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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kino #9: Major

    Kino #9: Major

    Gesellschaftskritik verpackt in Mainstream-Ästhetik – das ist die Richtung, die der junge Regisseur Juri Bykow seit mehreren Jahren konsequent verfolgt. Seine Geschichten erzählt er fesselnd mit konzentrierten Plots und klar kalkulierten Wendepunkten, es sind Thriller aus dem russischen Hinterland. So auch Major (2013), in dem Bykow eine russische Kreispolizeibehörde ins Zentrum der Handlung stellt.

    Während man im russischen Kulturministerium historische und patriotische Stoffe bevorzugt, entfalten Regisseure wie Bykow ihr Schaffen im Schatten solcher Großproduktionen.1 Auf diese Weise entstehen Werke über das konkrete, alltägliche Leben im neuen Russland, das längst aus einer postsowjetischen Periode herausgetreten ist.
    Bykow ist herausragend in seiner Generation, begann seine Karriere nach einem Schauspielstudium zum Ende der 2000er Jahre und wurde sogleich auf dem wichtigsten Festival des Landes, dem Kinotawr, für den besten Kurzfilm ausgezeichnet. In seinen spannungsgeladenen Geschichten ist Nervenkitzel kein Selbstzweck und nicht zur bloßen Unterhaltung gedacht. Vielmehr geht Bykow hart ins Gericht mit politischen und sozialen Strukturen, die das Verhalten seiner Figuren maßgeblich bestimmen. Major ist sein zweiter abendfüllender Film. Einfache Antworten oder moralische Botschaften nach einem Gut-Böse-Schema darf man hier nicht erwarten – dafür tiefe Einblicke in die russische Gegenwart.

    Major mit englischen Untertiteln auf sovietmoviesonline.com
    Major mit englischen Untertiteln auf sovietmoviesonline.com

    Ein Fahrer rast in den frühen Morgenstunden mit seinem Wagen über eine Landstraße. Er ist auf dem Weg zur nächstgelegenen Kreisstadt, wo seine Frau in einer Klinik in den Wehen liegt. Es herrscht klirrende Kälte, ein Dunstschleier verhüllt die Landschaft, die Fahrbahn ist völlig vereist. An einer Bushaltestelle überquert ein siebenjähriger Junge die Straße, der Fahrer ist viel zu schnell unterwegs und kann nicht mehr ausweichen. Der Junge stirbt.

    Die Kräfte für eine Aufklärung des Unfalls sind sichtbar ungleich verteilt: Der Fahrer ist ein junger, aufstrebender Polizeimajor, und ein Eingeständnis seiner Schuld hätte nicht nur für seine Karriere fatale Folgen, sondern würde einen Skandal bedeuten, den niemand in der Polizeidienststelle gebrauchen kann. Die Mutter des Jungen, vor deren Augen sich das Unglück ereignet hat, entstammt dagegen einer Arbeiterfamilie. Sie und ihr Ehemann bleiben hart und weigern sich, für den Major zu lügen.

    Die Polizei als Symptom des Gesellschaftssystems

    Die Handlung wird rund um die verantwortliche Kreispolizeibehörde angeordnet. Jedoch geht es Bykow nicht um den Polizeiapparat als solchen, sondern allgemein um die Machtverhältnisse und das soziale Gefüge in einer Gesellschaft, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion neu formieren musste. Genauso wenig wird das Verhalten des Einzelnen zur Diskussion gestellt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die ein konkretes Verhalten hervorbringen. Den Gravitationspunkt der dynamisch voranschreitenden Handlung bilden bei Major die beiden unterschiedlich agierenden Hauptprotagonisten: der junge, titelgebende Major Sobolew (gespielt von Denis Schwedow) und sein Vertrauter Korschunow (gespielt von Juri Bykow selbst). Während Korschunow alles dafür tut, um die Schuld seines Kollegen zu vertuschen, schert Sobolew plötzlich aus, versucht, seinem Gewissen zu folgen und seine Schuld einzugestehen. Dadurch wird er jedoch nicht zum Helden, sondern entfesselt eine Welle der Gewalt.

    Konflikt zwischen Vertrauten: Mit seinem Schuldgeständnis entfesselt Major Sobolew eine Welle der Gewalt / Fotos © Rock Films
    Konflikt zwischen Vertrauten: Mit seinem Schuldgeständnis entfesselt Major Sobolew eine Welle der Gewalt / Fotos © Rock Films

    Trotz des ernüchternden Befunds von Korruption und Machtmissbrauch innerhalb der Behörden stellt Bykow die Polizeibeamten nicht als „Werwölfe mit Schulterklappen“2 dar. Dazu passt, dass der Film unter dem Slogan vermarktet wurde: „Major – prosto tschelowek“ – der Major ist auch nur ein Mensch, einer von uns.

    Informelle Regeln

    Korschunows Verhalten führt konkret vor Augen, was es bedeutet, wenn der Polizeiapparat nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem System informeller Regeln und Normen funktioniert. In der russischen Gegenwartssprache existiert dafür der Ausdruck shit po ponjatijam, was wörtlich übersetzt „nach den Begriffen leben“ bedeutet. Entlehnt aus dem Jargon der sowjetischen Verbrecherwelt3 gibt die Wendung zu verstehen, dass im heutigen russischen Alltag, in Politik und Verwaltung, vieles nicht nach kodifiziertem Recht, sondern nach „anderen, informellen Regeln und Abmachungen“ funktioniert.  Oben, an der Spitze der Provinzstadt, steht eine grauhaarige Autorität, die nicht nur über die Exekutive, sondern auch über alles andere wacht. Ihn suchen Korschunow und Sobolew auf, seine Entscheidung gilt: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden.
    Da sich die Machtvertikale nach oben hin fortsetzt, erscheint für alle Beteiligten als wichtigster Grundsatz, nicht negativ aufzufallen und nur keinen Staub aufzuwirbeln. Überregionale Instanzen könnten auf den Plan gerufen werden.

    Die Entscheidung der „grauhaarigen Autorität“ steht: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden
    Die Entscheidung der „grauhaarigen Autorität“ steht: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden

    So handelt Korschunow absolut loyal – po ponjatijam – und setzt um, was ihm von oben aufgetragen wird: Um der Mutter das Einvernehmen abzupressen, benutzt er zuerst die Mittel der Rhetorik, dann die der Gewalt. Dabei wäre aus seiner Sicht doch alles ganz einfach und logisch: Den toten Jungen macht nichts wieder lebendig, aber der Major muss weiterleben und gemeinsam mit ihm steht das Leben und Wohlergehen seiner Nächsten – seiner Familie, Freunde und Kollegen – auf dem Spiel. Der entfachte Konflikt bringt schließlich die Bruchlinien hervor, die dem Zuschauer systematisch Einblick in die wirkmächtigen Strukturen des Systems gewähren.

    Engagiertes sozialkritisches Kino

    Es ist dieser Fokus bei Bykow – auf Gesellschaftsstrukturen und die Zwänge, die sich für den Einzelnen ergeben – der seine Filme  als ein engagiertes sozialkritisches Kino markiert und die drei bislang realisierten Streifen wie eine Trilogie erscheinen lässt: Shit! (dt. Leben!, 2010), Major (dt. Der Major, 2013) und zuletzt Durak (dt. Der Idiot, 2014).4 Während sich Figurenkonstellation und Milieu ändern, steht immer die Frage nach der sozialen Verantwortung und damit nach einer Pflicht im Mittelpunkt, die nicht nur den Nächsten, sondern allen Gesellschaftsmitgliedern gegenüber besteht. Bykows Figuren aber stellen den Schutz der Familie, Freunde und Kollegen über alles. Der persönliche Einsatz für die Nächsten heiligt die Mittel, rechtfertigt Gewalt und Mord (Shit!, Major). Wer dieses System durchbricht, fällt ihm zum Opfer (Durak).

    Der persönliche Einsatz für die Nächsten rechtfertigt selbst Gewalt und Mord
    Der persönliche Einsatz für die Nächsten rechtfertigt selbst Gewalt und Mord

    Fehlende soziale Verantwortung begründet für Bykow eine Art modernen Feudalismus: „Eine liberale Gesellschaft bedeutet, dass Jeder für Jeden Verantwortung übernimmt. Ein Bürger für den anderen. Feudal bedeutet dagegen, wenn es meine Familie gibt, meine Nächsten, meine Freunde – und so weiter, je nach Entfernung.“5 Dabei versteht Bykow seine Filme als Anstoß zur Veränderung: „Für mich ist es [gemeint ist Major] ein Film darüber, dass wir nicht länger allgemeinmenschliche ethische Werte ignorieren können. Die zivile, menschliche Pflicht dem anderen gegenüber ist wesentlich wichtiger als Clan- und Familienbeziehungen.“6

    Anklänge an die tschernucha der 1980er und 1990er

    Bykow kennt Milieu und Schauplatz seiner Filme gut, dreht bevorzugt im Gebiet von Rjasan rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Realitätsnähe ist ihm wichtig, zugleich verfolgt er eine klare filmische Stilistik. 

    So ruft die erste Szene auf der Polizeiwache Effekte der Tschernucha aus der Perestroika-Zeit auf, einer neonaturalistischen Darstellungsweise, die daran ging, die sozialen Abgründe der Gesellschaft zu ästhetisieren. Die Kamera bahnt sich bei Major den Weg durch die klaustrophobische Enge des Ganges mit seinen lackierten Wänden und abgewetzten Türen. Sie kann gar nicht anders, als nah an die sich dort tummelnden Menschen – Alkoholiker, Prostituierte, Kleinkriminelle – heranrücken. „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte, faltige Frau einem jungen Polizeibeamten entgegen, der sie gerade vor ihrem gewalttätigen Sohn gerettet hat. 

    „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte Frau dem jungen Polizeibeamten entgegen
    „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte Frau dem jungen Polizeibeamten entgegen

    In den 1990er Jahren wurde diese Ästhetik mit dem im Entstehen begriffenen Genre-Kino kombiniert und fand Eingang in Thriller und Krimi. Die Schlussszene von Major mit dem Hauptprotagonisten, der per Anhalter in einen Laster steigt, verweist unverkennbar auf Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder, 1997). Dabei ruft die Szene gerade dazu auf, die Unterschiede im Herangehen der beiden Regisseure zu formulieren: Während Balabanow eine adäquate filmische Darstellung der postsowjetischen Realität fand und das Verbrechen romantisierte, setzt Bykow die längst etablierten Mittel des Genrekinos ein, um seiner kritischen Stimme Gehör zu verschaffen. 
    Das verbindet ihn auch mit dem Sozialrealismus US-amerikanischer Low-Budget-Produktionen, wie zuletzt überzeugend in Hell or High Water von Regisseur David Mackenzie zu sehen. Dabei ist freilich einzuräumen, dass das filmisch vermessene amerikanische Hinterland auf eine weit reichere Tradition zurückgreifen kann, als dies bei der russischen Provinz der Fall ist.

    Autorenfilmer in der Praxis

    Gerade durch die mainstreamtaugliche, leicht verständliche Sprache heben sich Bykows Filme auch klar von Andrej Swjaginzews Sozialdramen ab, obwohl Letzterer in Leviafan (dt. Leviathan, 2014) einen durchaus vergleichbaren Stoff bearbeitet hat. Die ewigen Themen des Menschen – der „Kosmos gespiegelt im Wassertropfen“7 – sind Bykows Sache nicht. Entsprechend distanziert werden seine Filme auch von der liberalen russischen Kulturelite aufgenommen, der sie zu wenig künstlerisch, zu direkt, zu grob sind.8

    Dabei zeugt der Weg, den der 1981 geborene Regisseur bislang verfolgt, von einer Eigenständigkeit und Kompromisslosigkeit, wie sie in der Blütezeit des europäischen Autorenfilms jedem Filmemacher zur Ehre gereicht hätte. Den Autorenfilmer verkörpert Bykow nicht zuletzt durch seine Vielseitigkeit; so übernimmt er Schlüsselfunktionen selbst – vom Drehbuch über die Montage bis hin zur minimalistischen Musik.9 Autorenfilm und Mainstream-Ästhetik schließen einander heute, wie Andrej Tarkowski dereinst noch glaubte, längst nicht mehr aus. 

    TextEva Binder
    Veröffentlicht am 05.09.2017


    1.Genannt seien hier beispielsweise Stalingrad (2013) von Fedor Bondarčuk, der erste russische Blockbuster, der komplett in 3D gedreht wurde, oder Admiral (2008) von Andrej Kravčuk, der den russischen Bürgerkrieg monumental in Szene setzt.
    2.Die verbreitete Wendung oborotni v pogonach geht auf eine Folge von bekannt gewordenen Korruptionsfällen in den 2000er Jahren zurück und wird so auch vom Filmkritiker Andrej Plachov in seiner Rezension zu Major verwendet, vgl. Kommersant: Obyknovennyj feodalizm.
    3.Siegert, Jens (2016):  Diebe im Gesetz, in: Russland-Analysen Nr. 321, S. 27
    4.Durak ist Bykovs erster Film, der seinen Weg in den deutschsprachigen Filmverleih gefunden hat. Er wird vom Schweizer trigon film unter dem Titel Durak als Kinofilm und DVD vertrieben.
    5.Bykov im Interview mit der Zeitung Izvestija; das Interview wurde 2013 anlässlich der Aufnahme des Films in das Programm Semaine internationale de la critique der Filmfestspiele von Cannes geführt.
    6.Bykov in der Pressekonferenz anlässlich der Russlandpremiere des Films beim Filmfestival Kinotavr in Sotschi 2013. Der genaue Wortlaut im Original lautet: «Dlja menja kartina o tom, čto chvatit ignorirovat’obščečelovečeskuju moral‘. Graždanskij, čelovečeskij dolg postoronnemu čeloveku gorazdo važnee čem vzjakie vot klanovye, semejstvennye vešči.»
    7.vgl. Bykov im Interview mit der Zeitschrift Russkij reporter
    8.vgl. Bykovs Ausführungen zur Rezeption seiner Filme in dem Gespräch, das der Regisseur mit dem russischen Schriftsteller Sachar Prilepin in dessen Sendung Čaj s Sacharom (dt. Tee mit Sachar) auf dem Sender Tsargrad TV geführt hat.
    9.Von seiner Ausbildung her Schauspieler, wurde er schnell als Multitalent und Autodidakt gefeiert. Bei seinem zum Kinotavr prämierten Kurzfilm Načalnik (dt. Der Vorgesetzte, 2009) hatte er Regie, Drehbuch, Schnitt und die Hauptrolle übernommen.

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  • Debattenschau № 57: Regisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest

    Debattenschau № 57: Regisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest

    Ein Menschenauflauf vor dem Moskauer Basmanny-Gericht am Mittwoch, den 23. August, etwa 300 Leute haben sich hier versammelt, viele Prominente sind darunter. Drinnen sitzt der bekannte Regisseur Kirill Serebrennikow. Die prominente Unterstützung hilft ihm nicht: Serebrennikow steht bis 19. Oktober unter Hausarrest.

    Betrug in Millionenhöhe lautet der Vorwurf gegen den berühmten und umstrittenen Theatermann. Die ehemalige Chefbuchhalterin belastet ihn.

    Serebrennikow leitet das Moskauer Theater Gogol Center, eine Art Experimentierbühne, staatlich gefördert. Er ist international bekannt für seine innovativen Regiearbeiten, im Oktober soll seine Inszenierung der Oper Hänsel und Gretel in Stuttgart Premiere feiern, sein aktueller Film Der die Zeichen liest ist in Cannes ausgezeichnet worden.

    Die Unterstützung hilft Serebrennikow nicht – er bleibt unter Arrest / Foto © Irina Bursho/Kommersant
    Die Unterstützung hilft Serebrennikow nicht – er bleibt unter Arrest / Foto © Irina Bursho/Kommersant

    Schon im Mai hatten maskierte und bewaffnete Männer das Gogol Center durchsucht, die Polizei inspizierte auch die Wohnung Serebrennikows. Putin soll laut Medienberichten die Beamten als Duraki (dt. Dummköpfe) bezeichnet haben.

    Im Juli erregte der Regisseur erneut Aufsehen, als sein Ballett Nurejew am Moskauer Bolschoi Theater kurz vor der Premiere verschoben wurde. Anfang der Woche wurde Serebrennikow schließlich in der Nacht festgenommen, während er in St. Petersburg an seinem neuem Film Leto (dt. Sommer) arbeitete.

    Seine Festnahme und der Hausarrest lösen heftige Debatten aus, nur wenige glauben an die Vorwürfe. Viele Prominente, etwa die Schriftsteller Boris Akunin und Ljudmila Ulitzkaja, ergriffen Partei für ihn, waren teilweise im Gericht anwesend. Die berühmte Publizistin Irina Prochorowa hatte sogar erklärt, eine Kaution in beliebiger Höhe für Serebrennikow zu zahlen.

    Warum ausgerechnet Serebrennikow? Soll hier ein Exempel statuiert werden? Ein missliebiger, international renommierter Kreativer mundtot gemacht werden? Und wer steckt dahinter? dekoder bringt Stimmen aus russischen Medien.

    Facebook/Andrej Loschak: Ins Gesicht gerotzt

    Für Andrej Loschak, Gründer und ehemaliger Chefredakteur von Takie Dela, ist klar, weshalb die Behörden gegen Serebrennikow vorgehen, wie er auf Facebook schreibt:

    [bilingbox]Kirill ist die ideale Figur für einen Schauprozess gegen Liberale. Wahrscheinlich die Autorität schlechthin – um ihn können sich städtische Oppositionelle einmütig zusammentun. Seine Festnahme ist ganz klar ein Zeichen. So saftig und voll Schmackes hat man uns noch nie ins Gesicht gerotzt. Jetzt wird alles lang und genüsslich verschmiert und ausgewalzt. Mindestens sechseinhalb Jahre.
    Die erste Aule – die Bolotnaja-Prozesse – haben wir geschluckt. Zu ihnen erschienen im besten Fall ein paar Dutzend Menschen. […] Die Verhaftung von Kirill werden wir auch schlucken. Nach einigen Achs und Ohs werden wir in unseren privaten Alltag zurückkehren, wie es auch 2012 der Fall war.~~~Фигура Кирилла – идеальная для показательного процесса над либералами. Наверное нет других таких авторитетов, вокруг которых единодушно консолидировалась бы городская фронда. Его арест безусловно знаковый. Так смачно и с оттяжкой нам еще в лицо не харкали. Теперь будут размазывать долго и с удовольствием. Ну, минимум 6 с половиной лет.
    Первый харчок – процессы над „болотниками“ – мы проглотили. На них приходило в лучшем случае несколько десятков человек. […] Арест Кирилла тоже проглотим. Поохаем тут и вернемся в частную жизнь, как это случилось в 2012-м.[/bilingbox]

     

    erschienen am 22.08.2017

    Colta: Verrat am Kollegen

    Auch der international berühmte Geiger Gidon Kremer hat sich nun zu dem Fall geäußert, Colta druckt seine Stellungnahme ab:

    [bilingbox]Ich glaube, dass alle, die sich – um diese Aktion zu rechtfertigen – befremdet und erstaunt zeigen oder die darauf verweisen, dass es – auch in Künstlerkreisen – ein weit verbreiteter Usus sei, über dunkle Kanäle Geld zu beschaffen oder zu waschen, dass diese Menschen eine erstaunliche Gleichgültigkeit an den Tag legen, was die allgemeinen Entwicklungen betrifft. Sie üben damit offenkundig Verrat an ihrem Kollegen, wie auch an ihrem Gewissen als Bürger.
    Allein der Rang des Künstlers impliziert eine bestimmte Moral, und ich bin überzeugt, dass Kirill Serebrennikow diese auch verkörpert.~~~Думаю, что все те, кто в оправдание акции выражают лишь недоумение или ссылаются на повсеместно распространенные — и в артистических кругах! — теневые способы получать и «отмывать» деньги, также показывают определенное равнодушие к развитию событий и тем самым открыто предают как своего коллегу, так и свою гражданскую совесть. Само звание артиста предполагает определенную мораль, и я уверен, что Кирилл Серебренников — ее олицетворение.[/bilingbox]

     

    erschienen am 24.08.2017

    Facebook/Boris Akunin: Nicht ohne Putins Segen 

    Ein weiterer von vielen Prominenten, die den Fall kommentierten, ist Star-Autor Boris Akunin. Kurz nach der Festnahme Serebrennikows in St. Petersburg, aber noch vor dem Hausarrest, zieht er auf Facebook historische Parallelen:

    [bilingbox]Festnahmen von Personen diesen Ranges, die international Resonanz auslösen, geschehen bei uns nur mit dem Segen oder gar auf direkten Befehl des obersten Chefs. Nicht anders.
    Darum lasst uns die Dinge beim Namen nennen. Den Regisseur Meyerhold hat nicht der NKWD festgenommen, sondern Stalin. Den Regisseur Serebrennikow hat nicht das Ermittlungskomitee festgenommen, sondern Putin. Gut wäre, es würden nur PR-Ziele verfolgt, um anschließend größtmögliche Gnade zu zeigen und den weltbekannten Regisseur unter Hausarrest zu stellen oder mit Meldeverpflichtung zu entlassen. Denn wenn nicht, so hieße das, dass Russland in ein neues Stadium übergegangen ist, in dem neue Regeln gelten. ~~~Международно резонансные аресты людей такого уровня у нас происходят только с санкции, а то и с прямого приказа Главного Начальника. Не иначе. 
    Поэтому давайте называть вещи своими именами. Режиссера Мейерхольда арестовало не НКВД, а Сталин. Режиссера Серебренникова арестовал не Следственный комитет, его арестовал Путин. И хорошо еще, если с PR-целью затем явить высочайшую милость и выпустить всемирно известного режиссера под домашний арест или подписку. Потому что если нет — значит, Россия перешла на новую стадию существования, где будут действовать новые правила.[/bilingbox]

     

    erschienen am 22.08.2017

    RIA Nowosti: Weshalb automatisch Opfer? 

    Weshalb sollte ein Künstler immer gleich Opfer sein, fragt Viktor Marachowski in seiner Analyse für die staatliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti:

    [bilingbox]Brandschutzinspektoren, Polizisten, Generälen oder Gouverneuren – warum können denen Wirtschaftsverbrechen angelastet werden und niemand vermutet, dass Putin da persönlich den Nichteinverstandenen die Mäuler stopft? Aber ein Künstler und Intendant, dem Veruntreuung angelastet wird, für den gilt die Vermutung, er würde verfolgt. Das heißt: Ein Amtsinhaber, der Zugang zu staatlichen Geldern und zahlreiche Möglichkeiten zu dessen Veruntreuung hat, muss automatisch als Opfer politischer Willkür behandelt werden, wenn er ein Mann der Künste ist.~~~почему пожарный инспектор, полицейский, генерал или губернатор могут быть обвинены в хозяйственном преступлении, и никто не заподозрит, что это лично Путин затыкает рты несогласным. А режиссер и худрук, обвиненный в утаскивании средств, — обладает „презумпцией преследуемости“. То есть должностное лицо, обладающее доступом к казенным деньгам и широчайшими возможностями их распила, должно по умолчанию трактоваться как жертва политического произвола, если оно человек искусства.
    [/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017
    Bis zum 19. Oktober unter Hausarrest – Regisseur Kirill Serebrennikow  / Foto © Anton Belizki
    Bis zum 19. Oktober unter Hausarrest – Regisseur Kirill Serebrennikow / Foto © Anton Belizki

    Echo Moskwy: Konflikt innerhalb der Gesellschaft

    Alexander Baunow, Chefredakteur bei Carnegie.ru, schreibt im Blog auf Echo Moskwy von einem innergesellschaftlichen Konflikt:

    [bilingbox]Man darf das nicht als einen Konflikt zwischen Staatsmacht und Künstler, oder zwischen Volk und Künstler deuten. In der Gesellschaft Russlands gibt es zwei Teile, und die Teilung ist vertikal, nicht horizontal. Sie verläuft von oben nach unten: Sowohl innerhalb der Kreml-Spitzen, als auch in der Wirtschaftselite, in der Intelligenzija, unter gewöhnlichen und spießigen Bürgern hat Serebrennikow kategorische Anhänger und kategorische Gegner. Für die einen ist er ein großer Künstler, für die anderen ein Mensch, der das Geld der Steuerzahler ausgibt und damit seine Passion zu suspekten Experimenten auslebt.
    […] in den Augen eines Teils der Gesellschaft und, sagen wir mal, der patriotisch eingestellten politischen Elite […], ist Vielfalt nicht vorgesehen. Ein solches Theater wie das Gogol Center, solche Stücke, wie sie Serebrennikow inszeniert, ein solches Ballett wie Nurejew im Bolschoi-Theater – all das hat es nicht zu geben.  ~~~Не надо анализировать это как конфликт между властью и художником или как конфликт между народом и художником. В российском обществе есть 2 части: это вертикальное, а не горизонтальное деление, это деление проходит сверху вниз и в кремлевских верхах, и в бизнес-верхушке, и в интеллигенции, и в среде обывателей, обычных граждан есть и категорические сторонники, и категорические противники Серебренникова. Для одних это большой художник, а для других это человек, который тратит деньги налогоплательщиков, удовлетворяя свои страсти к сомнительным экспериментам.
    […]  в глазах части общества и, соответственно, политической верхушки, ну, скажем так патриотически настроенной, […] разнообразия быть не должно. Такого театра как Гоголь-Центр, таких спектаклей, которые ставит Серебренников, такого балета как «Нуриев» в Большом театре быть не должно.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017

    Facebook/Dimitri Bykow: Wichtiges Signal

    Dimitri Bykow dagegen ist sicher, dass Putin zumindest unterrichtet ist – und mit dem Fall eine eindeutige Message gesendet werden soll, wie er in einem Interview sagte und auf Facebook schreibt:

    [bilingbox]Es ist lächerlich zu sagen, dass Putin es nicht weiß, dass man Putin nicht davon unterrichtet hat. Natürlich ist Putin darüber informiert, gehört Serebrennikow doch in die Top Fünf der bedeutendsten Kulturschaffenden seiner Generation.
    Hier wird aus meiner Sicht ein doppeltes Signal gesendet: Erstens glaube ich, dass hiermit dem Westen noch einmal gezeigt wird, dass hier niemand auf seine Meinung angewiesen ist. Der Westen verleiht Serebrennikow demonstrativ Theaterpreise, Russland erniedrigt ihn demonstrativ und öffentlich. 
    Dabei ist seine Schuld nicht bewiesen. Er läuft nicht vor der Untersuchung weg, sein Pass wurde ihm weggenommen, und dennoch setzen sie ihn fest. Das ist eine dreiste öffentliche Demonstration dafür, dass sie auf das Recht pfeifen, auf den Künstler und auf das ganze Land – wir tun das, was wir wollen.
    Das Zweite ist sogar noch bedauerlicher, das Signal an die kreative Intelligenzija: Sie muss darüber nachdenken, was ihre Meinungen denn eigentlich wert sind. ~~~Смешно говорить, что Путин не знает, что Путину не докладывают. Разумеется, Путин осведомлен об этом, все-таки Серебренников из деятелей культуры своего поколения в России входит в пятерку самых заметных людей.
    Тут, на мой взгляд, сигнал идет двоякий. Во-первых, я думаю, что это лишний раз показывает Западу, что от его мнения здесь никто не зависит. Запад демонстративно присуждает Серебренникову театральные премии, Россия демонстративно и публично унижает его. Причем вина его не доказана, и от следствия он не бегает, и загранпаспорт у него был отобран, а его, тем не менее, сажают. Это наглая публичная демонстрация абсолютно наплевательского отношения и к праву, и к художнику, и ко всей стране — что хотим, то и воротим.
    Ну, а второе, что еще более печально — это сигнал творческой интеллигенции призадуматься о том, чего стоят все еe мнения.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017

    Kommersant FM: Talent tut nichts zur Sache

    Der berühmte Regisseur Andrej Kontschalowski verteidigt auf Kommersant FM das Vorgehen gegen Serebrennikow:

    [bilingbox]Wenn es nicht Kirill Serebrennikow wäre, sondern Hänschen Meier, wen würde es dann überhaupt scheren? Solche Ereignisse gibt es im russischen Leben täglich in ausreichender Menge. Niemanden würde es scheren. 
    Hier haben die Ermittler und Staatsorgane offensichtlich etwas gefunden. Und was, wenn sie nun mal etwas gefunden haben? Ich kann außer Mitgefühl und Bedauern für die Menschen, die da Fehler gemacht haben, nichts empfinden. Zu sagen, was für ein talentierter Regisseur oder Künstler Serebrennikow ist, tut hier nichts zur Sache.~~~А если бы не Кирилл Серебренников, а Иван Петрович Пупкин, кто бы обратил внимание? А таких событий в российской жизни происходит ежедневно достаточное количество. Никто бы не обратил внимание. Но там, очевидно, следователи, силовые органы что-то обнаружили. Если они что-то обнаружили, что делать? У меня, кроме сочувствия и соболезнования людям, которые ошиблись каким-то образом, больше ничего нет. Нельзя говорить, насколько Кирилл Серебренников талантливый режиссер или художник — это не имеет отношения к делу.[/bilingbox]

     

    erschienen am 22.08.2017

    Facebook/Sergej Medwedew: Völlig kafkaesk

    Dem kremlkritischen Politologen und Historiker Sergej Medwedew scheint es auf Facebook so, als fände sich Kirill Serebrennikow plötzlich in einem Kafka-Stück wieder:

    [bilingbox]Serebrennikow wurde – eben ein echter Künstler – Opfer seiner eigenen Bilder. In der letzten Spielzeit zeigte das Gogol Center Kafka, und die Geschichte seiner Festnahme ist völlig kafkaesk: Der Regisseur wird beschuldigt, dass es das, was es gab, nicht gegeben hat. Das ist wie im Prozess, wo es Joseph K. nicht zu erfahren gelingt, wessen er beschuldigt wird.
    Weiter gefasst, greift hier eher die Metapher der Verwandlung. Eines nicht so wunderschönen Tages, entdecken wir, dass sich in unserer Wohnung ein riesiges, grimmiges Insekt eingenistet hat, eine zehn Meter lange Raupe mit zig Ringen, liegt in Wohnzimmer, Flur und Küche und mampft unaufhörlich etwas. Wir haben uns schon an sie gewöhnt, quetschen uns an ihr vorbei in eine Küchenecke.
    Zuweilen schnappt sich die Raupe einen der Bewohner, alle regen sich ein Weilchen auf, schlagen Krach, doch dann verstummen sie und quetschen sich weiter vorbei, denn so läuft es bei uns nun mal. Diese Raupe kann einen Magnitski umbringen, einen Senzow und Koltschenko anknabbern, sich einen Uljukajew packen, und nun siehe da, einen Serebrennikow, ja im Prinzip jeden – aber wir haben uns schon daran gewöhnt und begreifen sie als wohnungseigenes Spezifikum.~~~Серебренников как настоящий художник стал заложником своих образов. В прошлом сезоне „Гоголь-центр“ делал „Кафку“, и сюжет его ареста – совершенно кафкианский, режиссера обвиняют в том, что существовавшее – не существовало. Это как в „Процессе“, где Йозефу К. так и не удается узнать, в чем его обвиняют.
    Но если шире, то тут скорее метафора „Превращения“. В один не очень прекрасный день мы обнаруживаем, что с нами в одной квартире поселилось огромное мерзкое насекомое, десятиметровая гусеница из множества колец, лежащая в гостиной, коридоре и кухне, и постоянно что-то жующая. Мы уже привыкли к ней, ходим бочком, на кухне сидим в тесноте. Иногда гусеница схватывает кого-то из жильцов квартиры, все недолго возмущаются, шумят, но потом стихают и продолжают ходить бочком, потому что так у нас заведено. Эта гусеница может убить Магнитского, зажевать Сенцова и Кольченко, схватить Улюкаева, теперь вот Серебренникова, да собственно любого, но мы уже привыкли и воспринимаем ее как особенность планировки.[/bilingbox]

     

    erschienen am 23.08.2017

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  • Debattenschau № 56: Matilda

    Debattenschau № 56: Matilda

    Es ist der meistdiskutierte Film des Jahres in Russland: Matilda. Kinostart ist im Oktober, aber schon seit Veröffentlichung des ersten Trailers wollen orthodoxe Aktivisten und Monarchisten den Film verhindern. Das Biopic dreht sich um die historisch verbürgte Liebesbeziehung, die der noch ungekrönte Zar Nikolaus II. mit der Ballerina Matilda Kschessinskaja einging. Die Zarenfamilie der Romanows wurde vor 100 Jahren gestürzt und später von den Bolschewiki ermordet.
    Der landesweit bekannte Regisseur Alexej Utschitel hat sich gegen Angriffe auf seinen Film ausdrücklich verwahrt. Wortführerin dieser Angriffe auf politischer Ebene und Initiatorin von Eingaben bei Ermittlungsbehörden ist die umstrittene Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja – ehemals Generalstaatsanwältin auf der Krim, seit der Wahl im September 2016 Mitglied des Parlaments.

    Offiziell gibt es keinerlei Beanstandungen, und das russische Kulturministerium gab den Film nun zum Verleih frei. Betont wurde zugleich, dass es den Regionen Russlands freistehe, davon abweichende Regelungen zu treffen. Hintergrund ist, dass die Obrigkeiten der Kaukasus-Republiken Dagestan und Inguschetien den Zarenfilm aus ihren Kinos raushalten wollen. Auch Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow zählt zu den erklärten Gegnern.
    Die Kritiker berufen sich bei ihrem Protest auf die „Verletzung religiöser Gefühle“, weil sie das Ansehen des Zaren beschmutzt sehen, der von der orthodoxen Kirche zur Jahrtausendwende zum Heiligen erklärt wurde. In Russland kann so etwas unter Anwendung eines schwammig gehaltenen Extremismusbegriffs rigide Ahndungen nach sich ziehen.

    In die Schusslinie des Streits um den Film gerät immer wieder auch der deutsche Schauspieler Lars Eidinger, der in dem Historiendrama die Hauptrolle des Zaren spielt. Auch Theaterregisseur Thomas Ostermeier hat eine Rolle. Ostermeier ist künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne, Eidinger dort Ensemblemitglied und für sein exzentrisches Spiel auf der Bühne bekannt. Zu den Anfeindungen sagte der Schauspieler der Deutschen Welle, er könne die Vorbehalte „bis zu einem gewissen Punkt“ verstehen. „Aber ich glaube, diese Vorwürfe laufen ins Leere, wenn man den Film anguckt. Weil man merkt, dass sich dieser Film dem Charakter mit großem Respekt annähert und dass er etwas zutiefst Menschliches beschreibt.“
    Die Dreharbeiten waren bereits im Herbst 2014; je näher nun die Premiere rückt, desto schärfer und wütender werden die Anfeindungen. Und das, obwohl bisher so gut wie niemand den Film gesehen hat.

    Die Freigabe durch das Kulturministerium – eigentlich eine Formalie – ließ die Debatte erneut hochkochen. dekoder übersetzt Auszüge aus Interviews und Kommentarspalten.

    https://www.youtube.com/watch?v=RYNTRzXC0_g

    Kommersant-FM: Republikchef Inguschetien

    Der Kommersant-FM lässt Junus-bek Jewkurow zu Wort kommen, Republikchef von Inguschetien. Jewkurow zeigt sich enttäuscht, dass das Kulturministerium kein allgemeines Verbot ausgesprochen hat, den Film zu zeigen – und hält eine solche Option nicht nur in diesem Fall für geboten.

    [bilingbox]Ich finde, dass es gerade heutzutage natürlich eine gewisse Zensur geben muss, weil wir ein multiethnischer und multikonfessioneller Staat sind. Und jeder verzerrte und sogar nicht verzerrte Fakt, der bedeutende historische Ereignisse oder Personen betrifft, muss daraufhin geprüft werden, welchen Einfluss er hat. Deshalb brauchen wir Zensur. Im Kulturministerium muss der Film schon im Stadium des Drehbuchs dahingehend begutachtet werden, ob wir ihn brauchen oder nicht. Erst recht, wenn der Film mit Hilfe staatlicher Gelder entsteht. Auch Filme, die aus privaten Mitteln finanziert werden, müssen eine gewisse Zensur durchlaufen. […]

    Wenn ein Film einen Keil zwischen Völker und Konfessionen treibt – wozu ist er dann gut? […] Was hat der Film für eine Wirkung und wie beeinflusst er die Gesellschaft, wird es danach im Land mehr Patrioten geben oder Banditen.~~~Я считаю, что определенная цензура, особенно в нынешнее время, конечно, должна быть, потому что мы многонациональная многоконфессиональная страна, и любой искаженный или даже не искаженный факт, который касается значимых исторических событий, личностей, должен рассматриваться с точки зрения того, какое влияние он оказывает. Поэтому цензура должна быть. На уровне Министерства культуры еще на стадии сценария должна даваться оценка, нужен он или нет. Тем более если этот фильм создается на бюджетные средства. Также и картины, бюджет которых предполагает частные источники, должны проходить определенную цензуру. […]

    [Е]сли какой-то фильм может вбить клин между народами, между конфессиями, то зачем он нужен? […] Что эта картина даст на выходе и какое влияние на общество окажет, станет ли после ее просмотра в стране больше патриотов или бандитов.[/bilingbox]

    erschienen am 11.08.2017

    Republic: Film-Furore als Steigbügelhalter

    Die Politologin Tatjana Stanowaja lenkt die Aufmerksamkeit weg von der eigentlichen Diskussion um den Film. In einem Beitrag für das liberale Webmagazin Republic nimmt sie den Charakter politischer Allianzen in den Blick, die sich im Kampf gegen den Film gebildet haben.

    [bilingbox]Ramsan Kadyrow hat in Poklonskaja auf gesamtstaatlicher Ebene eine neue Anwältin gefunden. Sie ist vielleicht nicht fähig, „wichtige Entscheidungen zu treffen”, mindestens aber in der Lage, Interpretationen und ideologischen Grundlagen Vorschub zu leisten, die sowohl die Handlungen des tschetschenischen Regimes legitimieren wie auch den reinen Fakt seiner Existenz in heutiger Form. So wurde Poklonskaja erst über die vergangenen zwei Monate zur Verfechterin von traditionellen Werten in der Tschetschenischen Republik. Und sie bezeichnete es als absurd, die Führung massenhafter Hinrichtungen zu beschuldigen. […]

    Russland betritt eine Epoche großer Veränderungen (voraussichtlich von 2017–2020) mit einer Elite, die sich an die Vergangenheit klammert. Die Diskussion über Matilda ist das erste entfernte Anzeichen, wie schwer es für den Umbau des späten Putin-Regimes sein wird, den Widerstand der sich an den Status Quo klammernden Konservativen zu überwinden.~~~В лице Поклонской Рамзан Кадыров нашел нового адвоката федерального уровня, который если и не способен «решать вопросы», то как минимум может продвигать интерпретации и идеологические обоснования, легитимирующие и действия чеченского режима, и сам факт его существования в нынешнем виде. Так, Поклонская только за последние два месяца успела заступиться за «традиционные ценности» в Чеченской Республике и назвать «абсурдом» обвинение руководства республики в массовых казнях. […]

    Россия вступает в эпоху перемен (можно ориентироваться на 2017–2020 годы) с элитой, цепляющейся за прошлое. Дискуссия вокруг «Матильды» – первый очень отдаленный признак того, как тяжело перестройка позднего режима Путина будет преодолевать сопротивление цепляющихся за свой статус-кво охранителей.[/bilingbox]

    erschienen am 12.08.2017

    Echo Moskau: Kaukasus als Vorkämpfer

    Doch ein bisschen mehr als politisches Kalkül sieht Alexander Malenkow darin. Der Chefredakteur des Männermagazins Maxim geht im Interview beim Radiosender Echo Moskau auf die spezifische Rolle der Kaukasusrepubliken ein – die sich aus seiner Sicht zum Anwalt aller Gläubigen im Land erheben.

    [bilingbox]Erstens liegen unsere kaukasischen Republiken meilenweit vor den anderen, was Religiosität angeht. Und da es ja hier um das Thema der Beleidigung von Gefühlen Gläubiger geht, haben die hier in diesem Sinne ein großes Stimmrecht – sie fühlen sich ein bisschen verantwortlich für Religion allgemein. Und zweitens ist eine gewisse Bekräftigung, ein Ausdruck der eigenen konservativen staatlichen Verhaltenslinie, immer wieder gut.

    […] Sie sind im Grunde von Vornherein beleidigt. Jenseits der Unterteilung in Konfessionen, gibt es im Prinzip auch eine Gemeinschaft aller Gläubigen, die mittlerweile mit Leib und Seele füreinander einstehen. Ungeachtet dessen, dass sie immer Erzfeinde waren, haben sie sich jetzt vereinigt gegen – man kann nicht mal sagen gegen die Atheisten, sondern gegen – Menschen, die ganz prinzipiell ein wenig gleichgültig sind gegenüber dem Glauben und entsprechend auch gegenüber den Gefühlen Gläubiger.~~~Во-первых, наши кавказские республики, в общем-то, сильно впереди всех остальных в религиозности. А поскольку здесь на повестке дня тема оскорбления чувств верующих, то у них в этом смысле большое право голоса – они себя ощущают немножко ответственными за вообще религиозность.

    И второе, некое подтверждение свое, там, консервативной государственной линии поведения лишний раз выказать хорошо. […]

    То есть они уже заранее обижены. Кроме деления по конфессиям есть еще такое, в принципе, сообщество верующих, которые теперь друг за друга горой. Несмотря на то, что они заклятые враги всегда были, но сейчас они объединились против не то, что даже атеистов, а против людей несколько равнодушных, в принципе, к вере и, соответственно, к чувствам верующих.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2017

    Snob: Großes Geschenk

    Iwan Dawydow geht beim virtuellen Debattenmagazin Snob auf die riesige PR ein, die mit der anhaltenden Diskussion und den Protestaktionen gegen Matilda verbunden ist – und macht darin auch etwas Gutes aus.

    [bilingbox] Die Filmtrailer zu Matilda (die ich selbstverständlich gesehen habe, wie wohl alle gutwilligen Menschen und Finstermänner des Vaterlandes) genügen, um mir zu zeigen, dass der Film nichts für mich ist. […] Aber anschauen muss ich ihn jetzt. Das ist wahrlich kein Geschenk – aber im Weiteren wird es nur noch um Geschenke gehen. Was bitte wusste noch vor zwei Jahren ein sogar ziemlich gebildeter russischer Bürger über Matilda Felixowna Kschessinskaja? Klar, ‘ne Ballerina. Primaballerina am Marinski. Getanzt hat sie.

    […] Nicht nur die Memoiren wurden [nun] gelesen. Sondern auch die im Auftrag der Duma-Abgeordneten Natalja Poklonskaja erstellte Expertise, die zeigen soll, dass Alexej Utschitels extremistischer Film die Gefühle von Gläubigen beleidigt. Erstens ist das eine äußerst amüsante Lektüre, und einen Anlass zum Lachen sollte man immer nutzen. Aber zweitens – und das ist natürlich wichtiger, denken die Leser vielleicht mal darüber nach, welche Art von Studien dazu führen, dass Menschen durch zahlreiche Paragraphen  unseres Strafgesetzes, die die Freiheit von Worten und Gedanken einschränken, büßen müssen. Haftstrafen, unvorstellbar hohe Geldstrafen werden verhängt, Leben zerstört. Je mehr Menschen das bewusst wird, desto höher sind die Chancen, dass die unerhörten Strafparagraphen verschwinden. Und dass die Richter, die nach diesen Paragraphen Urteile sprechen, zusammen mit den „Experten”, die die Beweisgrundlage liefern, losgeschickt werden, die Straßen zu fegen. Das ist doch ein wahrlich großzügiges Geschenk der Ballerina.~~~Трейлеров фильма «Матильда» (которые я, разумеется, видел, как видели их все люди доброй воли и все мракобесы отечества, похоже) достаточно, чтобы понять, что это — не для меня. […] Но смотреть теперь все-таки придется. Это, впрочем, не подарок, но дальше речь пойдет исключительно о подарках. Что знал обычный, даже не лишенный эрудиции, россиянин о Матильде Феликсовне Кшесинской года два-три назад? Ну, балерина. Прима Мариинского. Ну, танцевала. […]

    […] Читали ведь не только мемуары. Еще выполненную по заказу депутата Натальи Поклонской «экспертизу», призванную доказать, что экстремистский фильм Алексея Учителя оскорбляет чувства верующих. Во-первых, это очень смешное чтиво, а повод посмеяться никогда не бывает лишним. Но, во-вторых, что, конечно, важнее, прочитавшие, может быть, задумались, на основании каких изысканий людей карают по многочисленным статьям нашего УК, ограничивающим свободу слова и мысли. Дают реальные сроки, невообразимые штрафы, ломают жизни. Чем больше людей обратит на это внимание, тем больше шансов, что позорные карательные статьи исчезнут, а судьи, выносившие по ним приговоры, вместе с «экспертами», готовившими доказательную базу, отправятся мести улицы. Это по-настоящему роскошный подарок от балерины.[/bilingbox]

    erschienen am 11.08.2017

    Vedomosti: Zurückpfeifen gestaltet sich schwierig

    Was die Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja bei ihrem Kampf gegen den Film antreibt – wobei sie sich stets darauf beruft, dass sie mehrere Zehntausend Unterschriften und Hinweise aus der Bevölkerung erhält –, welche Auswirkungen es hat, dass sie die religiösen Gefühle Gläubiger verletzt sieht und wie das Kulturministerium darauf reagiert, betrachtet Xenia Bolezkaja in einem Kommentar für das liberale Wirtschaftsblatt Vedomosti.

    [bilingbox]Poklonskaja hat einen echten Fimmel: Nikolaus II. Im Jahr 2016 ging sie sogar mit einer Ikone des Märtyrer-Zaren auf eine Kundgebung des Unsterblichen Regiments. Das Antlitz des Imperators mitten unter den im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen Soldaten, zudem noch in den Händen einer amtierenden Staatsanwältin, war befremdlich. Als Poklonskaja, dann schon als Dumaabgeordete, mit ähnlicher Ernsthaftigkeit  mitteilte, dass, nein, keine Ikone, sondern gleich eine Büste von Nikolaus II. in Simferopol Salböl weine, zuckte schon niemand mehr zusammen. Als gäbe es eine schweigende Übereinkunft: Nun, es kommt vor, dass russische Staatsanwälte-Parlamentarier ein bisschen spinnen, oder gar schlimmer. Tja, nun ist das Rad ins Laufen gekommen – und jetzt müssen sich ehemalige Kollegen und Staatsbeamte gegen Eingaben und Gesuche von Poklonskaja zu Matilda schon ganz ernstlich wehren.

    […] Wobei das Kulturministerium Poklonskaja sehr schlau abwehrt. Kein einziges scharfes Wort gegen sie, nur die Anregung, den Film erst einmal in Gänze anzuschauen und dann zu beurteilen. Erstens ist die harsche schöne Staatsanwältin eines der bedeutendsten Symbole von Krimnasch. Zweitens ist es sehr schwer, ein gerade erst losgelassenes Tier namens „Beleidigung der Gefühle von Gläubigen” zurück in den Käfig zu jagen. Ja wie könnte man denn die sehr sehr gläubige Poklonskaja packen und ihr barsch beibringen, dass Heilige eine Sache sind – und das Kino was ganz anderes ist. Besser man wartet ab.~~~Для Поклонской образ Николая II – настоящий пунктик. В 2016 г. она даже вышла с иконой царственного мученика на шествие «Бессмертный полк». Лик императора среди погибших во время Великой Отечественной войны солдат, да еще и в руках действующего прокурора смотрелся крайне удивительно. Так что когда Поклонская, уже депутат, с такой же серьезностью сообщила, что даже не икона, а бюст Николая II в Симферополе замироточил, уже почти никто не вздрогнул.

    Будто молча решили: бывают у российских прокуроров-депутатов причуды и похуже. Но вот маховичок раскрутился – и теперь от запросов Поклонской по «Матильде» уже совсем не в шутку вынуждены отбиваться бывшие коллеги и чиновники. […]

    Причем отбиваются от Поклонской очень аккуратно. Ни одного резкого слова против, только приглашения сначала посмотреть фильм целиком, а потом уже судить. Во-первых, суровый и красивый прокурор – один из главных символов «Крымнаша». Во-вторых, сложно загнать обратно в загон только разгулявшегося зверя под названием «оскорбление чувств верующих». Ну как же можно взять да и грубо сообщить очень-очень верующей Поклонской, что святые отдельно, а кино отдельно? Лучше переждать.[/bilingbox]

    erschienen am 14.08.2017

    Komsomolskaja Prawda: Natalja Poklonskaja

    Das Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda hat ein Interview mit Natalja Poklonskaja geführt und kritisch hinterfragt, wo ihre konkreten Probleme mit dem Film liegen. Allen voran stört sie sich an der Besetzung der Hauptrolle von Nikolaus II. mit dem deutschen Schauspieler Lars Eidinger.

    [bilingbox]Meinen Sie nicht, man hat sehr bewusst bestimmte Schauspieler für die Rolle des russischen Herrschers und die anderen Rollen ausgesucht?

    In Russland gibt es viele beeindruckende Schauspieler. Sind die uns irgendwie ausgegangen? Nein, es gibt sie. Orthodoxe. Aber den heiligen Märtyrer spielt ein deutscher Pornodarsteller. Haben die Filmemacher etwa nicht gemerkt, dass diese Gestalt den orthodoxen, gläubigen Menschen missfällt? Menschen, die ein Ehrgefühl haben, die die eigene Geschichte lieben? Die in die Kirche gehen und sich vor den Heiligen verbeugen. […]

    Heute erscheint das alles als Mysterium, aber vor hundert Jahren war das ein unwahrscheinlich grausamer Mord. Wie Tiere wurden der Herrscher und seine gesamte Familie ermordet. Es entsteht der Eindruck, dass hier eine  Opferdarbringung wiederholt werden soll.~~~[Р]азве не специально были подобраны конкретные актеры на роль русского государя и других персонажей?

    В России много удивительных актеров. Неужели они закончились? Нет, они есть. Православные. Но играет Святого мученика немецкий порноактер. Неужели создатели фильма не понимали, что его образ не устроит православных верующих, людей, уважающих собственное достоинство? Уважающих свою историю. Приходящих в церковь поклониться святым. […]

    Сегодня это кажется мистическим, но сто лет назад было совершено жестокое убийство. Зверски убиты государь и вся его семья. Складывается впечатление, что жертвоприношение планируется повторить.[/bilingbox]

    erschienen am 14.08.2017

    Das Interview mit Natalja Poklonskaja in Auszügen mit deutschen Untertiteln (Quelle: Komsomolskaja Prawda):

    dekoder-Redaktion

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  • Kino #8: Kin-dsa-dsa!

    Kino #8: Kin-dsa-dsa!

    „Genosse, dort sagt ein Mensch, er sei ein Außerirdischer: Da muss man doch etwas tun!“ Doch, was der Genosse dann macht, führt schnurstracks nach Pljuk in die Galaxie des gleichnamigen Films Kin-dsa-dsa!, wo eine hochentwickelte Zivilisation lebt. Deren Einwohner sehen zwar wie Menschen aus, besitzen jedoch telepathische Fähigkeiten und können sich durch Raum und Zeit beamen. Trotzdem ist das, was Regisseur Giorgi Danelia da im Jahr 1987 auf die Leinwand brachte, keine schöne, neue Welt. Hier offenbart sich eine vom Fortschritt völlig ausgelaugte Gesellschaft mit Bewohnern in zerlumpter Kleidung und einer absurden sozialen Ordnung, wo die einen mit gelben Hosen etwas gelten und die anderen mit Nasen-Glöckchen ausstaffiert werden.

    Vor Kin-dsa-dsa! hatte Danelia vor allem mit leicht gesellschaftskritisch angewürzten Komödien landesweite Publikumserfolge erzielt. Doch Kin-dsa-dsa! ist anders. Mit zwei Sowjetbürgern inmitten einer Wüstenlandschaft, die von einer verstörenden Begegnung zur nächsten stolpern, ist der wohl seltsamste Film sowjetischer Kinogeschichte gelungen: eine Art kunstvolle Zeitverschwendung als satirische Sci-fi-Persiflage.

    Hier finden Sie den Film beim Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Als Kin-dsa-dsa! in die Kinos kam, war mit Glasnost und Perestroika die Hochzeit politischer Hoffnung und gesellschaftlicher Unsicherheit. Erste, bis dahin verbotene, Filme durften gezeigt werden, und die westliche Massenkultur sickerte in den Alltag ein, während dissidente Grundsatzkritik am sowjetischen Gesellschaftsprojekt immer häufiger erklang. Der meistgesehene Kinofilm des Jahres 1987 war die Western-Komödie Tschelowek s Bulwara Kapuzinow ( dt. Der Mann vom Kapuziner-Boulevard), die von Liebe, Eifersucht und dem Traum vom goldenen Westen handelt.

    Solche Wildwestromantik und Signale des Umbruchs bedient Giorgi Danelia nicht. Vielmehr versetzt er seine beiden Haupthelden in die öde Fremde des Wüstenplaneten Pljuk in der Galaxis Kin-dsa-dsa und erzählt eine Geschichte, die sowohl als sozialkritische Parabel auf den westlichen Kapitalismus wie auch als politische Allegorie auf die korrupte sowjetische Bürokratie gedeutet werden könnte. Keine Szene, kein Detail, das nicht eine Anspielung auf sowjetische kulturelle und politische Realien beinhaltet. 

    Sowjetische Realien in der Pljuk-Wüste

    Schon die Ankunft auf Pljuk ist ganz von Alltagsklischees geprägt: Die beiden Protagonisten wähnen sich zunächst in einer Kapstrana der Dritten Welt, in der die verarmten Einheimischen betteln und schnorren. Gleichzeitig tragen die beiden selbstgemachten Weinessig mit sich herum, was auf die blühende Schattenökonomie ihrer heimischen Mangelwirtschaft verweist.1 Ausgerechnet Streichhölzer, die zwar noch en Masse, dafür aber qualitativ so schlecht hergestellt werden, dass sie ständig abbrechen, erweisen sich auf Pljuk als begehrtes Luxusgut. So wie dieses billige Alltagsutensil hier gewissermaßen zum Symbol sowjetischer Misswirtschaft wird, gräbt Danelia auf 130 Minuten Spielzeit die allzu vertraute Vorstellungswelt des Sowjetbürgers um.

    Die Handlung ist schnell erzählt: Der biedere Vorarbeiter Wladimir Maschkow (gespielt von Stanislaw Ljubschin), genannt Onkel Wowa, den seine Ehefrau nach Feierabend noch schnell für Makkaroni losschickt, und der schüchterne Student Gedewan Alexidse aus Batumi (gespielt von Lewan Gabriadse), genannt der Geiger, begegnen sich zufällig am Kalinin-Prospekt im Zentrum von Moskau, wo sie sich um einen vermeintlichen Obdachlosen kümmern wollen. Der stellt sich als Außerirdischer vor und fragt sie nach den Koordinaten ihres Planeten. Ehe sie sich versehen, bringt sie eine falsche Bewegung per Teletransporter nach Pljuk. Dort begeben sie sich auf die Suche nach dem knappen und teuren Treibstoff, den sie für die Rückkehr zur Erde benötigen. 

    Abweichler als Norm

    Ihre ersten Bekannten sind Uef und Bi, zwei Einheimische, die mit den strebsamen Sowjetbürgern so gar nichts gemeinsam haben. Letztlich erweisen sie sich als Begleiter, die den Gästen von der Erde andere Lebenswege und -formen nahebringen wollen. Das deutet Uef bereits bei seinem ersten Auftritt an, als er ihnen mit tänzelndem Schritt und leicht die Hüften schwingend entgegenkommt – nachdem Uef und Bi beinahe wie aus dem Nichts einem quietschenden Raumgleiter entstiegen und ein schräges Hupkonzert angestimmt hatten.

    Zwei Sowjetbürger landen inmitten einer Wüstenlandschaft und stolpern von einer verstörenden Begegnung zur nächsten / Fotos © Mosfilm
    Zwei Sowjetbürger landen inmitten einer Wüstenlandschaft und stolpern von einer verstörenden Begegnung zur nächsten / Fotos © Mosfilm

    Dieser tänzelnd-verführerische Gestus ist es, der sich durch den Film zieht und ihn einzigartig macht. Die Besetzung mit Jewgeni Leonow in der Rolle des Uef und Juri Jakowlew2 in der Rolle des Bi ist dabei entscheidend: Mit ihnen erscheinen zwei der populärsten Schauspieler der Sowjetunion in dieser flimmernden Wüstenhitze. Diesmal kommen sie als kosmische Wiedergänger von Fy und Bi (dt. Pat und Patachon) daher, tollpatschig, kindlich-betrügerisch und mit Hang zum Egoismus. In ihrer Komik geht es aber nicht so sehr darum – wie bei Pat und Patachon – die Automatismen des irdischen Alltagslebens zu entblößen. Stattdessen vermögen es die liebgewonnenen Filmschauspieler in der Rolle schräger Vögel, ein für den Zuschauer verstörendes Setting zu etablieren: Darin erscheinen die nonkonformistischen Lebensweisen als Norm. 

    Kulturkritik und Fortschrittspessimismus?

    Diese zerlumpten Figuren Uef und Bi haben zugleich einen solch verschmitzten Gleichmut an sich, dass die Filmkritiker bis heute ratlos sind, ob es sich bei dem Film eher um eine dystopische Komödie, philosophische Fabel, satirische Gesellschaftskritik oder doch eine absurde Groteske handele.3

    Das rührt auch daher, dass alle eingewebten gesellschaftspolitischen und filmhistorischen Anspielungen weder für die Pljuk-Bewohner noch die beiden Erdlinge von Relevanz zu sein scheinen. So lässt sich Kin-dsa-dsa! zum Beispiel auch als Parodie von Andrej Tarkowskis apokalyptischer Filmästhetik lesen.4 Die Tatsache, dass es auf dem Planeten keine Vegetation oder andere Lebewesen mehr gibt und einzig verrostete Raumgleiter, brüchige Blechbuden und unterirdische Bunkerkatakomben als Behausungen geblieben sind, deutet auf eine subtile Ökokritik hin. Doch scheint die zerstörte Umwelt die Helden keineswegs zu betrüben, im Gegenteil: Für ihre skurrilen Fortbewegungsmaschinen opfern sie lustvoll noch den letzten Rohstoff.

    Gleichzeitig werden bei der Darstellung dieser hochintelligenten Zivilisation sämtliche kolonialen Klischees über primitive Kulturen in abgelegenen Weltgegenden aufgerufen, die durch hierarchische Strukturen und diskriminierende Ausgrenzungen gekennzeichnet sind. Entsprechend werden Verstöße mit drakonischen Strafen belegt, und Onkel Wowa und der Geiger müssen als Migranten kleine, silberne Glöckchen in der Nase tragen. Die Begrüßungsrituale wirken zudem lächerlich, und es existieren gerade einmal ein paar Worte im Sprachgebrauch: Neben Ku als Universalwort und Kju als einzig zugelassenem Schimpfwort sind das noch einige technische Bezeichnungen, wie Pepelaz für Raumgleiter, Katse für Streichholz oder Grawizappa für ein zentrales Motorenteil in den Raumgleitern.

    Zelebrierte Desillusion

    So verlegt Danelias Film zwar viele aktuelle politische Themen und gesellschaftliche Konflikte in grotesk-verzerrter Form auf den Planeten Pljuk, doch von dem Reformwillen von Glasnost und Perestroika ist hier nichts zu spüren.  Die Dialoge und Konflikte sind meist belanglos, eine tiefere Figurenpsychologie oder kompliziertere Intrige gibt es nicht. Stattdessen bewegt sich der Film von einer trivialen Wüstenepisode zur nächsten, nur zum Ende gibt es etwas mehr Tempo. „Warum ist zum Beispiel den beiden einsamen Repräsentanten der dortigen ‚Fauna‘ – Bi und Uef – so viel Zeit gewidmet“, fragte seinerzeit der prominente Kritiker und Literaturhistoriker Wsewolod Rewitsch entrüstet: „Die Hauptcharakterzüge dieser kleinen Judasse werden bei ihrem ersten Auftritt deutlich und es kommen keinerlei weitere Schwierigkeiten oder Seelenwinkel hinzu. Ein Kunstwerk lässt sich nicht aus nichts bauen.“5

    Der tänzelnd-verführerische Gestus, der sich durch den Film zieht, macht ihn einzigartig
    Der tänzelnd-verführerische Gestus, der sich durch den Film zieht, macht ihn einzigartig

    Doch genau von dieser kunstlosen Zeitverschwendung handelt der Film, und sie lässt ihn nicht erst aus heutiger Sicht so irritierend wirken. Er appelliert an nichts, sondern bringt einfach die desillusionierte Welt des Moskauer und Leningrader Undergrounds auf die fantastisch verfremdete Bühne des Wüstenplaneten. Jener Subkultur, für die das große Säuferepos Die Reise nach Petuschki aus dem Jahr 1969 genauso steht wie das legendäre Café Saigon der 1980er Jahre auf dem Leningrader Newski-Prospekt, in dem die junge Bohème und Untergrund-Künstler wie die Jugend-Ikone Boris Grebenschtschikow ein- und ausgingen. 

    „Mama, was werde ich tun? Ku“

    In Danelias Film sind den stilsicher verwahrlost gekleideten Bewohnern von Pljuk die großen Versprechungen der Politik schlicht völlig egal. Schon bald sehen sich die unbedarften Weltraumreisenden Onkel Wowa und der Geiger genötigt, sich auf die Weltauffassung der Pljukschen Bewohner einzulassen. Begegnen sie den chaotisch-egoistischen Einheimischen Uef und Bi anfangs noch mit sowjetischem Hochmut, süffisantem Spott und auffahrender Geste, lässt Danelia sie schließlich gemeinsam hupend und fiedelnd mit ihren Begleitern auftreten. Der Inbegriff dieses Lebensstils findet sich in jenen Liedzeilen, die die beiden gleich mehrmals zum Besten geben und die ihnen gewissermaßen das Sesam-Öffne-Dich zum Verständnis dieser anderen Welt sind. „Mama, Mama, was werde ich tun? Ku./ Mama, Mama, wie werde ich leben? Yyyyy! Y-ku, y-ku, y-ku, y-ku, y-ku, yyyyy.“

    Die befremdliche Albernheit ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden
    Die befremdliche Albernheit ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden

    In durchgeschwitzten, dreckigen Hemden krächzen die beiden Männer ihr schrulliges Liedchen und begleiten es mit einer quietschenden Geige und einer Rassel in monotoner Tonlage ohne jede Harmonie. Das Infantile und Stupide wird in diesen Zeilen lustvoll zur Schau gestellt, die sich in ihrer Verknüpfung von kindlichen Grundsatzfragen („wie werde ich leben?“) an die Mutter mit banalem Nonsens („… y-ku, y-ku …“) um keinen Sinn, keine Moral, keine Gesellschaftskritik scheren. Und gerade dadurch begeistern sie jene Wüstenbewohner, die eine Art subkulturelle Gemeinschaft der Aussteiger im extraterrestrischen Sand darstellen und in einer Welt leben, deren gesellschaftspolitisches System sogar noch öder und diktatorischer ist als die sowjetische Gegenwart der 1980er Jahre.

    Kult und Refugium

    Fast wie in einem Road Movie entdecken Onkel Wowa und der Geiger zum Ende des Films in der amoralischen und spielerischen Unbedarftheit ihrer Pljuk-Gefährten ein eigenes Ideal von nonkonformer Freiheit für sich9:  Dass diese Lust am Anderssein damals nicht dem Mainstream entsprach und mit 15,7 Millionen Kinozuschauern eher mager besucht war, verwundert nicht, dürstete man doch eher nach politischen Visionen, skandalösen Enthüllungen oder den verbotenen Früchten aus dem Westen. Die befremdliche Albernheit von Kin-dsa-dsa! ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden – und mit seinen Zitaten und Gesten als Refugium für abweichendes Verhalten bis heute weiterleben.

    Text: Matthias Schwartz
    Veröffentlicht am 03.08.2017


    1.Ursprünglich war hier im Filmskript Selbstgebrannter vorgesehen, was die Zensur aber verhinderte. Dass die Glasflasche jedoch eher hochprozentigen Alkohol als Essig enthielt, war seinerzeit auch so für jeden Zuschauer erkennbar. Die Anspielung ist im Kontext der Anti-Alkohol-Kampagne zu verstehen, die Staatschef Michail Gorbatschow 1985 initiiert hatte und im Zuge derer er in Georgien massenweise uralte Weinreben abholzen ließ.
    2.Zunächst war Alexei Petrenko für die Rolle des Bi vorgesehen, der in seiner Exzentrik vielleicht noch stärker das Grotesk-Faszinierende des ungleichen Männerpaares zum Ausdruck gebracht hätte, der aber nach Lektüre des Drehbuchs auf eine Teilnahme am Film verzichtete.
    3.vgl. beispielsweise Kušnirov, M. (1987): Na tretjem dychanii, in: Iskusstwo kino 7 (1987), S. 48-59; Smith, Michael Thomas (2017): Kyu, A Semantic Analysis of Kin-Dza-Dza!, in: Quarterly Review of Film and Video (21.07.2017), S. 1-10
    4.Genauso sind beispielsweise Verweise auf Pier Paolo Pasolini offensichtlich, vgl. hierzu Braguinski, Nikita (2012): Kin-dsa-dsa!, in: Vassilieva, Ekaterina; Braguinski, Nikita (Hrsg.): Noev kovčeg russkogo kino: Ot ‚Sten’ki Razina‘ do ‚Stiljag‘, Vinnytsia, S. 393-397
    5.Rewitsch, Wsewolod (1987): Ku-ku! (Dva mnenija o filme Kin-dsa-dsa!), in: Sovetskaja kul’tura, 07.04.1987, S. 5
    6.Im selben Jahr wie Kin-dsa-dsa! kam der Dokumentarfilm Vai viegli būt jaunam? (Ist es leicht jung zu sein?, 1987) des lettisch-sowjetischen Regisseurs Juris Podnieks in die Kinos, der zum ersten Mal überhaupt nonkonformistische Jugendkulturen in der Sowjetunion für ein größeres Publikum medial sichtbar machte; zur urbanen Poetik des Underground, vgl. Kliems, Alfrun (2017): Der Underground, die Wende und die Stadt: Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa, Bielefeld
    7.Bei dem Liedchen handelt es sich um ein bekanntes russisches Couplet aus den 1920er Jahren, das hier sowohl von der Melodie als auch vom Text her in stark verstümmelter Form wiedergegeben wird.
    8.Inbegriff dieser Sinnlosigkeit des Films war für viele Kritiker der Filmtitel, der sich einer klaren Herleitung – manche verwiesen auf georgische Anklänge – entzieht und nicht nur darin an den postutopischen Film O-bi, o-ba. Koniec cywilizacji (dt. O-bi, o-ba: Das Ende der Zivilisation) des polnischen Regisseurs Piotr Szulkin aus dem Jahr 1984 erinnert.
    9.Schließlich wird ihrer Begegnung auch ein homoerotisches Begehren eingeschrieben, wobei das in der vor allem von körperbetonten Männern bevölkerten Welt des Kin-dsa-dsa! an vielen Stellen offensichtlich ist, aber lediglich in einer – gleich zweimal gezeigten – Szene zweier in einer Wanne an einem verschlossenen Ort gemeinsam Badenden explizit gemacht wird. Alexander Sokurow wird ein Jahr später in seinem Film Tage der Finsternis dieses Begehren noch sehr viel expliziter auf die Leinwand bringen, dessen Handlung vielleicht nicht ganz zufällig ebenfalls in einem Wüstengebiet in Zentralasien spielt, dort, wo auch Kin-dsa-dsa! gedreht worden ist.

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    Kino #7: Mne dwadzat Let

  • Kino #7: Mne dwadzat Let

    Kino #7: Mne dwadzat Let

    Sowjetischer Sturm und Drang: Regisseur Marlen Chuzijew verewigte in Mne dwadzat Let (dt. Ich bin zwanzig Jahre alt, 1965) das Lebensgefühl jener Generation, die beim Anbruch der 1960er Jahre ihr Erwachsenenleben begann1, voller Hoffnung und Sehnsucht – in Auseinandersetzung mit der Kriegsgeneration ihrer Eltern jedoch nicht unbeschwert.

    Erstmals seit zwei Jahrzehnten stand im Kino nicht mehr das große, patriotische Wir im Mittelpunkt des Ausdrucks, sondern das lyrische Ich mit seiner Alltäglichkeit der Empfindung. Schon das Kriegsdrama Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen) von 1957 hatte das Tor dahingehend aufgestoßen.

    Der Meilenstein Mne dwadzat Let und seine Genese verdeutlichten nur wenige Jahre später eindrucksvoll, dass sich eine sowjetische nouvelle vague hätte herausbilden können – wären die konservativen Kräfte aus dem Zentralkomitee der KPdSU seinerzeit nicht eingeschritten. 

    https://www.youtube.com/watch?v=AG7YqF3WjFE

     

    Hier finden Sie den Film „Mne dwadzat Let mit englischen Untertiteln

    „Ich habe den Winter satt, mit unermesslicher Kraft habe ich ihn satt“, erklärt der erkältete Sergej mit festem Blick in die Kamera. Aus einer Ecke seiner Wohnung tropft es laut und stetig. Er bittet seine Schwester, die im nächtlichen Korridor telefoniert, den Wasserhahn zuzudrehen. Doch weiterhin tropft es. Als er schließlich selbst aufsteht und am Waschbecken ist, versteht er erst, woher das Geräusch kommt: „Hör nur, wie alles tropft! Öffne das Fenster. Ja doch, es tropft!“ flüstert seine Schwester ihrem Liebsten in den Hörer.

    Und plötzlich – es ist Tag, es ist Frühling! – schlagen kleine Jungen mit Ästen gegen die Regenrinnen der Häuser, und die Laute erfüllen die ganze Straße im Herzen Moskaus. Von oben herab tropft und rinnt es, das Wasser sammelt sich zu einem fließenden, das Sonnenlicht reflektierenden Teppich, die Menschen tummeln sich auf ihm und vereinigen sich in der Ferne in einen Menschenstrom, der zur 1. Mai-Parade zieht, auf der auch Sergej wieder auftaucht, der zusammen mit seinen zwei Freunden Kolja und Slawa am wichtigsten Fest der Sowjetrepublik marschiert. 

    Diese Szenen in Mne dwadzat Let vermögen wohl am stärksten auszudrücken, welches Versprechen die kurzen Jahre der Tauwetter-Periode bargen: als Symbole der befreienden Wirkung auf Gesellschaft und (Film-)Kunst. Mit dem Tod Stalins im März 1953 und sodann dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 19562 endete der lange „Winter“ des Stalinismus. Und dieser Film wird zum Schlüsselwerk seiner Zeit.

    Ausgelassene Moskauer Twens, immer unterwegs in Straßen und auf Hinterhöfen / Foto © Screenshots aus dem Film „Mne dwadzat Let“
    Ausgelassene Moskauer Twens, immer unterwegs in Straßen und auf Hinterhöfen / Foto © Screenshots aus dem Film „Mne dwadzat Let“

    Porträt einer vaterlosen Nachkriegs-Generation

    Marlen Chuzijew, der als Kind seinen Vater in den Stalinschen Säuberungen3 verlor, ließ bereits 1956 die Protagonisten in Wesna na Saretschnoi ulize (gedreht mit Felix Mironer, dt. Frühling4 in der Saretschnaja Straße) nach ihrem Platz in der sowjetischen Gesellschaft suchen, und sie alle litten unter der Kindheit ohne Vater. Dieser Verlust stellt in Mne dwadzat Let gleichsam zentrales Trauma und Dilemma der Hauptfigur Sergej Shurawljew5 dar.

    Mit 21 Jahren aus dem zweijährigen Militärdienst zurückgekommen, schlendert Serjosha mal alleine und grübelnd, mal in Begleitung seiner zwei besten Freunde durch Moskau, betritt Hinterhöfe, in denen Jugendliche zu ausländischer Musik tanzen und sich verlieben. Bei besagter 1. Mai-Parade trifft er Anja wieder, der er Monate zuvor das erste Mal begegnet und verzaubert durch die halbe Stadt gefolgt war. 
    „Wie heißt du?“, fragt er sie. „Anja“, rufen von weiter vorn ihre Begleiter. „Hurra“, gibt sie zurück. Und „Hurra“ schallt es von den fremden Marschierenden hinter ihnen, kein anonymer Marschkörper, sondern freudige Gesichter, weil sich in dieser Film-Utopie Individuum und Masse nicht – wie sonst häufig – antagonistisch, sondern ergänzend gegenüberstehen.

    Seine Protagonisten waren auf der Suche nach ihrem Platz in der sowjetischen Gesellschaft – Marlen Chuzijew / Foto © Ilja Pitalew/Kommersant
    Seine Protagonisten waren auf der Suche nach ihrem Platz in der sowjetischen Gesellschaft – Marlen Chuzijew / Foto © Ilja Pitalew/Kommersant

    Um das Denken und die Sprache dieser Generation der sogenannten Schestidesjatniki glaubwürdiger und unmittelbarer zeichnen zu können, wählte sich Chuzijew den jungen Studenten Gennadi Schpalikow von der Staatlichen Moskauer Filmhochschule zum Drehbuchpartner.6

    Kühne Anlehnung ans französische Kino

    Ihre szenische und dialogische Meisterschaft, unterstützt vom visuellen Genie der Kamerafrau Margarita Pilichina, gipfelte in einem kühnen Entwurf, der glorreicher Ausgangspunkt einer sowjetischen nouvelle vague hätte werden können.

    Erst wenige Jahre zuvor waren es François Truffaut, Jean-Luc Godard und Jacques Rivette, die Paris neu für das Kino entdeckt hatten: keine Studiobauten und Statisten mehr, sondern reale Plätze, reale Menschen bevölkerten die Szenen. Gerade Kameramann Raoul Coutard hielt sich weit ab vom Geschehen, machte die zuvor vom „professionellen“ Kino geächtete Handkamera zu seinem Hauptstilmittel und erfasste so gleichsam dokumentarisch die ganze Lebendigkeit und zugleich auch den Charme von Paris.

    Beeinflusst von diesem bahnbrechenden jungen französischen Kino – Chuzijew war damals ein leidenschaftlicher Kinogänger, der bestens über alle aktuellen stilistischen Entwicklungen des Weltkinos Bescheid wusste – wählten Chuzijew und Pilichina ein ähnliches visuelles Konzept. Eine bewegliche Kamera folgt in fließenden Bewegungen den Protagonisten auf ihrem Weg durch die Straßen Moskaus, die man nicht nur einmal mit denen von Paris zu verwechseln geneigt ist.
    Dank einer speziellen Weitwinkeloptik, wie sie schon von Michail Kalatosow und Kameramann Sergej Urussewski in Letjat Shurawli eingesetzt wurde, um den Bildern eine avantgardistische Wucht zu verleihen, kann Pilichina sehr oft nah an den Gesichtern verweilen und trotzdem noch viel von ihrer Umgebung einfangen.

    Eine bewegliche Kamera folgt den Protagonisten auf ihrem Weg durch die Straßen Moskaus
    Eine bewegliche Kamera folgt den Protagonisten auf ihrem Weg durch die Straßen Moskaus

    Moskau war immer ein wichtiger Bezugspunkt im sowjetischen Filmschaffen, schon in den 1920er Jahren, dort aber zumeist als pulsierende, moderne, den Fortschritt symbolisierende Stadt. Über allen Stadtszenen in Mne dwadzat Let weht dagegen der Atem der Freiheit und Unbeschwertheit. Moskau wirkt hier wie die Hauptstadt eines wahrlich glückversprechenden Kommunismus, der den Menschen nicht beengt und ihn unbeobachtet jeden Winkel der Stadt erkunden lässt.

    Doch bevor Chuzijews Entwurf hätte Schule machen können, sorgten die konservativen Kräfte im Zentralkomitee für ein sofortiges Verbot. Überhöhung der Nichtigkeit des Alltäglichen (Bytowschtschina) warfen sie den Filmemachern vor. Kurz darauf geißelte der damalige KP-Chef Nikita Chruschtschow bei einer gleichsam stalinistischen Intellektuellenschelte im Kreml am 8. März 1963 Chuzijews Film.7 Die Protagonisten hätten nichts gemein mit „unserer herausragenden Jugend. […] Diese Figuren sind nicht die Art von Menschen, auf die unsere Gesellschaft sich verlassen kann. Sie sind keine Kämpfer, gestalten die Welt nicht um. Sie sind moralisch kranke Menschen“.8

    Früher zensiert, später neu entdeckt

    So kam der 1962 unter dem Titel Sastawa Iljitscha (dt. Die Pforte des Iljitsch9) vollendete Film jahrelang nicht zur Aufführung; Chuzijew erklärte sich schließlich bereit, Kernszenen neu zu drehen und ihrem Gehalt nach zu verändern. Andere Sequenzen waren fast komplett gestrichen, als Mne dwadzat Let 1965 ins Kino kam. Auch ein 20-minütiger Dichterabend der lyrischen Avantgarde um Jewgeni Jewtuschenko, Andrej Wosnessenski und Bella Achmadulina fiel der Zensur zum Opfer. 
    Die damalige Kulturministerin Jekaterina Furzewa selbst hatte Chuzijew ermöglicht, eine solche Lesung eigens für den Film im Polytechnischen Museum zu inszenieren, und war später eine der wenigen UnterstützerInnen des Films in seiner ursprünglichen Fassung.10

    „Moralisch kranke Menschen“ – Die Jugend dieses Films war für KP-Chef Chruschtschow ein einziges Ärgernis
    „Moralisch kranke Menschen“ – Die Jugend dieses Films war für KP-Chef Chruschtschow ein einziges Ärgernis

    Mne dwadzat Let, aber auch die Ursprungsfassung, werden in jüngerer Zeit bei Festivals und Aufführungen von Basel bis Paris als Meilenstein der sowjetischen wie internationalen Kinematographie wiederentdeckt11, während der Film und seine Entstehung rückblickend gleichermaßen Blüte und hereinbrechendes Ende des Tauwetters zu markieren scheint.
    Dafür stehen besonders die beiden am Ende aufeinanderfolgenden Kulminationspunkte im Film: Die Geburtstagsfeier von Sergejs Freundin Anja und die Begegnung mit dem Geist seines im Krieg gefallenen Vaters. Diese Schlüsselszenen sorgten in ihrer Ursprungsversion für harsche Kritik aus dem Parteiapparat, sodass vor allem letztere durch Chuzijew radikal geändert werden musste.

    Die Frage, wie zu leben sei

    Die Stimmung bei Anjas Geburtstag in der Wohnung ihres Apparatschik-Vaters ist gelöst, es wird getrunken und getanzt. Diese privilegierten Moskauer Twens sind ironisch, unernst, verspielt, trotzig. Chuzijew holte hier ebenfalls Studenten der Filmhochschule vor die Kamera, eine Gruppe, die sich heute wie ein kleines Who-is-who der sowjetischen Filmszene liest, waren doch unter anderem die späteren Regie-Größen Andrej Kontschalowski und Andrej Tarkowski dabei.12

    Als Partypublikum fungiert das spätere Who-is-who der sowjetischen Filmszene – auch der junge Andrej Tarkowski (links) ist dabei
    Als Partypublikum fungiert das spätere Who-is-who der sowjetischen Filmszene – auch der junge Andrej Tarkowski (links) ist dabei

    Sergej ist an diesem Abend in anderer, nachdenklicher Stimmung, kreist um moralische Fragen. Über einen vermeintlich harmlosen Trinkspruch auf „die Kartoffel“ (als Symbol für einstige Not) entbrennt unter ihnen ein Streit, in dem Sergej sich letztlich zu seinen Idealen bekennt: „Ich nehme die Revolution ernst, das Lied Die Internationale. Das Jahr 1937. Den Krieg und die Soldaten und die Tatsache, dass praktisch niemand von uns noch einen Vater hat … Und die Kartoffel, die uns während der Hungerzeit gerettet hat.“

    Wieder zu Hause, ist Sergej sehr aufgewühlt. Er entzündet in einem Aschenbecher ein kleines „Lagerfeuer“. Sein toter Vater, Leutnant Alexander Shurawljew, erscheint ihm in Rotarmisten-Uniform als Geist. Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich das Setting verändert: Plötzlich ist da nicht mehr das Moskau des Jahres 1961, sondern der Große Vaterländische Krieg, eine Holzbaracke, in der sich weitere Soldaten befinden. In Sastawa Iljitscha endet der Dialog ursprünglich folgendermaßen:

    Sergej: „Ich wünschte, ich hätte an deiner Seite laufen können.“
    Vater: „Das musst Du nicht.“
    Sergej: „Und was muss ich?“
    Vater: „Leben.“
    Sergej: „Und Wie? Wie?“ (Es entsteht eine Pause.)
    Vater: „Wie alt bist Du?“
    Sergej. „23“
    Vater: „Ich bin 21. Was kann ich dir schon raten?“

    Dieser letzte Satz des Vaters durfte in Mne dwadzat Let nicht so stehenbleiben. Der schlaksige Laiendarsteller Jewgeni Majorow (dessen Interpretation der Szene etwas Verzweifeltes und Unheimliches gab) wird gegen den Schauspieler Lew Prigunow ausgetauscht, einer Personifikation des adrett-heroischen Kämpfers. Seinem Sohn gibt Leutnant Shurawljew sodann mit auf den Weg, sich glücklich schätzen zu können, in einer so großartigen Stadt wie Moskau zu leben und fordert ihn auf, das vaterländische Erbe anzutreten.

    Trotz all dieser zensurbedingten Änderungen atmet auch Mne dwadzat Let den Geist der Freiheit und der Hoffnung, die die Menschen und Straßen Moskaus zu Beginn der 1960er Jahre erfüllten. Mit dem pragmatisch-optimistischen Schlusssatz und einer Panoramaansicht der Hauptstadt versöhnt der Film schließlich mit einem Leben voller offener Fragen:

    „Es war Montag – der erste Werktag der Woche.“

    Text: Gaby Babić und Gary Vanisian
    Veröffentlicht am 10.07.2017


    https://www.youtube.com/watch?v=QDzQbgkZRzQ&feature=youtu.be

     

    Hier finden Sie die Urfassung des Films („Stastawa Iljitscha“) mit russischen Untertiteln


    1.Godet, Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.21
    2.Godet,Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.24
    3.Miller, Gregory Blake (2010): Reentry Shock: Historical Transition And Temporal Longing In The Cinema Of The Soviet Thaw, Oregon, S. 128
    4.In dem Jahr war er einer von drei Filmen, der dieses Wort im Titel führte. Vgl. Nelepo, Boris, in: Marlen Khutsiev: Unsung Master of the Modern Cinema
    5.Man könnte in seinem Nachnamen eine Verbeugung vor Michail Kalatozovs epochalem Film Letjat žuravli vermuten.
    6.Wobei Chuziev später schrieb,  Špalikov habe gar nicht so viel zum fertigen Film beigetragen wie man gemeinhin glaubt, da der größte Teil des Drehbuches bereits zuvor mit Feliks Mironer entworfen worden sei (Chuziev, Marlen (1996): Ja nikogda ne delal polemičiskich filmov, in: Kinematograf ottepeli, Moskau, S.192.)
    7.Die anderen Opfer dieses Tages waren Ilja Ehrenburg und der Bildhauer Ernst Neizvestnyj, vgl. Godet, Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.32
    8.Zitiert nach: Woll, Josephine (2000): Real Images: Soviet Cinema and the Thaw, London, S. 146-47
    9.Einer der ersten Arbeitstitel war „Erinnerst du dich, Genosse?“, vgl. Miller, Gregory Blake (2010): Reentry Shock: Historical Transition And Temporal Longing In The Cinema Of The Soviet Thaw, Oregon, S. 252. Der Titel „Die Pforte des Il’jič“ verweist auf einen Moskauer Stadtteil, ist aber auch symbolisch zu verstehen; er spielt auf das Verhältnis der Nachkriegsjugend zum leninistischen Erbe an. So ist denn auch am Ende des Films eine Wachablösung am Lenin-Mausoleum am Roten Platz zu sehen. 
    10.Woll, Josephine (2000): Real Images: Soviet Cinema and the Thaw, London, S. 145
    11.Die Originalfassung Sastava Il’jiča wurde am 29. Januar 1988 im Zuge der Perestroika in seiner ursprünglichen Gestalt wiederaufgeführt; in dieser Form sahen wir, die AutorInnen, diesen Film erstmals im Jahre 2013 beim Festival Bildrausch in Basel, wohin wir eigens für diese 35mm-Projektion gereist waren. Unseres Wissens nach stellte die Aufführung dieses Films in der damals von Tatjana Simeunović betreuten Hommage an Marlen Chuziev auch die erste seit vielen Jahren dar, bevor er kurz darauf als einer der größten sowjetischen Regisseure von Festivals wie goEast, Locarno sowie, unter anderem, dem Harvard Film Archive und zuletzt – im Mai 2017 – der Cinémathèque française in Paris endgültig im Westen wiederentdeckt wurde.
    12.Außerdem die Schauspielerinnen Svetlana Svetličnaja (Brilliantovaja Ruka, dt. Der Brilliantenarm, 1969), Ol’ga Gobzeva (Kryl’ja, dt. Flügel, 1966) und die Drehbuchautoren Pavel Finn (Padarok Stalinu, dt. Geschenk an Stalin, 2008) und Natalja Rjazanceva (Portret Ženy Chudožnika, dt. Porträt der Ehefrau eines Künstlers, 1982)

     

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    Kino #6: Letjat Shurawli

    Im Februar 1956 verurteilte Nikita Chruschtschow in einer Geheimsitzung auf dem XX. Parteitag Stalins Herrschaft als eine Zeit des Massenterrors und der Geschichtsfälschung. Der damit eingeleitete Entstalinisierungsprozess wurde weltweit in der metaphorischen Umschreibung Tauwetter bekannt und führte zu radikalen Korrekturen im erstarrten Darstellungskanon. Das kollektive Schicksal, dem sich das Individuum fügte – ein wichtiges Merkmal des sowjetischen Films seit den 1920er Jahren – wurde durch Einzelschicksale verdrängt. Filmhelden bekamen zum ersten Mal das Recht auf eigene Erfahrungen, die sich mit der kollektiven nicht zwingend deckten. Ihre Intimisierung kam im Schwarzweiß eines dokumentarischen Realismus daher, der unmerklich das Objektive durch das Subjektive austauschte.

    Initialisiert hat diesen Prozess der bekannteste Film des Tauwetters, Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen, 1957) von Michail Kalatosow, der 1958 in Cannes die Goldene Palme gewann – ein Jahr vor Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour, in dem es um eine ähnliche private Aneignung der großen Geschichte ging.1

    Hier finden Sie den Film beim Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Im Gegensatz zum Kanon der sowjetischen Kriegsfilme erscheint in Die Kraniche ziehen statt der gewohnten treuen Kriegsbraut eine untreue – ein keineswegs heroisches Mädchen. Die 18-jährige Veronika liebt den Ingenieur Boris, der sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger meldet. In einer Bombennacht gibt sie sich dessen Cousin, dem Pianisten Mark, hin und heiratet ihn, ohne zu wissen, dass Boris an der Front gefallen ist. Ihre Verzweiflung über diesen Entschluss, den sie als Verrat an ihrer Liebe, ja an sich selbst auffasst, treibt sie fast in den Selbstmord. Sie verlässt Mark, arbeitet in einem Lazarett und hofft, jeder Vernunft zum Trotz, dass Boris zurückkehrt. Als im Mai 1945 die ersten Züge mit Frontheimkehrern eintreffen, geht sie, weiß gekleidet wie eine Braut, zum Belarussischen Bahnhof, bleibt jedoch in der jubelnden Menge allein.

    Die verunsicherten Kritiker

    Kalatosow verfilmte ein Erfolgsstück von Viktor Rosow (Wetschno Shiwije, dt. Die ewig Lebenden), das während des Krieges geschrieben und 1956 am neuen Moskauer Theater Sowremennik (dt. Zeitgenosse) uraufgeführt wurde. Seine Sprengkraft allerdings zeigte das Sujet erst im Film.

    Die Darstellung der jungen Tatjana Samoilowa und die starke visuelle Sprache des Films stoßen die hier erwartete Geschichte von Schuld und Reue um: Veronika lebt ihr Leben und nicht das der erwarteten Norm, sie trifft ihre eigene Wahl und wird von den Filmautoren dafür nicht verdammt, sondern poetisiert.

    Die einheimische Kritik war zwar von dem Film begeistert, wusste jedoch lange Zeit nicht, wie sie die Heldin interpretieren sollte. Die Fachzeitschrift Iskusstwo kino empfahl den Film als Werk „über die Liebe zum Volk und die Treue zu ihm“ und hoffte, dass er den „Sinn für zivile Heldentaten eröffnen werde“.2 Dem Drehbuchautor Rosow wurden dramaturgische Fehler vorgeworfen, da die Verhaltensweise der Heldin der Logik widerspreche; der jungen Veronika wurde ein Weg „in das große Leben“ der Gemeinschaft gewünscht.3

    Untreue Braut statt opferbereites Mädchen

    Möglicherweise konnten die damaligen Kritiker und Zuschauer einen Bruch nicht verarbeiten: Die Ambivalenz, die von der Figur der Veronika ausging, wich ab von den angebotenen Typisierungen: untreue Braut, nicht opferbereites Mädchen. Die Rätselhaftigkeit ihrer Individualität stand in krassem Gegensatz zu klar konzipierten Menschen, die auf jede komplizierte Frage eine einfache Antwort wussten. Veronika dagegen blieb sich selbst ein Rätsel. Sie gibt im Film weder die untreue Braut noch die gefallene Frau, weder ein Opfer des Krieges noch eines der Umstände, sondern eine Liebende, deren Glaube an ihr Gefühl stärker ist als der an die Realität.

    Das Geheimnisvolle ihrer Individualität wurde durch metaphysische Bande betont, die die Parallelmontage und die Dramaturgie zwischen den Liebenden etablierten: In dem Augenblick, da Veronika sich Mark hingibt, trifft eine zufällige Kugel Boris. In dem Moment, da Veronika sich unter den Zug werfen will, zwingt das Schicksal sie, ein Kind zu retten, das obendrein Boris heißt. Die Dramaturgie des metaphy­sischen Zufalls widersetzte sich den üblichen Motivierungen.4

    Kalatosow baute auf bewusste Wiederholungen und Variationen der Schlüsselszenen, also auf poetische und nicht prosaische Verbindungen. Dreimal kommt die Szene auf der Treppe vor, auf der Veronika und Boris sich nicht voneinander lösen konnten. Später stürzt Veronika im zerbombten Haus dieselbe Treppe empor, um die Tür nicht in ihre Wohnung, sondern in den Abgrund aufzustoßen. In seinem Todestraum läuft Boris dieselbe Treppe hoch, um Veronika oben im Brautkleid zu treffen.

    Zweimal begegnet Veronikas Blick dem Zug der Kraniche am Himmel. Ihr Blick von oben wiederholt sich in der Szene des Abschieds, der die Liebenden trennt, und am Ende, als die Menschenmasse die verlorene Veronika in sich aufnimmt.

    Die Emanzipation der Gefühle, die Loslösung des Persönlichen vom Allgemeinen, spürten auch die deutschen Kritiker in Ost und West, die den Film zum „indivi­duellsten“ aller Kriegsfilme erklärten.5

    Juni 1941 – als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfällt, bricht für Veronika eine Welt zusammen. Sie muss ihren Liebsten in den Krieg ziehen lassen / Fotos © Mosfilm
    Juni 1941 – als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfällt, bricht für Veronika eine Welt zusammen. Sie muss ihren Liebsten in den Krieg ziehen lassen / Fotos © Mosfilm

    Das Individuelle und das Kollektive

    Die Subjektivierung der Erfahrung wurde durch die Individualisierung der filmischen Perspektive unterstützt. Der Kameramann Sergej Urussewski setzte eine entfesselte Handkamera ein, die im ununterbrochenen „Mitlauf“ die Bewegung der Heldin suggerierte, er fand ausgefallene Blickwinkel, die Veronikas Perspektive vermitteln sollten. Dieses subjektivierte Bild wurde außerdem durch den Ton verstärkt, der sich aus der Überlagerung von Geräuschen, Dialogfetzen und Musik zusammensetzte.

    So ließen ausdrucksstarke Einstellungskompositionen, die die Raumverhältnisse deformieren, sowie das expressionistische, kontrastreiche Licht- und Schattenspiel Veronikas psychische Schocks erahnen. Die bei der Bombardierung zerstörte Wohnung wurde durch die Zerstörung der Bildkomposition wiedergegeben, das schwindende Bewusstsein des sterbenden Boris‘ über von unten aufgenommene, sich im Kreis drehende, mehrfach belichtete Baumkronen.

    Auch die Massenszenen bekommen dank der bevorzugten Weitwinkelobjektive mit ihren Tiefenschärfen eine neue Dimension: Der virtuos langanhaltende Einsatz der Handkamera ohne Schnitte verlagerte die Montage in die Einstellung und schuf den eigenartigen nervösen Rhythmus des Films.

    Das Gesicht der Samoilowa zeichnet Urussewski wie eine Schwarzweißgrafik mit Licht (und Schatten) – jenseits kommerzieller Fotogenität und Erotik.

    Der unvermittelte Wechsel von der subjektiven zur objektiven Perspektive, von Nahaufnahmen zu Totalen von ganz oben herab, ergänzt die verwirrte Sicht der Veronika um den totalen Blick auf ihre kleine Figur – mitten im Chaos schwerer Lastwagen oder in der Menge auf dem Bahnhof.

    Diese raffinierten visuellen Verunsicherungen betonen die Verzweiflung der Heldin, wobei die aufgepeitschte Emotionalität des Films mitunter an Kitsch grenzte.

    Das Weibliche und das Männliche

    Die subjektive Sicht, das expressionistische Licht sowie der synkopische Schnitt­rhythmus waren Veronika gegeben und weiblich kodiert, Boris‘ Geschichte dagegen in das Schicksal der Gemeinschaft eingeschrieben und mit neutralen Totalen verknüpft. Wegen dieser Gemeinschaft war er bereit, sein Leben zu opfern. Doch im Augenblick seines Todes und ihres Selbstmordversuchs wird diese Teilung aufgehoben.

    Den Film treibt ein starkes, nicht realisiertes Verlangen voran. Die Liebesszene zwischen Veronika und Mark in einer Bombennacht wurde gewöhnlich als Vergewaltigung oder Sündenfall interpretiert. Doch Kalatosow hatte hier nichts anderes als das klassische Motiv der Verbindung von Eros und Tanatos, Liebe und Tod benutzt. Die Szene variierte das Thema der leidenschaftlichen unerfüllten Liebe, das die Beziehung von Boris und Veronika bestimmte, der Braut des Toten, die einmal der Hypnose eines Lebenden erliegt.

    Expressionismus und Neorealismus

    Die Kraniche ziehen wurde innerhalb von nur sechs Monaten abgedreht, ein Rekord für die damalige Zeit. Im Film alternierten betont expressive und ruhige neorea­listische Szenen. Auf die Alltagsszene im Lazarett folgte der Selbstmordver­such, gedreht und geschnitten wie im Stummfilm. Der ausein­ander­gebrochene Raum mit der umgestürzten Horizontlinie wurde aus extrem kurzen, losen Fragmenten zusammengesetzt. Die Reißschwenks lösten die Formen auf. Kalatosow verband diese verschiedenen Stile frei miteinander, und obwohl die neorealistischen Szenen – der Dialoge wegen – längere Einstellungen erforderten, war die Gesamtlänge der expressiven und naturalistischen Episoden im Film ausgeglichen.

    Dieser Film wurde über Nacht zu einem Ereignis, das sich durch nichts angekündigt hatte.6 Auch keiner der späteren Filme von Regisseur Kalatosow oder Kameramann Urussewski erreichte jemals wieder die Kraft der Kraniche, Tatjana Samoilowa spielte nie wieder eine Rolle so suggestiv wie die der Veronika, obwohl sie mehrere internationale Angebote bekam,7 in denen sie ihre Unwiederholbarkeit reproduzieren sollte.

    Text: Oksana Bulgakowa
    Veröffentlicht am 09.06.2017


    1.Resnais war nach Hiroshima gereist, um einen Dokumentarfilm über den Atombombenabwurf zu drehen; der daraus entstandene Spielfilm erzählte das private Drama einer jungen Französin und ihrer Liebe zu einem deutschen Soldaten, dessen Tod am 2. August 1945 sie als ihr Hiroshima erlebte.
    2.in: Iskusstwo kino (1957), Nr. 2, S. 10 und S. 61
    3.Turowskaja M. (1957): Da i net, in: Iskusstwo kino, Nr. 12, S. 18
    4.So in dem damals gerade im Ausland veröffentlichten Roman Doktor Shiwago von Boris Pasternak, der 1957 im Mosfilmstudio (ungelesen) diskutiert wurde.
    5.Bulgakowa O./Hochmuth D. ( Hrsg.) (1992): Der Krieg gegen die Sowjetunion: Katalog des Filmprogramms zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin, S. 61-71
    6.Kalatosow hatte zwar schon 1930 mit dem poetischen, auf die visuelle Ausdruckskraft bauenden Film  Das Salz Swanetiens debütiert, doch drehte er noch 1950 einen typischen Film des Kalten Krieges, Die Verschwörung der Verdammten, und einen genauso plakativen Film über Enthusiasten, die Neuland bezwangen (Der erste Zug, 1955). 1943 bis 1945 verbrachte er in den USA, zunächst in New York, dann in Hollywood, um für die zweite Front zu werben, und hat sich dabei von den affektiven Melodramen Hollywoods beeinflussen lassen. Urussewski war dagegen für seine ungewöhnliche Ausdrucksfähigkeit schon seit Der letzte Schuss (1956) bekannt, hatte jedoch zuvor ebenfalls ausgesprochen konventionelle Filme gedreht(Drei Menschen und Die Kubankosaken), die an Ölgemälde naturalistischer Milieumalerei erinnerten.
    7.Sie nahm u. a. Angebote an aus Ungarn (Alba Regia, 1961; Regie: Mihàly Szemes) sowie Italien (Italiano, brava gente, 1965; Regie: Guiseppe de Santis).

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  • Andrej Swjaginzew

    Andrej Swjaginzew

    „Mir schien, dass da ein großer Regisseur durch die Gänge unserer Fernsehanstalt läuft“1 – sagte im Jahr 2003 Dimitri Lesnewski, damals noch der Generaldirektor des privaten Fernsehsenders REN TV. Das Geld in den Film eines jungen Regisseurs zu investieren, der bisher nur Werbespots und kurze Novellen gedreht hatte, bedeutete ein gewisses Risiko. Der Regisseur und sein Filmteam, von den beiden Drehbuchautoren über den Kameramann bis hin zu den Darstellerinnen und Darstellern, waren zu dem Zeitpunkt weder in Russland, geschweige denn in internationalen Fachkreisen bekannt.

    Lesnewski hat sich jedoch nicht geirrt: Durch die Gänge lief Andrej Swjaginzew, dessen Debütfilm Woswraschtschenije (dt. Rückkehr) schließlich mit einem der begehrtesten Preise des europäischen Festivalbetriebs – mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig – ausgezeichnet wurde. Seitdem hat Swjaginzew weitere vier Filme gedreht, bedeutende Preise bekommen – unter anderem den Golden Globe für seinen Film Lewiafan (Leviathan), Neljubow (Loveless) ist für den Oscar nominiert – und zählt heute zu den wichtigsten Regisseuren in Russland. 

    Der 1964 in Nowosibirsk geborene Swjaginzew war Laie, als er sich 2002 an seinen ersten abendfüllenden Spielfilm wagte. Er hatte in den 1980er Jahren ein Schauspielstudium in seiner Geburtsstadt absolviert. Nach dem Umzug nach Moskau 1986 hatte er an der traditionsreichen Russischen Akademie für Theaterkunst (GITIS) studiert, in den 1990er Jahren als Theaterschauspieler gearbeitet und ab 1992 auch kleinere Rollen in Fernsehserien und Kinofilmen übernommen. Im Jahr 2000 hatte er zusammen mit seinem Kameramann Michail Kritschman drei kurze Novellen des Fernsehkrimis Tschornaja Komnata (dt. schwarzes Zimmer) gedreht. Unmittelbar darauf begann Swjaginzew mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Kinofilm. Woswraschtschenije wurde ein internationaler Erfolg. Und die Richtung, die der Regisseur mit diesem Debüt-Film eingeschlagenen hat, verfolgt er bis heute. Swjaginzew positioniert sich eindeutig in der Tradition des europäischen Autorenfilms, was ihm in Russland immer wieder den Vorwurf einbringt, einem „elitären“ Kino und Kunstverständnis anzuhängen. 

    Zwischen Swjaginzews Filmprojekten liegen Jahre: Nach Woswraschtschenije 2003 präsentierte er 2007 Isgnanije (dt. Verbannung), im Jahr 2011 Jelena und 2014 Leviathan. Sowohl Leviathan als auch der neueste Film Loveless (so der internationale englische Titel von Neljubow, 2017) liefen im Wettbewerb um die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes und wurden mit dem Preis für das Beste Drehbuch (Leviathan) und mit dem Preis der Jury (Loveless) ausgezeichnet. Loveless war 2018 in der Sparte „Bester fremdsprachiger Film“ für den Oscar nominiert.

    Beziehungsdramen im „großen Stil“

    Wenngleich sich Swjaginzews Filme nicht auf Genre-Schablonen reduzieren lassen, handelt es sich dabei doch um Beziehungs- und Familiendramen. Die Handlung kann um das konfliktbeladene Verhältnis zwischen einem Vater und seinen beiden Söhnen (Woswraschtschenije) oder um Ehebruch und Vergeltung (Isgnanije) kreisen. Swjaginzews Filme sind aber gewissermaßen Beziehungs- und Familiendramen im „großen Stil“. 

    Es sind Filme, die für die Kinoleinwand bestimmt sind – mit bildgewaltigen Kamera-Einstellungen, beeindruckender Musik und einer auf wesentliche Momente reduzierten Handlungsdramaturgie. Sie spielen zwar in der Gegenwart, doch die Sujets – menschliche Grundsituationen und archetypische Beziehungen – erscheinen zeitlos und universell. Dasselbe gilt auch für den Ort der Handlung. Swjaginzew setzt nördliche Landschaften effektvoll in Szene, ohne diese als spezifisch russisch zu kennzeichnen. Diese Tendenz, von Ort und Zeit zu abstrahieren, zeichnete bereits seinen Debütfilm aus und wurde in seinem zweiten Film Isgnanije noch einmal gesteigert. Doch das Resultat stieß auf Kritik, denn zu sehr schienen die überarrangierte Szenengestaltung, die metaphorisch aufgeladenen Landschaftsbilder und die mit religiös-biblischen Motiven durchsetzte Handlung an die überladene Bildästhetik der späten Filme des russischen Autorenfilmers Andrej Tarkowski zu erinnern.2

    Gesellschaftskritik

    Den Vorwurf, ein Epigone Tarkowskis zu sein, konnte Swjaginzew mit seinem dritten Spielfilm Jelena jedoch entkräften, indem er die Handlung an die gesellschaftliche Realität Russlands zurückband. Es wird die Geschichte einer Ehefrau und Mutter erzählt, die aufgrund innerfamiliärer Konflikte und Loyalitäten zur Mörderin wird. Der Film bezieht sein Spannungspotenzial aus dem Klassenkonflikt, der heute mitten durch die russische Gesellschaft geht. Die Handlung spielt in Moskau, und die beiden Hauptschauplätze sind bezeichnend für die sozialen Gegensätze des postsowjetischen Russlands: einerseits ein luxuriöses Appartement im Zentrum der Stadt, andererseits eine beengte Wohnung in einem typisch sowjetischen Plattenbau weit ab von den Zentren des neu erworbenen Wohlstands. 
     
    Ein ähnlich aktuelles, gesellschaftskritisches und noch dazu politisch brisantes Sujet zeichnet auch Swjaginzews vierten Spielfilm Leviathan aus. Ausgezeichnet mit dem Preis für das beste Drehbuch in Cannes und einem Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film kam Leviathan sowohl in Europa als auch in den USA in den regulären Kinoverleih.3 Im Film verliert die Hauptfigur alles, was im Leben von Bedeutung ist – das Haus, die Ehefrau, den Sohn und schließlich auch noch die eigene Freiheit. Das Sujet ist aber nur die Oberfläche. Auf die Vielschichtigkeit des Films lässt bereits der Titel schließen, der sowohl auf das biblische Buch Hiob als auch auf die staatsphilosophische Schrift Leviathan von Thomas Hobbes verweist. Swjaginzew gelingt es, eine komplexe Verknüpfung zwischen den historischen Texten und seiner Filmhandlung herzustellen, indem er die Hauptfigur an den Machtstrukturen einer nördlichen russischen Provinzstadt scheitern und sie einen wahrhaft biblischen Leidensweg durchschreiten lässt.

    Hetzkampagne

    Die im Film explizit geäußerte Kritik an der weltlichen und kirchlichen Macht und ihren Institutionen stieß in Russland auf heftige Gegenreaktionen. An der über die russischen Medien ausgetragene Hetzkampagne gegen den Regisseur, die durch die Auszeichnung des Films bei den Golden Globe Awards im Januar 2015 angeheizt wurde, nahmen Kirchenvertreter wie auch Politiker teil. Nicht zuletzt meldete sich auch der russische Kulturminister Wladimir Medinski in der Debatte zu Wort und warf Swjaginzew vor, er hätte einen konjunkturbedingten Film gemacht und würde nicht seine Helden, sondern vielmehr Ruhm, rote Teppiche und Statuetten lieben.4 Und diese seien wesentlich leichter zu bekommen, wenn der Schauplatz des Films Russland und nicht etwa ein Vorort von Paris, Süditalien oder der US-Bundesstaat Colorado sei, wo sich eine vergleichbare Geschichte zugetragen hatte, die Swjaginzew als Inspirationsquelle diente.5

    Es wäre gewagt zu behaupten, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen dem Skandal, den der Film in Russland auslöste, und der Aufmerksamkeit, die ihm von den westlichen Medien zuteil wurde. Swjaginzew selbst jedoch betonte immer wieder die allgemein menschliche Dimension seines Film, mit dem er für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit eintreten würde: „Die Heimat, das ist der gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind.“6


    1. Zit. nach: Kičin, V. (2003): Triumf v Venecii ↩︎
    2. Vgl. dazu die Diskussion in der von Aleksandr Gordon moderierten TV-Talkshow Zakrytyj pokaz (dt. Geschlossene Vorstellung), gesendet im Ersten Kanal am 21.03.2008. ↩︎
    3. Dies gelingt heute russischen Filmproduktionen kaum – mit Ausnahme der Filme von Alexander Sokurow, wie Faust (2011) oder Francofonia (2015). ↩︎
    4. Das Interview mit Medinski, das auch deutsche Rezensenten des Films wiederholt und zum Teil verzerrt zitierten, erschien am 15. Januar 2015 in der Zeitung Izvestija: Vladimir Medinskij: «Leviafan» zapredel’no konjunkturen. Rezensionen in der deutschsprachigen Presse finden sich unter anderem in der Neuen Zürcher Zeitung: Im Zeichen des Wals, in der Süddeutschen Zeitung: Hiobs Traum oder in der Zeit Online: Ungeheuer Russland und Welt ohne Gnade. ↩︎
    5. In vielen Interviews erzählte Swjaginzew, dass das Drama Leviathan von der Geschichte des amerikanischen Unternehmers Marvin John Heemeyer inspiriert wurde, der nach einem langjährigen Streit mit den Behörden als Rache auf seinem gepanzerten Bulldozer 13 Gebäude zerstörte und schließlich sich selbst tötete. Vergl: Vedomosti: Otečestvo istinnoje i mnimoje, ili Mnenije eščė odnogo zritelja. Eine deutsche Übersetzung erschien auf dekoder.org: Das wahre und das vermeintliche Vaterland. ↩︎
    6. dekoder.org: Das wahre und das vermeintliche Vaterland ↩︎

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    Kino #5: Malenkaja Vera

    Sowohl an sowjetischen Kinokassen als auch auf dem internationalen Markt war er ein Kassenschlager: Malenkaja Vera, zu dt. Kleine Vera. Gedreht vor 30 Jahren auf dem Höhepunkt der Perestroika – im Sommer 1987 in der ukrainischen Industrie- und Hafenstadt Mariupol – zeigt der Film eine freche, autoritätsverweigernde junge Generation kurz vor dem Zusammenbruch eines ganzen Gesellschaftssystems. Spürbar ist die neu aufgekommene Ästhetik des Kinos seinerzeit, die tschernucha, eine Schwarzmalerei, die der trostlosen sowjetischen Provinz ihren Akzent verleiht. Die rebellische Vera, die versucht dort auszubrechen, um ihren Platz zu finden, war auch deshalb ein Kinoereignis, weil erstmals in einem sowjetischen Film eine Sexszene offen gezeigt wurde. Die Hauptdarstellerin posierte sogar unter dem Titel From Russia with Love: The Soviets’ First Sex Star Natalya Negoda für den US-amerikanischen Playboy.1

    Das Ehepaar Wassili Pitschul (Regie) und Maria Chmelik (Drehbuch) hat mit seinem Debütfilm die Zeichen der Zeit auf paradigmatische Weise konserviert. Und dabei eine Alltagstragödie zwischen keimender Hoffnung und erdrückender Enge geschaffen.

    https://www.youtube.com/watch?v=ojJzBYrIM9I


    Begleitet von Synthesizer-Musik schwenkt die Kamera über ein Meer von Plattenbauten, hinter denen Fabrikschlote in den verwaschen-graublauen Himmel ragen. Wohnhäuser und Industrieanlagen verschmelzen zu einer spezifisch sowjetischen beziehungsweise sozialistischen Landschaft. Man kennt dieses Setting aus Filmen der 1950er Jahre, nur war es damals positiv konnotiert. Es stand für Arbeit, Leben, Glück und Zukunft. 

    Die Kamera zoomt an einen dieser Plattenbauten heran und das Bild, das wir uns von diesem urbanen Leben hier machen sollen, konkretisiert sich ganz anders: Vom Balkon fällt der Blick auf einen langsam vorbeifahrenden Güterzug und einen begrünten Innenhof mit einer Kinderschaukel. Die dazugehörigen Geräusche des Ratterns und Quietschens werden leitmotivisch wiederkehren – genauso wie der etablierte Sprachgestus. Der Familienalltag ist durch Brüllen und Heulen gekennzeichnet. Grob und derb geht es zu: „Bekomm’ ich endlich was zu fressen?“ („Ty poshrat-to dasch, net?“), fragt der Vater die Mutter, oder „Ich hätte dich besser abgetrieben!“ („Lutschsche by ja abort sdelala!“) schleudert die Mutter der Tochter zum Ende des Films entgegen.

    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo
    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo

    Porträt einer sowjetischen Arbeiterfamilie

    Malenkaja Vera ist das Porträt einer sowjetischen Arbeiterfamilie, die als der gesellschaftliche Durchschnitt zu verstehen war. Ihr Leben in der Provinz ist voller Frust: Der Vater, ein LKW-Fahrer, betrinkt sich täglich nach der Arbeit mit Selbstgebranntem; die Mutter, eine Textilarbeiterin, ernährt ihre Familie wie eine Besessene; der Sohn Witja hat als in Moskau arbeitender Arzt den Bildungsaufstieg geschafft und wird immer dann gerufen, wenn zu Hause die Situation aus dem Ruder läuft. Dafür verantwortlich ist die 17-jährige Tochter Vera, die aus der Enge der sowjetischen Wohnverhältnisse und Denkstrukturen ausbrechen will und gegen ein vorbestimmtes Leben aus Heirat, Kinder und einem wenig fordernden Beruf rebelliert. Auf der Suche nach Identität und von zwei Männern begehrt, wählt sie den Schurken und stürzt sich dadurch ins Unglück.

    Neues ästhetisches Programm

    Bei aller Sozial- und Gesellschaftskritik verfolgt der Film vor allem auch ein neues ästhetisches Programm, das für das Perestroika-Kino der späten 1980er und frühen 1990er Jahre kennzeichnend war. Es steht für eine ins Negative und Hässliche gekippte Ästhetik, die alsbald mit dem Schlagwort der tschernucha, auf Deutsch in etwa Schwarzmalerei, bedacht wurde. Die russische Filmkritikerin Natalja Siriwlja verglich diese Ästhetik, die durch die Lockerung der Zensur unter dem Zeichen von Glasnost überhaupt erst möglich wurde, treffend mit der „Entdeckung der Rückseite des Mondes“2. In den Vordergrund wurde gerückt, was bis dahin verborgen gehalten wurde: Dunkelheit dominierte über Licht, Abfall und Schmutz über Reinheit, Marginalität über Norm, Kriminalität über Rechtschaffenheit, Wollust und Körperlichkeit über hehre Gefühle.

    Der Vater, gespielt von Juri Nasarow
    Der Vater, gespielt von Juri Nasarow

    In diesem Licht steht allein schon die bemerkenswerte Darbietung der Eltern in Malenkaja Vera: Die sonst in anderen Filmen ebenmäßig-schönen Gesichter von Ludmila Saizewa und Juri Nasarow erscheinen hier fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt – er mit seinen „boshaften, scharfen Augen“ und seinem „knittrigen Gesicht“, sie mit strengen Dauerwellenlöckchen und einem „permanenten, stumpfsinnigen Ziegenblick“3.

    Es ist ein inszeniertes und dennoch realitätsgetreu dargestelltes Leben, und die Kamera tastet Innenräume und Alltagsgegenstände regelrecht ab: von den grün gestrichenen fleckigen Wänden des Studentenheims bis hin zur sowjetischen Küche, die bei aller Beengtheit der Ort des Essens, Trinkens und Kommunizierens dieser Familie wie des sowjetischen Privatlebens insgesamt ist.

    Gedreht wurde entsprechend an Originalschauplätzen und nicht im Studio – in einer gewöhnlichen, vom Filmteam angemieteten Wohnung in einer Chruschtschowka am Stadtrand von Mariupol, der Geburtsstadt des Regisseurs in der Ukraine.

    Melodrama mit durchschlagendem Erfolg

    Was sich anfänglich noch zwischen  Komödie und Satire bewegt, wird immer mehr zu einer Alltagstragödie – die insgesamt alle Register eines klassischen Melodramas zieht und damit mainstream-taugliche Kinounterhaltung bietet. Dafür spricht jedenfalls der Erfolg des Films im In- wie im Ausland. In der Sowjetunion sahen den Film, der dort im Oktober 1988 in die Kinos kam, mehr als 50 Millionen Menschen. Damit war der damals 27-jährige Wassili Pitschul der letzte sowjetische Regisseur, der einen derartigen Erfolg für sich verbuchen konnte. 

    Von zwei Männern begehrt, wählt Vera den Schurken Sergej und stürzt sich ins Unglück
    Von zwei Männern begehrt, wählt Vera den Schurken Sergej und stürzt sich ins Unglück

    Dazu beigetragen hat zweifelsohne die skandalträchtige einminütige Sexszene, die wie eine Antwort auf den 1986 in Umlauf gebrachten und zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch „In der Sowjetunion gibt es keinen Sex“ („W SSSR sexa net“) wirkte. Für Kino und Fernsehen stimmte diese Aussage jedenfalls, denn Sex- wie auch Gewaltdarstellungen waren bis zur Perestroika-Zeit nicht zugelassen – eine Zensurvorschrift, die für sowjetische wie zum Import zugelassene Filme gleichermaßen galt. 

    Als Melodrama zeigt sich der Film zudem im „Modus des Exzesses“, wie es Peter Brooks beschrieben hat. Dabei meint „Exzess“ ein Hervortreten der aufgestauten dramatischen Konflikte nicht nur innerhalb der Handlung, sondern auch auf formaler Ebene, also bei Dekor oder Musik.4 Dies trifft besonders auf die Besäufnisse des Vaters zu, aber auch auf die innerfamiliären Schreiduelle sowie auf das ekstatische Lachen der jungen Vera und ihr freches Auftreten – mit ihren Netzstrümpfen, ihrem knallengen Mini, toupierten Haar, schnippischen Benehmen und Spaß am Sex.

    Rebellen ohne Perspektive?

    Die aufbegehrende Vera ist mit ihrem Erwachsenwerden von einem Klima der Gewalt umgeben. Die Jugendlichen haben zwar Fluchtpunkte wie die Freiluft-Disko in der Stadt, doch unterscheidet sich ihr aggressives Sozialverhalten nicht grundlegend von dem der Erwachsenen. Veras Eltern wie auch ihr Bruder stehen paradigmatisch für den Verlust von gesellschaftlichen Vorbildern und Wertvorstellungen. 

    Vater und Bruder beanspruchen zwar die traditionellen Rollen von Autoritäten, doch sie erscheinen wie Karikaturen. Die Mutter schwankt zwischen rigider Moral und sozialem Kalkül (wissend, wer der richtige Mann für die Tochter ist) und füllt gleichzeitig die Rolle einer unterwürfigen Ernährerin aus, die allen permanent das Selbstgekochte und Eingemachte aufzwingt. Eine Flucht aus den innerfamiliären und gesellschaftlichen Zwängen erscheint illusorisch, weil das Individuum nicht losgelöst von der Gesellschaft existiert.

    Filme mit unangepassten Helden, die jugendliche Rebellion, das war einmal eines der großen Themen des US-amerikanischen und europäischen Kinos der 1960er Jahre. Filme mit James Dean oder Jean-Paul Belmondo erlangten Kultstatus. Für diese Rebellion gab es im sowjetischen Kino der Tauwetterzeit keine Entsprechung – bei aller Innovation und den ästhetischen Impulsen, die auch vom sowjetischen Film in dieser Zeit kamen. Das Aufbegehren der Jungen wurde erst zwei Jahrzehnte später medial realisiert.

    Die Rebellion in Malenkaja Vera wirkt auch heute noch erfrischend. Damals signalisierte sie Hoffnung auf Veränderung und Freiheit – eine Hoffnung, die in den Folgejahren vielleicht konsequenter eingelöst wurde, als uns das heute scheinen mag.

    Text: Eva Binder
    Veröffentlicht am 02.05.2017


    1.Der Spiegel hat sie damals vorgestellt: Glasnost Girl, das Cover ist hier zu sehen: Pinterest: Natalya Negoda – Playboy Magazine
    2.Sirivlja, Natal’ja (2002): Die langen Schatten des Perestrojka-Films, in: Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 39-45, hier S. 39
    3.Russkoe kino: Malenkaja Vera
    4.Brooks, Peter (1976): The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New Haven u.a.

     

    dekoder-Kino #5: Malenkaja Vera wurde gefördert von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.

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  • Kino #4: Stalker

    Kino #4: Stalker

    Das Tor öffnet sich für einen Moment und der Jeep schiebt sich flugs hindurch. Das Eindringen ins Sperrgebiet – die Zone – gleicht einem Gefängnisausbruch unter Waffenbeschuss. Vor 35 Jahren assoziierten manche auch eine Republikflucht. Dann geht es für die Männer durch sumpfige Ebene und Ruinen. Auf Umwegen führt sie der Stalker (dt. Kundschafter) mit Bedacht durch diese bizarre Endzeitlandschaft, bis seine Gefährten den Verdacht hegen, es bestehe gar keine Gefahr und er spiele sich nur auf. Ihr Ziel ist ein Zimmer, das die geheimsten Wünsche erfüllen soll. Und so folgen sie ihm …

    Der russische Regisseur Andrej Tarkowski lehnte eine eindeutige Interpretation dieser von ihm inszenierten Zone immer ab – dieses mystisch-entrückten Ortes, der für viele Cineasten damals wie heute die Konturen eines brüchig gewordenen Fortschrittsglaubens trägt. Dabei lässt sich Tarkowskis Meisterwerk Stalker vor allem als eine traumwandlerische Reise ins menschliche Selbst lesen.

     


    Die Kamera bleibt statisch und zeigt eine trostlose Kneipe, die gerade geöffnet wird. Der erste Kunde ist ein Mann mit Strickmütze, und er trinkt einen Kaffee, nur von einer undefinierbaren Musik unterlegt. Es folgt ein eingeblendeter Text und die Sequenz, in der das Erwachen des Stalkers gezeigt wird und wie er sich vorsichtig aus dem Familienbett entfernt. Erst nach neun Minuten fällt das erste Wort. Diese endlos lang scheinenden Einstellungen waren schon für diejenigen, deren Sehgewohnheiten seinerzeit noch nicht von den schnellen Schnitten der Videoclips geprägt waren, eine Zumutung. So beginnt Andrej Tarkowskis Stalker aus dem Jahr 1979. Der Anfang ist schwarzweiß, erst in der geheimnisumwitterten Zone wird der Film farbig.

    Stalker ist Tarkowskis fünfter abendfüllender Film. Zu den Festspielen in Cannes 1980 wurde er gefeiert, blieb in der Sowjetunion jedoch zunächst unter Verschluss. Ein solcher Film muss(te) den interpretatorischen Scharfsinn der Kritiker und Wissenschaftler herausfordern.1 Im Hintergrund steht dabei die Frage, wie Tarkowski es gemacht hat, einen Film zu drehen, der über Jahrzehnte seine Faszination behalten kann, und der eine so merkwürdige Geschichte erzählt. 

    Fotos © Mosfilm
    Fotos © Mosfilm

    Da macht sich ein Mann, der „Stalker“ genannt wird, mit zwei anderen Männern, die einander nicht mit Namen kennen, sondern die sich mit „Professor“ und „Schriftsteller“ ansprechen sollen, auf den Weg in eine streng bewachte Zone. Dem Stalker und seinen Umwegen folgend, kommen sie schließlich ans Ziel, jenes verheißungsvolle und unwirkliche Zimmer, in dem es regnet. Dort möchten sie dann doch nicht so genau wissen, was sie sich tief in ihrer Seele wünschen. Niemand geht hinein. – Schnitt, und auf einmal sind sie wieder in der Kneipe, dem Ausgangspunkt ihrer Expedition. 

    Die Zone als Raum des Imaginären?

    Durch lange Takes und handlungsarme Szenen erzieht sich Tarkowski seinen Zuschauer, der genau hinschauen, betrachten lernt. Er muss sich das wackelige Beistelltischchen im Schlafzimmer des Stalkers ansehen, die Watte, die Tabletten, das Glas mit Wasser, das auf dem Tischchen verrutscht. Dazu hört er das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Er weiß nicht, wogegen die Tabletten helfen sollen, wer sie nimmt. Und er erfährt es auch später nicht. Er muss zweieinhalb Stunden warten, bis die verrutschenden Gläser in einem ganz anderen Kontext wieder auftauchen. Tarkowskis Filme tragen in der Regel keine Antworten zu den Fragen vor, die sie stellen. Und wenn sie Lösungen suggerieren, stehen wiederum andere Fragen dahinter. 

    Die Geschichte, die Stalker erzählt, ist in sich plausibel, aber ohne klaren Sinn, bei geradezu hypnotisierenden Bildern, deren Suggestivkraft man sich nur schwer entziehen kann. Tarkowski selbst lehnte es strikt ab, die Zone als ein Sinnbild zu lesen.2 In einem eingeblendeten Text zu Beginn des Films heißt es nur so viel über sie: „ … was es war? Der Fall eines Meteoriten? Ein Besuch von Bewohnern des menschlichen Kosmos? Wie auch immer, in unserem kleinen Land entstand das Wunder aller Wunder – die ZONE. Wir schickten sofort Truppen hin. Sie kamen nicht zurück. Da umzingelten wir die ZONE mit Polizeikordons … und haben wahrscheinlich recht daran getan … im übrigen – ich weiß nicht, ich weiß nicht … Aus einem Interview des Nobelpreisträgers Professor Wallace mit einem Korrespondenten der RAI.“

    Dass man nicht alles, was die drei Männer in dieser Zone erleben, nur als einen Traum, eine Einbildung abtun kann, zeigt sich daran, dass sie der Schäferhund, dem sie dort begegnet sind, hinausbegleitet. Auch zur Familie schließt sich der Kreis, mit der über die telekinetischen Fähigkeiten des Kindes noch das Unerklärliche in die Welt außerhalb der Zone integriert wird.

    Der Rationalität entfliehen?

    Tarkowski erschwert, ja verweigert ein Lesen seiner Bilder als Symbole. Aber wirken die Bilder ohne den Umweg über die Bedeutung nur auf die Emotionen? Es gibt den klugen Hinweis, Professor, Schriftsteller und Stalker hegelianisch zu lesen.3 Sie stehen dann für Wissenschaft, Kunst und Religion, die nach Hegel die Modi sind, in denen das Wissen zu seiner Vollendung kommt. Religion (Anschauung) und Kunst (Vorstellung) sind in der Philosophie (Selbsterkenntnis) dialektisch aufgehoben. Im Film ist die dialektische Trias umgekehrt4: Wissenschaft und Kunst sind ungenügende Annäherungen an die Wirklichkeit, die der Vollendung durch den Glauben bedürfen. Wissenschaftler und Schriftsteller aber sind dazu nicht fähig. Tatsächlich mahnt der Stalker, in der Zone Ehrfurcht zu zeigen und zu glauben. Resigniert muss er aber feststellen: „Sie glauben an nichts, an gar nichts. Bei ihnen ist das Organ mit dem man glaubt, an Nahrungsmangel zugrunde gegangen.“

    Tarkowskis Bilder gehören allerdings nicht zu einer konkreten Form des Glaubens, nicht zu einer bestimmten Religion. Es geht um die eher unspezifische Sehnsucht nach einem Absoluten, das die menschliche Rationalität übersteigt und zu dem man Kontakt haben möchte.

    Zwischen Glauben und Leiden

    Man kann zwar in den drei Stromleitungsmasten, die beim Eintritt in die Zone sichtbar werden, ein Zeichen für die Kreuze auf Golgotha sehen, aber dieses Zeichen steht nicht so sehr für das Christentum, sondern für die in ihm virulente Idee des Leidens, die in der russischen Tradition einen sehr hohen Stellenwert hat. Tarkowski knüpft nicht direkt an die Bibel an, sondern an Fjodor Dostojewski, der in einem seiner Romane das Leiden „eine gute Sache“ genannt hatte.5 Ganz ähnlich spricht die Frau des Stalkers, während sie direkt in die Kamera schaut: „Wenn es in unserem Leben keinen Kummer gäbe, besser wäre das nicht. Es wäre sogar schlechter, denn dann gäbe es kein Glück.“ Glück wird nicht mit Wohlbefinden verbunden, sondern mit Erlösung, die aber nur der erfahren kann, der um seine Erlösungsbedürftigkeit weiß.

    Schon die literarische Vorlage des Films, die Erzählung Piknik na obotschine (dt. Picknick am Wegesrand) der Brüder Strugazki hatte die Sehnsucht in den Vordergrund gestellt: In ihr will der Stalker eine goldene Kugel aus der Zone holen, die seine ganz persönlichen Wünsche erfüllen soll. Als er sie gefunden hat, wünscht er sich jedoch „Glück für alle“.
    Der Stalker des Films dagegen glaubt nicht mehr an die Utopie, dass man das Glück für alle einfach erreichen kann. Seine Weggefährten müssen erst einmal ihr Gewissen erforschen, ob denn das, was sie wünschen, wirklich allgemeinverträglich ist, damit ihr Konzept vom Glück nicht zum Unglück der anderen wird.

    Der Mythos von Tschernobyl

    In einer der letzten Szenen des Films geht der Stalker mit seiner Familie an einem verschmutzten Gewässer vorbei, den Hintergrund bildet ein Kraftwerk. Gefilmt wurden diese Bilder vor einem Gas-Kohlekraftwerk in der Nähe von Moskau6. Der Umstand aber, dass Andrej Tarkowski am 29. Dezember 1986 in Paris an einem Krebsleiden verstarb, nachdem im April desselben Jahres der Reaktor des Kernkraftwerks von Tschernobyl explodiert war, führte zu dem Gerücht, der Film sei in der Nähe von Tschernobyl  gedreht worden. Schon damals habe der Reaktor geleckt und Tarkowskis Erkrankung verschuldet. Die Zone wurde in der Retrospektive mitunter zur vorweggenommenen Landschaft der Reaktorkatastrophe. Das 2007 auf den Markt gekommene Computerspiel S.T.A.L.K.E.R., in dem Plünderer in der Zone um das zerstörte Kraftwerk Gegenstände und mutierte Lebewesen finden können, nährt diesen Mythos bis heute.

    Dass es den Mythos überhaupt gibt, hat sicher mit der Faszination zu tun, die der Film als Kunstwerk ausübt, mit seiner unvergleichlichen Aura. Diese Faszination hat dem Regisseur die Bewunderung seiner Kollegen eingebracht („Tarkowski ist für mich der bedeutendste“ – Ingmar Bergman) – und ein immer wieder beeindrucktes, ihm manchmal geradezu verfallenes Publikum.

    Text: Norbert P. Franz
    Veröffentlicht am 05.04.2017


    1.vgl. Franz, Norbert P. (2009): Nachwort, in: ders. (Hrsg.): Stalker: UdSSR, 1980: Regie: Andrej Tarkowski, Protokoll des Films in der Original- und der deutschen Synchronfassung, Potsdam, 2009, S. 104ff
    2.„Häufig wurde ich gefragt, was denn die ‚Zone‘ nun eigentlich symbolisiere, woran sich dann auch gleich die unsinnigsten Vermutungen anschlossen. Derlei Fragen und Mutmaßungen versetzen mich regelrecht in Verzweiflung und Raserei. Die ‚Zone‘ ist einfach die ‚Zone‘. Sie ist das Leben, durch das der Mensch hindurch muß, wobei er entweder zugrunde geht oder durchhält. Und ob er dies nun durchhält, das hängt allein von seinem Selbstwertgefühl ab, von seiner Fähigkeit, das Wesentliche vom Nebensächlichen zu unterscheiden.“, in: Tarkowski, Andrej (1984): Die versiegelte Zeit, Frankfurt/Main/Berlin, S. 203
    3.Böhme, Hartmut (1985): Ruinen-Landschaften, in: Konkursbuch Nr. 14, Tübingen, S. 117-157
    4.Engell, Lorenz (2002): Filme und Sachen. Das Gesicht der Dinge und die Metaphysik des Dekors, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Seminar für Filmwissenschaft
    5.in Dostojewski, Fjodor: Prestuplenie i nakazanie (dt. Verbrechen und Strafe). Vgl. dazu Franz (2009), S. 116
    6.Andere Außenaufnahmen entstanden außerdem in Estland. Im Jahr 2006 haben sich drei Mitglieder der damaligen Crew gemeinsam an die Entstehungsgeschichte erinnert: Rerberg hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr Tarkowski darum besorgt gewesen sei, dass seinen Leuten bei den Dreharbeiten nichts passiert.  Deshalb habe er den Stalker nicht – wie ursprünglich vorgesehen – im Erdbebengebiet von Isfar und erst recht nicht in der verschmutzten Gegend des Stahlwerks von Zaporož’e („schlechte Ökologie“) gedreht, sondern im Baltikum bei Tallinn. Dort gibt es keinen Kernreaktor, und das Kohlekraftwerk hat nur einen großen Schornstein (Rerberg, Georgij/Čugunova, Marianna /Cymbal, Evgenij: Fokus na beskonečnost‘: Razgovor o ‚Stalkere‘, in:  Iskusstvo kino 2006, Nr. 4).

    dekoder-Kino #4: Stalker wurde gefördert von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.

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  • Andrej Tarkowski

    Andrej Tarkowski

    Andrej Tarkowski (4. April 1932 – 29. Dezember 1986) kommt aus der jungen 1960er/1970er-Generation sowjetischer Filmemacher und wurde mit seiner eigenen poetischen Bildsprache zu einem der bedeutendsten Autorenfilmer des 20. Jahrhunderts.

    Als Künstler vor allem auf seine Autonomie bedacht, litt er unter dem sowjetischen Ansatz der Kunst als Staatspädagogik, bangte oft um den nächsten Auftrag. Tarkowski war trotzdem kein Dissident. In gewisser Weise wurde er zum Weltenwandler zwischen Ost und West, geborgen nur im Nirgendwo seiner Filme. Die erfreuen sich bis heute einer treuen Zuschauerschaft. 

    Seine Bilder operieren zwischen Schein und Sein – Regisseur Andrej Tarkowski (1932–1986) / Foto © Festival de Cine Africano/flickr.com
    Seine Bilder operieren zwischen Schein und Sein – Regisseur Andrej Tarkowski (1932–1986) / Foto © Festival de Cine Africano/flickr.com

    Zwar erreichten Filme aus dem kapitalistischen Ausland nur in kleiner Zahl die sowjetischen Kinos, die Studenten an der führenden staatlichen Filmhochschule VGIK aber konnten sich zur Tauwetterperiode mit künstlerischen Strömungen und Moden aus dem Westen vertraut machen. So sieht man in Tarkowskis studentischen Arbeiten aus den 1950er Jahren auch deutliche Einflüsse des amerikanischen film noir (Ubizy, dt. Die Mörder, 1956) sowie des französischen Kinos (Sewodnja uwolnenija ne budet, dt. Heute gibt es keinen Feierabend, 19571). Vor allem aber zeigte sich seine Lust am Experiment. Etwas, wozu ihn sein Dozent – der bekannte Dokumentarfilm-Regisseur Michail Romm – ausdrücklich ermutigte.

    Die Abschlussarbeit, Katok i skripka (dt. Die Straßenwalze und die Geige, 1961) stach künstlerisch schon hervor, auch wenn die Themenstellung noch sehr dem Zeitgeist verhaftet war, nämlich dem Verhältnis von (körperlicher) Arbeit zur Kunst – was in einem Land, das sich als das Vaterland aller Werktätigen verstand, ideologisch besetzt war. Die Kritik jedoch hatte ihn schon als „echten“ Tarkowski gewertet.2

    Tarkowski als auteur des poetischen Films

    Seine Bilder, eine geradezu surreale Ästhetik, die zwischen Sein und Schein operiert und Reminiszenzen erweckt – sie sind es, die Tarkowskis Filme in ihrer Gesamtheit für viele Cineasten schließlich einzigartig machen werden. Sei es bei Stalker (1979) in einer postapokalyptisch anmutenden Zone, bei Solaris (1972) auf einer Raumstation oder bei Nostalghia (1983) in einer Landschaft greifbar werdender Heimatlosigkeit. Es sind Bildkompositionen, wie sie seinerzeit nur die Natur des Zelluloids hervorbringen konnte.

    Oft wird von ihrer „Wirkmächtigkeit“ gesprochen. Tarkowski selbst erklärte seine Filme zu Versuchen, seine eigene Wahrnehmung zu Bildern werden zu lassen. Sein assoziatives Spiel mit ihnen nannte er „Poesie“4 und stellte sie – in der Tradition der Romantiker – der Wissenschaft gegenüber. Dieses „Leben als Traum“, wie es der schwedische Regisseur Ingmar Bergman umschwärmte, ist charakteristisch für Tarkowskis Schaffen. Gleichzeitig suchte er immer das freie Spiel mit Bedeutungen und Lesarten. 

    Spätestens mit dem Meisterwerk Andrej Rubljow (1966) hatte Tarkowski als auteur eine Handschrift entwickelt, und er war dabei, seine eigene Gattung zu schaffen: den poetischen Film.

    Andrej Rubljow und der Eklat in Cannes

    Gemeinsam mit Filmemacher und Freund Andrej Kontschalowski hatte er die Handlung entworfen und das Drehbuch geschrieben. Die beiden Andrejs stellen einen dritten Andrej in den Mittelpunkt, Andrej Rubljow, einen Mönch aus dem späten 14., frühen 15. Jahrhundert, über den es nur wenige historisch gesicherte Nachrichten gibt, der aber als Ikonenmaler stilbildend geworden ist und sich hoher Verehrung erfreut, auch als Heiliger.

    Gezeigt wird Rubljow als ein Künstler, der den Menschen nicht mit Gott drohen will, der politischen Macht skeptisch gegenübersteht und in eine Krise gerät, aus der er erst herausfindet, als er sieht, mit welchem Mut sich ein junger Bursche ohne jede Vorerfahrung daran macht, eine Glocke zu gießen.

    Der in schwarzweiß gedrehte Film endet mit einem farbigen Kaleidoskop von Ikonenpartien, die, mit einer an geistliche Gesänge erinnernden Musik unterlegt, den Zuschauer zur Meditation einlädt.

    Als der gut dreieinhalb Stunden dauernde Film 1966 fertig war, hatte die Zensur einiges auszusetzen. Vor allem manche als brutal angesehene Szenen mussten herausgeschnitten werden, wodurch das Zeitbild nicht ganz so negativ erschien. Kritiker warfen Tarkowski vor, die Geschichte nicht richtig dargestellt zu haben. Das Publikum konnte dies aber nicht nachprüfen, da der Film zunächst unter Verschluss gehalten wurde.

    Über Umwege wurde er 1968 in Cannes zu den Filmfestspielen nominiert, dann aber wegen angeblicher „künstlerischer Mängel“5 zurückgezogen. Erst 1969 konnte er dort – außer Konkurrenz – gezeigt werden und erhielt gleich den Kritiker-Preis, die erste von insgesamt neun Auszeichnungen. Bei den Offiziellen im Filmbetrieb der Sowjetunion rief diese nie ganz geklärte Geschichte mit der Nominierung6 in Cannes einige Verstimmung hervor, Cineasten in Ost und West aber waren begeistert.

    Eigensinn und Rätselhaftigkeit

    Auf Stanley Kubricks Welterfolg 2001 – A space Odyssey (2001- Odyssee im Weltraum, 1968) erwartete man in der Sowjetunion eine angemessene Antwort von Tarkowski und bedachte ihn mit dem Auftrag. Tarkowski verfilmte dazu die Erzählung Solaris von Stanisław Lem, und es wurde eine ganz eigene Interpretation. Der 1972 fertiggestellte Film hatte mit der Vorlage fast nur noch den Titel gemeinsam. Tarkowski verzichtete auf alle spektakulären technischen Details und schuf ein Drama um Schuld, individuelle Erinnerung und kollektives Gedächtnis. 

    War schon in Andrej Rubljow der Zuschauer gefordert zu mutmaßen, wie die Episoden der Handlung zusammenhängen, so nimmt in Solaris die für den reifen Tarkowski typische Rätselhaftigkeit noch deutlich zu. Einzelne Objekte, die sich einer symbolischen Eindeutigkeit entziehen, tauchen in vielen Filmen auf, als gehörten sie zu einer eigenen hermetischen Tarkowski-Welt: Holzhäuser, Tiere oder die Elemente, wie Wasser in Form von Regen, Seen und Flüssen, Erde, Luft, Feuer … Tarkowski arbeitete zudem gern mit den gleichen Schauspielern und tauschte die Kameraleute nicht ständig aus. Eduard Artemjew schrieb ihm für drei Filme die zum Teil experimentelle Musik – für Tarkowski eine „privilegierte Klangsprache“ für eine „Symbiose mit den Bildern“.7

    Tarkowski zwischen Ost und West

    In seinem Schaffensdrang hatte er sich jedoch Zeit seines Lebens der sowjetischen Bürokratie zu erwehren, wurde bei Auftragsvergaben immer wieder ignoriert.8 Geldsorgen zwangen ihn, kommerzielle Drehbucharbeiten und Vorträge in der Provinz anzunehmen.9 Auch sorgte der sowjetische Filmverleih dafür, dass Sowjetbürger seine Filme in den Kinos nur schwer zu sehen bekamen. 

    Bei all den Querelen: Es ist keineswegs so, dass Tarkowski etwas Dissidentisches in dem sah, was er tat und wie er seine Sujets verfilmte. Lust am Widerspruch auf der einen und eine eher diffuse Religiosität mit Hang zu Esoterik auf der anderen Seite machten ihn ebenso aus wie der tiefe Wunsch, seiner eigenen Kunstvorstellung zu folgen und trotzdem in der Heimat bleiben zu können. Was ihm nicht gelang. 

    Um dem Korsett des sowjetischen Filmbetriebs zu entweichen, nahm er 1981 schließlich einen Auftrag in Italien an, obwohl ihm klar war, dass er seine Familie in der Sowjetunion zurücklassen musste. Der sehr persönliche Film Serkalo (dt. Der Spiegel, 1975) und die Sinnsuche von Stalker hatten ihn zuvor erneut dem Vorwurf ausgesetzt, unverständliche Filme zu drehen. Dabei traf etwa Serkalo durchaus den Nerv der Zuschauer in der Sowjetunion: Erzählt wird eine Kindheit in den Jahren der Stalinschen Herrschaft, jedoch so, dass sich viele in Situationen und Konstellationen erkannten. Der Spiegel wird hier Symbol und Metapher des Selbsterkennens in der Erinnerung. 

    Als Vertreter der Sowjetunion Tarkowski bedrängten, er solle doch endlich aus Italien zurückkommen, beantragte er Asyl. Nur kurz nach Fertigstellung seines letzten Films Offret (dt. Opfer, 1986) starb er am 29. Dezember 1986 an Krebs, seine Familie ließ man noch zu ihm reisen. Beigesetzt wurde er in Paris.

    „Ja, sein Grab ist nicht bei uns (und er ist daran schuldlos).“10



     

    1. Franz, Norbert P. (2016): Filmographie, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico: Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 21 ↩︎
    2. Maja Turovskaja nennt ihre Monographie in Anlehnung an Fellinis Film Otto e mezzo (1963): 7 i ½ fil‘my Andreja Tarkovskogo, – (dt. Die siebeneinhalb Filme des Andrej Tarkovskij) Moskau, 1991 – Katok i skripka ist als Kurzfilm der „halbe“. ↩︎
    3. Franz, Norbert P. (2016): Tarkovskijs Weg zum Klassiker, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico: Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 34 ↩︎
    4. „Der Film entspringt der unmittelbaren Lebensbeobachtung. Dies ist für mich der richtige Weg filmischer Poesie. Denn das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.“, aus: Tarkowski, Andrej (1984): Die versiegelte Zeit, Berlin, S. 70 ↩︎
    5. von Keitz, Ursula (2012): Andrej Tarkowskij: Andrej Rubljow (1966), in: Kiening, Chr. (Hrsg.): Mittelalter im Film, S. 298 ↩︎
    6. Die Sowjets hatten den Film offenbar bereits (aus Versehen) an einen französischen Verleih verkauft, der ihn in Cannes bereitstellen konnte, vgl. ebd. Und: „Although screened at 4 a. m. on the festival’s last day, it was nevertheless awarded the International Critics’ Prize. Soviet authorities were infuriated; Leonid Brezhnev reportedly demanded a private screening and walked out mid-film“, in: Hoberman, James Lewis (1999): Andrei Rublev ↩︎
    7. Franz, Norbert P. (2016): Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico. Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 16 ↩︎
    8. vgl. Franz, Norbert P. (2016): Vom Werden und Selbstverständnis des Klassikers, in: ebd., S. 29 ↩︎
    9. Schlegel, Hans-Joachim (2012): Zwischen Hier und Dort, in: Tarkovskij, Andrej A./Schlegel, Hans-Joachim/Schirmer, Lothar: Andrej Tarkovskij: Leben und Werk: Schriften, Filme, Stills, Schirmer/Mosel, S. 8 ↩︎
    10. Notizen von Alexander Sokurov zum Tod von Tarkovskij, in: ebd., S. 27 ↩︎

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