprojekt durchzukommen – vergeblich, niemand hob ab.

    Indessen waren aber die Stiftungsmitarbeiter offenbar sehr wohl an ihrem Platz: Die Korrespondentin der Novaya setzte sich mit der Administration von Rossolimo in Verbindung und erfuhr, dass man dort gerade während des Gesprächs einen Vertreter des Sozgosprojekt „in der Leitung“ habe. Trotzdem wollte man nach diesem Telefonat die „richtige“ Nummer nicht herausgeben, teilte mit, eine diesbezügliche Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort.

    Die Stiftung teilte mit, eine Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort

    Die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten hat ihren Sitz in einem Gebäude an der Kadaschewskaja-Uferstraße 6/1/2 (das Gebäude ist von zwei Straßen und der Uferpromenade aus zugänglich, daher die Adresse mit zwei Schrägstrichen). Der Eingang zu den Büros liegt im Hof, man muss ein Tor passieren, das der Wachmann auf ein Klingeln hin öffnet. Ein Schild gibt es nicht am Eingang.

    Als die Korrespondentin sagt, sie suche die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten, diskutieren die Wachmänner zuerst einmal lang und breit, ob es eine solche Stiftung hier überhaupt gibt. Auch der Chauffeur, der am Fuß der Außentreppe sein Auto warmlaufen lässt, hat noch nie davon gehört. Schließlich gibt es die Stiftung aber doch, und die Security-Mitarbeiter schlagen vor, die Anfrage bei ihnen zu deponieren.

    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Unsere Anfragen haben wir am 20. und 21. März abgeschickt, wir warten auf Antwort. Bisher haben wir nur Briefe von FSKI, Gradislawa und Dar bekommen: Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben.

    Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben

    Zum Beispiel so: „Der Bericht zur Tätigkeit der Stiftung geht in gesetzlich vorgeschriebener Form an jene Behörden, die mit der Kontrolle der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen beauftragt sind. Wir wünschen der Redaktion der Zeitung neue kreative Erfolge, gute Nachrichten, zuverlässiges und objektives Material, ausgewogene Bewertung und, am wichtigsten – das Vertrauen der Leser!“ So heißt es in einem Brief von Dar. Deren Mitarbeiter ließen der Novaya Gazeta ihre Antwort per Email in einem Word-File ohne Briefkopf zukommen.

    Mit der Bitte, der Redaktion Einblick in die Jahresberichte der Stiftungen zu gewähren, wandten wir uns schließlich an das Justizministerium. Die Antwort: „Die Erfordernisse des Föderalen [Gesetzes] Über gemeinnützige Organisationen hinsichtlich der Vorlage der Rechnungslegung sind seitens der angegebenen gemeinnützigen Organisationen erfüllt. Bezüglich der Einsicht in die Rechnungslegung wenden Sie sich bitte direkt an die betreffenden Stiftungen.“

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    Debattenschau № 49: Nawalny und die Macht der Straße

    Es waren auffällig viele junge Leute: Teenager und Schüler. Manche hatten ihre Gesichter grün bemalt, manche hielten Schildchen mit Badeenten darauf in die Höhe. Und sie waren fast überall: nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in Jekaterinburg, in Nowosibirsk, in Wladiwostok und vielen weiteren Städten in den russischen Regionen. Beobachter sprechen von den größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/2012.

    „Ich vermute, auch Putin und Nawalny sind verblüfft vom Ausmaß der Anti-Korruptions-Proteste“, twitterte Spiegel-Korrespondent Christian Esch am Sonntag aus Moskau. 

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny war es, der zu den Protesten aufgerufen hatte. Zuvor hatte sein Fonds für Korruputionsbekämpfung (FBK) einen Bericht über Premier Medwedew veröffentlicht. Das Video auf Youtube hat nach dreieinhalb Wochen derzeit über 12,5 Millionen Klicks. 

    Bei den Protesten am Sonntag griff die Polizei durch, zumal die Demonstrationen meist nicht von den örtlichen Behörden genehmigt worden waren: Allein in Moskau gab es laut Menschenrechtlern rund 900 Festnahmen, die Polizei spricht von etwa 500. Jugendliche filmten noch aus Polizeiwagen heraus, die Videos wurden über das Internet verbreitet.

    Auch Nawalny selbst war während der Proteste am Sonntag in Moskau verhaftet worden, wurde am heutigen Montag dem Richter vorgeführt und zu einer Strafe von 20.000 Rubel [rund 320 Euro] verurteilt. Außerdem muss er für 15 Tage in Haft.

    Auftrieb für die Proteste dürfte außerdem auch der Videomitschnitt einer Diskussion über Nawalny und andere politische Themen zwischen Schülern und Lehrerinnen in der Oblast Brjansk gegeben haben. Das Video, von Nawalnys Wahlkampfteam vergangene Woche im Netz verbreitet, wurde zum Hit, die selbstbewussten Schüler zu „Helden des russischen Internets“. 

    Ein ereignisreiches Wochenende, und nicht nur in Russland: In Belarus, wo seit Wochen protestiert wird, griff die Staatsmacht am Samstag durch. Hunderte wurden verhaftet, die Polizei ging teilweise sehr brutal gegen die Demonstrierenden vor. 

    Während russische Staatsmedien kaum berichten und die landesweiten Proteste darin weitgehend marginalisiert werden, kommentieren vor allem unabhängige Medien: Nawalny, der Retter Russlands? Frühlingserwachen der russischen Zivilgesellschaft? Was wird bleiben von den Protesten?

    Moskowski Komsomolez: Putin ist in der Pflicht

    Das Massenblatt Moskowski Komsomolez sieht Wladimir Putin nun vor großen Herausforderungen:

    [bilingbox]Der Präsident trägt in unserem Land die komplette Verantwortung. Er ist unmittelbar verpflichtet, seine Untergebenen bei der Stange zu halten. Am Vorabend der Wahlen vom 26. März 2000 erklärte WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin – dek] den Bürgern in einer TV-Sondersendung: „Wir wählen einen Präsidenten, der dazu verpflichtet ist, dem Land wieder zu Ansehen zu verhelfen.“ Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews, die bislang ohne befriedigende Antwort geblieben sind, haben zwar kaum das Ansehen unseres Landes beeinflusst, haben aber das Ansehen der russischen Machthaber eindeutig ruiniert. Mal sehen, ob Wladimir Putin das wieder aufbessern kann.~~~Президент в нашей стране отвечает за все. Держать в тонусе своих подчиненных – это прямая обязанность Владимира Владимировича Путина. Накануне выборов 26 марта 2000 года ВВП заявил в специальном телевизионном обращении к гражданам: “ Мы выбираем президента, чья обязанность – вернуть стране ее престиж”. Оставшиеся пока без содержательного ответа обвинения Навального в адрес Медведева вряд ли повлияли на престиж страны, но вот престиж российской власти они точно уронили. Посмотрим, сумеет ли Владимир Путин вновь его поднять.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Kommersant: Der Kreml hat die Wahl  

    Auch Stanislaw Kutscher schaut in der Tageszeitung Kommersant auf die mögliche Reaktion des Kreml – und sieht es dabei als entscheidend an, wen mögliche Strafmaßnahmen treffen werden:

    [bilingbox]In der Bevölkerung herrscht ein klares Bedürfnis, gegen die Korruption anzukämpfen – das zu ignorieren ist unmöglich. Deswegen wäre meines Erachtens die klügste Reaktion seitens der Regierung, erneut eine demonstrative Antikorruptionskampagne loszutreten.

    Kurz gesagt, der Kreml hat die Wahl, und die lautet ganz einfach: Wer wandert ins Kittchen?
    ~~~Запрос общества на борьбу с коррупцией очевиден, игнорировать его невозможно, а потому самым умным ответом – на мой взгляд – была бы очередная демонстративная антикоррупционная кампания со стороны самой власти.

    Итак, если коротко, повторю, у Кремля есть выбор, и формулируется он просто: кого сажать?

    [/bilingbox]

     

    erschienen am 27.03.2017

    Republic: Ein Teufelskreis

    Für Oleg Kaschin dagegen scheint klar, dass auch die neue Generation der Protestierenden nichts ausrichten kann. Auf auf dem unabhängigen Portal Republic schreibt er:

    [bilingbox]Völlig verständlich ist der Enthusiasmus derer, die den vereinten Protest vor fünf Jahren genug beweint haben und jetzt plötzlich die neuen Gesichter auf der Twerskaja entdeckt haben. Ein Generationenwechsel dieser Art allerdings, bei der jede vorige Generation die nächste anschaut und hofft, ihr möge das gelingen, was den Älteren nicht gelang – das ist ein klassischer breit angelegter Entwicklungsweg, der beinahe garantiert, dass irgendwann zur Hälfte der nächsten Amtszeit Putins schon eine neue Jugend antreten wird. Und die, die heute auf der Twerskaja waren, werden ihnen zuschauen mit genau den Hoffnungen, mit denen die ehemalige Bolotnaja-Bewegung auf die heutigen Teenager schaut. Es mutet an wie ein Teufelskreis, was sich da gerade hinter neuen Gesichtern verbirgt, die aber sowieso nichts erreichen werden. […]

    Demokratien vermeiden ihr Zerbersten mithilfe von Machtwechseln. Der russische Autoritarismus (lässt er sich noch mit einem anderen vergleichen?) vermeidet das Zerbersten, indem er alle fünf Jahre die Teilnehmer auf Protestkundgebungen auswechselt.~~~Понятен энтузиазм тех, кто успел оплакать слитый протест пять лет назад и вдруг увидел новые лица на Тверской. Но смена поколений в таком формате, когда каждое предыдущее поколение смотрит на новое и надеется, что у него получится то, что не получилось у старших – это классический экстенсивный путь развития, почти гарантирующий, что где-нибудь к середине следующего путинского срока придет уже новая молодежь, а те, кто был сегодня на Тверской, будут смотреть уже на нее с той же надеждой, с которой бывшая Болотная смотрит на тинейджеров сегодня. Ощущение замкнутого круга прячется теперь за новыми лицами, но все равно никуда не девается.
    […] 
    Демократии избегают взрыва с помощью ротации власти. Российский авторитаризм (и с кем его здесь сравнить?) избегает взрыва с помощью ротации людей на протестных митингах раз в пятилетку.[/bilingbox]

     

    erschienen am 27.03.2017

    Colta: Korruption ist der Zündstoff

    Jegor Sennikow sieht auf colta.ru die Korruption als Zündstoff und gleichzeitig als Klammer, die viele im Land vereint:

    [bilingbox]Vergessen darf man allerdings auch nicht, dass das Thema Korruption als Zündstoff für die heutigen Proteste gedient hat, und dies gänzlich vom Zettel zu streichen wäre falsch. […]

    Zu irgendeinem Zeitpunkt wurde vielen klar, dass du zwar gleichzeitig die Spielregeln beachten und den vorgesehenen Abläufen folgen kannst, aber als Reaktion erntest du weder aufrichtiges Mitgefühl noch das geringste bisschen Gerechtigkeit, auch in der Rechtsprechung. Das alles ist so durchsichtig, dass es sowohl Schüler verstehen, die von ihren Lehrern bearbeitet werden, als auch Rentner, die das Fernsehen bearbeitet. […] 
    Ganz sicher ist jedoch, dass in Russland – und zwar nicht nur in Moskau und Petersburg – eine neue gesellschaftliche Bewegung herangereift ist.~~~Но нельзя забывать и то, что коррупционная тема послужила запалом сегодняшних протестов — и скидывать ее со счетов целиком совсем не стоит. […] В какой-то момент многим стало понятно, что ты можешь играть по правилам и следовать установленным процедурам, но в ответ ты не дождешься ни искреннего сочувствия, ни хотя бы условной справедливости и правосудия. Символ этот такой зримый, что понятен и школьникам, обрабатываемым своими учителями, и пенсионерам, обрабатываемым телевизором. […]
    [Но] о чем можно говорить сегодня совершенно точно, что в России — а не только в Москве или в Петербурге — вызрело какое-то новое общественное движение.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Komsomolskaja Prawda: Vorsicht Falle!

    Die regierungsnahe Komsomolskaja Prawda warnt vor der Teilnahme an den ungenehmigten Protestaktionen:

    [bilingbox]Ganz offensichtlich war es kein friedlicher Spaziergänger, der den Polizisten geschlagen hat. Wahrscheinlich war es ein Aktivist aus dem Lager, das zu der illegalen Demonstration aufgerufen hatte. Der Täter konnte untertauchen, nun wird er anhand von Bildern der Überwachungskameras gesucht.

    Das ist die Lektion für alle, die auf nicht genehmigte Demos gehen: Leute, vielleicht steht ihr einfach nur da und seid ganz friedlich. Aber man kann euch leicht in eine Falle locken und in Krawalle hineinziehen.~~~И бил полицейского явно не мирно гуляющий прохожий. Наверняка это был активист из лагеря тех, кто собирал незаконный митинг. Он успел скрыться, его ищут по изображениям с камер наблюдения…
    И это урок тем, кто выходит на несанкционированные шествия — ребята, вы, может, и будет просто стоять, никого не трогая. Но вас могут легко подставить, втянуть в беспорядки.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Echo Moskwy Blog: Nawalny fehlt ein Plan

    Kristina Potuptschik, bis 2012 Pressesprecherin der Jugendorganisation Naschi, galt für viele als die Personifizierung der sogenannten Kreml-Blogosphäre. Seit einigen Jahren hört man von ihr gemäßigte Töne. Auf ihrem Echo-Blog kann sie der oppositionellen Euphorie nur wenig abgewinnen:

    [bilingbox]Sehr viele Jugendliche waren da, Schüler von gestern und heute. Der wichtigste Ort war Piter und nicht Moskau. Das sind die Hauptunterschiede zu Bolotnaja. Außerdem gab es damals nach den Protesten dieses deutliche Empfinden: Es passiert etwas. Das fehlt diesmal. […] Nawalny steckt in einer misslichen Lage: Die Menschen haben sich getroffen, sind wieder auseinandergegangen, und dann? Nichts. Nawalny hat dem Protest nichts anzubieten, kein Programm und keinen Handlungsplan. Und das begreifen sogar die Schüler.~~~Очень много молодежи, вчерашних и нынешних школьников. Главным городом стал Питер, а не Москва. Эти же пункты — главные отличия от Болотки. А еще то, что тогда после протестов было четкое ощущение — что-то Происходит. Сейчас такого ощущения нет. […] И Навальный сейчас в ситуации крайне неудачной — ну погуляли, ну разошлись, а дальше что? А дальше — ничего. Предложить Навальный протесту ничего не может, программы и плана действий у него нет, и понимают это даже школьники.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Facebook Alexander Morosow: Geschichte geschrieben

    Der renommierte Politologe Alexander Morosow dagegen zollt auf seinem facebook-Account dem umstrittenen Oppositionspolitiker Nawalny allen Respekt: 

    [bilingbox]

    Wie auch immer das alles ausgeht – die heutige Aktion in 80 Städten wird in die politische Geschichte Russlands eingehen. So viel  ist bereits klar. […]

    Drei Jahre schon publiziert Nawalny Anti-Korruptions-Materialien. Mit dem Beginn seiner spielerischen Wahlkampagne und nun dem Video über Dimon hat Nawalny ordentlich politisch Kapital geschlagen. Er ist ohne jegliche Übertreibung ein großer Zeitgenosse. Gehörigen Respekt verschaffen ihm sein Verstand, seine Beharrlichkeit und seine geniale Medienkompetenz.~~~Чем бы это все не закончилось, но сегодняшняя акция в 80 городах войдет в политическую историю РФ . Это уже ясно. […]
    Трехлетнюю историю антикоррупционных публикаций Навальный мощно капитализировал одним роликом про димона и началом своей игровой президентской кампании. Он без всякого преувеличения великий современник. Вызывают огромное уважение его ум, упорство и медиа-гениальность.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Facebook Batscho Kortschilawa: Ukraine als Vorbild

    Batscho Kortschilawa ist ehemaliger Presseattaché der georgischen Botschaft in der Ukraine. Auf seinem facebook-Account kommentiert er die Proteste in Russland und Belarus, dabei schreibt er der Ukraine eine wichtige Rolle zu:

    [bilingbox]Werden die aktuellen Demonstrationen in Russland und Belarus irgendetwas verändern? In den nächsten Jahren nicht. Weil Derartiges dort regelmäßig passiert, aber ohne jedes Ergebnis.

    Wisst ihr, warum ich nicht daran glaube, dass sich in den beiden Ländern – besonders in Russland – aktuell irgendwas verändern wird? Ganz einfach: Weil dort bisher Positiv-Beispiele im großen Maßstab fehlen. Die baltischen Länder und Georgien können hier nicht als Vorbild dienen. Aber falls die Ukraine zu einem entwickelten, wirtschaftlich starken, stabilen und demokratischen europäischen Staat werden sollte, könnte sie nicht nur zum Vorbild, sondern auch zum Impuls für große Veränderungen werden. Und erst dann wird es zu einer Demontage der derzeitigen Regimes in Belarus und Russland kommen. Aber in der gegenwärtigen Lage braucht ihr nicht zu erwarten, dass sich dort irgendetwas verändert.

    Veränderungen in der gesamten Region werden von der Ukraine ausgehen und nicht anders. Und falls solche Veränderungen beginnen, dann wird die UKRAINE zum echten Anführer der Region. ~~~Изменят ли что то в России и Белорусии митинги которые проходят? В ближайшие годы нет. Потому что такое переодически там происходит, но не имеет никакого результата. 
    Знаете почему я не верю в то что сейчас в этих двух странах, а особенно в России может что-то изменится? Ответ прост – у них нет пока положительного примера в большом масштабе. Страны Балтии и Грузия для них примером служить не может. А вот пример Украины, если она сможет стать развитым, экономически сильным, стабильным и демократическим европейским государством, сможет послужить не только примером, но и импульсом к большим изменениям. И только тогда произойдёт демонтаж тех режимов, которые сейчас в Белорусии и России. 
    А пока так как есть, не ждите что там что-то изменится. Изменения во всем этом регионе начнутся с Украины, и никак по другому. А если такие изменения начнутся, то УКРАИНА станет реальным лидером региона.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    dekoder-Redaktion

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    Es waren gleich mehrere Nachrichten in den vergangenen Wochen, die (nicht nur) in Russlands Zivilgesellschaft für Aufruhr sorgten: Etwa die vorzeitige Haftentlassung des Aktivisten Ildar Dadin, eine Wohnungsdurchsuchung bei der unabhängigen Journalistin Soja Swetowa und schließlich der neueste Bericht des Oppositionspolitikers Nawalny. Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung publizierte belastendes Material über Russlands Premier Medwedew: Demnach verfügt der über ein Eigentum im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar – Vermögen, das offiziell gut versteckt dubiosen „Stiftungen“ gehört.

    Der Radiosender Echo Moskwy lud nun die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann ins Studio, zur Sendung Ossoboje Mnenije (dt. Besondere Meinung). Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Moskauer Hochschule RANCHiGS schreibt sie häufig Analysen für verschiedene unabhängige Medien. Schulmann hält auch Vorlesungen an der Online-Universität openuni – ein Projekt von Offenes Russland, das von Michail Chodorkowski gegründet wurde.

    Besondere Meinung wiederum ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Besondere Meinung ist interaktiv, die Zuhörer werden eingebunden und bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, per Videostream wird die Sendung über Internet live aus dem Studio übertragen.

    Ekaterina Schulmann übt in ihren vielbeachteten Artikeln zum politischen System Russlands oft Kritik an der derzeitigen Situation des Landes – kein Wunder, dass auch die Hörer von Ossoboje Mnenije sie zu den neuesten Ereignissen kritisch befragten.

    Die Politologin Ekaterina Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft / Foto © Ekaterina Schulmann/Facebook
    Die Politologin Ekaterina Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft / Foto © Ekaterina Schulmann/Facebook

    Irina Worobjowa: Alle Welt spricht über den Anti-Korruptions-Bericht des FBK und über mögliches Eigentum von Premierminister Dimitri Medwedew. Die Untersuchung umfasst viele verschiedene Einzelgeschichten. Was ist denn nun das eigentlich Relevante?

    Ekaterina Schulmann: Um ehrlich zu sein – in allen Einzelheiten habe ich mir diese Arbeit bislang weder in der Video- noch in der Textversion angeschaut. Das Wichtigste ist wohl die Tatsache, dass sie überhaupt veröffentlicht wurde. So wie ich das verstehe, wird dort folgender Mechanismus beschrieben: Oligarchen, Großindustrielle und irgendwelche wirtschaftlichen Interessengruppen überweisen Geld auf die Konten von Stiftungen, die aussehen wie Wohltätigkeitsverbände oder anderweitig dem Gemeinwohl dienende Organisationen. Tatsächlich aber hat am Ende nur einer Zugriff auf das Geld und die Güter: der Premierminister.

    Allein die Tatsache der Veröffentlichung halte ich für wichtig – warum? Wie die Sprecherin des Premierministers Natalja Timakowa so schön gesagt hat: Wir befinden uns im Wahlkampf, und das ist eine Wahlkampfaktion.

    Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt. Schauen wir uns mal die früheren Wahlkampfperioden an: Da sehen wir, dass es vor und nach den Wahlen, ob nun zu den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen, immer zu solchen Turbulenzen kam.

    Das heißt also grundlegend ändert sich nichts, aber auf dieser mittleren Ebene gibt es doch gewisse Veränderungen?

    Wie soll ich sagen … also, grundlegend wird sich nichts ändern, solange das Regime so bleibt, wie es ist. Aber es befindet sich ständig in Transformation. Und für die Leute, die diesem Regime angehören, sind diese Transformationen durchaus spürbar. Auch wenn es von außen nicht wie eine Revolution aussieht – für Insider können das revolutionäre Umbrüche sein. Der eine hat seinen Posten behalten, ein anderer ist rausgeflogen, und einem dritten haben sie ein Strafverfahren angehängt.

    Solche Informationsbomben werden von zwei Teilen der Öffentlichkeit ganz unterschiedlich aufgenommen: Da ist einmal das äußere Publikum, also wir Bürger, die Gesellschaft, das Sozium. Die breite Masse mag das einerseits nach dem Motto beurteilen: „Na und, wir haben doch schon immer gewusst, dass alle korrupt sind.“ Doch es ist ja eine Sache, das ganz allgemein zu wissen, und eine andere Sache, etwas ganz konkret zu sehen, etwas, das selbst bei ganz oberflächlicher Betrachtung jegliche Vorstellung übersteigt.

    Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt

    Dann gibt es natürlich auch noch das ganz äußere Publikum, also das Ausland. Für diese Menschen ist das alles noch viel verwunderlicher als für uns.

    Schließlich kommen wir zum inneren Publikum, zu den Insidern, also den Leuten, die zum Machtzirkel gehören. Deren Bewusstsein ist auf eine ganz spezifische Art verzerrt. Sie glauben weder an unabhängige Untersuchungen noch an Korruptionsbekämpfung. Den Medien glauben sie auch nicht. Sie glauben überhaupt niemandem so recht.

    In ihrer Welt sind sozusagen alle Vorkommnisse Signale einer Gruppe an eine andere, völlig unabhängig von den realen Gegebenheiten. In ihrer herrlich paranoiden Welt hat das etwas zu bedeuten. Sie fragen sich: Warum jetzt? Warum Medwedew? Wer gibt hier wem Signale? Daraus werden sie ihre grundlegenden und wertvollen Schlüsse ziehen.

    Natürlich können uns diese Details auch ziemlich egal sein. Nur Folgendes ist wichtig: Das alles ist Wahlkampf, wie er bei uns geführt wird. Das ist kein Wahlkampf eines gesunden Menschen, bei dem man um den Wähler kämpft. Das ist der Wahlkampf eines kranken Rauchers, bei dem gerade in der Zeit vor den Wahlen das Gleichgewicht innerhalb des Regierungssystems justiert wird.

    Ist es denn vorstellbar, dass sie jetzt kurzerhand Medwedew opfern? Um den Menschen zu zeigen: Eigentlich geht es hier bei uns doch ehrlich zu und wenn einer so schamlos mithilfe von Stiftungen …, also entschuldigen Sie bitte, Dimitri Anatoljewitsch, auf Wiedersehen. Oder ist das ausgeschlossen?

    Das, was Sie als „opfern“ bezeichnen, also die extremste Maßnahme, ihn vor den Präsidentschaftswahlen zu entlassen, ist äußerst unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Arten, den einen oder anderen politischen Akteur, sagen wir, unter Druck zu setzen, ohne ihn zu entlassen. Für Sie gibt es wohl nur sowas wie, zack, gleich Erschießung oder Freispruch, was?

    Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden

    Aber jeder dieser Staatsbediensteten aus der obersten Etage vertritt ja eine ganze Gruppe, und das gilt ganz besonders für den Premierminister. Das heißt: Diese Gruppe kann Verluste erleiden oder Erfolge erzielen. Wenn sie Verluste erleidet, kann das auch völlig unter der Hand geschehen, wir werden das nicht sonderlich bemerken. Obwohl – wir kriegen es wohl doch mit, denn momentan ist die mediale Transparenz, Gott sei Dank, gegeben.

    Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden. Denn zu diesem Krieg gehören entsprechende Positionsverluste und auch entsprechende Siege.

    Unsere Hörer wollen wissen, ob es nicht müßig ist, sich darüber Gedanken zu machen, wer denn Medwedew attackiert hat, wenn das ohnehin nur den inneren Kreis der Elite betrifft. Es gibt ja ganz unterschiedliche Möglichkeiten, wer dahinter stehen könnte … Ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen? Oder geht uns das nichts an?

    Das ist wie beim Mord im Orient-Express. Der Kreis der Verdächtigen ist einigermaßen begrenzt, aber doch relativ groß. Es könnte jeder gewesen sein. Und stellen Sie sich vor, vielleicht war es keine Einzelperson, sondern vielleicht waren es irgendwelche ständigen oder temporären Koalitionen. Das ist ein weites Feld zum Rätseln. Wobei Herumrätseln da meines Erachtens nicht sinnvoll ist. Lassen Sie uns lieber über Folgendes nachdenken: Die Zeit des Wahlkampfs hat also begonnen, eine nervöse Zeit, alle sind zerstritten. Was kann der einfache Bürger daraus machen? Wie kann er das für sich nutzen?

    In diesem Zeitraum ist das System durchaus verletzlich, unter anderem dadurch, dass etwas öffentlich werden könnte, ja schon allein durch eine solche Bedrohung. Allе eingebildeten oder nicht ganz eingebildeten, in manchen Fällen sogar wesentlichen Liberalisierungen finden gerade dann statt. Wenn jemand also irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür.

    Wenn jemand irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür

    Da wird bei uns durchaus das Strafrecht abgemildert, oder die Führung ersetzt einen ganz hoffnungslosen Gouverneur durch einen jüngeren und etwas ruhigeren, oder es passiert sonst irgendetwas Positives für die Gesellschaft … Auch Inhaftierte werden zum Beispiel entlassen.

    Denn die Maschine so richtig zum Laufen zu bringen, wie es sich gehört, also zum Beispiel Verbrecher einzubuchten, das ist schwer. Aber die Praxis hat gezeigt, einen Unschuldigen zu befreien, das geht. Zumindest ist es leichter. Es gibt auch noch weitere Mechanismen, um, sagen wir mal, die Kiefer zu lockern und Happen rauszuholen.

    Aber wenn es darum geht, den Staat zu zwingen, seine direkten Funktionen auszuüben, also etwa gegen die Kriminalität zu kämpfen oder für Wirtschaftswachstum zu sorgen, dann wird es schon schwieriger. Aber man tut, was man kann.

    Die Hörer fragen nach der Hausdurchsuchung bei Soja Swetowa. Das ist doch eine dumme, völlig unnötige Aktion. Es ist gar nicht mal klar, was da eigentlich los war.

    Sie finden die Aktion dumm, aber die Ausführenden finden sie gar nicht dumm. Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, neue Dienstgrade, Beförderungen, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch. Wenn das schon 13 (sogar mehr) Jahre funktioniert, warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren? Das zum einen.

    Zum anderen ist da rund um den Föderalen Strafvollzugsdienst einiges im Gange. Schon seit einigen Monaten geschehen da viele seltsame, ja erstaunliche Dinge. Der FSIN steht in diesem Jahr im Zentrum der Öffentlichkeit, falls es jemand noch nicht gemerkt haben sollte.

    Der frühere stellvertretender Leiter wird verhaftet. Gleichzeitig erscheinen zwei große Berichte darüber, wie der Sektor wirtschaftlich funktioniert. Ist ja klar, wie: Kostenlose Sklavenarbeit, große Staatsaufträge und entsprechend viel Geld.

    Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch

    Auch wissen wir, dass der FSIN noch einen weiteren großen Happen aus dem Staatsbudget haben will: Für eine großangelegte Renovierung der Gebäude und Gelände und den Bau neuer Straflager.

    Gleichzeitig haben wir noch den Dadin-Skandal, der sich zugespitzt hat: Erst die Folter im Straflager, dann die unerwartete (oder auch nicht sonderlich unerwartete) aber durchaus erfreuliche Entlassung.

    Gleichzeitig weist der Präsident die Staatsanwaltschaft an, den FSIN zu überprüfen. Woraufhin die Staatsanwaltschaft die vorherige Aufhebung einer Untersuchung der Foltervorwürfe in den Straflagern von Karelien wieder aufhebt. 

    Der FSIN beansprucht für sich also viel Geld aus dem Haushalt, und gleichzeitig gibt es andere Gruppen, die mit dem Amt offensichtlich anderes vorhaben. Vielleicht dessen Führung auswechseln, oder es zum Teil auflösen, irgendwie umgestalten, vielleicht einer anderen Behörde unterstellen. Irgendwie gibt es da Gerüchte.

    Ja, und dann zwei Hausdurchsuchungen an einem Tag: bei Soja Swetowa und bei Jelena Abdullajewa. Wobei Soja Swetowa nach der Durchsuchung erklärte, es sei nicht um Chodorkowski, sondern um ihre Bürgerrechtsaktivitäten gegangen. Worin besteht diese Tätigkeit? Sie besteht einzig und allein darin, dass sie Untersuchungsgefängnisse, Haftanstalten und Straflager besucht. Ihre Bürgerrechtsaktivitäten haben mit dem zu tun, was der FSIN tut.

    Das sind also alles Turbulenzen im Umfeld des Gefängnissystems, der Wirtschaft der Gefängnisse, der darin involvierten Gelder und Leute.

    Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht. Niemand hat sich dafür interessiert, was mit den Knastis lief. Und nun plötzlich interessieren sich alle dafür. Eine gewisse hemmende Wirkung hat dieser ganze Medienrummel also durchaus.

    Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht

    Ich wiederhole, man kann den Eindruck haben, dass nichts passiert sei – da ist einfach jemand früher aus der Haft entlassen worden, einige Monate bevor die Strafe ohnehin um gewesen wäre. Für alle aber, die sich innerhalb des Systems befinden, die daran gewöhnt sind, dass alles straffrei abläuft und im Dunkeln bleibt, ist dieser Lichtstrahl schon ein ziemlicher Stressfaktor. Auch dass der Direktor des Straflagers sich verstecken, in Urlaub gehen musste, das war für sie … Und wieder: In unseren Augen ist das keine besonders repressive Maßnahme, oder? Wir würden uns wünschen, dass dort alle entlassen und verurteilt werden. Aber für diese Leute ist das, als wäre ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen, weil es so etwas früher nicht gab.

    Man hatte ohnehin schon den internen Konsens gefunden, dass politische Gefangene nicht angerührt werden dürfen (also körperlich), weil man den Rummel fürchtete. Bei Dadin hat dieser Mechanismus aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, und das hat dann einen umso größeren, umso wuchtigeren Skandal hervorgerufen, der sich angesichts der offensichtlichen Schwächung des FSIN auf alle möglichen Arten finanziell und strukturell auswirken kann.

    Offen gestanden, lösen Ihre Worte bei unseren Zuhörern eine Gegenreaktion aus, sie sind ein bisschen erstaunt, beziehungsweise verärgert: „Soll etwa der öffentliche Druck im Fall Dadin nichts bewirkt haben, und geht es bei der ganzen Sache nur darum, was im Dunstkreis des FSIN passiert, und so weiter und so fort?“ Oder wurden Sie einfach falsch verstanden?

    Was sind wir Russen doch für Maximalisten. Das ist wirklich erstaunlich.

    Es gibt doch zwei Ansätze: Entweder es heißt, man habe jemanden ausschließlich dank zivilgesellschaftlichem Engagement befreit, ja, buchstäblich dem Verlies entrissen. Oder es heißt: „Was seid ihr doch naiv! Eure ganze Bürgerrechtskampagne ist bedeutungslos. Das Ganze ist nur ein interner Kampf.“ Dann gibt es noch: „Das ist nur ein kümmerlicher Bissen, man hat euch damit abgefrühstückt, und ihr freut euch brav darüber.“

    Man muss die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität betrachten. Wenn die Zivilgesellschaft, also irgendeine organisierte Gruppe, beginnt, für ihre Interessen zu kämpfen, etwa für die Freilassung eines unschuldig Verurteilten, benutzt sie diverse Instrumente. Es gibt da ganz naheliegende Instrumente, oder? Öffentlichkeit, Medienpräsenz, Petitionen oder Beschwerden an die Obrigkeit. Auch die internationale Öffentlichkeit funktioniert – entgegen der verbreiteten Meinung, dass man damit alle nur verärgere – hervorragend.

    Startet man eine solche Kampagne, finden sich innerhalb des Machtsystems sofort Verbündete, denn keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein „die da“ – „Die tun da das und das“ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne.

    Keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein ‘die da‘ – ‘Die tun da das und das‘ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne

    Bei jeder Kampagne wird es unter Ihren Mitstreitern höchst unsympathische Akteure aus Regierungskreisen geben, die ihre eigenen Ziele verfolgen.

    Sollten Sie deswegen beleidigt sein, erschrecken oder sich von Ihren Aktivitäten abhalten lassen? Natürlich nicht. Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum zivilgesellschaftlichen Erfolg ist diese idiotische Angst davor, für die Ziele anderer benutzt zu werden.

    Wenn Sie Ihr Ziel immer im Auge behalten, immer an Ihre Interessen denken, wird Sie niemand benutzen, Sie hingegen benutzen, wen Sie wollen. Das ist übrigens auch genau das, was der Antikorruptionsfonds und Alexej Nawalny tun. So heißt es oft. Irgendjemand muss ihnen die ganzen Informationen ja zuspielen. Die haben dann das Gefühl, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Und die zivilgesellschaftlichen Aktivisten dürfen ihre Ziele nicht aus dem Blick verlieren.

    Sprechen wir über eine andere Angelegenheit, die sich schon lange hinzieht und in der es regelmäßig zu Verhaftungen kommt: der Bolotnaja-Fall. Einer der Beschuldigten, Dimitri Butschenkow, wurde plötzlich in Hausarrest überführt, was selbst für seine Verteidiger überraschend kam. Dieser Bolotnaja-Fall, so scheint es, wird noch ewig weitergehen. Oder werden sie irgendwann einfach aufhören?

    Nun, wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen. Solange man sich mit der Verfolgung unschuldiger Leute, die sich nicht widersetzen, einfach und bequem eine Beförderung, eine positive Statistik und gute Aufklärungsquoten verdienen kann, wird man das tun.

    Wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen

    Im Fall Butschenkow möchte ich die wirklich wichtige Rolle seiner Verteidigung hervorheben, Pawel Tschikow von der Gruppe 29. Das sind absolut heroische Leute, die politisch verfolgte Menschen verteidigen, und zwar mit Erfolg. Überhaupt ist Rechtshilfe, rechtliche Unterstützung bei jeder Bürgerrechtskampagne ein wichtiges Element, generell bei allen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Womit auch immer Sie sich beschäftigen, am Gericht führt kein Weg vorbei, und deshalb ist es sinnvoll, sich rechtzeitig damit zu befassen.

    Im vorliegenden Fall ist alles ziemlich offensichtlich, da man ja, den verfügbaren Videoaufzeichnungen und Fotos nach zu schließen, eindeutig nicht den Richtigen gefasst hat. Er sieht einfach nicht aus wie der Mann, der auf dem Bolotnaja-Platz war.

    Wir müssen uns nunmal mit dieser Art von Siegen begnügen (Überführung in Hausarrest, hurra!), obwohl ja klar ist, dass man das Verfahren einstellen sollte, weil der Mann nichts mit der Geschichte zu tun hat.

    Es kam die Frage auf, ob es einen Wandel gegeben habe: Früher führte man Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Politikern, Gouverneuren, Beamten und Silowiki durch, und nun kommt es auch bei Menschenrechtlern und Journalisten vor. Soja Swetowa ist ja auch Journalistin. Handelt es sich wirklich um einen Wandel, dem man Beachtung schenken sollte? Oder hat die Tatsache, dass Soja Swetowa Journalistin ist, keinerlei Bedeutung?

    Ehrlich gesagt sehe ich hier keinen qualitativen Wandel. Die Hausdurchsuchung ist in unserer Rechtspraxis ein altbewährtes Einschüchterungsinstrument. Ihr Zweck ist, zu demoralisieren.

    Wobei unklar ist, inwiefern das bei den Ermittlungen hilft. Aber man muss irgendwie Angst einjagen, Eindruck machen.

    Diese Leute leben in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken

    Ich glaube nicht, dass die sich wahnsinnig viele Gedanken über die öffentliche Reaktion machen. Sie wollen gewöhnlich einfach den unmittelbaren Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit terrorisieren. Dass sich das dann in der ganzen Welt verbreitet, ist für sie aus irgendeinem Grund jedes Mal wieder eine echte Überraschung. Warum das? Weil es, wie im Fall Dadin, Folgen hat – dann muss man jemanden halbzerkaut wieder ausspucken, und aus irgendeinem Grund sind sie darüber jedes Mal wieder erstaunt.

    Diese Leute leben informationsmäßig in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht tatsächlich nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken, und auch nicht, wen sie da genau aufsuchen.

    Vielen Dank. Ekaterina Schulmann heute in der Sendung Ossoboje Mnenije.


    https://www.youtube.com/watch?v=KnQz4elxn48

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    Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Um den Fall Uljukajew ist es leiser geworden. Der ehemalige Wirtschaftsminister steht unter Hausarrest, seit er vor drei Monaten öffentlichkeitswirksam festgenommen und innerhalb weniger Stunden seines Amtes enthoben wurde – weil er zwei Millionen Dollar erpresst haben soll. Seitdem wartet er auf ein Gerichtsverfahren.

    Was offiziell als Korruptionsfall behandelt wird, könnte – so wird spekuliert – ein verdeckter Kampf um Posten oder gar eine offene persönliche Rechnung sein. Fest steht: Uljukajew ist nur einer von vielen Staatsbeamten und Politikern, seien es Gouverneure, Bürgermeister oder Berater, die in den vergangenen Jahren von Strafverfolgungsbehörden ins Visier genommen wurden – allerdings ist er der erste Minister, der wegen Korruptionsvorwürfen seinen Posten räumen musste.

    Die beiden Journalisten Dimitri Filonow und Anastasia Jakorewa nahmen diesen bisher prominentesten Fall zum Anlass, um für das liberale Webmagazin Republic nach bewährten Mustern zu suchen, wenn es um das Ausschalten von Amts- und Würdenträgern geht.

    Witali Teslenko, Gesundheitsminister des Gebietes Tscheljabinsk, saß einfach so mit Freunden in der Banja: bei Wodka, Gurken und Tomaten, Schinkenknackern und dick geschnittenem Schwarzbrot – wobei sie sich durchaus ein erlesenes Bankett hätten leisten können. Die Mitarbeiter des FSB, die die Banja stürmten, fanden dort 12 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 200.000 Euro – dek]: „Provisionen“, die Teslenko erhalten hatte. In der Folge legte man dem Minister den Erhalt von insgesamt 69 Millionen Rubel [umgerechnet 1 Million Euro – dek] Schmiergeldern über einen Zeitraum von wenigen Jahren zur Last und verurteilte ihn zu sieben Jahren Strafkolonie.

    Das ist nur eine kleine Episode im Kampf gegen die Korruption in Russland. Der Höhepunkt war die Festnahme des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew, der angeblich mit zwei Millionen US-Dollar aus dem Büro von Rosneft herausspaziert ist. Das war das erste Mal in der Geschichte Russlands, dass ein amtierender Minister verhaftet wurde.

    Wartet seit November 2016 auf sein Gerichtsverfahren – Alexej Uljukajew / Foto © kremlin.ru
    Wartet seit November 2016 auf sein Gerichtsverfahren – Alexej Uljukajew / Foto © kremlin.ru

    Im April 2016 hat Generalstaatsanwalt Tschaika erklärt, im Jahr zuvor seien gegen 958 Tschinowniki Ermittlungen wegen Korruption aufgenommen worden. Wenn jemand in den Knast gebracht wird, könnte das als glatter Sieg von Polizei und Justiz betrachtet werden, doch ist Korruption in Russland auch schlicht die bequemste Art, einen missliebigen Tschinownik „aus dem Rennen zu nehmen“. In der Wirtschaft ist es immer schlimmer, der Kampf ums Geld wird immer erbitterter.

    Niemand zählt mit

    Nowosibirsk, Wladiwostok, Syktywkar, Birobidshan, Perm, Smolensk. Gouverneure, Bürgermeister, Minister, ihre Stellvertreter – den von Republic zusammengetragenen Daten zufolge werden in Russland im Schnitt monatlich drei hohe Tschinowniki auf Grund von Anti-Korruptions-Paragraphen festgenommen.
    Eine offizielle Statistik fehlt, und so hat nun Republic selbst Informationen über Verfahren gegen höhere Tschinowniki gesammelt. Insgesamt wurde seit 2010 in den Medien von rund 120 Festnahmen berichtet: von Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern und deren Stellvertretern (Verfahren gegen Tschinowniki niederen Ranges gelangten nicht in die Stichprobe).

    In diesen sechs Jahren fiel der Spitzenwert mit 30 Festnahmen auf das Jahr 2013, das Jahr nach den Präsidentschaftswahlen. 2014 ging die Zahl der verhafteten Tschinowniki drastisch zurück. 2015 (in dem 34 hohe Tschinowniki festgenommen wurden) und 2016 (rund 30 Fälle) wurden allerdings die früheren Werte wieder erreicht. Um Bestechung geht es nur in einem Drittel der Verfahren: Oft werden die Tschinowniki des Betrugs oder der Überschreitung von Amtsbefugnissen beschuldigt, seltener der Unterschlagung, Veruntreuung oder der Bildung einer kriminellen Vereinigung.

    „Für kriminelles Handeln wird niemand einfach so eingebuchtet, da muss es schon einen politischen Willen geben“, sagt ein auf derartige Fälle spezialisierter Anwalt.

    Wie werden die Fälle bearbeitet?

    Am 17. März 2014 hat Wladimir Putin zwei Dekrete unterzeichnet: Durch den einen wurde die Krim an Russland angeschlossen, mit dem anderen enthob er Wassili Jurtschenko, den Gouverneur der Oblast Nowosibirsk, seines Amtes. Er war der erste Gouverneur, den Putin mit der Formulierung „aufgrund von Vertrauensverlust“ entließ.

    Nach Jurtschenkos Darstellung steht hinter seiner Abberufung eine Aktion ihm nicht wohlgesonnener Leute. Ihnen soll er in die Quere gekommen sein. Jurtschenko stammte aus dem Team des vorherigen Gouverneurs. Nachdem er seinen Posten angetreten hatte, soll Jurtschenko bald seine eigenen Leute auf Schlüsselposten gehievt haben. Aber als einer der wichtigsten Gründe für die Unzufriedenheit im Umkreis von Jurtschenko gilt sein Bestreben, einen örtlichen Tscherkison aufzulösen: den großen Kleidermarkt Gusinoborodski, zu dem Waren aus China gelangten und dann in ganz Sibirien vertrieben wurden. Es heißt, schon die Versuche, diesen Markt Anfang der 2000er Jahre zu reformieren, seien der Grund für die Ermordung der beiden Nowosibirsker Vizebürgermeister Igor Beljakow und Waleri Marjassow gewesen. 
    Gegen Jurtschenko wurde (wegen des Verkaufs eines Grundstücks in Nowosibirsk zu Niedrigpreisen) bereits im Sommer 2013 ein Strafverfahren eingeleitet – das derzeit bei Gericht verhandelt wird. Im Juli 2016 wurde gegen Jurtschenkos Frau Natalja ein Verfahren eingeleitet. 

    Wessen Interessen hat Jurtschenko beeinträchtigt? Der Gesprächspartner von Republic schweigt, dann holt er das Telefon heraus und gibt den Namen eines ehemaligen Tschinowniks aus der Präsidialadministration ein.

    Seit 2009 aufgelöst – der Tscherkisowoer Markt im östlichen Moskau / Foto © Egor Sofronov/flickr
    Seit 2009 aufgelöst – der Tscherkisowoer Markt im östlichen Moskau / Foto © Egor Sofronov/flickr

    Die Entscheidung zur Abberufung eines Gouverneurs oder eines föderalen Ministers kann nur einer treffen: der Präsident. Wie mehrere Gesprächspartner erklären, mit denen Republic sprechen konnte, besteht die Kunst allein darin, ihn zu einem solchen Schritt zu bewegen. Hierzu braucht es Strafverfahren und unwiderlegbare Beweise. „Dossiers mit kompromittierenden Unterlagen gibt es über jeden. Wann diese eingesetzt werden, ist nur eine Frage der Zeit“, erklärt einer der Gesprächspartner von Republic.

    Wer ins Visier kommt, der wird abgehört

    Der Moment kann dann eintreten, wenn in einem Gebiet, das in die Zuständigkeit eines Bürgermeisters oder Gouverneurs fällt, zu starke Proteststimmungen herrschen oder Wahlen verloren gehen. So hatte zum Beispiel der Föderale Antimonopol-Dienst (FAS) 2015 den Bürgermeister von Wladiwostok Igor Puschkarjow verdächtigt, dessen Verwandte würden an Verträgen mit der Stadt verdienen. Festgenommen wurde Puschkarjow jedoch erst 2016, vor dem Hintergrund des Skandals, als er die Wahlkommissionen umsiedelte: „Nach personellen Veränderungen in den territorialen Wahlkommissionen von Wladiwostok, die nun nicht mehr der Kontrolle des Bürgermeisters unterstanden, hatte der Bürgermeister zur Strafe ,ein wenig nachgeholfen‘, so dass die Pachtverträge für die Räumlichkeiten der Kommissionen gekündigt wurden“, sagt Ella Pamfilowa, die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission in einem Interview.

    Interesse an einer Abberufung könnte ein Unternehmer oder ein anderer Tschinownik haben, und manchmal treffen sich die Interessen gleich mehrerer Parteien. Lautet das Kommando schließlich, einen Tschinownik zu entfernen, wird er abgehört. Das kann lange dauern. So meinen etwa die Anwälte des ehemaligen Gouverneurs von Sachalin, Alexander Choroschawin, er sei mindestens ein Jahr lang abgehört worden. Der Anwalt des Wladiwostoker Bürgermeisters Igor Puschkarjow gab an, sein Mandant sei über mehrere Jahre abgehört worden. Wie RBK berichtete, war auch Alexej Uljukajew mindestens ein Jahr lang auf dem Radar. Laut Vedomosti betraf das nicht nur den Minister, sondern auch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Arkadi Dworkowitsch und den Assistenten des Präsidenten, Andrej Beloussow.

    Abhören ist eine unbedingte Maßnahme bei praktisch jedem dieser Vorgänge. Eine Abhörgenehmigung ist per Gericht zu erwirken, doch das ist reine Routine; eine Verweigerung erfolgt äußerst selten. Dem Richter die unbedingte Notwendigkeit von Gesprächsaufzeichnungen eines Tschinowniks plausibel zu machen, ist einfach: Gleich mehrere Anwälte, in deren Verfahren Abhörunterlagen verwendet werden, berichteten davon, dass in den Anträgen folgender Standardsatz auftaucht: „Es besteht der Verdacht, dass Dienstvollmachten überschritten wurden.“ Die Gerichte haben 2015 insgesamt 845.600 Abhörgenehmigungen erteilt. Selbstredend werden nicht nur die Worte des Verdächtigen aufgezeichnet, sondern auch die seiner Gesprächspartner. Das erweitert den Kreis der Leute, deren Gespräche in FSB-Hände gelangen. Und aus ihren Worten können sich neue Strafverfahren ergeben.

    Ein ehemaliger Ermittler sagt im Gespräch mit Republic, manchmal sei es möglich, auch ohne Genehmigung des Gerichts abzuhören, was jedoch niemand zugeben würde. Sobald ein Verdächtiger etwas Wertvolles sagt, laufen die Fahnder los, um die Genehmigung einzuholen. „Manchmal streuen sie ein Gerücht und schauen, wie die Abgehörten reagieren. So kann man jemanden bei der Rückgabe von Bestechungsgeldern ertappen, sollte er zu nervös geworden sein“, erklärt ein ehemaliger Ermittler. Beispielsweise wurde 2013 im Restaurant Genazwale auf dem Alten Arbat in Moskau Wjatscheslaw Denissow festgenommen, ein Oberst des Innenministeriums, der wohl einem Geschäftsmann 835.000 Rubel zurückgab.

    Gleichzeitig wird durch das Abhören ein Kreis von Personen umrissen, von denen man Aussagen über die betreffende Person erhalten kann. So kam es aufgrund von Aussagen des Bürgermeisters von Iwanowo, der der Bestechlichkeit verdächtigt wurde, zu einem Verfahren gegen Dimitri Kulikow, den Vizegouverneur des Gebiets Iwanowo.

    Gegen den ehemaligen Gouverneur von Sachalin Alexander Choroschawin hatte der an Krebs erkrankte und in Untersuchungshaft sitzende Geschäftsmann Nikolaj Kern ausgesagt. Anschließend wurde Kern entlassen und blieb unter Hausarrest; er starb einige Monate später. „Es ist klar, dass er ausgesagt hat, um in Freiheit zu sterben“, sagt Iwan Mironow, der Anwalt der Familie Choroschawin.

    Ein ehemaliger Ermittler erklärt, absolut jedes Strafverfahren bringe das Recht mit sich, Hausdurchsuchungen und andere Ermittlungsmaßnahmen vorzunehmen – und so können auch für andere Strafverfahren Beweise gesammelt werden.

    Beim Schach gibt es klare Regeln, hier nicht

    Müssen die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden das Vorgehen gegen einen Tschinownik von oben absegnen lassen? Formal ist der FSB nicht verpflichtet, die Präsidialadministration über die Aufnahme operativer Fahndungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Allerdings sagen die Tschinowniki, mit denen Republic gesprochen hat, dass man im Kreml selbstverständlich von allen Fällen wisse. Man ging davon aus, dass die großen Korruptionsfälle früher von Sergej Iwanow als Chef der Präsidialadministration betreut wurden. Allerdings wurde Iwanow im August 2016 abgesetzt. Über Untersuchungen gegen Gouverneure wusste man auch in der Verwaltung Innenpolitik der Präsidialadministration Bescheid, wo Wjatscheslaw Wolodin das Sagen hatte.

    Ein standardisiertes Schema, wie man eine Genehmigung für die Untersuchung eines Gouverneurs oder Angehörigen des Sicherheitsapparats erhält, gibt es nicht. Das läuft immer individuell. Es gewinnt derjenige, der einen direkten Zugang zum Präsidenten hat und sein Dossier mit kompromittierenden Materialien auf dessen Schreibtisch weiter oben platzieren kann. Zugang zu Putin haben übrigens nicht nur Tschinowniki der Präsidialadministration, sondern unter anderem auch die Chefs der Staatskorporation Rostech (Sergej Tschemesow) und von Rosneft (Igor Setschin). „Das ist wie beim Schach“, erklärt einer der Gesprächspartner. Beim Schach gebe es allerdings klare Regeln, hier nicht, korrigiert ihn ein anderer.

     

     

     


    * Stand 11/2016. Quelle: Republic

    Dass bei Uljukajews Festnahme der FSB die Hauptrolle spielte, sei Standard, erklären eine Reihe ehemaliger Ermittler gegenüber Republic. Die Erstbearbeitung übernehmen immer die operativen Fahnder von FSB und Innenministerium. Später dann, wenn das Material für ein Strafverfahren gesammelt wird, kommen die Ermittler hinzu. Ein Gesprächspartner erklärt Republic, die Ermittler seien laut Gesetz unabhängig und befugt, den Mitarbeitern des FSB Anweisungen zu geben. Es gebe allerdings Ausnahmen, beispielsweise die Sechser, die 6. Gruppe der internen Sicherheitsabteilung des FSB. Sie wird auch „Spezialeinheit Setschin“ genannt, weil die Gruppe auf Initiative Igor Setschins gegründet wurde, als dieser noch Vize-Chef der Präsidialadministration war.

    Die interne Sicherheitsabteilung kontrolliert die Mitarbeiter des FSB, und die Sechser kontrollieren die Kontrolleure.

    „Sie kommen einfach und sagen dir, was zu tun ist. Das ist der Inbegriff von Macht. Sie sind fast niemandem untergeordnet. Ihr Ding ist die Exklusivität, und Vollstreckung ihr besonderer Fetisch“, sagt einer der Gesprächspartner zu Republic. Wenn die 6. Gruppe dabei ist, geht es seinen Worten zufolge entweder um eine sehr wichtige Person oder um einen sehr großen Auftrag.

    Die Sechser stehen hinter fast allen aufsehenerregenden Korruptionsfällen der letzten Zeit: Ihre Mitarbeiter haben sich sowohl Choroschawin und Gaiser vorgenommen, wie auch den Gouverneur des Gebietes Kirow Nikita Belych.

    Bei der Festnahme von Uljukajew hatte Oleg Feoktistow, der für Sicherheit zuständige Vizepräsident von Rosneft, den Mitarbeitern der Sondereinheit geholfen. Feoktistow war im September 2016 zu dem Ölkonzern gekommen, als der Vorgang Uljukajew bereits lief und der Minister mindestens seit dem Sommer abgehört wurde.

    Zuvor war Feoktistow stellvertretender Leiter der internen Sicherheitsabteilung des FSB gewesen. Er war für Belych zuständig und für den aufsehenerregenden Fall um Denis Sugrobow und Boris Kolesnikow, ihres Zeichens die Leiter der Hauptverwaltung wirtschaftliche Sicherheit und Korruptionsbekämpfung des Innenministeriums. Wie die New York Times schrieb, war Feoktistow als Anwärter für den Leitungsposten gehandelt worden, verlor aber den apparatsinternen Kampf und gelangte zu den abkommandierten Mitarbeitern des FSB.

    Stand vor Gericht: Alexander Choroschawin / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Stand vor Gericht: Alexander Choroschawin / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was geschieht nach der Festnahme des Verdächtigen? Der Ermittler eröffnet ein Verfahren, und das Gericht entscheidet über eine Inhaftierung.

    Die Festnahme selbst ist eine recht langweilige Angelegenheit. Tschinowniki  können an ihrem Arbeitsplatz festgenommen werden (wie im Fall Gaiser und Choroschawin), im Restaurant bei einer angeblichen Geldübergabe (wie bei Belych) oder sogar in der Banja (wie im Fall Teslenko). Die Ermittler nehmen dann über mehrere Stunden Protokolle auf, schreiben Aussagen nieder und durchsuchen die Räumlichkeiten.

    Es gibt aber auch Ausnahmen. So erfolgte die Festnahme des Bürgermeisters von Machatschkala, Said Amirow, unter Einsatz von Sondereinheiten, Hubschraubern und Militärfahrzeugen, die die Zufahrtswege zum Haus blockierten. Allerdings sticht der Fall Amirow auch in anderer Hinsicht heraus: Den meisten Bürgermeistern und Gouverneuren werden Wirtschaftsstraftaten zur Last gelegt, während Amirow des Mordes und enger Verbindungen zu örtlichen Straftätern verdächtigt wird.

    Die Festnahme wird zur Show

    Eine Festnahme zur Show zu machen, war bis vor kurzem das Privileg von Wladimir Markin als Pressesprecher des Ermittlungskomitees. „Im Zuge der Durchsuchungen sind 800 wertvolle Juwelier-Erzeugnisse sichergestellt worden. Sehen Sie, dieses scheinbar einfache Schreibgerät. In Wirklichkeit hat der Stift einen Wert von 36 Millionen Rubel [knapp 600.000 Euro]. Können Sie sich das vorstellen?“, berichtete Markin verzückt in der Fernsehsendung Vesti über die Durchsuchung bei Choroschawin. Mehrere Anwälte beklagten gegenüber Republic, bei Markin würden Informationen über Fundstücke im Fernsehen schon auftauchen, bevor sie im Strafverfahren aufgenommen seien.

    Choroschawin gab später in einem Interview zu, dass es einen goldenen Stift mit Brillanten gab, doch habe der rund 1,3 Millionen Rubel [rund 21.000 Euro] gekostet. „Die werden von der Firma Montblanc in Serie hergestellt. Ich bin nicht der einzige Tschinownik, der so einen hat. Ich habe ihn selbst gekauft. Ich war schon immer wohlhabend“, sagte Choroschawin dem Moskowski Komsomolez. In den Meldungen über Gaiser kursierte dann statt eines Stifts eine Kollektion teurer Uhren.

    Zur Festnahme Uljukajews sind offiziell keine Details nach außen gedrungen. Gesprächspartner von Republic nehmen an, das könne daran liegen, dass Markin zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt gewesen sei.

    Treffpunkt Kreml-Zentrale

    Die Kreml-Zentrale ist ein gesonderter Block für hochrangige Häftlinge im Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenstille. Die Haftbedingungen sind hier strenger, aber komfortabler. Es gibt Zweierzellen mit Fernseher und Kühlschrank, einige sogar mit Dusche. Allerdings wird es in der Kreml-Zentrale langsam eng vor lauter prominenten Insassen. So sitzt Choroschawin, der ehemalige Gouverneur von Sachalin, in einer Zelle mit dem ehemaligen Bürgermeister von Wladiwostok, Igor Puschkarjow. Ein Gesprächspartner erzählt Republic, Choroschawin habe bei einer der Fahrten ins Gericht mit General Sugrobow in einem Gefangenentransport gesessen.

    „Wenn jemand in Untersuchungshaft sitzt, ist es für die Ermittler einfacher, Druck auf ihn auszuüben. Und für Anwälte ist es schwieriger, Kontakt mit dem Mandanten zu halten“, meint Darja Konstantinowa, Anwältin des stellvertretenden Regierungschefs des Gebiets Iwanowo, Dimitri Kulikow. Ihr Mandant hatte Glück: Kulikow wurde fast umgehend unter Hausarrest gestellt und später gegen Kaution ganz entlassen. Einer der Anwälte meint, so etwas sei in Moskau praktisch unmöglich; man müsse sich darauf einstellen, dass die Entscheidung des Richters zugunsten der Anklage und nicht zugunsten der Mandanten getroffen werde.

    Einer der spektakulärsten Fälle war der von Boris Kolesnikow / Foto © kresy24.pl
    Einer der spektakulärsten Fälle war der von Boris Kolesnikow / Foto © kresy24.pl

    Wjatscheslaw Leontjew, Anwalt von Wjatscheslaw Gaiser, berichtet, im Verfahren gegen seinen Mandanten habe der Richter den Haftbeschluss aufgrund eines standardmäßig formulierten FSB-Berichts gefällt: „Angehörige und Vermögen im Ausland sind vorhanden; es besteht Fluchtgefahr und die Möglichkeit, dass auf Zeugen Druck ausgeübt wird; es gibt Verbindungen zur kriminellen Strukturen.”

    Leontjew meint (wie auch andere Anwälte, mit denen Republic gesprochen hat), in den Gerichtsverfahren sei keine Parteiengleichheit gegeben. Für eine Haftverlängerung muss der Ermittler die im Bericht genannten Gründe und Fakten bestätigen. Diese Anforderung ist vom Obersten Gericht festgelegt. Praktisch aber verlängere der Richter die Haft lediglich aufgrund der Worte des Ermittlers und ohne, dass dieser irgendwelche Beweise beigebracht hätte, erklärt der Jurist. Ein weiteres Druckmittel ist das Verbot, Angehörige zu sehen. Dem erwähnten Gaiser wird dies bereits seit 14 Monaten verweigert.

    „Vielleicht sind die Beschuldigten bei diesen aufsehenerregenden Verfahren gute Menschen, vielleicht aber auch schlechte. Dazu müssen Beweise vorgelegt und es muss fair verhandelt werden“, meint der Anwalt Andrej Griwzow. Die Anwälte schreiben Beschwerden, berichten von Verstößen gegen die Verfahrensvorschriften, gehen vergeblich in Berufung.

    „Das Problem bei den aufsehenerregenden Fällen ist, dass sie all das Perverse dieses Systems zu Tage fördern“, sagt Gaisers Anwalt Leontjew. Keiner der großen Prozesse garantiere, dass das System nicht umgehend an gleicher Stelle reproduziert wird. Die Korruptionsbekämpfung in Russland gleicht einem landesweiten Wettkampf um einen Platz an der Sonne, bei dem jeder mit jedem abrechnet.
     

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  • Silowiki

    Silowiki

    Der Begriff Silowiki leitet sich von dem russischen Wort sila ab, was mit Kraft oder Gewalt übersetzt werden kann. Silowiki sind demnach Amtspersonen in Macht- oder Gewaltbehörden (russ. „silowye wedomstwa“), die mit der Wahrung und Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols in Russland betraut sind. Im Volksmund werden Silowiki auch als Personen in Uniform / mit Schulterklappen bezeichnet. Der Begriff hat sich gegen Ende der 1990er Jahre – also zur Regierungszeit Jelzins – im Zusammenhang mit dem Zustrom an „Schulterklappenträgern“ in die russische Elite in der Umgangs- und Mediensprache etabliert.

    Zu den Silowiki werden gewöhnlich die Mitarbeiter des Verteidigungs-, Innen- und Justizministeriums, des Ministeriums für Zivilschutz sowie untergeordneter Behörden wie der Truppen des Innenministeriums gezählt. Am prominentesten sind sicherlich die Inlands- und Auslandsgeheimdienste, weniger bekannt die Staatsanwaltschaft, die Nationalgarde sowie die Drogen- und Gefängnisaufsichtsbehörden. Vertreter der nicht unumstrittenen Militarisierungsthese gehen davon aus, dass die Zahl und Bedeutung der Silowiki unter Putin stetig zunahm. Nach Berechnungen von Olga Kryschtanowskaja und Stephen White1 bestand die politische Elite unter Jelzin 1993 zu 11,2 Prozent, unter Putin 2002 zu 25,1 Prozent, 2008 zu 42,3 Prozent und unter Medwedew 2010 zu 20,7 Prozent aus Silowiki.

    Als Gegensatz zu den (Wirtschafts-) Liberalen wird den Silowiki ein Weltbild zugesprochen, welches nach einer starken Hand und autoritärer Führung verlangt und Demokratie westlicher Prägung ablehnt. Im Verlauf des Ukraine-Konflikts hat der realpolitische Einfluss der Uniformträger wieder merklich zugenommen. Die Silowiki sollten jedoch nicht als homogene Gruppe gesehen werden. So stehen beispielsweise die Staatsanwaltschaft und das Ermittlungskomitee nach der Aufspaltung in zwei Behörden in schärfster Konkurrenz zueinander, eine Folge der teile und herrsche-Taktik, die viele Beobachter für einen wichtigen Teil des Herrschaftssystems Wladimir Putins halten.2 Definitorisch ist zudem nicht geklärt, wie lange eine Person in einer entsprechenden Behörde tätig gewesen sein muss, um zu den Silowiki gerechnet zu werden. So hat etwa der langjährige Financier der regierungskritischen Zeitung Novaya Gazeta, Alexander Lebedew, ebenso eine KGB-Vergangenheit wie der ehemalige Duma-Oppositionelle Gennadi Gudkow, der eine wichtige Rolle bei den Bolotnaja-Protesten spielte.


    1. Unveröffentlichtes paper von 2014. Siehe auch: Kryshtanovskaya, Olga / White, Stephen (2011): The Formation of Russia’s Network Directorate, in: Russia as a Network State: What Works in Russia when state institutions do not?, S. 19–38 ↩︎
    2. Gel’man, Vladimir (2005): Political Opposition in Russia: A Dying Species?, in: Post-Soviet Affairs, Vol. 21/3, S. 226-246 und Vedomosti: Političeskaja sistema v dviženii ↩︎
    3. ↩︎

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    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

  • Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Es ist ein Fall, wie ihn das gegenwärtige Russland noch nicht erlebt hat: Ein Regierungsmitglied wird verhaftet und von einem Gericht unter Hausarrest gestellt. Noch am selben Tag entbindet ihn Präsident Putin von seinem Amt als Wirtschaftsminister. Alexej Uljukajew – der zum liberalen Lager der Wirtschaftsreformer gezählt wird – steht unter der schweren Anschuldigung, Schmiergelder in Höhe von zwei Millionen Dollar im Zuge eines großen Übernahmegeschäfts erpresst zu haben. Sollte es zu einer Anklage und einer Verurteilung kommen, drohen bis zu 15 Jahre Haft.

    Das schlägt hohe Wellen in Russland. Beobachter sind überrascht und verwirrt vom Vorgehen des federführenden Ermittlungskomitees gegen den Minister, viele sehen Ungereimtheiten und bezweifeln, dass es tatsächlich um einen Korruptionsfall gehe – während die Hintergründe noch völlig offen sind. Putin hat bereits vor Jahren eine Strategie im Kampf gegen Korruption ausgerufen, zugleich bleiben Enthüllungen von regierungskritischer Seite mit schweren Vorwürfen gegen hochrangige Politiker und staatsnahe Unternehmer so gut wie folgenlos.

    In der Presse überschlagen sich die Kommentatoren mit Analysen – in unabhängigen Medien vor allem mit Fragen und Spekulationen über die Hintergründe, während in staatsnahen Medien eher der Kampf gegen die Korruption gelobt wird. Vielfach beschäftigt auch die Frage, welche allgemeinen Signale von diesem bislang einmaligen Vorgang ausgehen.

    Alexej Walentinowitsch Uljukajew - Foto © Government.ru unter CC-BY 4.0
    Alexej Walentinowitsch Uljukajew – Foto © Government.ru unter CC-BY 4.0

     

    Kommersant: Geheimdienste flehen um Spielraum

    In der Tageszeitung Kommersant meint Dimitri Butrin, stellvertretender Chef im Wirtschaftsressort, es sei keine tiefgehende Aufklärung des Falls zu erwarten – schon deshalb nicht, weil die Regierung zu dem dahinterstehenden Übernahmegeschäft (beteiligt sind die staatsnahen Mineralölkonzerne Rosneft und Baschneft) aus seiner Sicht nie die ganze Wahrheit sagen würde.

    [bilingbox]Zu viel war zu lesen über die ach so normalen Tätigkeiten der FSB-Mitarbeiter und der Mitarbeiter des Ermittlungskomitees – da entsteht unweigerlich ein Verdacht ob ihrer Verstrickungen in einem dunklen Spiel, das sie durch ihre vor der Gesellschaft verborgenen Ziele zur Hälfte selber am Laufen halten […]

    Was das Ermittlungskomitee derzeit über Alexej Uljukajew sagt, bedeutet – würde man das Gesagte haargenau so glauben – eine äußerst schreckliche Kritik auch in Bezug auf die Regierung: Es bedeutet, dass keinerlei Kontrollmechanismen gegen Korruption, die das Weiße Haus seit 2004 aufbaut, greifen. Ansonsten müsste man glauben, dass sich unter der Maske von Alexej Uljukajew, den wir nicht erst im letzten Jahrzehnt kennengelernt haben, seit Jahren der dreiste Räuber Fan Fan, der Husar verborgen hielt, der nachts mit lautem Gelächter staatliche Unternehmen um riesige Barschaften beraubte. Und tagsüber friedlich zu Regierungssitzungen ging, die Brille aufblitzen ließ und über die Dynamik des Bruttoinlandsproduktes raisonierte, und niemand, abgesehen vom heldenmütigen FSB, schöpfte auch nur den leisesten Verdacht, dass sich im herrschaftlichen Umfeld ein genialer verbrecherischer Schauspieler verbarg.

    Deswegen halte ich die Festnahme von Alexej Uljukajew unter den uns hier demonstrierten Umständen vorerst standardmäßig für den x-ten – sei es der 758. oder 759. – Versuch seitens des Ermittlungskomitees oder des FSB, die Staatsführung anzuflehen und um eine kostümierte Reinszenierung des Großen Terrors zu bitten und gleich auch neue schwarze Raben, die Sanierung der Lubjanka und die nächtlichen Überstunden der heldenhaften Ermittler zu bezahlen.~~~Мы слишком много читали об обычных занятиях сотрудников ФСБ и о занятиях сотрудников СКР, чтобы не заподозрить их в вовлеченности в какую-то мутную игру, половину которой они обеспечивают сами с неизвестными обществу целями.

    […]

    То, что сейчас рассказывает СКР про Алексея Улюкаева, если этому в точности верить, является самой страшной критикой по отношению и к правительству: это значит, что не работают вообще никакие механизмы контроля коррупции, которые Белый дом строил с 2004 года. Иначе придется поверить, что под личиной Алексея Улюкаева, которого мы знаем не первое десятилетие, годами скрывался дерзкий разбойник Фанфан-тюльпан, по ночам с хохотом грабящий государственные компании на крупные суммы наличности. А днем он спокойно ходил на заседания правительства, поблескивая очками и рассуждая о динамике ВВП, и никто, кроме доблестного ФСБ, не мог заподозрить, что в государевом окружении скрывался гениальный преступный актер.

    Поэтому пока по умолчанию я считаю задержание Алексея Улюкаева в тех обстоятельствах, которые нам продемонстрировали, очередной — семьсот пятьдесят восьмой или семьсот пятьдесят девятой — попыткой СКР и ФСБ поумолять власть начать костюмированную постановку «Большой террор», оплатив новые черные воронки, ремонт Лубянки и ночные сверхурочные доблестным следователям.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Izvestia: Anti-Korruptionskampf trägt Früchte

    Die regierungsnahe Tageszeitung Izvestia sieht in der Verhaftung von Uljukajew ein konsequentes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden im Kampf gegen Korruption bestätigt. Ohne Rücksicht auf Ansehen der Person.

    [bilingbox]Die Verhaftung von Alexej Uljukajew ist Teil der systemischen Entscheidungen im Kampf gegen Korruption. Vor drei Jahren hat der Präsident erklärt, dass Korruption eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle. Danach hat Wladimir Putin auf einem Treffen mit den regionalen Führungsspitzen gewarnt, dass diejenigen, die ihren staatlichen Aufgaben nicht nachkommen, hart bestraft werden. […]

    Wenn die Strafverfolgungsbehörden und der Pressesprecher des Präsidenten erklären, dass die Arbeit an dem Fall Uljukajew bereits vor einem Jahr begann, bedeutet das, es gab noch andere Materialien, noch eine andere Geschichte.  […] So bedeutet diese Verhaftung, dass der Kampf des Systems gegen Korruptionäre läuft und dass heute nicht mal mehr ein Ministerposten eine Garantie dafür ist, sich der Verantwortung entziehen zu können, dass man im schlimmsten Fall in den Ruhestand, auf Urlaub geschickt wird. Nein, unter Arrest wird man gestellt. Erst warnt der Präsident, dann straft er.~~~Арест Алексея Улюкаева — часть системных решений по борьбе с коррупцией. Три года назад президент заявил, что коррупция — это угроза национальной безопасности. Потом, на встрече с региональными лидерами, Владимир Путин предупредил, что будут жестко наказывать тех, кто не решает государственные задачи.

    […]

    Если правоохранительные органы, пресс-секретарь президента заявляют, что разработка Улюкаева была начата год назад, значит, были и другие материалы, была другая история. Просто сейчас она стала основанием для реализации оперативных материалов. […] Таким образом, этот арест говорит о том, что идет системная борьба с коррупционерами и на сегодня даже министерский пост — не гарантия того, что можно уйти от ответственности, что в крайнем случае человека отправят на пенсию, на отдых. Нет, отправят под арест. Президент сначала предупреждает, потом наказывает.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    Vedomosti: Wirtschaftsstrafrecht als Instrument für Personalfragen

    Das unabhängige Wirtschaftsblatt Vedomosti hat sich entschieden, einen Kommentar im Namen des gesamten Meinungsressorts zu veröffentlichen, ohne einen konkreten Autor anzugeben, was selten vorkommt. Der Fall Uljukajew wird hier in einen größeren Trend eingeordnet, in dem der Geheimdienst immer stärker das Wirtschaftsstrafrecht instrumentalisiere.

    [bilingbox]Die erstarkte Rolle der Geheimdienste nach den Protesten von 2011 bis 2012 und später dann nach der Krim (2014) hat den Markt der Gefahren vergrößert. Die Produktion von Gefahren und die gegen sie zum Einsatz kommenden Kampfmittel ist heute eines der lukrativsten Geschäfte, da hierdurch politische und personelle Aufgaben gelöst werden können und natürlich Aktiva und Finanzströme aufgeteilt werden – was in einer unter Druck stehenden Rentenökonomie sehr wichtig ist.

    Große Wirtschafts- und Korruptionsfälle sind eine Angelegenheit des FSB, aber in den letzten zwei Jahren wurde er auf diesem Gebiet immer aktiver. Das sieht man an den Statistiken der auf seine Initiative hin eingeleiteten Wirtschaftsermittlungen: Allein in der ersten Hälfte 2016 waren es so viele wie in den jeweils zwölf Monaten der Jahre 2013 und 2014. Eine Schlüsselrolle in den Untersuchungen bedeutender Fälle spielt die FSB-Behörde für wirtschaftliche Sicherheit. […]

    Derzeit befinden sich die Ermittlungen in den Verfahren gegen drei Gouverneure in unterschiedlichen Phasen, die Anklage beruht nach dem russischen Strafgesetzbuch auf wirtschaftskriminellen Tatbeständen (Korruption und Betrug): Wjatscheslaw Gaiser, Alexander Choroschawin und Nikita Belych, das Verfahren leitet das Ermittlungskomitee, die operative Ausarbeitung oblag dem FSB, die Verhaftung der internen Sicherheitsabteilung.~~~Резкое усиление роли спецслужб в России после протестов 2011–2012 гг. и затем после Крыма (2014 г.) привело к разрастанию рынка угроз. Производство угроз и средств борьбы с ними сегодня одно из самых прибыльных, поскольку позволяет решать политические, кадровые задачи и, конечно, делить активы и финансовые потоки – что так важно в сжимающейся рентной экономике.

    Разработкой крупных экономических и коррупционных дел занимается ФСБ, но в последние два года она стала куда активнее. Об этом свидетельствует статистика возбужденных по ее инициативе экономических дел: только за первую половину 2016 г. их количество практически сравнялось с числом дел за все 12 месяцев 2013 и 2014 гг.

    Ключевую роль в расследовании крупных дел играет служба экономической безопасности ФСБ.

    […]

    Сейчас на разных этапах следствия находятся дела трех губернаторов, обвиняемых по экономическим статьям УК (взяточничество и мошенничество), – Вячеслава Гайзера, Александра Хорошавина и Никиты Белых, дела ведет СКР, оперативной разработкой занималась ФСБ, задержанием – УСБ ФСБ.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    Spektr: Neues Stadium der Autokratie

    Arkadi Babtschenko ist überzeugt, es handle sich um einen Fake, bemerkt im Exilmedium Spektr spitz, ein Minister in Russland habe sicher bessere Geldquellen. Was hat das Ganze dann zu bedeuten?

    [bilingbox]Also was? Ein verdeckter Kampf von Ermittlungskomitee und FSB? Von Falken und Liberalen? Von Setschins und Kudrins Leuten?

    Ja, zweifellos. Das eine wie das andere. Zweifellos auch ein verdeckter Kampf der Kremltürme untereinander. Aber trotzdem ist es nur eine Folge. Die Hauptursache liegt, wie mir scheint, woanders. […]

    All diese ständigen Neubesetzungen, Abberufungen, Umbesetzungen, Verschiebungen von einem an den anderen Ort, Annäherungen und Entfernungen, Beförderungen und Ungnaden in letzter Zeit. Mir scheint, dass all das nur Eines bedeutet.

    Das Autoritäre hat das Stadium der liberalen Heuchelei hinter sich gelassen, ist sich endlich seiner selbst bewusst geworden und auf ein neues Niveau gewechselt.

    Der Autokrat muss nicht länger so tun, als würde er von diesem oder jenen Meister seines Fachs in der Regierung abhängen. Von diesem oder jenen Gouverneur in den Regionen. Von dieser oder jener Neubesetzung, oder von dieser oder jener Verhaftung.

    Die Autokratie in Russland ist sich ihrer selbst bewusst geworden als einzige Machtquelle im Land, als einziges Instrument der Staatsführung, als einziger Souverän, der auf keinerlei Mittelsmänner mehr angewiesen ist, seien sie auch im Range eines Ministers oder eines Gouverneurs, der weder die Unterstützung und noch nicht einmal die Loyalität von irgendwem benötigt.~~~Тогда что же? Подковерная борьба Следственного комитета и ФСБ? Ястребов и либералов? Сечинских и кудринских?

    Да, безусловно. И это тоже. Безусловно, подковерная борьба башен Кремля друг с другом. Но все же и это следствие. Главная же причина, как мне кажется, — в другом.

    […]

    Все эти перманентные в последнее время назначения, снятия, переназначения, перемещения с места на место, приближения и удаления, возвышения и опалы.

    Мне кажется, что все это означает одно.

    Авторитария в России прошла стадию либерального лицемерия, наконец-таки осознала сама себя и перешла на новый уровень.

    Автократу не надо больше делать вид, что он зависит от того или иного профессионала в правительстве. От того или иного губернатора в области. От того или иного назначения или от того или иного ареста.

    Автократия в России осознала себя как единственный источник власти в стране, единственный инструмент управления страной, единственного суверена, не нуждающегося больше ни в каких посредниках хоть в ранге министра, хоть в ранге губернатора, не нуждающегося больше ни в чьей поддержке и даже ни в чьей лояльности.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Sekret firmy: Persönliche Abrechnung?

    Der Moskauer Carnegie-Analyst, Andrej Mowtschan, spekuliert beim online erscheinenden Wirtschaftsmagazin Sekret firmy noch mal ganz anders zu den Hintergründen der Verhaftung – weil er nicht daran glaubt, dass es bei dem Vorgehen um einen Richtungsstreit in der Wirtschaftspolitik gehen könne.

    [bilingbox]Beinahe alles, was wir bisher über die Verhaftung von Alexej Uljukajew erfahren haben, ist ein leuchtendes Beispiel für eine false agenda. Wir haben keinerlei Anlass, der offiziellen Version zu glauben – aber noch weniger sinnvoll ist es in diesem Fall, sich auf die Überlegungen einzulassen, der Grund für die Verhaftung könne in der Unzufriedenheit mit Uljukajews Wirtschaftspolitik liegen.

    All unser Wissen darüber, wie in der Russischen Föderation Angelegenheiten geregelt werden, sagt uns, dass ein Dissens in wirtschaftlichen Fragen niemals Anlass für ein derartiges Vorgehen sein kann.  […]

    Wenn man in der aktuellen Situation daher zum Spaß annimmt, Alexej Uljukajew habe einem hochstehenden Silowik die Liebste ausgespannt, ist das vernünftiger, als über einen Kampf gegen die vom Minister verfolgte Wirtschaftspolitik zu debattieren. Vielleicht spielt der persönliche Faktor in solch lauten Angelegenheiten eine prioritäre Rolle – und wir würden nicht mal drauf kommen, was all dem zugrunde lag.~~~Практически всё, что мы публично слышали об аресте Алексея Улюкаева — яркий пример false agenda. У нас нет никаких оснований доверять официальной версии — но ещё менее разумно в этом случае пускаться в рассуждения о том, что причиной ареста могло быть недовольство проводимой Улюкаевым экономической политикой.

    Всё, что мы знаем о том, как делаются дела в Российской Федерации, говорит нам, что никакие разногласия по экономическим вопросам никогда не могли служить поводом для подобных мер. […]

    Так что, в нынешней ситуации в шутку предполагать, что Алексей Улюкаев отбил любимую женщину у высокопоставленного силовика, разумнее, чем рассуждать о борьбе против экономической политики, которую проводил министр. Возможно, личный фактор в таких громких делах играет приоритетную роль — и мы не можем даже догадываться о том, что легло в основу этого дела.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Nesawissimaja Gaseta: Putin für 2018 fest im Sattel

    In der Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta fasst Wirtschaftsredakteurin Anastassija Baschkatowa Meinungen zusammen – um darüber hinaus nach politischen Schlussfolgerungen mit Blick auf die nächsten Wahlen zu fragen.

    [bilingbox]Die Verhaftung des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew hat ein großes öffentliches Echo hervorgerufen. Die Mehrheit der Experten meint, dass der „Fall Uljukajew“ – unabhängig davon, ob noch weitere Verhaftungen folgen werden oder nicht – ein klares Signal an die Vertreter der Elite ist, dass niemand im Land unantastbar bleibt.

    Experten stellen in dem Fall viele Unstimmigkeiten fest, und Uljukajew selbst leugnet die Version der Ermittler, indem er seine Verhaftung als Provokation bezeichnet. Als wichtigste politische Folge aus der Verhaftung zeichnet sich ab, dass Ausmaß und Reichweite des Vertrauens innerhalb der zur Elite zählenden Gesellschaftsschichten abnehmen wird. Und das wiederum lässt vermuten, dass Wladimir Putin – in der Rolle des einzigen politischen Moderators im Land – auch nach 2018 Präsident bleiben wird.~~~Арест министра экономического развития Алексея Улюкаева вызвал большой общественный резонанс. Большинство экспертов считает: независимо от того, последуют или нет новые аресты, «дело Улюкаева» – ясный сигнал для представителей элиты, что неприкасаемых в стране нет. Эксперты отмечают в деле много несоответствий, а сам Улюкаев оспаривает версию следствия, называя свой арест провокацией. Но, как представляется, главное политическое последствие ареста – это сокращение уровня и радиуса доверия в элитных слоях общества, что предполагает следующее: Владимир Путин останется президентом и после 2018 года, исполняя функцию единственного политического модератора в стране.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    dekoder-Redaktion

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