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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Fonds für Korruptionsbekämpfung

    Fonds für Korruptionsbekämpfung

    „Sie verfügen über eine der besten Ermittlungsstrukturen in Russland,“ setzt Tichon Dsjadko vom Internetfernsehsender Doshd an. Er will Alexej Nawalny die Frage stellen, ob sein Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) selbst recherchieren werde, wer genau hinter seiner Vergiftung im August 2020 steht. Doch bevor Dsjadko die Frage aussprechen kann, korrigiert ihn Nawalny schon: „Nicht eine der besten. Wir haben die beste.“

    In der medialen Wahrnehmung tritt die Organisation, die Nawalny im Jahr 2011 gründete, um seine zahlreichen Projekte unter einem Dach zusammenzuführen, oft in den Hintergrund. Schließlich war Nawalny bis zu seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe Anfang Februar 2021 das Gesicht seiner Kampagne: Er präsentierte die Ergebnisse der Recherchen auf seinem Blog und auf YouTube und legte auch persönlich Rechenschaft über die Finanzen der Organisation ab. Doch auch schon vor Nawalnys Verurteilung sind alle Fäden bei den etwa 30 Mitarbeitern des FBK zusammengelaufen: Der Fonds ist das Herzstück des Projekts Nawalny – eines Projekts, das längst über die Person hinausgewachsen ist.1

    Da sind zum einen die detailreichen Recherchen zu Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Die Mächtigen, die ihre Macht zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil nutzen, sind meist verschwiegen – in Russland genauso wie anderswo. Doch trotz hoher Mauern und juristischer Tricks fördert der FBK mit diebischer Freude immer weitere Villen, Jets und Weingüter der russischen Elite zutage. Zum Markenzeichen wurden die Drohnenaufnahmen von gut versteckten Schlössern, doch die Investigativ-Abteilung des FBK nutzt zuweilen sogar öffentliche Daten. Informationen zur komplexen Struktur, hinter der sich laut FBK die toskanischen Weinberge des Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew verbergen, stammen zum Beispiel aus dem Handelsregister Zyperns und der Handelskammer der italienischen Region Siena. 

    Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung

    Auf diese Enthüllungen folgen dann oft Klagen oder Beschwerden, die die juristische Abteilung des FBK bei den staatlichen Ermittlungsbehörden einreicht, doch meistens wird nichts daraus. Dies verwundert nicht weiter, wenn man bedenkt, dass es ein tragendes Prinzip der politischen Ordnung im heutigen Russland ist, Loyalität mit der Möglichkeit der Selbstbereicherung zu entlohnen. Dieses kleptokratische Prinzip aufzudecken und in Unterstützung für Nawalny umzumünzen – das ist eine der Hauptaufgaben des FBK.

    Eine weitere besteht in der Bündelung aller Projekte und Ressourcen Nawalnys. Hier arbeiten nicht nur Journalisten und Juristinnen, sondern auch Soziologinnen und Videoproduzenten. Erstere ermitteln regelmäßig in eigenen Umfragen die Popularität Nawalnys, evaluieren die Arbeit seiner Regionalbüros und identifizieren zentrale Themen, die Nawalny dann aufgreift. Letztere setzen die Ergebnisse der Recherchen in technisch hochwertige Videoreportagen um. Denn wer um die Macht konkurriert, aber nicht im Fernsehen auftreten darf, der braucht seine eigenen Medien.

    Schließlich ist der FBK auch eine Art Kaderschmiede: Sowohl Producerin Ljubow Sobol als auch FBK-Direktor Iwan Shdanow haben hier als Juristen angefangen, mittlerweile treten sie aber auch als Nawalnys Kandidaten an. Bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament 2019 wurden sie, wie viele andere Oppositionskandidaten, von den Behörden nicht zugelassen

    Diese drei Dinge – Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung – laufen dann in Nawalnys Kampagnen zusammen: Im August 2020 veröffentlichte er auf seinem YouTube-Kanal zwei millionenfach geklickte Enthüllungsvideos über Korruptionsnetzwerke in Tomsk und Nowosibirsk, die höchstwahrscheinlich einen Gutteil zum Erfolg seiner Kandidaten in den jeweiligen Stadtparlamenten beigetragen haben.

    „Russland der Zukunft“

    All dies macht den FBK faktisch zur Zentrale der Nawalny-Partei Russland der Zukunft – auch wenn diese Partei keine Chance auf offizielle Zulassung hat. In diesem Sinne ist der FBK eine Behelfslösung, denn Nawalnys eigentliches Ziel ist weder die Korruptionsermittlung noch das YouTuber-Dasein, sondern die Politik. Und das weiß auch der Kreml. Aus diesem Grund ist der FBK regelmäßigen Repressionen ausgesetzt. Das Justizministerium etwa klassifizierte ihn im Jahr 2019 als ausländischen Agenten, nachdem der Fonds eine dubiose Zahlung eines spanischen Boxers2 erhalten hatte. Obwohl das Geld sofort zurücküberwiesen wurde, zogen die Behörden die Einstufung nicht zurück. Im Dezember 2019 wurde dann der Mitarbeiter des FBK Ruslan Schaweddinow verhaftet und zum Militärdienst auf der abgelegenen Insel Nowaja Semlja eingezogen. Infolge einer Klage des Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin verpflichtete ein Gericht die Organisation zur Zahlung von knapp 30 Millionen Rubel Schadenersatz und veranlasste die Sperrung ihres Kontos. Im April 2020 kündigte Nawalny deshalb an, die bisherige Organisation aufzulösen und neu zu gründen, den etablierten Markennamen Fonds für Korruptionsbekämpfung aber beizubehalten.3Dazu konnte der Oppositionspolitiker aber nicht kommen: Am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Nawalny bleibt damit bis Oktober 2023 in einer Strafkolonie

    Den vorläufigen Schlusspunkt der behördlichen Maßnahmen gegen den FBK bildete im Juni 2021 die Einstufung des Fonds als „extremistisch“: Dieser soll laut Staatsanwaltschaft unter anderem eine „Farbrevolution“ vorbereitet haben. Das Gerichtsverfahren fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nach einer gescheiterten Berufungsverhandlung wurde das Urteil am 4. August rechtskräftig. Laut Medienberichten hat Ljubow Sobol das Land verlassen, gegen ihre Mitstreiter Iwan Shdanow und Leonid Wolkow hat das Ermittlungskomitee Strafverfahren eingeleitet: Ihnen wird vorgeworfen, Gelder zur Finanzierung von FBK und der Nawalny-Wahlteams beschafft zu haben. Mit der Aufnahme in die Verbotsliste des Justizministeriums droht allen, die mit oder für Nawalnys Fonds arbeiten – auch den zahlreichen Ehrenamtlichen – eine Haftstrafe.

    Dorn im Auge des Kreml?

    Das Konto des Fonds ist derzeit gesperrt, doch woher stammt das Geld darauf? Zu Beginn seiner Arbeit erhielt der FBK Zuwendungen einiger prominenter Sponsoren, darunter von dem Schriftsteller Boris Akunin und dem Unternehmer Boris Simin, der auch Nawalny persönlich unterstützt. Die dauerhafte Finanzierung wurde bislang größtenteils durch Crowdfunding gesichert. Aus dem letzten Finanzbericht4 geht hervor, dass von den insgesamt 89 Millionen Rubel (Ende 2019 waren es umgerechnet etwa 1,3 Millionen Euro), die der FBK im Jahr 2019 an Spenden erhielt, die Hälfte unter und die Hälfte über 500 Rubel lagen, wobei die durchschnittliche Summe 712 Rubel betrug (rund zehn Euro). Nawalny betont dabei stets, dass die Zahl der Zuwendungen jedes Mal merklich ansteige, wenn die Behörden die Büros der Organisation und ihrer Mitarbeiter durchsuchen und Computer, Kameras und Drohnen beschlagnahmen. Auch aus diesem Grund ist Nawalnys Team stets darauf bedacht, alle Repressionen so öffentlichkeitswirksam wie möglich zu kommunizieren, um die Maßnahmen der Staatsmacht gegen oppositionelles Engagement offenzulegen. Mit der Stigmatisierung als „extremistische Organisation“ wird das Finanzierungsmodell aber wohl zwangsläufig einbrechen: Allen, die sogenannte „extremistische Tätigkeit“ finanzieren, droht eine Haftstrafe von bis zu acht Jahren.

    Ob der FBK tatsächlich die beste Ermittlungsorganisation in Russland ist, sei dahingestellt. Es ist jedenfalls bisher keiner anderen Organisationen gelungen, die Informationshoheit der staatsnahen Massenmedien so nachhaltig zu unterlaufen und dabei gut recherchierte Inhalte über einen wunden Punkt des politischen Systems zu verbreiten. Der FBK ist dem Kreml daher offenbar alles andere als egal.

     

    Aktualisiert am 10.08.2021


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  • Die große Vertuschung

    Die große Vertuschung

    Vergangene Woche hat das russische unabhängige Online-Magazin Projekt eine umfangreiche Recherche veröffentlicht – die allein schon deswegen als Sensation gelten kann, weil sie auch ein Thema berührt, das tabu ist, (oft) selbst in unabhängigen russischen Medien: Putins Privatleben. Projekt zeigt auf, dass eine gewisse Petersburger Millionärin namens Swetlana Kriwonogich Anteile an der russischen Staatsbank Rossija hält – und ihr außerdem Immobilien im Millionenwert gehören. Swetlana Kriwonogich ist in einer Petersburger Kommunalka großgeworden – wie kam sie an so viel Geld? In der umfangreichen Recherche, die nicht nur den unklaren Eigentumsverhältnissen und Verstrickungen in Putins engstem Umfeld nachgeht, kommt Projekt zu dem Schluss, dass Kriwonogich die Geliebte Putins war, mit der er wahrscheinlich auch eine gemeinsame Tochter hat, die 17-jährige Jelisaweta.

    Das unabhängige Medium Projekt machte schon mehrfach mit investigativen Recherchen auf sich aufmerksam, etwa über den Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin. Projekt-Gründer Roman Badanin, der mit Andrej Sacharow auch die aktuellen Recherchen zur Bank Rossija unternahm, ist einer der bekanntesten Investigativjournalisten Russlands. Ehe er Projekt gründete, war er in der Chefredaktion von RBC. RBC hatte auch über Putins Tochter Jekaterina Tichonowa berichtet, mutmaßlich eine der Recherchen, die das Ende der damaligen RBC-Redaktion bedeuteten.
    Warum die aktuellen Projekt-Recherchen nicht einfach Stoff für Boulevardmedien sind (junge Geliebte! Uneheliche Tochter!), sondern was sie vor allem aufdecken, das macht die Projekt-Redaktion nochmal in einem eigenen Editorial deutlich, das dekoder in deutscher Übersetzung bringt: „Die 20-jährige Vertuschungsoperation hat das Land Milliarden Dollar und viele Leben gekostet“, heißt es darin. 
    Auf Echo Moskwy wiederum kommentiert der Journalist Anton Orech: „In jedem demokratischen Land würde eine solche Recherche einen grandiosen Skandal auslösen und die Reputation eines Politikers schädigen. […] In Russland geht es andersherum: […] Das Volk erregt sich nicht nur nicht, es beneidet die Korrupten und Beamten. Und wenn es so ist, dann sind solche Enthüllungen nur für deren Autoren eine ernste Gefahr.“

    Jeder Herrscher hat eine Idée fixe, ein Konzept, das zu einem gewissen Grad die meisten seiner Handlungen in der Innen- und Außenpolitik, in der Wirtschaft und in der Kultur erklärt. Die Liste dieser Konzepte war über mehrere Jahrhunderte ziemlich übersichtlich: der Kampf um Ideologien, die Erschaffung oder Wiedererrichtung eines Imperiums, Revanche, das Sich-von-den-Knien-Erheben, der Wunsch, Weltschiedsrichter oder -Gendarm zu spielen, und noch ein paar mehr. Alle diese Konzepte wurden einzeln oder in Kombination wiederholt auch Wladimir Putin zugeschrieben, der – wenn nicht persönlich, dann in Form des Putin-Regimes (also einschließlich der Regierungszeit Dimitri Medwedews) – Russland seit nunmehr 20 Jahren regiert. 
    Wenn man alles zusammennimmt, was Putin-kritische Experten über ihn sagen, kommt ungefähr Folgendes heraus: Putin will das Sowjetimperium mit den Methoden des KGB wiederherstellen, weil er wie ein Geheimdienstler denkt, aber er befürwortet Privateigentum, weil es das Stehlen ermöglicht. 
    Politikexperten aus den Reihen seiner Befürworter sagen etwas Ähnliches, nur mit anderen Vorzeichen, nämlich: Er hat alle dazu gebracht, Russland zu respektieren, weil er unser Land liebt und sich um seine Bürger kümmert.

    Jetzt sieht es allerdings so aus, als hätten all diese Konzepte zu nichts geführt und als hätte die komplette Politikwissenschaft ausgerechnet in Putins Fall mächtig danebengelegen.

    Vertuschen und Verschleiern

    Die zentrale Idee, die den russischen Präsidenten die vergangenen 20 Jahre hindurch leitet, besteht darin, seine Vergangenheit und Gegenwart hinter hochtrabenden Worten zu verstecken, zu vertuschen und zu verschleiern. Und aus dieser Idee erwächst alles Übrige: die Konfrontation mit anderen Ländern, eine Wirtschaft, die sich an seinen Freunden orientiert, die geistigen Klammern, YUKOS, die Vergiftung Nawalnys und so weiter, bis hin zu absurden Kleinigkeiten wie erhöhten Absätzen und Fotos mit freiem Oberkörper.

    Es ist unangenehm, das zuzugeben, aber auch wir Journalisten sind darauf hereingefallen. 20 Jahre lang hat die russische Wirtschafts- und Politikpresse versucht, in den Handlungen des Staatsoberhaupts diesen oder jenen höheren Sinn zu sehen – ob gut oder schlecht, auf jeden Fall hoch. Selbst dann, wenn das, was wir sahen und wussten, danach schrie, dass alles viel simpler ist. Jetzt ist es an der Zeit, das zu korrigieren. Und das kommt dabei raus:

    Das moralische Image des Präsidenten hält keiner Kritik stand, und in einem Land, wo es so etwas wie politische Reputation und faire Wahlen gibt, wäre es für ihn schwer geworden, 20 Jahre an der Macht zu bleiben. All diese Jahre lief unter Einbeziehung tausender Staatsdiener und Privatpersonen eine Vertuschungsoperation: fiktive Posten für die Frauen des Präsidenten, geheime Residenzen und andere unrechtmäßig erworbene Besitztümer, versteckt vor der Öffentlichkeit mit Hilfe von Staatsmedien, Geheimdiensten, dem Katasteramt und einer Vielzahl anderer Menschen, die genau dafür ihren Lohn bekommen.

    Geheime Residenzen und andere unrechtmäßig erworbene Besitztümer

    Der Präsident und sein innerster Kreis waren seit den 1990er Jahren in zweifelhafte Geschäfte verwickelt, die sie zu Milliardären gemacht haben. Vereinfacht ausgedrückt: die Bank Rossija ist die Bank von Wladimir Putin, und die Vermögenswerte, die auf Freunde, Verwandte und andere Figuranten laufen – Juri Kowaltschuk, Pjotr Kolbin, Sergej Roldugin, Michail Schelomow und so weiter –, gehören ebenfalls Putin.

    Vereinfacht ausgedrückt: die Bank Rossija ist die Bank von Wladimir Putin

    Die Verbindungen des amtierenden russischen Präsidenten und seines direkten Umfelds zur kriminellen Welt sind viel umfassender und lohnender als der breiten Öffentlichkeit bekannt. In den 1990er Jahren haben Putin und Staatsbeamte aus seinem nächsten Umfeld unmittelbar für Personen gearbeitet, die Morde verübt und andere Verbrechen begangen haben. Diese Verbindungen sind bis in die 2000er Jahre erhalten geblieben, auch wenn sich ihr Charakter verändert hat.

    Diese Liste ist zweifelsfrei unvollständig – denn jetzt, unter Putin, sind ganze Abschnitte der neuesten Geschichte Russlands der Öffentlichkeit unzugänglich. Aber sie werden mit Sicherheit später fortgeschrieben werden, nach Putin. Die Geschichte seiner Machtergreifung und der „Zucker von Rjasan“, die politischen Morde und Attentate, die in den 2000er Jahren mit dem grausamen Tod des investigativen Journalisten Juri Schtschekotschichin und des Hüters von Putins Geheimnissen Roman Zepow begannen, und die sich bis zur jüngsten Vergiftung Nawalnys fortsetzen. All das, was für die Presse bis vor Kurzem noch unbewiesene Spekulation war, erscheint nach der Veröffentlichung unserer Untersuchungen als nicht mehr ganz so abwegig.

    Diese 20-jährige Vertuschungsoperation hat das Land Milliarden Dollar und viele Leben gekostet, doch sie ist nicht vorbei

    Ohne Zweifel wird irgendwann alles ans Licht kommen. Doch vorerst geht die Vertuschungsoperation weiter: Das staatliche Katasteramt löscht die Namen von Staatsbediensteten und Präsidentenfreunden aus den Eigentumsregistern; die Banken, die offiziell Juri Kowaltschuk oder Arkadi Rotenberg gehören, werden mit staatlichen Geldern vollgepumpt, damit Aktionärinnen wie Swetlana Kriwonogich ihr Dasein nicht in Armut fristen müssen; die Rechtsschutzorgane und Gerichte verfolgen die, die versuchen die Wahrheit ans Licht zu bringen, und einzelne Wahrheitssuchende werden von Kämpfern der aus Staatsgeldern finanzierten, tschetschenischen Einheit Sewer ermordet. Selbst das Stadtarchiv Sankt Petersburg hat einen Teil der Dokumente über die Arbeit des Komitees für Außenbeziehungen der Stadt, das damals unter Putins Leitung stand, aus dem Fundus entnommen.

    Diese 20-jährige Vertuschungsoperation hat das Land Milliarden Dollar und viele Leben gekostet. Doch sie ist nicht vorbei, der Mechanismus arbeitet wie geschmiert und die neue Version des Immunitätsgesetzes für Ex-Präsidenten verlängert sie faktisch auf ewig. Doppelleben und Doppelmoral, doppelte Buchführung und doppeltes Recht, drohen sowohl die Regierung als auch die Gesellschaft zu korrumpieren und zu Putins wichtigstem politischen Erbe und Vermächtnis zu werden.

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  • Fake-Kampf gegen Korruption?

    Fake-Kampf gegen Korruption?

    Am 27. März wurde der ehemalige russische Minister Michail Abysow festgenommen. Nur einen Tag später verhaftete man auch den Ex-Gouverneur und -Minister Viktor Ischajew. Beiden Ex-Politikern wird unter anderem Betrug in Milliardenhöhe vorgeworfen.

    Im Korruptionsindex von Transparency International befindet sich Russland auf Rang 138 von 180 Ländern: Korruption ist demnach allgegenwärtig. Doch dass es zwei hochrangige Ex-Politiker gleichzeitig trifft – das ist neu. Russische unabhängige Medien debattieren die Frage: Warum ausgerechnet sie?

    Schon nach der Verhaftung des Ministers Alexej Uljukajew vor rund zweieinhalb Jahren rankten (Verschwörungs)Theorien, nun sieht manch ein Beobachter gar ein neues 1937 heraufziehen – unter anderem eine Chiffre für Verfolgungen und Tötungen von sogenannten „unzuverlässigen“ Weggefährten Stalins. Die anderen glauben, dass es eigentlich ein Signal an den Premierminister sei – schließlich würden die Verhafteten zu der Elitengruppe um Dimitri Medwedew gehören. Wieder andere meinen, dass der Druck aus dem Westen und die schlechten Wirtschaftsdaten Elitenkonflikte provozierten. Schließlich sind manche Politikwissenschaftler sicher, dass Abysow und Ischajew als Sündenböcke herhalten müssen, um einen Kampf gegen Korruption zu imitieren. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch der Politologe Dimitri Oreschkin in der Novaya Gazeta

    [bilingbox]Wenn es bei den letzten beiden Verhaftungen einen Trend gibt, dann würde ich ihn „Verzweiflung“ nennen. Ischajew war vor zehn Jahren Gouverneur, eine Rechnung mit ihm rückwirkend zu begleichen, ist ziemlich seltsam. 
    Erstens befindet sich der Kreml in einer Art Raserei, in der man nicht sieht, was getan werden muss. Sie sehen, dass sich die Situation verschlechtert und ärgern sich darüber. Wenn sich aber Menschen dieses Schlags ärgern, dann fangen sie an, den entferntesten Schuldigen zu suchen. Die Nahestehenden fühlen das und liefern diese Schuldigen dann aus.

    Zweitens aber hegen die Machthaber die Hoffnung, dass das die Leute ablenkt und sie kapieren, dass die Machthaber für ihre Rechte kämpfen – schließlich werden ja Diebe bestraft. […]
    Ischajew ist schon lange in Rente, er hat keine administrative Ressource. Abysow kann genauso wenig zum Gegenschlag ausholen, hat er doch als Ruheständler auch keine Ressourcen. Medwedew wird wohl kaum für ihn kämpfen, also kann man sich Abysow durchaus als Feind vorstellen. Mich erschreckt vor allem, dass man anfängt, Ruheständler zu kassieren. Nicht die, die jetzt etwas tun, sondern die, die irgendwann mal etwas getan haben. Dies aber kann man von jedem Gouverneur im Land behaupten.~~~Если в последних арестах и есть тренд, то я бы назвал его «отчаянием», Ишаев был десять лет назад губернатором, с ним счеты сводить задним числом довольно странно. Во-первых, здесь есть некоторое остервенение Кремля, в котором не понимают, что нужно сделать.
    Они видят, что ситуация ухудшается, и начинают злиться. А когда люди такого рода злятся, они начинают искать крайнего и виноватого. Приближенные это чувствуют, они этих виноватых и подсовывают.
         
    А, во-вторых, у власти есть надежда, что таким образом трудящиеся отвлекутся, поймут, что власти борются за их права — она же воров наказывает. […]

    Ишаев давно на пенсии, у него административного ресурса нет. Абызов тоже не может нанести ответного удара, у него ресурсов нет, он же отставник. Вряд ли ради него Медведев пойдет воевать, так что Абызова вполне можно представить как врага. Меня пугает именно эта составляющая — отставников начали грести. Не тех, кто сейчас что-то творит, а когда-то. А так сейчас можно сказать про любого губернатора в стране.[/bilingbox]

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  • Steuern den Hütten, Geld den Palästen

    Steuern den Hütten, Geld den Palästen

    Am Mittwoch hat Wladimir Putin seine alljährliche Botschaft an die Föderationsversammlung verkündet. Neben Kritik am Westen galt der Fokus diesmal vor allem der Innenpolitik. Die Schlüsselaufgabe dabei, so der Präsident, sei sbereshenije naroda – das Behüten, Bewahren des Volkes. Die Formel geht auf den Schriftsteller Alexander Solschenizyn zurück, der darin das Potential für eine neue „nationale Idee“ sah. Die Politik habe demnach eine Fürsorgepflicht, müsse sich um das Volk kümmern.

    Putin, der diese Definition der „nationalen Idee“ befürwortet, startete schon 2005 das Programm der (prioritären) nationalen Projekte. Spätestens seitdem betont der Präsident immer wieder, wie wichtig Armutsbekämpfung sei, Familienförderung und effektive Gesundheitspolitik. Auch in seiner Rede am 20. Februar 2019 sprach er ausführlich über diese Themen, außerdem betonte er, dass auch Umwelt- und Verkehrspolitik wichtige Teile der nationalen Projekte seien.

    Im Vorfeld wurde vielfach darüber spekuliert, worüber der Präsident wohl sprechen würde. Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew liegt bereits zwei Tage zuvor mit seinen Vermutungen ganz richtig:  Auf Spektr schaut Inosemzew sich die alten Versprechen der nationalen Projekte an und fragt: „Und was sind die Ergebnisse?“

    Mitte Februar hat die Regierung die finanziellen Kennzahlen für verschiedene prioritäre nationale Projekte bekanntgegeben. In den Jahren [seit 2008 – dek] wurde besondere Aufmerksamkeit auf die Gesundheitsfürsorge, das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung der Infrastruktur gerichtet. 

    Und was sind die Ergebnisse?

    Im Jahr 2007 gab es in Russland 400.000 HIV-Infizierte, jetzt sind es geschätzt mindestens 970.000, wahrscheinlich jedoch rund 1,3 Millionen. Die Zahl der Krebskranken ist von 2,4 auf 3,5 Millionen gestiegen. 
    Laut Regierungsangaben ist die Lebenserwartung phantastisch hoch: Lag sie 2006 noch bei 67,4 Jahren, waren es 2018 schon 73,2 Jahre. Dabei ist die Einwohnerzahl im Land allerdings aus irgendeinem Grund kaum gewachsen (von 143,2 auf 144,3 Millionen Menschen ohne Berücksichtigung des „Zuwachses durch die Krim“), und 2018 kam es neuerlich zu einem natürlichen Abfall, was Anlass zu der Annahme gibt, dass die verlautbarten  Zahlen nichts weiter als ein statistischer Trick sind. 

    Die Fernstraße von Moskau nach Sankt Petersburg wurde innerhalb der letzten zehn Jahre nicht fertiggestellt, der Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse Moskau – Kasan nicht einmal begonnen. Alle Großprojekte (von Wladiwostok über Sotschi bis hin zur Krim-Brücke) waren Augenwischerei an den äußersten Rändern des riesigen russischen Territoriums und änderten nichts an der Situation im zentralen Teil des Landes.

    Die prioritären nationalen Projekte – das ist heute im Grunde genau ein nationales Projekt: das Errichten eines Systems, durch das die persönlichen Interessen einer diebischen Beamtenschaft bedient werden. Es ist kein Zufall, dass mehr als zwei Drittel der zu bewilligenden Mittel aus dem Staatshaushalt kommen: Dem Staat beliebt es, über Steuern Geld aus der Wirtschaft und von den Menschen abzuziehen und es anschließend in die Hände der Bürokraten zu übergeben, die standardmäßig besser wissen, wie damit umzugehen ist. 

    Die Brieftasche der Beamten

    Die prioritären nationalen Projekte – das ist eine schöne Bezeichnung für die Brieftasche der Beamtenklasse. Die füllt der Kreml fürsorglich mit Geld, das über die Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhung des Rentenalters eingenommen wurde. Das ist de facto der Preis, den die Bürokratie aufruft, also derjenige Teil der Haushaltsausgaben, der on top kommt bei der Förderung der einen oder anderen Branche. Wenn irgendetwas [von diesen nationalen Projekten – dek] gelingt – wunderbar, wenn sich all das dafür vorgesehene Geld „auflöst“ – dann ist es auch keine Tragödie. Für die Machthaber, versteht sich, nicht für die Bevölkerung.

    Die Bevölkerung gewöhnt sich daran, immer mehr der steigenden Kosten aus der eigenen Tasche zu bezahlen, wobei diese zweifellos vom Staat getragen werden müssten, auch ohne jegliche nationalen Projekte. Bezeichnend für diese herrliche Technik sind zum Beispiel die vermehrten Finanz- und Sammelaktionen in Krankenhäusern und Schulen. Praktisch am selben Tag, als im Weißen Haus Gelder für die prioritären Bereiche verteilt wurden, gab es in der Duma den Vorschlag, Eltern angesichts dessen, dass Stipendien keineswegs mehr zum Leben reichen, zum Unterhalt von Schulkindern und Studenten zu verpflichten. 

    Das ist im Grunde alles, was man über die nationalen Projekte wissen muss: Geld in den Händen von Beamten – das heißt bei uns „national“, und Geld in der Tasche der einfachen russischen Bürger – das ist etwas für die russische Staatlichkeit Fremdes und Abstoßendes.

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  • Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Sona, Zone, das ist ein russisches Synonym für Gefängnis, Lager. Der Jargon-Begriff geht zurück bis in die Zeit der Stalinschen Gulags, er beinhaltet die Abgeschlossenheit dieser Gefängniswelt, die eine Welt für sich ist, abgekoppelt vom restlichen Leben der Gesellschaft und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Rund jeder vierte Mann aus Russland hatte oder hat derzeit Gefängniserfahrung.
    Kaum jemand außerhalb der Sona kennt diese Welt so gut wie Olga Romanowa. Die ehemalige, renommierte Journalistin ist Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja. Die Organisation unterstützt auch den Regisseur Kirill Serebrennikow. Als sie 2017 befürchtete, selbst unter falschen Vorwänden belangt zu werden, so erzählt sie in einem Interview mit Zeit-Online, verließ sie Russland und ging nach Berlin. Derzeit hält sie sich in Russland auf. Dort wird am 25. Januar ein Prozess wegen „Verleumdung“ gegen sie fortgesetzt: Romanowa weist die Anschuldigungen als fingiert zurück.

    Auf Carnegie.ru schreibt sie über die besonderen Gesetzmäßgkeiten in der Sona

    Wer ist wohl auf die Idee gekommen, dass ein Mensch, der in Schmutz, Kälte, Hunger und Erniedrigung versinkt, zu einem verantwortungsvollen Bürger und einer ausgeglichenen Persönlichkeit wird? Der populäre Spruch „das Gefängnis ist kein Sanatorium“ indes legt genau das nahe.
    Man reißt einen Durchschnittsbürger (der sich vielleicht einen Fehltritt geleistet, eine Straftat begangen hat, vielleicht aber auch unschuldig ist – bei dem aktuellen Zustand des russischen Gerichtssystems ist alles denkbar) aus den Durchschnittsbedingungen des russischen Lebens und Alltags heraus und steckt ihn in die Hölle. Einen Ort, an dem er nie für sich sein kann, an dem nie das Licht ausgeht, an dem es keinen Kontakt zu seinen Angehörigen gibt, an dem man ihn permanent erniedrigt und er schnell versteht, dass er keine Zukunft mehr hat.

    Man reißt einen Durchschnittsbürger aus dem Alltag und steckt ihn in die Hölle

    Dabei sehen die strafrechtlichen Maßnahmen im Prinzip die Einschränkung von nur einigen Rechten und Freiheiten des Bürgers vor, zum Beispiel dem Recht zu wählen und gewählt zu werden. Das Recht auf Leben, Arbeit, Erholung und sogar auf freie Meinungsäußerung ist ihm durch niemanden genommen. Aber nur in der Theorie. In der Praxis gerät er in eine höchst geschlossene Gesellschaft, in der man ihn seiner Individualität beraubt und ihm maximal eine Funktion zuweist: als Aktivist, Blatnoi, Gefallener. Oder als Milchkuh – ein Objekt, das man melken kann, eine zuverlässige Quelle der Schattenfinanzierung.
    Alle versuchen, unter den Bedingungen der hausgemachten Hölle zu überleben, die erschaffen wird, damit du dich wie ein Wurm fühlst. Jeder kann dich zerquetschen. Oder dich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Oder mit dem Spatenende zweiteilen und beobachten, wie du dich windest.
    Aber man kann sich auch einigen. Auf erträgliche und besondere Haftbedingungen, auf VIP-Behandlung und überhaupt auf alles. Natürlich spielt Geld dabei eine wichtige Rolle, aber bei weitem nicht die wichtigste. 

    Die wichtigste Rolle spielen die Beziehungen zur organisierten Kriminalität, zur Wirtschaft und in die Politik.

    Die kriminelle Welt

    Zunächst einmal: Wer kann sich überhaupt einigen? Einigen können sich nur ernstzunehmende Leute über ernsthafte Dinge. Ein hochrangiger Dieb kann sich mit Hilfe von Mittelsmännern von draußen mit dem Leiter der Strafkolonie über fast alles einig werden.
    Er kann sich in einem stillen Winkel der Kolonie eine freistehende Datscha mit Garten bauen und dort leben, samt Gärtner, Koch und Bediensteten, die er aus den Mitgefangenen rekrutiert (das habe ich mit eigenen Augen gesehen in der Besserungskolonie (IK) in Talizy, Gebiet Iwanowo). Er kann sich einen Krankenausweis ausstellen lassen und in einer Sanitätsstelle eine Kur machen (so wird es in den meisten Gefangenenlagern praktiziert). Er kann sich in einem Zimmer für Langzeitbesuche einquartieren und seine Hetären empfangen (auch das ist bei Weitem kein Einzelfall).
    Im Laufe der Verhandlungen (bei schwieriger Verhandlungslage) demonstrieren sich die hochrangigen Parteien gegenseitig ihre Möglichkeiten: Zum Beispiel kann der Kolonieleiter beschließen, seinen Kontrahenten in die Einheit mit verschärften Haftbedingungen stecken (SUS, ein Gefängnis im Gefängnis); doch da geht das SUS plötzlich in Flammen auf. Für einen Sonderstatus braucht es nämlich andere schwerwiegende Argumente – Geld allein genügt nicht. Der Leiter demonstriert also, auf welche Art und Weise er einer Autorität das Leben vermiesen kann (ihn ins SUS stecken), die Autorität demonstriert ihrerseits, wie sie damit umgeht (Brand im SUS).

    Besondere Bedingungen dank besonderer Dienste

    Man kann sich besondere Haftbedingungen auch durch besondere Dienste verdienen. Was will der Leiter einer Strafkolonie? Er will Ruhe und Frieden. Er will keine Beschwerden, keine Briefe an die Staatsanwaltschaft, keine herumschnüffelnden Kommissionen.
    Wie lässt sich das bewerkstelligen? Man muss sich mit dem Blat-Komitee einigen, das mit der Aufsicht über die Zone betraut ist und die höchste Autorität mit stabilen Verbindungen zur organisierten Kriminalität darstellt. Das Blat-Komitee ist in der Lage, für die Abwesenheit von Beschwerden zu sorgen: Wer sich beschwert, wird so hart bestraft, dass er im Leben keinen Stift mehr in die Hand nehmen will, er wird bei jeder Überprüfung auf seine Mutter schwören, dass ihn der Teufel höchstpersönlich geritten hat, als er diese ehrlichen Menschen und die fürsorgliche Führung durch den Dreck ziehen wollte.
    Aber das erfordert natürlich Gegenseitigkeit. Die Leitung wird dem Blat-Komitee uneingeschränkten Zugang zu Mobilfunk, Drogen, Alkohol und Kartenspielen gewährleisten. Mit wem es diese Freuden teilen will, entscheidet das Blat-Komitee selbst. Wenn es das Blat-Komitee nach schwarzem Kaviar, Hummer und Mädchen gelüstet, ist das nur eine Frage der Kosten. Wenn die Partnerschaft verlässlich und effektiv ist – warum nicht.

    Die Verflechtung von Interessen von Menschen mit Abzeichen und dem Blat-Komitee ist überhaupt ein typischer Wesenszug unserer Zeit. Wenn man sich einige der Leute so ansieht, die seinerzeit den amtierenden Präsidenten umgaben (den Geschäftsmann Roman Zepow zum Beispiel), oder das, was man über den Freund des Präsidenten Jewgeni Prigoshin schreibt, wird schnell klar, warum viele diese Situation nicht weiter verwundert.
    Es liegt auf der Hand, dass die Affäre um Wjatscheslaw Zepowjas, der in einer Kolonie im Amur-Gebiet bei einem Festmahl mit Kaviar und Hummer abgelichtet wurde, ein spezieller Fall von genau dieser Art von Partnerschaft ist.

    Die Wirtschaft

    Verurteilte, die zwar über nennenswerte finanzielle Ressourcen verfügen, nicht aber über Beziehungen und Unterstützung in der kriminellen Welt, verstehen schon bei Inkrafttreten der Haftstrafe sehr gut, in welcher Situation sie sich befinden.
    Sie haben höchstwahrscheinlich schon unter unhaltbaren Bedingungen, die man künstlich erzeugt hat, in U-Haft gesessen. Meistens bitten die Ermittler um solche Haftbedingungen, ohne dass es laut ausgesprochen wird (oft müssen sie das auch gar nicht, es ist sowieso allen alles klar), damit der Inhaftierte die nötigen Aussagen schneller liefert – im Tausch gegen das Versprechen, ihm das Gefängnisleben erträglicher zu machen. Oder aber es ist die Leitung der Haftanstalt, die die Situation unerträglich macht und damit Verhandlungen über die Erleichterung der Haftbedingungen einleitet. Die Verhandlungsführung wird meist den Staatsanwälten überlassen. In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel [etwa 13.000 Euro – dek] im Monat aufwärts, pro Kopf.

    In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel im Monat aufwärts, pro Kopf

    Was ist eine VIP-Zelle in einer Moskauer U-Haft? Nichts Besonderes: Es wird nicht geraucht, man hat oft Hofgang, es gibt einen guten Fernseher und einen Kühlschrank, frische Bettwäsche und eine saubere Toilette mit Tür. Man darf warmes Essen aus dem Restaurant bestellen (das ist übrigens laut den U-Haft-Richtlinien erlaubt, doch nicht jedem gelingt es), fast unbegrenzt Pakete erhalten, und die Anwälte haben erleichterten Zutritt. Und natürlich gibt es Mobilfunk (aber damit kann man im Gefängnis kaum jemanden beeindrucken: Der Telefonzugang ist die billigste der verbotenen Dienstleistungen).
    Nach Erhalt des Geldes werden die Abmachungen erfüllt oder nicht – der Kunde kommt sowieso nicht wieder, da kann man ihn getrost vergessen. Dafür behält so ein Kunde auf ewig (das heißt für die Zeit in Haft) den Status einer Milchkuh.

    Häftling mit Status einer Milchkuh

    Gewöhnlich finden sich in dieser (relativ zahlreichen) Kategorie wohlhabende Leute wieder, die vielleicht sogar Beziehungen im Zivilleben haben, aber keinen Stand im kriminellen Milieu: verurteilte Bänker und Unternehmer. Meistens sind sie es, die folgenden Status bekommen: Sie wandern vom Untersuchungsgefängnis ins Haftlager, als Freundschaftsgeschenk des einen Gefängnisleiters für den anderen; dann werden sie den professionellen Geld-Abpressern aus dem Blat-Komitee zum Fraß vorgeworfen; sie werden gezwungen, neue Baracken zu errichten, die Verlegung von Straßen oder Glasfaserkabel zu bezahlen, der Führung eine Datscha zu bauen und Aufträge aus ihrem Unternehmen in die Zone umzuleiten.
    Unabhängig davon, ob die verurteilte Milchkuh noch Geld hat oder nicht, ist es für diese Kategorie extrem schwer, vorzeitig auf Bewährung freizukommen. Man wird es ihnen natürlich versprechen, wird Belohnungen liefern (nicht umsonst), aber im letzten Moment kommt jemand und macht mit einer negativen Beurteilung oder einer Strafe alles zunichte. Wozu auch jemanden vorzeitig entlassen, der dir Baracken baut, die Renovierung bezahlt, der Kolonie Aufträge verschafft und mit seinem Geld für Wärme sorgt.

    Die Politik

    Wenn die Politik involviert ist, helfen weder Beziehungen noch Geld. Vor allem, wenn es um einen aufsehenerregenden Fall geht, auf dem die öffentliche Aufmerksamkeit ruht. Weder Nikita Belych noch Alexej Uljukajew werden je besondere Haftbedingungen haben. Aber auch besondere Torturen drohen ihnen nicht. Das Wissen darum, dass diese Verurteilten immer unter verschärfter Beobachtung stehen werden, dass sie Besuch von Anwälten und Familienangehörigen bekommen werden, bewahrt sie vor den sadistischen Anwandlungen der Mitarbeiter und Mitinsassen.
    Dasselbe gilt für Verurteile, die offiziell als politische Gefangene gelten (zum Beispiel, wenn Memorial sie als solche anerkennt).

    Verschwiegenheit und ein garantiertes informationelles Vakuum sind die Bedingung dafür, dass die Mitarbeiter des FSIN für einen Verurteilen mit Geld und Beziehungen besondere Haftbedingungen einrichten. Deshalb ist die Reaktion der FSIN-Leitung auf den Skandal um Zepowjas charakteristisch: Zusätzliches Essen ist bei uns erlaubt, heißt es dann, zu fotografieren und die Bilder zu veröffentlichen aber nicht. 
    Das ist auch der Grund, warum der russische Strafvollzugsdienst einen so erbitterten Kampf gegen die öffentliche Kontrolle führt: Für das System ist nicht der Fakt der Korruption entscheidend, sondern dessen Bekanntwerden. Übrigens haben sie das Gleiche auch im Falle der Folterungen gesagt.

    Es fällt auf, dass sich in den jüngsten Skandalen um den FSIN nie auch nur jemand daran erinnert hat, dass dieses System dazu da ist, auf die menschliche Natur einzuwirken und sie zu verbessern. Und dafür gibt es eine Erklärung: Besserung war nie vorgesehen. Das System heißt ja auch „Föderaler Strafvollzugsdienst“. Von „Besserung“ ist da nirgendwo die Rede.

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  • Loblied auf die Korruption

    Loblied auf die Korruption

    Ja, klar, sie klauen, aber wenigstens bringen sie keinen um, beziehungsweise manchmal schon, aber das ist nicht ihr Ziel. Und auch uns bleiben ja wiederum ein paar winzige Annehmlichkeiten … 
    Iwan Dawydow auf Republic mit einem (zwiespältigen) Loblied auf die Korruption.

    Einen meiner Bekannten hat das Leben nach England verschlagen. Dass die Russen eine Vorliebe für spitze Türme haben, ist ja allgemein bekannt. Doch sobald sie sich sattgesehen haben, bekommen sie Heimweh – der eine nach Buchweizen, der andere nach Roggenbrot. Auch meinem Bekannten erging es so. Jedes Mal, wenn er in Moskau ist, wird getrunken, klar, und wenn er getrunken hat, fängt er an zu erzählen, wie viel Glück wir doch haben. Und wie wenig wir doch unser Glück zu schätzen wüssten. Wir würden gar nicht begreifen, wie viele Vorteile uns die Korruption beschere. „Hier“, sagt er und kämpft mit den Tränen, „hier fahre ich betrunken über eine durchgezogene Linie, und was passiert? Nichts passiert. Ich zahle und fahre weiter. Aber dort …“ Und in die Tränen mischt sich offener Hass gegenüber diesem „dort“.

    Mit der Rückkehr nach Hause hat er es aber nicht besonders eilig. Er leidet und hält durch. Die Russen leiden gerne, auch das ist allgemein bekannt.

    Im Gefängnis sind noch mehr Russen als in London

    Ein anderer Bekannter von mir, ein erwachsener, gestandener Mann, der schon zu Sowjetzeiten eine Neigung zu dem hatte, was das Strafgesetzbuch als Betrug bezeichnet, kam einmal ins Gefängnis. Daran ist erst einmal nichts Außergewöhnliches. Im Gefängnis sind noch mehr Russen als in London. Er hegte den Wunsch, auf Bewährung rauszukommen, und fand heraus, dass der Leiter der Strafkolonie ein interessantes Hobby hatte. Er züchtete Kaninchen, besaß Käfige (offenbar eine Berufskrankheit; die Neigung dazu, die gewohnten Bedingungen auch auf andere Ebenen zu übertragen). In den Käfigen saßen die Rammler, er fütterte sie mit Kohl und freute sich an ihrer Niedlichkeit.

    Aber er war nicht bloß Kaninchenzüchter. Er war auch Sammler.

    In den Käfigen saßen edle Kaninchen seltener Rassen. Doch er wollte eine noch seltenere Rasse besitzen. Der Mensch braucht ja Träume. Mein Bekannter recherchierte, fand heraus, dass genau solche in einer Tierzucht in der Nähe von Rjasan gezüchtet werden, und beauftragte seine Kumpels auf freiem Fuß damit, das kostbare Geschenk für den Leiter zu besorgen. Darüber, wie ein paar ziemlich harte Typen zwei Kaninchen quer durchs Land fuhren, hätte man einen Film drehen können, doch als sie ankamen, stellte sich heraus, dass ihnen jemand zuvorgekommen war und der Leiter diese Rasse schon in seiner Sammlung hatte. Außerdem stellte sich heraus, dass man diese für die Bewährung notwendigen „Belohnungen“ problemlos kaufen konnte – 10.000 Rubel das Stück. Mein Bekannter machte vor Freude einen Luftsprung und sagte, er nehme gleich hundert. Der bescheidene Leiter der Strafkolonie senkte den Blick und bemerkte, dass ein Dutzend ja auch schon genügen würde.

    Der Bekannte kam frei und sprach von dem Kaninchenzüchter aus dem Strafvollzug seitdem nur ausgesprochen liebevoll.

    Woher diese Korruptionäre kommen, ist ein Rätsel

    Überhaupt sind wir von von Grund auf ehrlichen Menschen umgeben, niemals besticht jemand irgendjemanden, woher diese Korruptionäre kommen, ist ein Rätsel, und doch hat jeder von Grund auf ehrliche Mensch eine eigene Bestechungsgeschichte zu erzählen. Auch ich habe meine. Vor langer Zeit, als noch Freiheit herrschte, lebte ich in einer Mietwohnung. Einmal, nach einer wilden Party, weckte mich ein Polizist und stieß einen Jubelschrei aus, als er hörte, dass ich in der Wohnung nicht gemeldet war. Er lud mich und den Wohnungseigentümer zu sich aufs Revier ein und kam gleich nach den Begrüßungsformalitäten zur Sache. Er zeigte auf eine aufgeschlagene Zeitschrift auf seinem Tisch und sagte: „Ich brauche ein Lesezeichen“ (ich glaube, damals bedeutete das Wort „Lesezeichen“ wirklich nur Lesezeichen). Ich legte einen Schein mit Benjamin Franklins Porträt zwischen die Seiten, der bekanntermaßen nie Präsident der USA war. Der Beamte klappte die Zeitschrift zu und sagte: „Danke schön. Ich komme in einem Jahr wieder.“

    Ich zog aus, an den höflichen Polizisten dachte ich schon gar nicht mehr, bis mich genau ein Jahr später völlig ratlos mein Freund anrief, der nach mir in die Wohnung gezogen war, und erzählte: „Hier ist irgend so ein Polizist. Er sagt, ich schulde ihm 100 Dollar.“ „Stimmt, du schuldest ihm 100 Dollar“, bestätigte ich. „Warum?!“ – „Weil er Polizist ist, und du nicht.“

    Und keiner wundert sich

    Korruption ist das unbedingte Böse. Es kommt vor, dass Korruption tötet: Simnjaja Wischnja, Bulgarija und so weiter, die Liste der Beispiele ist leider lang. Dabei haben wir einfache Russen uns längst mit der Tatsache abgefunden, dass jeder Bürger, der die Macht zu fassen kriegt (jede Macht, von der kleinsten bis zur beinahe unbeschränkten), zu Diebstahl und Erpressung neigt. Man empört sich gewöhnlich, wenn man Ergebnisse immer neuer Untersuchungen liest, den erbärmlichen Prunk der Schlösser bestaunt, mit Häuschen für Bedienstete und Häuschen für Entlein, aber man wundert sich überhaupt nicht. Wundern würde man sich wohl über eine fundierte Untersuchung, die belegt, dass ein Staatsbeamter X ehrlich von einem einzigen Gehalt lebt. Aber eine derartige Untersuchung hat noch nie jemand veröffentlicht und wird vermutlich auch nie jemand veröffentlichen.

    Eine Menge eigentümlicher Annehmlichkeiten

    Der Kampf gegen die Korruption gerät hierzulande ständig ins Stocken. Zum Teil, weil sich die echten Mechanismen der Korruptionsbekämpfung in den Händen eben jener befinden, die sich von dieser Korruption ernähren. Zum Teil liegt es an unserer eigenen Ergebenheit, der Bereitschaft, den unredlichen Reichtum der Mächtigen als unabdingbar ins gewohnte Weltbild zu schreiben. Bis dato ist Ergebenheit ein weiterer Wesenszug der Russen. Zum Teil aber auch, möchte man meinen, weil Korruption sogar dem einfachen Bürger, sogar einem Opfer der Korruption, eine Menge eigentümlicher Annehmlichkeiten sichert. Im Sinn haben wir alle genau das, was mein betrunkener Gast aus London laut ausspricht.

    Ein großer Teil des russischen Lebens besteht aus dem Hindurchlavieren zwischen tödlichen Gefahren, deren Ursache die Korruption ist, und lächerlichen Annehmlichkeiten, für die dasselbe gilt. Es ist ein banges Leben, wenn man sich klarmacht, dass jedes einzelne Gebäude über dir einstürzen könnte, weil der Bauherr die Bauaufsicht geschmiert hat und der Subunternehmer Sand statt Zement verwendet. Aber es ruft auch Panik hervor, sich in die Papierhölle der Bürokratie zu vertiefen. Schwer zu sagen, was bei unseren Gewohnheiten mehr Schrecken erzeugt. Doch die Wahl zwischen den beiden Optionen ist sowieso illusorisch – die Papierhölle ist nämlich nicht dazu gedacht, das Prozedere zu überwachen, sondern sie dient der Erpressung.

    Makabere Lotterie mit hohem Einsatz

    Das Ergebnis ist eine makabere Lotterie mit hohem Einsatz. Wenn du lebst und in Freiheit bist, hast du bisher Glück gehabt, wenn du stirbst, ist alles vorbei, und wenn nur deine Freiheit vorbei ist, beginnt eine neue Lotterie. Vielleicht wird man dich schlagen und foltern, vielleicht auch nicht. Aber sicher ist, dass es immer einen Weg geben wird, sich zu einigen, und sogar an Orten, die eher unangenehm sind, zum Schaschlik einen Cognac hinunterzustürzen. 

    Aber vor allem scheint es, als würden wir den Rest der Welt allmählich auch an diese Lotterie gewöhnen. Unser nationaler Leader schüchtert die Welt eifrig mit dem Endkrieg ein, zeigt Zeichentrickfilme mit Raketen, prophezeit den Feinden den Tod und den Freunden den Weg ins Paradies. Also auch den Tod. Klingt beeindruckend und hebt nicht gerade die Stimmung, doch dann taucht eine neue Untersuchung auf – sogar zwei, von der Novaya Gazeta und von Nawalny – die recht ausführlich darlegen, dass das Geld, welches für die furchteinflößenden Raketen gedacht war, höchstwahrscheinlich einfach geklaut wurde, so wie das hier eben üblich ist. Du liest, empörst dich, wunderst dich nicht – alles in allem das bekannte Gefühlsspektrum – aber vor allem begreifst du, dass es keinen Krieg geben wird. Wie denn, Krieg ohne Raketen?

    Und so wursteln sie herum auf dem geschundenen Leib der armen Heimat, die Satten und Unersättlichen, ziehen, zerren und schleppen das Zusammengeklaute, Häuser für Entlein und Schlösser am Comer See, züchten Kaninchen und nehmen uns aus wie dieselbigen, und du schaust sie dir an und denkst, na ja, vielleicht sollte man sie lassen? Ja, klar, sie klauen, aber wenigstens bringen sie keinen um, beziehungsweise manchmal schon, aber das ist nicht ihr Ziel, und auch nicht alle auf einmal, obwohl sie doch könnten. Und auch uns bleiben ja wiederum ein paar winzige Annehmlichkeiten …

    Die Russen gehen gerne im Kreis, auch das ist, glaube ich, allgemein bekannt.

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  • Warum alles bleibt, wie es ist

    Warum alles bleibt, wie es ist

    Russlands Wirtschaft setzt auf Gas – und sonst? Kritiker mahnen schon lange Reformen an. Der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew begründet auf Sobesednik, warum es in absehbarer Zeit keine geben wird.

    Liberale Reformen sind in Russland nicht möglich. Denn der Anteil derjenigen Menschen, die bewusst gegen die Einführung solcher Reformen sind, ist zu groß. Wobei sich sowohl deren Anzahl als auch ihre Stellung in den 2000er und in den Folgejahren stark verändert hat.

    Werfen wir zuerst einen Blick auf die Beamten. Ihre Zahl hat sich von 1999 bis 2017 beinahe verdoppelt, und zwar von 780.000 auf 1,37 Millionen. Der zunehmende Wohlstand in der Bevölkerung sowie die verbesserten Haushaltsmöglichkeiten – dank gestiegener Weltmarktpreise für russische Rohstoffprodukte – ließen den Lebensstandard dieser Bevölkerungsgruppe sprunghaft ansteigen.
    Rechnet man noch die Freunde und Verwandten dieser Glücklichen hinzu, so kann mit Sicherheit gesagt werden, dass mindestens drei Millionen Menschen von der heutigen Ordnung profitieren und keine Veränderungen wünschen.

    Millionen Menschen wünschen keine Veränderungen

    Neben der Masse von Beamten gibt es noch die Silowiki. Nicht nur, dass diese Gruppe der russischen Bevölkerung zum größten Teil nicht zur wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklung des Landes beiträgt, sie stört diese sogar. Um ihre Existenz aufrecht zu erhalten, führen sie immer neue Beschränkungen ein. Deren Überwachung sichert ihren Lohn, die Sanktionierungen bei Nichteinhaltung garantieren korrupten Gewinn
    Die Zahl derer, die in diesen Strukturen beschäftigt sind, übersteigt die in Industrieländern bei weitem: Der FBI und das CIA verfügen nur über ein Drittel der Beschäftigten wie der FSB. Auch der Zustrom an Leuten ist in diesem Bereich so groß wie nie. In der Folge wollen nicht weniger als vier Millionen Menschen, die dieser Gruppe angehören (inklusive Militär), und ebenso viele Familienmitglieder überhaupt keine Veränderungen.

    Diese Zahlen mögen vielleicht nicht ganz genau sein, aber in der letzten Zeit gibt es einen sehr interessanten neuen indirekten Indikator: Gemäß eines neuen Programms sind eigene  russische Betriebssysteme für Smartphones in Zukunft obligatorisch für 7,9 Millionen Mitarbeitende staatlicher Organe, staatlich finanzierter Einrichtungen und Unternehmen mit staatlicher Beteiligung. 
    Anders ausgedrückt: Geht man in Russland von 72,4 Millionen Beschäftigten aus, so beträgt der Anteil an „verantwortungsvollen Staatsdienern“ mehr als elf Prozent. Rechnet man noch die Familienmitglieder dieser Personengruppe hinzu, so kommt man auf 17 bis 18 Prozent der aktiven Bevölkerung. 
    Zum Vergleich: In den USA beträgt die Zahl der Angestellten aller staatlichen Einrichtungen, inklusive Personal des nationalen Sicherheitsdienstes und des FBI, 1,86 Millionen Menschen, was 1,21 Prozent der Gesamtbeschäftigten entspricht.

    Hunderttausende stünden auf der Straße

    Im Zuge von Reformen – sollten denn welche in Angriff genommen werden – würden diese Leute ihre Stelle verlieren und müssten in die Wirtschaft eingegliedert werden, wo die Mehrheit von ihnen unter normalen Umständen nicht gebraucht wird. So wurden beispielsweise in Georgien, als Saakaschwili die Reformen eingeleitet hatte, praktisch alle Angestellten der Polizei entlassen. In den baltischen Staaten betrug der Stellenabbau im Zuge der Reformen zwischen 65 und 80 Prozent. In Russland würden sich also in einer gleichen Situation 700.000 bis 900.000 Leute auf der Straße wiederfinden. Was würden wir mit ihnen anfangen, und welche Auswirkungen hätte das auf die Bevölkerung? Und eine noch wichtigere Frage: Wie will man die Hälfte oder ein Drittel der bisher Beschäftigten bei einer Umstrukturierung des Innenministeriums denn bitteschön ersetzen? 

    Gerade in dieser unglaublich aufgeblasenen Schicht von „Verwaltungsbeamten“ und „Sicherheitsspezialisten“ liegt der eigentliche Grund, warum Reformen in Russland nicht durchgeführt werden können. Dieses bösartige Geschwür, entstanden durch ein energiegeladenes Karzinogen der 2000er Jahre, ist inoperabel. Man kann sein Wachstum mit Maßnahmen analog zu Bestrahlung oder Chemotherapie bremsen. Das Geschwür zu entfernen hätte jedoch den Tod des Patienten zur Folge.

    Im postsowjetischen Raum können heute zwei Entwicklungswege beobachtet werden: Der erste ist relativ revolutionär und dort möglich, wo Sicherheits- und bürokratische Strukturen nicht nur schwach sind, sondern auch keinen kritischen sozialen Einfluss haben. 
    Warum, beispielsweise, glückten in Georgien oder Armenien ziemlich radikale Umsturzversuche der bisherigen Systeme? Hauptsächlich deshalb, weil die Bürokratie einerseits schwach war (wie in Georgien) oder andererseits die Wirtschaft nicht grundlegend kontrolliert hat (wie in Armenien, wo das russische Kapital eine außerordentlich starke Stellung hatte). Außerdem waren die Sicherheitsstrukturen verhältnismäßig schwach (am Vorabend der April-Proteste in Jerewan betrug die Anzahl armenischer Polizisten ungefähr 10.000 Leute). In solchen Situationen kann es zu einem Machtwechsel kommen, können die (unter den früheren Hausherren) verantwortlichen Staatsbeamten sowie die Sicherheitsleute davongejagt und recht problemlos neue Staatsorgane mit qualifizierterem Personal aufgebaut werden, was recht gute Perspektiven schafft.

    Übles „Geschwür“ aus Beamten und Silowiki

    Der zweite, konservativere Weg ist charakteristisch für Gesellschaften mit einer völligen Verflechtung von Wirtschaft und Staat (wie Russland oder die Ukraine), wo auch wesentliche Erschütterungen zu keiner bedeutenden Säuberung der Bürokratie- und Machtsphäre führen. Nach einer relativ kurzen Normalisierungsphase wie in der Ukraine nach der Revolution der Würde oder einer längeren Phase wie in Russland in den 1990er Jahren gelangt in solchen Ländern das üble und nutzlose „Geschwür“ aus Beamten und Silowiki zu seiner alten Größe zurück. Und diese Tendenz kann nicht abgewendet werden.

    Während der vergangenen 20 Jahre hat sich in Russland ein System herausgebildet, von dem anzunehmen ist, dass die, die an die Macht kommen oder in Sicherheitsstrukturen tätig sind, nur von materiellem Eigennutz getrieben sind (der Alltag lässt zumindest auf nichts anderes schließen). Ernsthafte Reformen hätten also die Entlassung von drei bis vier Millionen Menschen aus den entsprechenden Strukturen zur Folge, die durch mindestens zwei Millionen ersetzt werden müssten, die vorher noch nie etwas mit Bürokratie zu tun hatten.

    Ein solches „Manöver“ ist technisch unmöglich, und daher erweisen sich Reformen im heutigen Russland als unrealistisch. Schaut man auf die Zerschlagung des zaristischen russischen Staatsapparates durch die Bolschewiki zurück, so mag man sich an den gezahlten Preis erinnern: Eine Elite von nicht weniger als drei Millionen Menschen wurde ausgelöscht (physisch und aus dem Land vertrieben), und über einen Zeitraum von nicht weniger als 20 Jahren hat sich eine neue Verwaltungsschicht herausgebildet. Ein solches Experiment kann Russland heute nicht wiederholen. Und das bedeutet, dass Hoffnungen auf baldige und radikale Umwälzungen eine Illusion bleiben. 

    Mit freundlicher Genehmigung von Sobesednik

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  • Video #22: „Herr Nawalny, ich fordere Sie zum Duell“

    Video #22: „Herr Nawalny, ich fordere Sie zum Duell“

    Auf YouTube hat der Chef der russischen Nationalgarde Viktor Solotow ordentlich Dampf abgelassen: „Ich fordere Sie zum Duell“, wandte sich der General und einstige Leibwächter Putins in einem siebenminütigen Video an Oppositionspolitiker Alexej Nawalny
    Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung hatte zuvor Recherchen über Korruption bei der Nationalgarde vorgelegt. Dabei wird Solotow beschuldigt, dass er sich persönlich bereichert habe. Dies weist er im Video weit von sich, wenn er auch „korruptionsbedingte Mängel“ in seiner Behörde eingesteht.
    Nawalny sitzt unterdessen eine 30-tägige Haftstrafe ab, wegen Organisation nicht genehmigten öffentlichen Protests. Nichtsdestotrotz hatten seine Anhänger am vergangenen Wochenende erneut in mehreren Städten Russlands Proteste gegen die geplante Rentenreform durchgeführt, dabei waren mehr als 1000 Menschen festgenommen worden.
     
    Solotows virtuelle Kampfansage an „Gospodin Nawalny“ (dt. „Herr Nawalny“) , wie er ihn anspricht, ging im RUnet schnell viral. Kreml-Sprecher Peskow sagte, die Äußerungen Solotows über den offiziellen YouTube-Kanal der Nationalgarde seien mit Putin nicht abgesprochen gewesen. Zugleich äußerte er Verständnis für Solotow und meinte, man müsse Verleumdungen bisweilen im Keim ersticken.


    Das Originalvideo finden Sie hier.


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    dekoder-Redaktion
    erschienen am 12.09.2018

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  • „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.

    Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.

    Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.

    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei
    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei

    Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?

    Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.

    Warum hast du beschlossen, das zu drehen?

    Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.


    Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?

    Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. 
    Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen  und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.

    Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. 
    Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?

    Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.

    Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. 
    Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.

    Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.

    Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.

    Glaubst du das?

    Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte.
    Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.

    Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben

    Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.

    Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.

    Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.

    Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?

    Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.

    Aber doch nicht mit Nawalny!

    In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.

    Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.

    Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin

    Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.

    Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns,  die wir unsere Chance verpasst haben?

    Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.

    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube
    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube

    Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. 
    Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.

    Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?

    Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.

    Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?

    Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.

    Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.

    Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?

    Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.

    Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden

    Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.

    Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.

    Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.

    Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht

    Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.

    Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.

    Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.

    Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?

    Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. 
    Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.

    Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.

    Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.

    Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?

    Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!

    Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff  trotzdem

    Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.

    In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?

    Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.

    Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend

    Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen.
    Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!

    Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?

    Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.

    In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.

    Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.

    Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?

    Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.


    https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8

     

    Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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