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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kino #3: Brat

    Kino #3: Brat

    „Worin liegt die Kraft, Bruder?“ („W tschom sila, brat?“) – so lautete im krisengeschüttelten Russland der 1990er Jahre die Schlüsselfrage. Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder) fragt nicht nur, er gibt auch die schon damals, in prä-postfaktischen Zeiten, gefährliche Antwort: „In der Wahrheit liegt die Kraft.“
    Auf den „Bruder“ Danila Bagrow (gespielt von Sergej Bodrow jun.), der diese Antwort auch jenseits des Films verkörpern sollte, trifft man noch zwei Jahrzehnte nach dem Filmstart 1997 allüberall. Auf dem Petersburger Alexander-Newski-Platz blickt er als Graffito von einem Trafohäuschen, und in Wahlkampagnen ertönen seine alles andere als politisch korrekten Sentenzen quer durch die politischen Lager.
    Dieser „Kumpel“, so die umgangssprachliche Verwendung von „brat“, ist die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich. Der Wahrheitskämpfer Danila und sein Programm spielen in Politik, Produktbranding und als geflügelte Worte bis heute eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis.

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company
    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company

    Die Ausgangsbedingungen für den schillernden Kultfilm und seinen Helden waren denkbar schlecht. Die Filmindustrie steckte Mitte der 1990er Jahre in ihrer tiefsten Krise. Die Menschen gingen angesichts der prekären Umstände kaum noch ins Kino, und wenn, dann wollten sie US-amerikanische Action sehen. Nicht zuletzt galt der Regisseur Balabanow bis dahin als Autorenfilmer ausschließlich für „Eingeweihte“.1 Doch nun lieferte sein hybrides, sehr erfolgreiches Autoren-Genrekino, das mit Brat im Jahr 1997 seinen Anfang nahm,2 in geradezu idealtypischer Weise die Schablone für ein neues russisches Kino, das zur nationalen Identitätsbildung beitragen sollte.

    Die Geburt eines neuen Volkshelden

    Brat ist das Beispiel für ein „nationales Kino“ mit „neuen Volkshelden“, die den Vergleich mit dem amerikanischen Film nicht zu scheuen brauchen. Dieser „neue Filmheld“ geht nicht aus der Geschichte des Landes hervor. Vielmehr ist er scheinbar völlig „unschuldig“ und „rein“. Er ist nicht etwa das groß gewordene Kind der sowjetischen Leidensgeschichte, das zum Beispiel Andrej Tarkowski in Iwans Kindheit (1962) in aller tragischen Brutalität an den Folgen des Krieges zu Grunde gehen ließ. 

    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow
    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow

    Zwar kommt auch Danila Bagrow aus dem Krieg, er ist ein jugendlicher Heimkehrer aus dem heute „ersten“ genannten Tschetschenienkonflikt (1994 bis 1996). Doch ist er kein traumatisierter Kindersoldat, sondern ein so sympathischer wie reflexionsfreier Killer, der sich selbst ermächtigt. Aus dem Kaukasus bringt er nur die Camouflage-Jacke und das Handwerk des Tötens mit und entfaltet im unförmigen Strickpulli, seiner Version des Superheldenkostüms, eine enorme Anziehungskraft. 

    Als „Dummerjahn“, dem für die russische Kultur typischen Iwanuschka-Duratschok, ist Danila in seiner Unmittelbarkeit, „Unschuld“ und psychologischen Flachheit das ideale Sprachrohr der nationalen Befindlichkeit in den Jahren der Transformation. Sie findet ihren Ausdruck in Danilas xenophoben Statements und in der Wahl der Mittel, mit denen er seine Wahrheit skrupellos und gewalttätig etabliert.

    Danilas Zaubermärchen der Transformationszeit

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, der sich auf die Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft macht und dabei zielstrebig und ohne Skrupel, dafür aber „instinktiv“ und mit durchschlagender Gewalt vorgeht. Von den Autoritäten seines provinziellen Herkunftsortes – örtliche Miliz und Mutter – in die Welt geschickt, soll er sich eine Arbeit suchen, um nicht wie der kriminelle Vater in einem Straflager zu verschwinden. 

    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig
    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig

    Danila macht sich also auf den Weg zum angeblich erfolgreichen Bruder Viktor nach Petersburg. Bald schon kann er zeigen, was seine eigentliche Mission ist: Er übt im Machtvakuum der 1990er Jahre stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz, ahndet Regelverstöße und beschützt die „Seinen“. Entsprechend einfach ist seine Welt gestrickt. Die anderen, denen er eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“ („Ich bin nicht dein Bruder, schwarzärschige Zecke“), die Nicht-Russen („Ich hab’s nicht so mit den Juden“) und „Amerika“ („… auch bald am Ende“). 

    Für den Bruder und Ersatzvater allerdings, der in Petersburg keineswegs einer ehrlichen Arbeit nachgeht, sondern der Handlanger einer „kriminellen Autorität“ ist, macht sich Danila ganz ohne Moral die Hände nicht nur symbolisch schmutzig. Der kindliche Protagonist mit dem gleichbleibend harmlosen Gesichtsausdruck verwandelt sich in einen kaltblütigen Killer, der unverwundbar, professionell und frei von Emotionen für Ordnung sorgt. 

    Musikclip-Ästhetik

    Bevor es zu Action, Showdown und einem unerwarteten Ende kommt, flaniert der junge Protagonist durch die Stadt. Ein liebevoller Blick auf die Abseiten eines Petersburg der 1990er Jahre – getaucht in für Balabanow typisches Sepia. Bewaffnet ist der „Held seiner Zeit“ hier noch lediglich mit einem CD-Player, der Quelle für den musikalischen Drive des Films. 

    Danilas Streifzüge durch die Stadt zeigen die Metropole zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen und erbarmungslosen Vollstreckern. Nicht zuletzt dieses Stadtporträt macht den Film heute, zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, zum „größten russischen Film über das Leben in der ersten postsowjetischen Dekade“.3

    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“
    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“

    Die auffällige Rhythmisierung des Films durch Schwarzbilder, die wie sichtbar gemachte Pausen zwischen Songs einer Musik-Compilation die einzelnen Episoden voneinander abtrennen, verweist auf die Musikclip-Ästhetik, ebenso die Montagetechnik, für die der handlungsinterne musikalische Sound eine strukturelle Funktion hat. Szenen, die – wie ein Video-Clip auf die darin auftretenden Musiker – hier auf die musikbegleitete Bewegung des Protagonisten durch den Stadtraum fokussieren, wechseln in Brat mit Actionszenen, die ohne Musik auskommen. 

    Low-Budget als ästhetisches Programm

    Der Film ist auch eine Reflexion über das Filmemachen unter völlig neuen Bedingungen. Nicht zufällig spielt die erste Szene auf dem Set einer Musik-Clipproduktion für Nautilus Pompilius, einer berühmten Band der russischen Rockszene. Brat kommentiert in der Machart und auf seiner Handlungsebene die zeitgenössische Medien- und Populärkultur, in der er sich wegweisend positioniert. 

    Balabanow realisiert Brat als Low Budget-Produktion bei CTB, einer Filmgesellschaft, die Sergej Seljanow 1992 unter Beteiligung Balabanows gegründet hatte, und die sich bald als eine der einflussreichsten Produktionsfirmen auf dem russischen Filmmarkt etablieren sollte. 

    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz
    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz

    Mit minimalen Mitteln und der kostenlosen Unterstützung von Freunden realisiert, kann Brat als Paradebeispiel für den Low-Budget-Film der ausgehenden 1990er Jahre in Russland gelten, wie er damals als Lösung diskutiert wurde.4

    Die sich daraus ergebende Arbeitsweise, kurze Drehzeiten, unaufwändige Settings auf der Straße oder in den eigenen vier Wänden, minimaler Technikeinsatz, ein mobiles Team aus großteils Amateuren, die anstelle von Gage an den Einnahmen beteiligt werden sollten und ähnliches,5 erzeugt eine spezifische Ästhetik, die sich in der authentischen Ausstattung, dem Kolorit der Drehorte, der unverstellten Spielweise, der monochromen Farblichkeit und ganz besonders der Dynamik von Brat widerspiegelt. 

    Regisseur als Handlanger?

    Überhaupt lässt sich der gesamte Film als Kommentar verstehen, wie unabhängiges Filmemachen unter den Bedingungen fehlender Filmförderung zu bewerkstelligen ist. In langen Close-ups ist Danila wiederholt bei seinen Vorbereitungen zu sehen, wie er aus einfachen Alltagsgegenständen, aus Streichhölzern, Plastikflaschen und Nägeln, sein Waffenarsenal herstellt. Um im Russland der 1990er Jahre zu überleben und zu prosperieren, hatte jeder, ob Filmemacher, Gangster oder Geschäftsmann, DIY-skills zu entwickeln.6 

    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen
    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen

    Dass ein solches Konzept nicht allein kreative Freiräume eröffnet und Erfolg bringt, sondern den Regisseur auch zum Handlanger von Fragwürdigem machen kann, wurde Balabanow nicht nur von der heftig streitenden Filmkritik sondern auch noch lange von der Forschung vorgeworfen. 

    Brat kommentiert diese ungute Verflechtung in einer Filmszene allerdings selbst und auf ironische Weise: Während der junge Killer mit Gehilfen in einer Wohnung auf das Opfer seines nächsten Auftrags wartet, steht plötzlich sein Idol Wjatscheslaw Butusow, der Frontmann von Nautilus Pompilius, vor ihm. Der sich hier selbst spielende Butusow hat sich in der Tür geirrt und lockt nun Danila in eine friedliche Parallelwelt im Stockwerk darüber. Dort feiern Filmleute und Musiker ein friedliches Fest. 

    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films
    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films

    Die Episode endet damit, dass Danila in seiner Welt von Mord und Totschlag die zufällige Geisel, einen kleinmütigen Regisseur und womöglich ironisches alter ego Balabanows, freilässt. Danilas Kompagnons hingegen werden Opfer seines „Wahrheitskonzepts“. Für den Filmemacher gibt es die Freiheit allerdings nur zu dem Preis, gemeinsam mit dem Killer Danila Tatortreiniger zu sein.

    Text: Christine Gölz
    Veröffentlicht am 01.03.2017


    Original mit englischen Untertiteln:

    Original ohne Untertitel:


    1.Dondurej, Daniil (1998): Ne brat ja tebe, gnida…, in: Iskusstvo kino, 1998, Nr. 2
    2.Großen, auch internationalen Erfolg hatte Balabanow mit seinen kontrovers diskutierten Filmen War (2002), Cargo 200 (2007), Morphin (2008) und The Stroker (2010)
    3.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50
    4.Gurauskajte, Ju. (1996): I ėto tože kino, in: Kommersant, 22.8.1996
    5.Kuvšinova, Marija (2015): Balabanov, Sankt-Peterburg, S. 15
    6.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50

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  • Kino #2: Aelita

    Kino #2: Aelita

    Im September 1924 tauchten in den größten sowjetischen Zeitungen vermeintliche Agenturmeldungen auf: „Anta … Odeli … Uta“, so war zu lesen, laute das Kryptogramm seltsamer Radiobotschaften aus dem Weltall. Funkstationen auf dem gesamten Globus hätten diese empfangen.

    Diese Meldungen hatten insofern eine gewisse Glaubwürdigkeit, als es schon zuvor Spekulationen gegeben hatte, dass es vielleicht außerirdisches, intelligentes Leben auf dem roten Planeten oder anderswo geben könnte. Seit der Entdeckung der sogenannten Marskanäle durch den Astronomen Giovanni Virginio Schiaparelli im Jahr 1877 waren solche Mutmaßungen in der populärwissenschaftlichen Presse immer wieder aufgetaucht. Diese und auch Meldungen über Weltraum-Enthusiasten, die von baldigen interplanetaren Reisen zu anderen Himmelskörpern und Zivilisationen träumten, waren auch dem sowjetischen Zeitungsleser bekannt.

    Was der Leser zunächst nicht wusste: Bei dieser „Agenturmeldung“ handelte es sich um eine Anzeigenkampagne, die Neugierde auf den Stummfilm Aelita1 schüren sollte. Der Film eröffnet dementsprechend mit Aufnahmen von Funkstationen aus allen Erdteilen und dem Zwischentitel: „Am 4. Dezember 1921 um 18 Uhr und 27 Minuten mitteleuropäischer Zeit haben alle Radiostationen der Erde ein seltsames Radiogramm empfangen.“ Es lautet: “Anta… Odeli… Uta“.

    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo
    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo

    Ende September 1924 kam Aelita in die Moskauer Kinotheater. Die Premiere war nicht nur wegen der einzigartigen Werbekampagne mit großer Spannung erwartet worden. Es war auch die erste Filmproduktion der neu gegründeten deutsch-sowjetischen Filmgesellschaft Meshrabpom-Rus. Als staatlich-private Aktiengesellschaft sollte sie ausländisches Kapital für das sowjetische Kino akquirieren und gleichzeitig die Revolution auch im Ausland propagieren.2

    Zudem war mit Jakow Protasanow (1881–1945) einer der prominentesten Filmregisseure der Vorkriegszeit aus dem Exil zurückgekehrt – und Aelita war sein erster Film seit seiner Rückkehr 1923.

    Schließlich heizte sowohl in der Parteiführung als auch beim breiten Publikum ein aktueller Beschluss des 13. Parteitags die Erwartungen an: Das Kino sollte, entsprechend stark gefördert, zum bedeutendsten Propagandainstrument werden. So wurde Protasanows Film als der „erste russische Streifen“ angepriesen, „der nicht hinter den besten ausländischen Inszenierungen“3 zurückbleibe.

    Der „erste Blockbuster in Russland“

    Aelita erzählt die Geschichte des frisch verheirateten Ingenieurs und Hobbyraketenbauers Los (gespielt von Nikola Zeretelli). Er wird schon bald von Eifersucht auf seine Ehefrau Natascha (Walentina Kuindshi) geplagt und beginnt davon zu träumen, geheime Botschaften von einer „Herrscherin des Mars“ mit Namen Aelita zu erhalten. Anstatt sich auf die Wirklichkeit einzulassen, verzweifelt Los über seine Ehe und träumt von einem Flug auf den Mars, wo er sich der Liebe zur Marskönigin hingeben kann, während der Bürgerkriegsveteran Gusew (Nikolaj Balatow) die Marsianer zur Revolution antreibt. Doch dann verwandelt sich die von der Sehnsucht nach Liebe verzehrte Herrscherin Aelita (Julia Solnzewa) selbst in eine Diktatorin: Den von dem irdischen Revoluzzer angezettelten Aufstand lässt sie blutig niederschießen. So erweisen sich die Marsträume als illusorische Trugbilder, während Los sich am Filmende mit seiner Ehefrau versöhnt. Gemeinsam sitzen sie vorm häuslichen Kamin und verbrennen Los’ Raketenpläne mit den Worten: „Genug geträumt – auf uns alle wartet eine andere, wirkliche Arbeit.“

    Operntheater ganz alter Schule

    Der nach dem antiken Kriegsgott benannte rote Planet – der Mars – hatte seit Alexander Bogdanows sozialistischer Zukunftsutopie Der rote Stern (1908) in Parteikreisen eine gewisse symbolische Bedeutung: Er stand für das bolschewistische Versprechen einer neuen Menschheit. Auch beim breiten Publikum erfreuten sich die Abenteuerfilme und Groschenhefte über außergewöhnliche Reisen in abgelegene Weltgegenden, mit spannenden Intrigen und viel Action und Exotik ungebrochener Beliebtheit.4 Der Roman von Alexej Tolstoi Aelita. Der Untergang des Mars, der ein Jahr zuvor erschienen war und zur Vorlage für den Film Aelita wurde, wurde von der Kritik jedoch nur verhalten aufgenommen.5 Auch die Verfilmung von Protasanow konnte die großen Erwartungen, die man vor der Premiere des „ersten Blockbusters in Russland“6 geschürt hatte, nicht erfüllen. Weder was die Handlung noch was die filmische Umsetzung betraf.

    Los ist in Protasanows Film eher ein tragikomischer Romantiker als ein draufgängerischer Abenteurer. Und eine vom bolschewistischen Zuschauer erwartete siegreiche interplanetare Revolution bietet der Film auch nicht. Entsprechend vernichtend fiel die Filmkritik seinerzeit aus. Die Partei erwog sogar ein Exportverbot. Als Aelita 1926 dann doch in die Kinos der Weimarer Republik kam, war die Enttäuschung ebenfalls groß: „Operntheater, oft nur Ausstattungsballett ganz alter Schule“ sei hier entstanden.7 Der Film verschwand für Jahrzehnte in den Kinoarchiven. Der „erste sowjetische Science-Fiction-Film“, so scheint es, war seiner Zeit voraus. Er sollte erst in der Zukunft neu entdeckt werden.

    Realitäten und Sehnsüchte

    Tatsächlich holte man Aelita in den 1960er Jahren, im Zuge der Kosmosbegeisterung der sowjetischen Tauwetterzeit wieder aus der Versenkung. Das staatliche Filmarchiv in Moskau brachte eine restaurierte Fassung dieses „ersten sowjetischen Science Fiction-Films“ auf die Leinwand, warnte aber in einem Vorspann vor dem „geringen künstlerischen Niveau“ dieses Frühwerks des sowjetischen Stummfilms.

    Es dauerte noch bis in die 1990er Jahren, ehe Aelitas Wiederentdeckung als „Schlüsselfilm der frühen NÖP-Periode“ begann, der die „Realitäten und auch […] Sehnsüchte“ dieser Zeit „in einer komplexen und originellen Form“ reflektiert.8

    Die vielen Straßenszenen zeigen die schwierige Situation nach dem Ende des Bürgerkriegs in der Sowjetunion Anfang der 1920er Jahre: Einerseits herrschten Wohnungs- und  Lebensmittelknappheit, andererseits vergnügten sich die alten Oberschichten wieder in Kaffeehäusern, Restaurants, bei Theateraufführungen und auf Bällen. Diese Szenen ließen nun ein „avantgardistisches Prinzip“ erkennen, das die „Präsenz vom Alten im Neuen, vom Westen im Osten, vom Dekadenten im Proletarischen, und vor allen Dingen vom Falschen im Wahren“ bloßlege.9

    Imaginäre Revolutionshelden versus spießbürgerliche Romantik

    Und auch wenn Protasanows Film (nicht nur) in seinem melodramatischen Filmschluss ein recht konservatives Ideal des häuslichen Ehelebens propagiert: Aus heutiger Sicht fällt gerade der kritische Kamerablick auf die patriarchalen Rollenbilder ins Auge.10 So entfaltet Aelita in Gestalt von Los und weiteren männlichen Protagonisten eine detaillierte psychologische Studie über Männer, die sich als geniale Erfinder, Revolutionshelden, Gentleman-Gauner oder Meisterdetektive sehen, aber unfähig sind, ihre „erotischen Eskapaden“ in ein postrevolutionäres Alltagsleben zu integrieren.

    Vor allem aber sind es die Marsszenen, die den Film zum Klassiker machen. Sie stehen deutlich unter dem Eindruck des frühen expressionistischen Films aus Deutschland, umgekehrt wird ihnen aber auch ein Einfluss auf Fritz Langs Metropolis (1927) nachgesagt. Diese Fantasiewelt besticht durch die geometrischen Bühnenaufbauten und Innenräume von Viktor Simow und Isaak Rabinowitsch. Zwischen Kuben, Dreiecken und Zylindern bewegen sich die handelnden Figuren in konstruktivistischen Kostümen von Alexandra Exter mit expressionistischen Gesten. Allerdings zeigen diese kontrastreich ausgeleuchteten Bilder keine kubo-futuristische Utopie. Sondern sie sind der Schauplatz einer brachialen Militärdiktatur, die mit Hilfe einer Roboterarmee die Arbeiter in unterirdischen Katakomben versklavt und vernichtet.

    Dieses Scheitern der futuristischen Marsträume erscheint angesichts der späteren Unterdrückung der künstlerischen Avantgarde im Stalinismus geradezu prophetisch. 1924 jedoch war dies keine Botschaft, die im Land der proletarischen Diktatur auf großen Zuspruch gestoßen wäre. „Verschimmelte, spießbürgerliche Romantik, gemischt mit einer äußerst ungezügelten Fantastik“ bescheinigte die damalige Kritik dem Werk. Ein Diktum, das den Zukunfts-Film aus der Vergangenheit heute nur noch interessanter macht.

    Text: Matthias Schwartz
    Veröffentlicht am 02.02.2017


    Hier gibt es das Original ohne Vertonung:


    1.Aelita (Meshrabpom-Rus, UdSSR 1924, Regie: Jakow Protasanow, Drehbuch: Fjodor Ozep, Alexej Fajko)
    2.Vgl. Agde, Günter / Schwarz, Alexander (Hrsg.) (2012): Die rote Traumfabrik: Meschrabpom-Film und Prometheus (1921-1936), Berlin
    3.Anfangs gab es auch Überlegungen, die avantgardistischen Züge des Films noch durch Zeichentrickszenen zu unterstreichen, was Protasanow aber ablehnte. Aus den Skizzen ist dann der erste sowjetische Science-Fiction-Zeichentrickkurzfilm Die Interplanetare Revolution (Mežplanetnaja revoljucija, 1924) entstanden, der nur einen Monat vor Aelita seine Premiere hatte.
    4.Seit 1923 erschienen erstmals die ersten drei Bände einer polulären Barsoom-Serie vom Bestsellerautor jener Zeit Edgar Rice Burroughs auf Russisch, die von dem amerikanischen Bürgerkriegshelden John Carter handeln, der auf dem Planeten Mars in einen dortigen Krieg der Welten verwickelt wird. Diese Serie ist gewissermaßen eine frühe literarische Version von Star Wars.
    5.Juri Tynjanow hatte seinerzeit lakonisch festgestellt: „Der Mars ist langweilig wie das Marsfeld … Es lohnt nicht, Marsromane zu schreiben.“ Siehe Schwartz, Matthias (2014): Expeditionen in andere Welten: Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit, Wien, S. 168
    6.Ignatenko, Aleksandr (2007): «Aelita»: Pervyj opyt sozdanija blokbastera v Rossii, Sankt Petersburg
    7.Schlotthauer, Lora (2009): Rezeption des russischen Stummfilms in den deutschen Medien am Beispiel von Film-Kurier 1920-1930, in: KakanienRevisited. Ich danke Karsten Greve für den Hinweis.
    8.Christie, Ian (1991): Down to Earth: Aelita relocated, in: Taylor, Richard / Christie, Ian (Hrsg.): Inside the Film Factory: New Approaches to Russian and Soviet Cinema, London, New York
    9.Huber, Katja (1998): „Aėlita“ – als morgen gestern heute war: Die Zukunftsmodellierung in Jakov Protazanovs Film, München
    10.Horton, Andrew J. (2000): Science Fiction of the Domestic: Iakov Protazanov’s Aelita, in: Central Europe Review Nr. 1:2/2000; Christensen, Peter G (2000): Women as Princesses or Comrades: Ambivalence in Yakov Protazanov’s „Aelita“ (1924), in: New Zealand Slavonic Journal (2000), S. 107-122

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    Januar: Backstage im Bolschoi

    Andrej Swjaginzew

    Andrej Tarkowski

    Kino #1: Ironija Sudby

    Leviathan gegen Leviathan

    Leviathan

  • Kino #1: Ironija Sudby

    Kino #1: Ironija Sudby

    „Es gibt eine Tradition: Jedes Jahr am 31. Dezember gehe ich mit Freunden in die Banja … und wir baden da“ – so fängt Shenja Lukaschin, Protagonist des Filmes Ironija sudby (dt. Ironie des Schicksals), immer wieder an, seine unglaubliche, aber doch wahre Geschichte zu erklären, die – wie es in einem einführenden Untertitel gleich zu Beginn heißt  – so „nur und ausschließlich in der Neujahrsnacht passieren konnte“. Mit Silvester und dem Neujahrsfest ist Ironie des Schicksals auf das Engste verflochten: Nicht nur spielt diese klassische sowjetische Verwechslungskomödie am 31. Dezember, der Film läuft auch traditionell am letzten Tag jedes Jahres im Fernsehen und wurde am Neujahrstag 1976 zum ersten Mal in der UdSSR ausgestrahlt.

    Von der Banja, einem russischen Dampfbad, fahren vier Freunde zum Flughafen, weil einer von ihnen zum Silvesterfest nach Leningrad fliegen muss – sie haben schon einiges intus. Während Shenja und Pawlik im Restaurant des Moskauer Flughafens selig vor sich hin dösen, versuchen die zwei anderen sich zu erinnern, wer eigentlich der Reisende sein sollte. „Wir dürfen das nicht dem Zufall überlassen. Wir werden einfach und logisch vorgehen“, sagt einer von ihnen. Die alkoholisierte Logik aber versagt, und es steigt der Falsche in den Flieger.

    Weihnachtserzählung

    Das Filmsujet erinnert an die Tradition der sogenannten Swjatotschnye rasskasy (zu übersetzen ungefähr als Weihnachtserzählungen), in denen sich der alltägliche Lauf des Lebens durch ein übernatürliches Ereignis um Weihnachten plötzlich und grundlegend ändert (bzw. um den Neujahrstag herum, der in Sowjetrussland viele Attribute von Weihnachten übernommen hat)1. Die moderne, realistische Kunst nutzt anstelle des Wunders entweder die Kraft des Traums oder die des Alkohols. Letzterer sorgt in Ironija Sudby denn auch dafür, dass es letztlich der weggetretene Shenja Lukaschin ist, der am 31. Dezember in Leningrad landet und nicht Pawlik, der eigentlich den Flug hätte antreten sollen.

    Auf dem Flughafen rätseln die Männer, wer von ihnen los muss. Der Satz dazu fällt heutzutage gern, wenn unter mehreren Leuten unklar ist, wer etwas zu tun oder vorhat.
    Auf dem Flughafen rätseln die Männer, wer von ihnen los muss. Der Satz dazu fällt heutzutage gern, wenn unter mehreren Leuten unklar ist, wer etwas zu tun oder vorhat.

    Wenn man sagt, die Menschen in Russland schauen diesen Film traditionell am Silvesterabend, so stimmt das nur teils: Während der umfangreichen Neujahrsvorbereitungen schaffen nur wenige, den Blick vom Herd oder vom Schneidebrett auf den Fernseher zu richten. Dies ist aber auch nicht notwendig, denn den Text kennt eh jeder auswendig. Bereits die Erstausstrahlung sahen etwa 100 Millionen Menschen – damals nahezu zwei Fünftel der gesamten sowjetischen Bevölkerung. Die Zuschauer waren so begeistert, dass der Film bereits Anfang Februar wiederholt werden musste. Längst sind zahlreiche Zitate zu geflügelten Worten geworden.

    Und auch heute noch drücken die Menschen beim Zubereiten von Salaten wie Vinaigrette und Hering im Pelzmantel oder beim Schmücken des Tannenbaums hektisch auf der Fernbedienung herum, um den Sender zu finden, auf dem der Film gerade läuft. Wenn man Glück hat, landet man wenigstens noch in der ersten Hälfte der dreistündigen Verwechslungskomödie. Etwa da, wo der immer noch betrunkene Shenja im Leningrader Flughafen das Taxi nimmt, dem Fahrer das Ziel der Fahrt mitteilt – und dabei seine Moskauer Adresse nennt.

    Wiegen nach der Banja - Anlass zur Verbrüderung. Bis heute gern mit beliebigen Verben angewandtes Filmzitat, wenn es ums Anstoßen geht.
    Wiegen nach der Banja – Anlass zur Verbrüderung. Bis heute gern mit beliebigen Verben angewandtes Filmzitat, wenn es ums Anstoßen geht.

    Uniforme Landschaft und Toponymie

    Treibende Kraft der Handlung ist die uniforme Landschaft der sowjetischen Randbezirke und ihre stets gleichen Straßennamen. So gibt es im Leningrad des Films, wie auch in Moskau, eine 3. Uliza Stroitelei (dt. 3. Bauarbeiterstraße), einen identischen Plattenbau Nr. 25, und ebenso eine Wohnung mit der Nr. 12 und ähnlicher Möblierung. Und, Wink des Schicksals: Sogar der Schlüssel passt. Der Protagonist kommt in die fremde Wohnung und stürzt sich todmüde ins Bett. Dort findet ihn Nadja Schewelewa – die eigentliche Bewohnerin dieser Leningrader Wohnung – als sie ihr eigenes Neujahrsfest vorbereiten will und auf ihren Verehrer wartet. So balanciert der Film zwischen Satire auf die monotone Wohnarchitektur und zarter zwischenmenschlicher Lyrik: Er macht sich einerseits über die Eintönigkeit des Planbaus lustig, andererseits entsteht gerade aus ihr das Private, Intime und Menschliche, eine Beziehung zwischen Shenja und Nadja.

    Wer daheim viel Betrieb hat, ein Kommen und Gehen, zitiert gern diesen Satz.
    Wer daheim viel Betrieb hat, ein Kommen und Gehen, zitiert gern diesen Satz.

    Rituelle Funktionen

    Für viele trägt dieser Film jedes Jahr zu einer festlichen Stimmung bei. Die Handlungen der Protagonisten spiegeln diejenigen der Zuschauer: Beide schmücken den Baum, bereiten das Essen zu, Geschenke werden ausgetauscht. Und zwischendurch geschieht das Wunder, in seiner modernen Form: Die Liebe zweier Fremder, die alles auf den Kopf stellt, die gewohnten Strukturen auflöst – und Raum für eine solche Intimität bietet, die so im Spätsozialismus kaum vorstellbar wäre. Der Zuschauer, in einem ganz ähnlichen Plattenbau, in einer fast identischen Wohnung sitzend, erkennt sich im Filmgeschehen wieder. Kann nun auch diesseits des Bildschirms ein Wunder geschehen?

    Sowjetische Menschlichkeit

    Dieser Effekt des Wiedererkennens gelingt dank Eldar Rjasanows Filmsprache der sowjetischen Menschlichkeit. Im Gegensatz zu den typischen Situationskomödien der 1930er bis 1950er Jahre, in denen keinerlei Lebensähnlichkeit zu spüren war, betont Rjasanow in seinen Filmen das Lebendige und Realistische, mit dem Menschen im Zentrum.2 Zahlreiche vertraute Alltagsdetails verdeutlichen darüber hinaus, dass es sich um einen privaten Raum handelt, einen Raum des Rückzugs, zum Beispiel wenn Gedichte halb verbotener Schriftsteller rezitiert werden (wie Marina Zwetajewa oder Boris Pasternak).

    Wie auch viele andere sowjetische Filme, für die es ähnliche Betrachtungsriten gibt3, schafft Ironie des Schicksals eine gemeinsame visuelle Erfahrung über die Generationen hinweg. Während der Film für jüngere Menschen einen unterhaltsamen Charakter hat und etwas über den kuriosen Alltag der Sowjetmenschen erzählt, wird die ältere Generation beim Zuschauen von nostalgischen Gefühlen ergriffen.

    Inzwischen geflügelte Worte bei warmem Wasser – auf Russisch sofort als Zitat erkennbar.
    Inzwischen geflügelte Worte bei warmem Wasser – auf Russisch sofort als Zitat erkennbar.

    Dabei schöpft Rjasanows Film seine künstlerische Kraft weniger aus der abgebildeten Realität als aus den zahlreichen Details, Symbolen und Anspielungen. Die poetische Doppelbödigkeit offenbart sich schon im verlängerten Filmtitel … ili s legkim parom (auf Deutsch in etwa: … oder: Wünsche, schön geschwitzt zu haben). Mit dem Leitmotiv der Banja wird immer wieder auf unterschiedliche Weise gespielt: Sie ist der Auslöser des großen Missgeschicks, das sich dann als Chance zu einem Neuanfang entpuppt. Sie eröffnet dem Hauptprotagonisten als Motiv der körperlichen und seelischen Reinigung den Weg zu seinem Glück4 – und vielleicht, auf einer Metaebene, auch dem Zuschauer. Und hinter dem Banja-Wunsch s legkim parom verbirgt sich auch der Neujahrswunsch, immer gleich, doch immer wieder verheißungsvoll: S nowym stschastjemMöge es Glück bringen!

    Text: Leonid Klimov
    Veröffentlicht am 30.12.2016


    „Ironija Sudby“ gibt es hier vom Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Teil 1

     

    Teil 2


    1.Mehr über die Verbindung zwischen dem Film Ironie des Schicksals und der Tradition der Weihnachtserzählungen siehe Lesskis, Irina (2005): Film „Ironija Sudby…“: ot ritualov solidarnosti k poėtike izmenennogo soznanija, in: Novoje literaturnoje obozrenije, Nr. 76
    2.Daškova, T. (2008): Granicy privatnogo v sovetskich kinofil’mach do i posle 1956 goda, S. 160-161
    3.Es gibt eine Art Film-Kanon für Feiertage. Am Tag des Sieges sind das zum Beispiel A sori sdes tichije oder Letjat Shurawli, am Internationalen Tag der Frau (8. März) ist es zum Beispiel Slushebny roman.
    4.Für mehr Informationen siehe Kaspe, Irina (2010): GRANICY SOVETSKOJ ŽIZNI: predstavlenija o „častnom“ v izoljacionistskom obščestve, in: Novoje literaturnoje obozrenije, Nr. 101
     

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  • Das wahre und das vermeintliche Vaterland

    Viel ist über „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew gerätselt worden: Ist es ein politischer Film? Ein metaphysischer? Ein religiöser? In diesem Text nimmt der Regisseur sein eigenes Werk unter die Lupe, und es zeigt sich: Ihm selbst geht es vor allem um die Ethik, um den Wert des einzelnen Menschen. Es sei ein urtypisches russisches Elend, sagt er, die Persönlichkeit des Einzelnen zu verachten, und nichts sei schädlicher für eine Zivilisation. „Leviathan“ ist für ihn vor allem ein Hymnus an die eigentliche Heimat des Menschen – die Menschlichkeit.

    Der folgende Text stammt aus dem Februar dieses Jahres, als Leviathan gerade in Russland in die Kinos kam. Ich habe ihn damals nicht veröffentlicht, weil ich den Zuschauern die Gelegenheit geben wollte, sich eine eigene Meinung über das Gesehene zu bilden. Jetzt aber, nachträglich, nachdem öffentlich wie privat so viel gesagt wurde, habe ich mich gefragt, wie ich selbst als Zuschauer den Film gesehen hätte. Bekanntlich kann man jedes Werk unterschiedlich interpretieren, und da es in einem Kunstwerk viele Sinnströme gibt, ist es oft schwer, sie alle in einer einzigen Aussage zu fassen. Hier möchte ich deshalb nur auf ein Thema des Films eingehen – auf eines der Hauptthemen.

    Wenn man mit der Arbeit an einem Film beginnt, sucht man unwillkürlich nach Parallelen und Verbindungen des eigenen Stoffes zu den ewigen Motiven. So war es auch hier: Als mir die Idee kam, die Geschichte der Konfrontation eines Einzelnen mit dem herzlosen Moloch des Systems zu erzählen, musste ich sofort an Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas denken, die in ihrer Spannung der wahren Geschichte des Pechvogels Marvin John Heemeyer – einem Schweißer aus Colorado – sehr ähnelt. Heemeyers Revolte war die erste Inspiration für meinen Leviathan. Später kamen die Anspielungen auf das Buch Hiob hinzu.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Alle Sujets wiederholen sich im Laufe der Zeit. Wir hatten nicht die Absicht, Kleists Novelle oder die Parabel von Hiob zu illustrieren oder die Geschichte des amerikanischen Schweißers faktentreu nachzuerzählen. Wozu auch? Die erste Geschichte kann man in den Bibliotheken, die zweite in der Bibel und die dritte auf YouTube finden. Sie alle bildeten lediglich den Nährboden, eine Art metaphysischen Lehm, aus dem ein völlig neues, eigenständiges Werk modelliert wurde, dessen hauptsächliches Material jahrelang beobachtete Eigentümlichkeiten und Liebreize des russischen Lebens waren. Und sein Titel wurde Leviathan.

    Der Dorfpriester Wassili verweist den Zuschauer am Ende des zweiten Drittels des Films auf den Schluss des Buches Hiob, wo dem Gerechten der Herrgott erscheint. An dieser Stelle des Alten Testaments erwähnt Gott Leviathan – das schreckliche Seeungeheuer, das unverwundbar und, wie alles andere unter der Sonne auch, von Ihm, dem Herrgott, erschaffen ist. Doch allein die Parallele zu den Bildern des Alten Testaments hätte nicht ausgereicht für die Entscheidung, unserem Film einen solch ernsten Titel zu geben. Ein Seenungeheuer, ein Wal hat noch nichts  gemein mit der vom Menschen selbst erschaffenen Maschine der Gewalt. Die Verwendung des Namens Leviathan in einem solchen Kontext ist aber nicht mein Verdienst. Lange vor uns hat die Geschichte selbst die Parabel von Hiob unter die Lupe genommen und den Sinn der Zitate verdeutlicht: Ich meine das Traktat von Thomas Hobbes, einem englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens.

    Der große Wal, das schreckliche Ungeheuer – das ist der Staat, ein Idol, das vom Menschen zu seiner eigenen Sicherheit geschaffen wurde, zur Rettung vor sich selbst. Der Staat ist laut Hobbes der ideale Ausweg aus dem Zustand vom „Krieg aller gegen alle“, in dem „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“. Um dieser Sackgasse zu entkommen, hat die Menschheit den Staat erfunden – eine politische Ordnung, die auf dem Gesellschaftsvertrag basiert. Der Souverän stellt seinen Untertanen verschiedene Machtinstitutionen zur Verfügung, die dem einfachen Bürger Sicherheit garantieren sollen. Polizei, Gericht, gesetzgebende Versammlungen, mit anderen Worten: An die Stelle vom „Krieg aller gegen alle“ tritt ein administrativ-bürokratisches System, das die Beziehungen der Menschen untereinander regelt. Eine Lösung des Problems? Ja. Aber um diese Sicherheit zu erlangen, muss der Mensch dem Souverän seine Freiheit abtreten.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Als ich Hobbes’ Ideen kennenlernte, fiel mir sofort die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auf. Besonders in unserem Fall ist doch klar, dass der Untertan, der seine Freiheiten dem Staat abtritt, davon ausgeht, dass sich der Staat als Gegenleistung dazu verpflichtet, ihn zu verteidigen. Das sind aber nur vermeintliche Verpflichtungen und es ist nur eine Illusion von Sicherheit. Denn laut Hobbes schuldet der Souverän niemandem etwas. Tatsächlich befindet sich der Mensch also in einem System heuchlerischer Sklaverei, wo der „Krieg aller gegen alle“ noch schrecklichere Formen annimmt, weil er sich hinter dieser Heuchelei versteckt. Indem der Mensch seine Freiheit abtritt, unterschreibt er faktisch einen Vertrag mit dem Teufel. Für mich bedeutet Hobbes’ Leviathan genau das, und zwar nicht auf dem Papier, sondern im Leben. Schrecklich ist weiterhin, dass Hobbes, dieser tiefgründige Analytiker der Struktur des Lebens, auch die Kirche als eine Form der Macht über die Menschen und als Stütze Leviathans sieht. In seinem Weltbild hätte Hobbes ihr aber lieber eine dem Souverän untergeordnete Rolle gegeben. Das wäre auch im Interesse der Kirche selbst. Es ist also kein Zufall, dass die Kirche dem Menschen vorschlägt, sich als Sklave sowohl Gottes als auch des Souveräns zu sehen und sich immer daran zu erinnern, welch bescheidenen Platz er in der Welt einnimmt und wie wenig individuelle Verantwortung er trägt.

    Hier stellt sich für den Menschen die fundamentale Glaubensfrage: Wer bin ich wirklich – ein Sklave Gottes oder Sein Sohn? Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: Ein Sklave verkauft seine Freiheit für einen Teller Suppe aus Angst vor seinem Schicksal, Angst um seine Zukunft und um das Wohl seiner Kinder … Kurzum, egal womit er diese freiwillige Sklaverei rechtfertigt, wenn er sein Schicksal anderen anvertraut, muss ihm doch bewusst sein, dass er im Tausch für etwas Vermeintliches seine größte Gabe, sein wahres Eigentum – den freien Willen – aufgegeben hat.

    Und dann, als Antwort auf diesen Handel, kam der furchtlose und opferbereite Menschensohn in die Welt und bot den Menschen die Befreiung an. Man hat ihn gekreuzigt, sich dann nach und nach Seinen Sieg angeeignet und aus dessen Überresten neue Fesseln geschaffen. Aber diese Stimme lebt und spricht durch Jahrhunderte zu uns. „Ihr seid meine Brüder“, sagt Er uns durch seine Apostel. Und wenn er tatsächlich der Sohn Gottes ist und wir Seine Brüder sind, dann sind auch wir zwangsläufig Söhne Gottes.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Ich finde es schade, dass die Politik und die zeitweilige Veränderung des geistigen Klimas in unserem Lande viele Zuschauer daran hindern, diesen einfachen Gedanken zu hören: Mit meinem Film trete ich für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit ein. Keine großen Worte – ob Vaterland, Gott oder Gesetz – geben uns das Recht, das Leben eines anderen Menschen zu vernichten. Die Respektlosigkeit dem Menschen und dem Eigenwert seiner Persönlichkeit gegenüber ist ein urtypisches russisches Elend, das bereits seit vielen Jahrhunderten andauert und unser Leben noch lange beeinträchtigen wird. Wahrscheinlich so lange, bis wir begreifen, dass diese sklavische Eigenschaft – die Persönlichkeit des anderen zu verachten – schädlich für jede Zivilisation ist. Es ist wohl das Schicksal des Menschen, jeden Tag neu wählen zu müssen, in wessen Königreich wir gehören und wessen Söhne wir sind – die Gottes oder die Leviathans. Und Heimat, das sind nicht nur Hügel, Birken und Bächlein. Die Heimat eines Menschen ist das, wonach sich seine Seele am meisten sehnt. Die Heimat, das ist der Gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind. Das alles zusammen – und nicht irgendwelche Parolen und Präsidenten, Parlamente und Waffen, Priester und Propagandisten machen das Gut eines Menschen aus. Das Licht des heimischen Herdes, das Licht des Geistes und der Erkenntnis und schließlich Gottes selbst – das alles zusammen ist unser wahres Vaterland.

    Und egal, ob wir in der am weitesten entwickelten oder archaischsten Gesellschaft leben, wir werden alle früher oder später vor diese Wahl gestellt, als Sklaven oder als freie Menschen zu handeln. Und egal ob wir gläubig oder atheistisch sind: Wir werden uns dieser Prüfung nicht entziehen können. Und sollten wir naiv glauben, dass die eine oder andere Staatsordnung uns von dieser Wahl befreien würde, so irren wir uns gewaltig. Im Leben des Bürgers eines jeden Landes kommt früher oder später die Stunde, wo er mit diesen Fragen konfrontiert wird: Zu wem gehörst du? Wer bist du? Und gerade weil ich dem Zuschauer all diese beängstigenden Fragen noch stellen kann und weil es hierzulande noch möglich ist, einen tragischen Helden oder einen „Gottessohn“ zu finden, ist mein Vaterland für mich noch nicht verloren.

    Februar 2015

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  • Leviathan

    Leviathan

    Der Film Leviathan von Andrej Swjaginzew ist ein 2014 erschienenes russisches Sozialdrama. Der international beachtete und mit dem Golden Globe gekrönte Film löste in Russland aufgrund der kritischen Darstellung der russischen Lebensrealität heftige Kritik aus.

    Der Leviathan (hebräisch: der sich Windende) ist in der jüdisch-­christlichen Mythologie ein bösartiges, von Menschen unbezwingbares Mischwesen aus Krokodil, Drache, Schlange und Wal und findet sich unter anderem im Alten Testament im Buch Hiob. Im 17. Jahrhundert wählte der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Werk die Figur des Leviathans, um die Allmacht des Staates zu beschreiben.

    Der Film Leviathan (2014) von Andrej Swjaginzew greift diesen Gedanken auf und kritisiert die Machtfülle der Triade aus Staat, Verwaltung und Kirche in Russland. Das Sozialdrama thematisiert – wie bereits Swjaginzews Film Elena (2011) – Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit in Russland. Im Film wird mit einem kolossalen Walgerippe der Bezug zum Seeungeheuer Leviathan hergestellt, das metaphorisch für die drei zentralen Themen des Films – Chaos, Boshaftigkeit und Neid – steht.

    Gedreht inmitten der spektakulär-­rauen Küstenlandschaft des russischen Nordens, erzählt Leviathan in der epischen Bildsprache des Kameramanns Michail Kritschman ein Familiendrama, in dem die Hauptfigur Nikolaj Sergejew sich einem korrupten Bürgermeister widersetzt, der es auf sein Grundstück abgesehen hat. Die biblische Warnung Hiobs vor dem Leviathan trifft in diesem Fall auf den allmächtigen und skrupellosen Bürgermeister zu: „Niemand ist so kühn, dass er ihn reizen darf.“ Im aussichtslosen Kampf um seine Rechte sucht Nikolaj die Unterstützung eines alten Freundes, des gut vernetzten Moskauer Anwalts Selesnjow, aber auch mit seiner Hilfe lässt sich das staatliche Monster nicht besiegen. Stattdessen verliert Nikolaj in der modernen Adaption der Hiobsgeschichte sein gesamtes bisheriges Leben.1

    Der Film stieß im Ausland auf große Beachtung und bekam viel positive Resonanz. Die Zeitung Die Welt schrieb, dass „selten jemand den von vielen Russen so empfundenen Alltag himmelschreiender Ungerechtigkeit und die Hilflosigkeit der Bürger [schonungsloser] dargestellt“ hat.2Leviathan gewann als erster russischer Film seit Jahrzehnten einen Golden Globe und war als bester fremdsprachiger Film für einen Oscar nominiert.

    Im zunehmend patriotisch gestimmten gesellschaftlichen Klima Russlands jedoch, in dem staatlich gesteuerte Medien üblicherweise ein positives Russlandbild zeichnen, stieß der Film auf heftige Kritik und Ablehnung, und Swjaginzew wurde als Vaterlandsbeschmutzer beschimpft.3 Der Philosoph Michail Ryklin sieht den Grund für die Ablehnung darin, dass „Russlands Bürger darin ihr Spiegelbild erblicken (zumindest im Ansatz) und sich erschrecken. Diese Blickrichtung wird ihnen aber – insbesondere nach der Besetzung der Krim – von Putins Fernsehpropaganda erfolgreich abgewöhnt“.4

    Die Regierung kritisierte den Film, da er Klischees über trinkende Russen und korrupte Funktionäre verbreite und Regierungskritik übe. Kulturminister Wladimir Medinski war dabei einer der schärfsten Kritiker, obwohl der Film aus Mitteln des Ministeriums gefördert worden war. Er sprach sich in der Folge dafür aus, solch „unpatriotische“ Filme nicht mehr zu fördern und schlug Richtlinien vor, die es ermöglichen sollen, Filme, die die Nationalkultur schädigten, zukünftig zu verbieten. Auch die Kirche sprach sich gegen Leviathan aus, da er zu pessimistisch sei und es an positiven Helden mangele.5

     


    1. Süddeutsche.de: Hiobs Traum ↩︎
    2. Welt.de: „Leviathan“ – Golden-Globe-Sieger spaltet Russland ↩︎
    3. Spiegel.de: Russischer Film „Leviathan“: Verkommene Menschen in einem verkommenen Land ↩︎
    4. Kino-­krokodil.de: Der russische Leviathan​ ↩︎
    5. Süddeutsche.de: „Leviathan“ – Golden-Globe-Sieger spaltet Russland ↩︎

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  • Leviathan gegen Leviathan

    Leviathan gegen Leviathan

    Andrej Swjaginzews Film Leviathan, der als erster in der jüngsten russischen Geschichte mit dem zweitwichtigsten Hollywood-Preis, dem Golden Globe, ausgezeichnet und tatsächlich danach auch noch für den Oscar nominiert wurde, war diese Woche [Anfang 2015 – Anm. dekoder] Ziel einer regelrechten Hetzkampagne im eigenen Land. Der Kolumnist von The New Times glaubt, diese Kampagne war sorgfältig geplant.

    Schon möglich, dass die folgenden Ausführungen nur Vermutungen oder gar Verschwörungstheorien sind. Jedoch klingen diese Vermutungen ziemlich glaubwürdig. Es geht dabei um eine minutiös durchdachte Intrige der Machthaber nicht nur mit dem Ziel, Swjaginzews Werk in Verruf zu bringen (und Leviathan ist wirklich der beste russische Film seit Jahren), sondern auch die lang erwartete neue sozialkritische Richtung im russischen Film.

    Von Liebe zu Hass

    Nach der Nummer 1 aller Filmfestivals in Cannes letzten Mai, wo Leviathan den Preis für das beste Drehbuch bekommen hatte, schien es, der Film würde uns allen gefallen. Der Einzige, der ihn aktiv missbilligte, war der eigens zur Vorführung angereiste Kulturminister Medinski. Zum Teufel mit ihm! Welchen normalen Menschen interessiert schon Medinskis Meinung? Und so rutschten wir gut ins Neue Jahr: Leviathan als großes Kino! Und gleichzeitig für den Westen nicht in voller Breite und Tiefe verständlich. Lächerlich, dass unterdessen sogar echte Auskenner behaupten, Leviathan sei speziell für den Westen gemacht. Keineswegs! Der Westen, und ganz konkret Europa, hat das Wichtigste nicht verstanden: dass Leviathan nicht einfach nur eine persönliche Geschichte über himmelschreiende Ungerechtigkeit ist, sondern auch ein politisches Statement über den Wesenskern des modernen Russland. Über den schrecklichen Leviathan, den korrupten Staat bar jeglicher Ehre und jeglichen Gewissens, in dem die Kirche den Staat deckt und Jesus de facto von Kriminellen privatisiert wird. In Europa wurde Leviathan nicht ausreichend wertgeschätzt. Die Auszeichnung in Cannes für das beste Drehbuch ist natürlich toll, aber sie ist kein Hauptpreis. Im Dezember hat der in Europa für einige wichtige oscarartige Filmpreise nominierte Leviathan den Kampf gegen die polnische Ida klar verloren. Wladimir Medinskis besorgte Gedanken galten jedoch vor allem der englischsprachigen Welt, vor allem den USA. Wer in Russland kennt die europäischen „Oskars“? Nicht mehr als ein paar Tausend. Wer kennt den Golden Globe und den Oscar? Oh, das ist schon eine ganz andere Geschichte. Der derzeitige Kulturminister ist kein Dummkopf und er hat einen ganzen Trupp von Zuträgern. Und höchstwahrscheinlich hat er selbst aktiv den entsprechenden Stellen zugetragen, dass es – sollte Leviathan nun kurz vor dem offiziellen Kinostart am 5. Februar amerikanische Preise gewinnen und große Popularität beim breiten Publikum in der Heimat erlangen – ein herber Schlag wäre. Jedenfalls was das primitive russische Patriotismus-Verständnis eines Medinski angeht. Und den russischen Staat und die orthodoxe Kirche. Medinski wusste nicht ohne die Hilfe eben jener Zuträger, dass der Produzent des Films Alexander Rodnjanski, der seine hochkarätig besetzten Filme sowohl in Russland als auch in Amerika produziert, bei den Organisatoren des Golden Globe viel bessere Karten hat als bei der Europäische Filmakademie. Also hätte Leviathan den Globus durchaus gewinnen können. Offenbar wurde eben deshalb beschlossen, den Film kurz vor der Verleihung des Golden Globe, in den Augen der russischen Öffentlichkeit niederzumachen. Für die konzertierte Aktion brauchte es eine Woche. Und man darf annehmen, nicht ohne Beteiligung des Geheimdiensts.

    Russland, zurück – marsch, marsch!

    Am vorigen Wochenende wurde Leviathan nun illegal im Netz veröffentlicht. Es gibt die Vermutung, die Filmemacher hätten das selber getan, doch das widerspricht jeglicher Logik. Wozu sollte Rodnjanski den Film im Netz veröffentlichen, wenn er am 5. Februar ohnehin offiziell in die Kinos gekommen wäre und schon viele den Kinostart ungeduldig erwarteten? Ist ihm dafür nicht sein Geld zu schade? Und was hätte er davon? Swjaginzew ist Perfektionist. Er macht Filme für die große Leinwand. Leviathan besticht durch die fantastische Kameraarbeit des Großmeisters Michail Kritschman. Wozu hätte Swjaginzew seinen bis dato besten Film heimlich ins Netz stellen sollen, wo man ihn auf winzigen Bildschirmen, halbverdeckt von englischen Untertiteln, ansehen würde? Viel plausibler scheint die Annahme, dass der Film von unserem Geheimdienst ins Netz gestellt wurde. Erstens, um die Wirkung zu verderben (denn ausgerechnet die besten Filme rufen bei Zuschauern oft genau die gegensätzliche Reaktion hervor, wenn sie in schlechter Qualität gezeigt werden). Und zweitens, damit seine Agentenschaft in den sozialen Netzen sofort damit beginnen konnte, die öffentliche Wahrnehmung von Leviathan negativ zu beeinflussen. Wäre der Film dort nicht erschienen, hätten sowohl die Filmemacher als auch ich, der ich diese Zeilen schreibe, sagen können: „Was redet ihr Hohlköpfe da? Ihr habt den Film doch nicht mal gesehen!“ Und was bitteschön kann man jetzt erwidern? All die vom Geheimdienst engagierten Leute, die im Internet unter zwei- bis fünfhundert erfundenen Namen ihre Arbeit machen, verkündeten just am Vorabend des Golden-Globe-Triumphs von Leviathan in den sozialen Netzwerken: Der Film ist scheiße, Russlandschmäh und Schwarzmalerei. Das Unangenehmste ist, dass es funktioniert hat. Ich sage es noch einmal: Nach der Premiere in Cannes, wo der Film in guter Qualität gezeigt wurde, waren alle Russen dort begeistert. Mittlerweile aber schreiben sogar viele kluge Menschen, die etwas vom Film verstehen, im Internet: „Den Quatsch seh ich mir erst gar nicht erst an.“ So effektiv erweist sich die KGB-Propaganda eben nach wie vor! So ein Leichtes ist es ihr, sogar angeblich intelligente Leute aus dem Konzept zu bringen! Die Kampagne war angelaufen. Mit dabei die beiden wichtigsten offiziellen Fernsehsender, die besondere Instruktionen erhalten hatten. Als am Montag die Nachricht kam, dass Leviathan tatsächlich einen Golden Globe gewonnen hat, was eine nationale Sensation ist (der einzige russische Film, der den Preis bis dahin gewonnen hatte, war 1969 Bondartschuks Krieg und Frieden), präsentierten die beiden Fernsehsender das nicht nur nicht als Nachricht des Tages, es wurde nur knapp am Ende der Nachrichtensendungen erwähnt. Dabei listeten sie zunächst die anderen Golden-Globe-Gewinner auf, um dann in einem Nebensatz kurz zu sagen, dass Leviathan den Preis als bester fremdsprachiger Film bekommen hat. Das war‘s! Den Höhepunkt erreichte der Irrsinn am 15. Januar, als bekannt wurde, dass Leviathan auch noch für den Oscar nominiert ist. Das ist doch wohl ein großer „Sieg der russischen Waffe“, was denken Sie? Das ist die Nachricht des Tages! Nix da. In den Abendnachrichten des Ersten Kanals wurde die Nachricht ignoriert. Als gäbe es keinen Oscar und keinen Leviathan. Stattdessen wurde uns in allen Nachrichtensendungen freudig verkündet, dass unsere Biathlon-Männer bei einer Weltcup-Etappe Bronze geholt hätten. Schimpf und Schande.

    Wohin es führt

    Wohin wollen sie uns bekommen? Ins Ghetto. In ein politisches und kulturelles Ghetto, in dem es ein Leichtes sein wird, uns die Gehirne zu waschen und kein Platz sein wird für Filme wie Leviathan, in denen offen über die Verschmelzung von Staat und Kirche gesprochen wird. Erstaunlich ist ein Gedanke, der gerade durch eindeutig bezahlte Einflussagenten in den sozialen Netzwerken verbreitet wird: Medinski habe das Recht, von Leviathan politische Loyalität zu fordern, denn der Film sei mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht. Aber so gut wie alle russischen Filme in den letzten Jahren wurden mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht, warum sollte man da an Leviathan besondere Anforderungen stellen? Besonders, wenn man bedenkt, dass die Unterstützung mickrig ist und das Gros der Finanzierung aus anderen Quellen stammt. Ideale Verhältnisse bestehen in dieser Hinsicht in Frankreich, dessen Herangehensweise von unseren Entscheidungsträgern so gerne als Vorbild zitiert wird. (Dort wird gern davon gesprochen, dass es in Frankreich Verleihquoten für amerikanische Filme gäbe. Fakt ist: Es gibt in Frankreich keinerlei Quoten, es gab sie nie und es wird sie nie geben. Man verscheißert euch.) In Frankreich wird auf jedes Kino-Ticket eine Steuer von 11 Prozent erhoben, die in den Fonds des Centre National de la Cinématographie fließen, das dann wie unser Kulturministerium Zuschüsse an Produzenten vergibt. Dabei geht es um weit größere Summen als die, die unser Kulturministerium für diese Zwecke vergibt, doch keiner würde je auf die Idee kommen, die geförderten Filme einer ideologischen Kontrolle zu unterwerfen. Womöglich weil Frankreich – im Gegensatz zu Russland – ein freies Land ist. Vor dem Hintergrund der Geschichte mit Leviathan hat das Kulturministerium neulich einen Gesetzentwurf eingebracht, demzufolge kein Film eine Verleih-Lizenz bekommt, der „die nationale Kultur verleumdet, die nationale Einheit bedroht und die Grundlagen der Verfassungsordnung zerrüttet“. Man bereitet uns darauf vor, dass in den Kinos keine Filme mehr laufen werden, die die herrschende Macht in Russland kritisieren, und sei es nur indirekt. Man darf gespannt sein, wie lange sie mit ihren Restriktionsgesetzen durchhalten und ob ihnen bald Nürnberger Prozesse bevorstehen. Was Swjaginzew betrifft, tut unser Staat offenbar alles dafür, ihn aus dem Land zu bekommen. Wenn Abschaum an der Macht ist, wählt er sich immer freie, ehrliche, talentierte Menschen als Angriffsziel.

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  • Michail Kritschman

    Michail Kritschman

    Kritschman (geb. 1967) ist ein gefragter russischer Kameramann. Er arbeitete bisher vor allem mit dem Regisseur Andrej Swjaginzew zusammen und sorgte bei dessen bekanntesten Filmen Die Rückkehr (2003), Die Vertreibung (2006), Elena (2011) und zuletzt Leviathan (2014) durch seine Kameraführung für beeindruckende Aufnahmen. Seine Arbeit wurde auf zahlreichen Filmfestivals, darunter bei den Filmfestspielen in Venedig, mehrfach ausgezeichnet.

    Kritschman gehört dem Künsterkollektiv Dialog mit der Welt an, in dem sich mehrere junge Ethnografen, Regisseure und Kameramänner zusammengeschlossen haben, um die entlegensten Winkel der Welt zu bereisen und aus ihrer Perspektive zu dokumentieren. Diese Arbeit spiegelt sich auch in den spektakulären Naturaufnahmen in Kritschmans filmischem Schaffen wieder.

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