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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 69: Senzows beendeter Hungerstreik

    Debattenschau № 69: Senzows beendeter Hungerstreik

    Nach 145 Tagen und 20 Kilogramm Gewichtsverlust beendete der ukrainische Regisseur Oleg Senzow letzten Samstag seinen Hungerstreik. Damit entgeht er der angekündigten Zwangsernährung. 

    Die Fraktion der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament nominierte ihn gestern für den Sacharow-Preis, auch EU-Menschenrechtspreis genannt. In den Augen der EU-Abgeordneten und vieler russischer Oppositioneller hat Senzow viel erreicht. Durch seinen Streik bekam er eine massive internationale Unterstützung, auch viele Menschen in Russland protestierten für ihn. Sein Hungerstreik erinnerte viele an das Schicksal sowjetischer Dissidenten sowie an die Unnachgiebigkeit der sowjetischen Herrscher.

    In einem offenen Brief erklärte Senzow am 5. Oktober das Ende seines Streiks. dekoder bringt die Übersetzung des Briefs sowie Ausschnitte aus staatsnahen und unabhängigen russischen Medien.
     

    Oleg Senzow noch vor Beendigung seines Hungerstreiks / Foto: © FSIN
    Oleg Senzow noch vor Beendigung seines Hungerstreiks / Foto: © FSIN

    Novaya Gazeta: Senzows Brief

    Vergangenen Freitag kündigte Oleg Senzow in einem handschriftlichen Brief das unfreiwillige Ende seines Hungerstreiks an. Die Novaya Gazeta hat den Brief veröffentlicht.

    [bilingbox]Alle, die es noch interessiert!
    Aufgrund meines kritischen Gesundheitszustands und wegen pathologischer Veränderungen der inneren Organe ist geplant, in nächster Zeit mit meiner Zwangsernährung zu beginnen. Meine Meinung zählt an dieser Stelle nicht. Ich sei angeblich nicht mehr imstande, meinen Gesundheitszustand und die ihm drohende Gefahr adäquat einzuschätzen. 
    Die Zwangsernährung wird im Rahmen von intensivmedizinischen Maßnahmen zur Rettung des Lebens des Patienten durchgeführt. Unter diesen Umständen bin ich gezwungen, meinen Hungerstreik am morgigen Tag, dem 6. Oktober 2018, zu beenden. 
    145 Tage Kampf, 20 Kilogramm Gewichtsverlust, plus ein angeknackster Organismus, aber das Ziel ist nicht erreicht. Ich danke allen, die mich unterstützt haben und entschuldige mich bei denen, die ich enttäuscht habe …

    Ruhm der Ukraine!

    Oleg Senzow, 5.10.18

    ~~~Всем, кому это еще интересно!
    В связи с критическим состоянием моего здоровья, а также начавшимися патологическими изменениями во внутренних органах, в самое ближайшее время ко мне запланировано применение принудительного питания. Мое мнение при этом уже не учитывается. Якобы я уже не в состоянии адекватно оценивать уровень здоровья и опасности ему грозящей. Насильственное кормление будет проводиться в рамках реанимационных мероприятий по спасению жизни пациента. В данных условиях я вынужден прекратить свою голодовку с завтрашнего дня, то есть с 6.10.18.
    145 дней борьбы, минус 20 кг веса, плюс надорванный организм, но цель так и не достигнута. Я благодарен всем, кто поддерживал меня, и прошу прощения у тех, кого я подвел…

    Слава Украине!

    Олег Сенцов. 5.10.18[/bilingbox]

    erschienen am 5. Oktober 2018

    Foto: © Novaya Gazeta
    Foto: © Novaya Gazeta

    Moskowski Komsomolez: Kritik aus der Ukraine

    Das Massenblatt Moskowski Komsomolez befragt gleich zwei „ukrainische Politologen“ und suggeriert damit womöglich, dass auch Ukrainer kritisch gegenüber Senzow sein können. 
    Rostislaw Ischtschenko ist einer von ihnen, seit der Ukraine-Krise lebt er in Russland und tritt hier oft als Experte in staatsnahen Medien auf.

    [bilingbox]Wenn einer ein halbes Jahr lang sagt, dass er hungert, dann wirkt es schlicht lächerlich. Man hätte den Hungerstreik schon längst beenden sollen, weil Menschen schon viel früher daran sterben. Senzow musste irgendwie aus diesem Zustand rauskommen – bitte sehr, jetzt ist er raus. 
    Führt man sich vor Augen, dass er sogar diese rein formale Aktion beendet hat, dann glaubt er nicht daran, dass sich an seiner Situation etwas ändern wird. Zumindest sitzt er nicht lebenslänglich ein, früher oder später kommt Senzow raus. Außerdem kann er mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen, wenn er sich denn entsprechend verhält. Er muss seine Schuld eingestehen und dafür büßen. Aber mit dieser Tat hat der Regisseur gezeigt, dass er seine Situation nicht ändern will.
    ~~~Если человек полгода говорит о том, что он голодает, то от этого становится уже просто смешно. Голодовку давно нужно было прекращать, потому что даже за более короткий срок люди умирают. Сенцову нужно было как-то выходить из этого состояния — вот он и вышел. Судя по тому, что он прекратил даже эту чисто формальную акцию, он не рассчитывает на изменения в своем положении. В любом случае у него не пожизненное заключение, и рано или поздно Сенцов выйдет. Кроме того, он может рассчитывать на досрочное освобождение, если будет вести себя соответствующим образом. Он должен принять свою вину и раскаяться. Но этим поступком режиссер показал, что менять свое положение не собирается[/bilingbox]

    erschienen am 5. Oktober 2018

    Iswestija: Ergebnis peinlich genauer Arbeit

    In der staatsnahen Iswestija stellt der stellvertretende Direktor des FSIN Waleri Maximenko den beendeten Hungerstreik als Verdienst seiner Behörde dar.  

    [bilingbox]Das Ende des Hungerstreiks ist in diesem speziellen Fall das Ergebnis bedachtsamer und peinlich genauer Arbeit unserer Mitarbeiter. Zu sagen, die Entscheidung wäre ad hoc getroffen worden, ist falsch. Der behördenübergreifende Föderale Strafvollzugsdienst FSIN, unter dessen Beobachtung sich Senzow befand, überwachte seinen Gesundheitszustand, wählte die richtigen Portionen spezieller Mixturen und Pulver. […]
    Sollte die Verweigerung der Nahrungsaufnahme weitergehen, würde aus Senzow womöglich nicht einmal nur Gemüse, sondern gar eine Pflanze. Die Androhung von Zwangsernährung – wie kann man denn bitteschön den Beginn der Behandlung eines Kranken als Bedrohung bezeichnen? In der aktuellen Situation wurde Senzow gesagt, dass man um sein Leben und seine Gesundheit kämpfen und nicht zulassen werde, dass er stirbt. Der Rest blieb ihm freigestellt. […]
    Für uns ist nicht wichtig, nach welchem Paragraphen und für welches Verbrechen ein Gefangener seine Strafe verbüßt. Wir kümmern uns um eines jeden Leben und Gesundheit. Unsere Aufgabe ist, dass der Mensch nach Ablauf seiner Haftzeit und Besserungsmaßnahmen gesund zu seinen Angehörigen zurückkehren kann.
    ~~~Окончание голодовки в данном случае — это результат тщательной и кропотливой работы наших сотрудников. Нельзя сказать, что это произошло в один момент, нет. Сотрудники медучреждений ФСИН, у которых наблюдался Сенцов, следили за его здоровьем, подбирали правильный рацион на основании специальных смесей и порошков. […]
    Eсли бы отказ от еды продолжился, то Сенцов мог стать не просто «овощем», а даже «растением». А угрозы принудительного питания — ну как можно называть угрозой введение в курс лечения больного? В данном случае Сенцову сказали, что за его жизнь и здоровье будут бороться и умереть не дадут. Остальное было на его усмотрение. […]
    Нам неважно, по какой статье и за какое преступление отбывает наказание заключенный. Мы одинаково заботимся о жизни и здоровье каждого. Наша задача, чтобы после отбывания срока и исправления человек вернулся к своим родным и близким здоровым.[/bilingbox]

    erschienen am 8. Oktober 2018

    Colta: Grabesschweigen

    Auf dem unabhängigen Portal Colta schreibt Maria Kuwschinowa darüber, warum es so schwierig ist, die richtigen Worte zum Ende des Hungerstreiks zu finden.

    [bilingbox]Die Nachricht von dem erzwungenen Ende des Hungerstreiks von Oleg Senzow wurde beinahe mit Grabesschweigen aufgenommen. Es schwiegen nicht nur die, die über die Gesamtdauer von vier Monaten die Freilassung des ukrainischen Regisseurs und der ukrainischen Gefangenen gefordert hatten, sondern auch die, die qua Stellung oder aufgrund ihrer Überzeugung Schadenfreude hätten zeigen müssen. Das liegt offensichtlich nicht an Gleichgültigkeit. Es liegt an der Unmöglichkeit, die Situation mit den zur Verfügung stehenden Sprachschablonen zu beschreiben.
    Freude, dass „er sich fürs Leben entschieden hat”, will nicht aufkommen, weil Senzow unter Androhung von Zwangsernährung nichts entschieden hat. Ärger, dass „er aufgegeben hat”, ist auch fehl am Platz, weil die Dauer und Intensität des Kampfes, die Menge der daran beteiligten Menschen, der Schaden, der dem Organismus zugefügt wurde, und auch die an die Oberfläche getretenen Fragen bezüglich Krim und Donbass es nicht erlauben, den Hungerstreik schlagartig zu entwerten.
    ~~~Новость о вынужденном окончании голодовки Олега Сенцова была встречена почти гробовым молчанием. Молчали не только те, кто на протяжении всех четырех месяцев требовал освободить украинского режиссера и отпустить украинских пленников, но и те, кому по должности или по убеждениям в этот момент полагалось бы злорадствовать. Дело, очевидно, не в безразличии. Дело в невозможности описать ситуацию при помощи набора удобных штампов, […]

    Радость — «он выбрал жизнь» — не годится, потому что под угрозой принудительного кормления Сенцов ничего не выбирал. Досада — «он сдался» — не годится тоже, потому что продолжительность и интенсивность борьбы, количество вовлеченных в нее людей, урон, нанесенный организму, а также поднятые на поверхность вопросы о Крыме и Донбассе не позволяют одномоментно обесценить голодовку.[/bilingbox]

    erschienen am 8. Oktober 2018

    dekoder-Redaktion

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  • Kirill Serebrennikow

    Kirill Serebrennikow

    Kurzgeschnittener Bart, kahlgeschorener Kopf, Mütze, Brille, ernster Blick. Seit Jahren kennt man den intellektuellen Habitus von Kirill Serebrennikow, der im Moskau der 2000er Jahre eine steile Karriere hingelegt hat. Nach den Theaterbühnen in seiner Heimatstadt Rostow am Don eroberte er innerhalb weniger Jahre die weit bedeutenderen in Moskau. Von 2012 bis 2021 hatte er mit dem Gogol Center sein eigenes Theater und Kulturzentrum, mit einem eigenen Ensemble. Darüber hinaus bekommt er Einladungen zu den wichtigsten Theaterfestivals in Europa und inszeniert auch an großen Opernhäusern in Deutschland.

    Seit Mai 2017 sind die medialen Schlagzeilen über Serebrennikow jedoch von einer anderen Art. Er und seine Mitarbeiter sollen 2012 staatliche Gelder veruntreut haben. Konkret geht es um eine Förderung in Millionenhöhe für die Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum im Rahmen des hochsubventionierten Theaterprojekts Plattform. Während des Ermittlungsverfahrens musste der Regisseur einen fast zwei Jahre langen Hausarrest absitzen. Im Juni 2020 hat ein russisches Gericht Serebrennikow schuldig gesprochen und zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Er darf das Land nicht verlassen: Zu der Premiere seines Films Leto auf dem Festival in Cannes – wo Serebrennikow den Preis für den besten Soundtrack gewann – durfte er nicht reisen.  Auch die Filmfestspiele 2021 werden ohne den russischen Regisseur stattfinden – obwohl sein Film Die Petrows mit Grippe im Wettbewerb läuft.

    Die Frage, warum ausgerechnet Serebrennikow in das Visier der Strafermittlung geraten ist, gibt Anlass zu einer Fülle von Spekulationen, die viel über die politische und gesellschaftliche Situation im Land verraten.

     

    Die Mütze ist sein Markenzeichen – Regisseur Kirill Serebrennikow / Foto © Sasha Kargaltsev/Flickr
    Die Mütze ist sein Markenzeichen – Regisseur Kirill Serebrennikow / Foto © Sasha Kargaltsev/Flickr

    Kirill Serebrennikow ist ein vielseitiger Künstler. In erster Linie aber ist er Theaterregisseur. Seit er Anfang der 2000er Jahre in Moskau Fuß fassen konnte, hat er an den besten Häusern der Hauptstadt inszeniert: am Moskauer Künstlertheater MChT, wo einst Stanislawski die Stücke von Anton Tschechow in Szene setzte, am Sowremennik-Theater, am Puschkin-Theater und am Staatlichen Theater der Nationen. Von 2013 bis Februar 2021 waren seine Inszenierungen im Moskauer Gogol Center zu sehen. Dieses Theater- und Veranstaltungszentrum hat der damalige Leiter der Moskauer Kulturabteilung Sergej Kapkow praktisch für Serebrennikow neu geschaffen, es löste das antiquiert-sowjetische Gogol-Theater ab.

    Serebrennikows Inszenierungen haben zwei unterschiedliche Stoßrichtungen. Zum einen handelt es sich dabei um originelle Neubearbeitungen der literarischen Klassik, vor allem der russischen Literatur, wie zuletzt Die toten Seelen nach Nikolaj Gogol (2014), Eine alltägliche Geschichte (2015) nach Iwan Gontscharow oder Wer lebt glücklich in Russland? nach Nikolaj Nekrassow (ebenfalls 2015). 
    Zum anderen hat sich Serebrennikow mit Inszenierungen zeitgenössischer Dramatiker einer sozial- und gesellschaftskritischen Richtung einen Namen gemacht. So war seine erste Inszenierung am Moskauer Künstlertheater im Jahr 2002 Terrorismus der Brüder Presnjakow, deren Stücke längst auch außerhalb Russlands gespielt werden. Zu seinen neueren Arbeiten am eigenen Haus gehört Märtyrer des deutschen Autors Marius von Mayenburg, ein Stück über religiösen Fanatismus unter Jugendlichen, dessen Schauplatz Serebrennikow vom protestantischen Deutschland ins orthodoxe Russland verlegte.

    Avantgarde und Slapstick

    Serebrennikow vereint in seinen Inszenierungen zwei scheinbar entgegengesetzte Pole. Zum einen weisen seine Aufführungen eine experimentelle, avantgardistische Seite auf – mit komplexen Sinnstrukturen und einer Fülle an Referenzen quer durch die Literatur- und Kulturgeschichte. Zum anderen tendieren die Inszenierungen zum Spektakel, zu Humoreske und Burleske, was Serebrennikow den Zuspruch des Publikums sichert. 
    Serebrennikows Darsteller, insbesondere die Mitglieder des von ihm ins Leben gerufenen Siebten Studios, mimen nicht nur Rollen, sondern verstehen sich auch auf Gesang und Tanz. Auch exzentrische Kostümierungen und Slapstick-Einlagen gehören zum Repertoire. 

    Die körperbetonten, stellenweise derben und dann doch wieder tragisch-ernsten Spektakel sind nicht auf ein kleines Theaterstudio, sondern auf den großen Bühnenraum ausgerichtet. Das prädestiniert Serebrennikow geradezu für die Opernbühne, wie seine Inszenierungen an deutschen Opernhäusern zeigen: Salome (2015) und Hänsel und Gretel (2017) an der Oper Stuttgart und Der Barbier von Sevilla (2016) an der Komischen Oper in Berlin. 

    Abgesehen davon ist Serebrennikow im Filmgeschäft aktiv, wobei seine Kinoprojekte häufig aus der Theaterarbeit hervorgehen. So auch Utschenik (2016, dt. Der Schüler), der auf der Märtyrer-Inszenierung im Gogol Center basiert, seine Premiere in Cannes feierte und unter dem deutschen Verleihtitel Der die Zeichen liest im Januar 2017 in die deutschen Kinos kam. 
    Die Theater-Kritikerin Marina Dawydowa verortet Serebrennikows größtes Talent allerdings im Genre der sozialen Burleske: „Egal, wo er inszeniert – in der Oper, im Theater, im Kino – wenn er sich in diesem Genre bewegt, dann ist er praktisch konkurrenzlos.“1 Diese Stärken zeigen sich besonders in der originellen, international jedoch kaum beachteten Presnjakow-Verfilmung Isobrashaja Shertwu (2006, dt. Das Opfer spielen2).

    Symbolfigur des russischen Kulturlebens

    Serebrennikows Erfolge im In- und Ausland machen den Regisseur zweifelsohne zu einer Symbolfigur des russischen Kulturlebens. Dabei hat Serebrennikow keine professionelle Theaterausbildung, sondern in seiner Geburtsstadt Rostow am Don ein Physik-Studium absolviert. Der traditionell beziehungsweise konservativ gestimmte Teil der russischen Theater- und Künstlerszene beäugt den umtriebigen Serebrennikow daher seit Jahren nicht nur mit einem gewissen Neid, sondern auch mit dem Argwohn, dass der „Laie ohne Diplom“ die russische Theatertradition zerstöre.3 Allerdings dürfte die zunehmend konservative Stimmung im Land auch unter der kulturellen Elite nicht mehr als ein Mosaikstein im angestrengten Strafverfahren sein. 

    Verhaftung: Politische Stimmungsmache?

    Indes bezweifelt niemand in der systemkritischen Kulturszene, dass im Fall Serebrennikow ein politischer Wille zum Ausdruck kommt. Als ein mögliches Motiv für die Verhaftung von Serebrennikow wird politische Stimmungsmache im Vorwahljahr 2017 vermutet. So soll die russische Bevölkerung unter dem Schlagwort der Korruptionsbekämpfung von der Effizienz des Staatsapparats überzeugt werden. Der mediale Rummel um den Fall einschließlich der bekannten Unterstützungsrituale wäre dann nicht eine unvermeidliche Begleiterscheinung sondern Kalkül. Der schauprozessartige Ablauf und die Schlagzeilen über verschwendete Steuergelder weisen durchaus in diese Richtung. 

    Gleichzeitig wird der Fall als weiterer Akt im zu beobachtenden Kampf der ideologisch-konservativen Kräfte gegen die Reformer beziehungsweise Pragmatiker gedeutet – so unter anderem von Alexander Baunow vom Moskauer Carnegie Center.4 Mit seiner eindeutigen Haltung gegenüber der Ukraine-Politik oder gegenüber Homosexualität verwundert es nicht, dass Serebrennikow den sogenannten Patrioten schon länger ein Dorn im Auge ist. Besonders bezeichnend erscheint dabei die zynische Reaktion des gewichtigen Filmregisseurs Nikita Michalkow: „Wenn ein Gouverneur oder Minister hinter Gitter kommt, würde das als normal empfunden – nicht dagegen bei einem Regisseur. Vielleicht wären da Gitterstäbe aus Lorbeer angebracht?“5

    Der Fall Serebrennikow muss insbesondere den liberalen Kulturschaffenden als ernsthafte Bedrohung erscheinen. Unübersehbar erscheinen die Parallelen zur Verhaftung des Wirtschaftsoligarchen Michail Chodorkowski im Jahr 2003. So könnte der Fall ein Signal dafür sein, dass man nun darangeht, nach Wirtschaft und politischer Opposition auch die Kultur der autoritären Politik zu unterwerfen. 

    aktualisiert: 09.07.2021


    1. Meduza: «Emu ničevo ne stoit žit na zapadnye kontrakty» ↩︎
    2. Das Stück wurde unter dem Titel Opfer vom Dienst auch auf deutschen Bühnen gespielt, u.a. am Hessischen Staatstheater Wiesbaden im Jahr 2004. ↩︎
    3. vgl. dazu den ausführlichen Artikel von Marina Davydova in der deutschen Zeitschrift Theater heute: Davydova, Marina (2017): Der Staat regiert: Was Ausländer über den Fall Kirill Serebrennikov wissen müssen – sieben Anleitungen, in: Theater heute, Heft Juli 2017, S. 6-9 ↩︎
    4. vgl. Alexandr Baunov in der Sendung Osoboe mnenie auf Radio Echo Moskvy, 23.08.2017 ↩︎
    5. Nikita Michalkov im Interview mit dem Fernsehsender REN-TV, 25.08.2017 ↩︎

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  • Zitat #5: „Senzow ist ein ukrainischer Kamikaze“

    Zitat #5: „Senzow ist ein ukrainischer Kamikaze“

    Die Regisseure Ken Loach und David Cronenberg, die französische Kulturministerin und andere internationale Kulturschaffende haben in der vergangenen Woche auf das Schicksal und den mittlerweile äußerst kritischen Gesundheitszustand des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow hingewiesen. Vor dem Aufruf in Le Monde hatte Frankreichs Präsident Macron in einem Telefonat an Putin appelliert, Senzow freizulassen.
    Seit mehr als drei Monaten ist Oleg Senzow im Hungerstreik. Allerdings hungert Senzow, der 2014 wegen „Terrorismus“ zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, nicht für sich selbst: Sein Ziel ist die Freilassung aller politischen ukrainischen Häftlinge in Russland. 

    Das Portal Meduza sprach mit seinem Anwalt Dimitri Dinse über Senzows Bedingungen und seinen Gesundheitszustand, sowie über die öffentlichen Reaktionen. dekoder bringt Ausschnitte aus dem Gespräch.
     

    Die Ombudsfrau der Ukraine, Ljudmyla Denissowa, veröffentlichte am 9. August dieses aktuelle Foto von Oleg Senzow in Haft / Foto © Ljudmyla Denissowa/Facebook

    Gesundheitszustand

    [bilingbox]Dimitri Dinse: Senzow ist mittlerweile im fortgeschrittenen Stadium des Hungerstreiks.
    Er fühlt sich derzeit schlecht, liegt die meiste Zeit, läuft nur wenig herum. Laut medizinischem Gutachten produziert sein Körper quasi keine Blutkörperchen mehr, sein Hämoglobinwert ist zu niedrig, im anämischen Bereich, er hat Taubheitsgefühle in Händen und Füßen.
    Zweimal ist sein Puls drastisch auf 40 Schläge pro Minute gesunken, jedes Mal schlug man ihm vor, ins Krankenhaus zu gehen. Aber er lehnte eine Einweisung ab, denn die von den Vertragsärzten vorgeschlagenen Konditionen sind schlechter als die, in denen er sich jetzt befindet.

    Ich habe ihn gefragt: „Und was, wenn du das Bewusstsein verlierst und sie dich gewaltsam dorthin bringen?“ Er hat mir geantwortet: „Aus diesem Grund trinke ich die Nährlösung freiwillig, um den Hungerstreik fortsetzen zu können, bei Bewusstsein zu bleiben und nicht irgendwann in einem Krankenhaus zu landen, wo man an mir ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung bestimmte Behandlungen durchführen will.“

    Mit einer solchen Nährlösung kann man recht lange durchhalten, wenn man sie in der vorgeschriebenen Menge zu sich nimmt. Aber Oleg nimmt leider in Absprache mit der Gefängnisleitung genau so viel, dass er weiterhin im Hungerstreik bleibt – er schüttet das Zeug nicht in sich hinein. Sondern er feilscht um jedes Gramm dieser Lösung, um auch ja im Hungerstreik zu bleiben. Das ist seine Entscheidung, leider.~~~Димтирий Динзе: В июле у него начался третий кризис голодовки.
    Сейчас он плохо себя чувствует, в основном лежит, редко ходит. Медицинскими показаниями установлено, что у него фактически не воспроизводятся кровяные тельца, пониженный гемоглобин, развилась анемия, немеют руки и ноги. 
    У него уже дважды резко снижался пульс — до 40 ударов в минуту, и каждый раз ему предлагали уехать в больницу. Но он отказывается от госпитализации, потому что те условия, которые предлагают ему гражданские врачи, хуже тех условий, в которых он находится сейчас.
    На этой медицинской смеси можно продержаться достаточно долгое время, если ее употреблять в адекватных количествах. Но Олег, к сожалению, по договоренности с администрацией употребляет ее ровно столько, чтобы оставаться в голодовке, — он не закидывается этой смесью. Он торгуется за каждый грамм этой смеси, чтобы оставаться в голодовке. Ну, это его выбор, к сожалению.[/bilingbox]

    Öffentlichkeit

    [bilingbox]Meduza: Erzählen Sie ihm denn, dass das Thema aus den Schlagzeilen verschwindet?
    Ja, ich erzähle ihm von den [Solidaritäts-]Aktionen, erzähle ihm, was so passiert. Oleg ist klar, dass sich das Thema nicht drei Monate auf den Titelseiten halten kann. Und er bittet all die, die ihn und die Ukraine unterstützen, dass sie das Thema am Laufen halten mögen und nicht zulassen, dass die Menschen vergessen werden, die sich unrechtmäßig hinter den Mauern russischer Gefängnisse befinden. 

    Oleg ist mittlerweile ein ukrainischer Kamikaze, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für das Leben anderer, für die Ideale, die er hatte, und für sein Land.~~~— Медуза: Это вы ему рассказываете, что тема угасает?
    — Да, я ему рассказываю про акции [в его поддержку], рассказываю про то, что происходит. Олег понимает, что три месяца тема не может держаться в накале, и он просит всех людей, которые переживают за Украину и за него, чтобы они эту тему поддерживали на плаву, не давали забыть о тех людях, которые незаконно находятся в застенках российских тюрем.
    Олег стал украинским камикадзе, который поставил на кон свою жизнь ради жизни других людей, ради тех идеалов, которые у него были, и ради своей страны.[/bilingbox]

    Bedingungen

    [bilingbox]Inwieweit sind die Bedingungen, die er gestellt hat, überhaupt erfüllbar?
    Das entscheidet sich ganz schlicht: mit der Entscheidung eines Menschen, binnen eines Tages, einer Stunde. Wie hat es bei Sawtschenko und Afanasjew funktioniert? Alles war innerhalb von ein, zwei Tagen entschieden.

    Aber Sawtschenko war nur eine einzige Person, und auf Olegs Liste stehen 64.
    Nun, Oleg ist ja kein Idiot, er fordert nicht, dass alle gleich freigelassen werden. Leitet die Sache ein, nehmt Verhandlungen auf, lasst vielleicht zwei drei oder auch einen frei. Er sagt: „Ich bin bereit, den Hungerstreik zu beenden, wenn die Sache eingeleitet wird und wenigsten ein politischer Gefangener in die Ukraine kommt. Ich erbitte das nicht für mich, ich erbitte das für andere.“~~~— Насколько условия, которые он выдвинул, вообще выполнимы?
    — Это решается элементарно: решением одного человека, одного дня, одного часа. Как с Савченко и Афанасьевым получилось? Все решилось за один-два дня.
    Но Савченко была одна, а в списке Олега 64 человека.
    — Так Олег же не идиот, он же не просит сразу всех освободить. Начните процесс, начните переговоры, освободите хотя бы двух-трех или одного. Он говорит: «Я готов уйти с голодовки, как только процесс пойдет и хоть один человек из политзаключенных окажется в Украине. Я не за себя прошу, прошу за других».[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien das Interview am 10.08.2018 unter dem Titel  «On stal ukrainskim kamikadse, kotory postawil na kon swoju shisn radi shisn drugich» (dt. „Oleg ist mittlerweile ein ukrainischer Kamikaze, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für das Leben anderer“). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • Der Hungerstreik des Oleg Senzow

    Der Hungerstreik des Oleg Senzow

    August 2015, der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow steht im Gitterkäfig eines russischen Gerichtssaals und spricht das letzte Wort des Angeklagten. Er sagt, dass die Behörden ihm schon am Tag seiner Verhaftung 20 Jahre Haft prophezeit hätten.

    Senzows Urteil lautet schließlich genau so: 20 Jahre, wegen Terrorismus. Tatsächlich hatte Senzow im Frühjahr 2014 in Simferopol auf der Krim Automaidan-Proteste organisiert – gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. Vorgeworfen wurde ihm dann jedoch, Terroranschläge auf Brücken und öffentliche Denkmäler vorbereitet zu haben, außerdem sei er Teil des nationalistischen ukrainischen Rechten Sektors.

    Beweise gab es dafür keine. Deswegen und auch wegen der Appelle von Filmschaffenden, wie Pedro Almodóvar und Wim Wenders, erregt der Fall des bekannten Regisseurs internationales Aufsehen. Bei Präsident Putin stoßen sie jedoch auf taube Ohren. Auch der Dokumentarfilm The Trial: The State of Russia against Oleg Sentsov, der unter anderem auf der Berlinale 2017 lief, ändert nichts an dem Urteil, das viele Justizexperten als kafkaesk bezeichnen. 

    Mitte Mai 2018, nach vier Jahren Haft, greift der Filmemacher zur Ultima Ratio des passiven Widerstands: Er tritt in den Hungerstreik mit der Forderung, alle ukrainischen politischen Gefangenen in Russland freizulassen. 

    Maria Kuwschinowa fragt für Colta.ru, was Kultur – gerade vor dem Hintergrund des Falls Senzow – eigentlich bedeutet.

     

    Am 14. Mai [2018 – dek] hat Oleg Senzow in einem Straflager jenseits des Polarkreises mit einem unbefristeten Hungerstreik begonnen. Seine einzige Forderung ist die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland (laut einer Liste von Memorial sind das knapp über 20 Menschen).

    Im August 2015 hatte Senzow 20 Jahre bekommen für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.

    Der Schauprozess (nach Muster der Prozesse vom 6. Mai) sollte demonstrieren, dass sich nur ein Häufchen Terroristen gegen das Referendum auf der Krim ausspricht. Wer Widerstand plante, sollte eingeschüchtert werden. Es sollte eine einmalige Operation zur Verängstigung und Unterdrückung sein. Doch zwei Umstände störten die betriebssichere Arbeit der Repressions-Maschine: Erstens gingen die Angeklagten keinen Handel mit den Ermittlern ein und weigerten sich, die Legitimität des Gerichts anzuerkennen. Zweitens erwies sich der Automaidan-Aktivist Oleg Senzow unerwartet als Regisseur, was eine Welle öffentlicher Reaktionen nach sich zog, von Protesten der Europäischen Filmakademie bis hin zu Fragen wie: „Was? Kulturschaffende dürfen Denkmäler sprengen?“

    Ein Teil der russischen Kulturszene reagierte auf die Situation herzlos und verärgert: Der ist gar kein Russe und auch kein wirklich großer Regisseur, irgend so ein Computerclub-Besitzer in Simferopol. Der einzige, halb-amateurhafte Film von Senzow, Gamer, wurde auf Festivals in Rotterdam und Chanty-Mansijsk gezeigt, der Start des zweiten Films Nossorog wurde wegen des Maidans aufgeschoben.

    Für fast alle unbequem

    Für die ukrainische Intelligenzija steht Senzow in einer Reihe mit anderen politischen Gefangenen des Imperiums, wie etwa dem Poeten Wassyl Stus. Dieser hat einen großen Teil seines Lebens in sowjetischen Gefängnissen verbracht und starb im Herbst 1985 im Perm-36, nachdem er eine Woche zuvor zum wiederholten Mal in den Hungerstreik getreten war.

    Für die ukrainische Staatsmacht ist [Senzow – dek] – ein Krimbewohner, der gegen seinen Willen die russische Staatsbürgerschaft bekommen und keine Möglichkeit auf einen Gefangenenaustausch hat – nun unbequem geworden. Für die russische Regierung wäre sein Tod kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft eine lästige, eine sehr lästige Unannehmlichkeit.

    Senzow ist für fast alle unbequem. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er kein Terrorist, doch im Gefängnis ist er zu einem geworden, denn sein Prozess und seine Heldentat sind eine Zeitbombe, die unter dem nun schon vier Jahre dauernden Post-Krim-Konsens tickt. Senzow ist ein Aufstand gegen die hybride Realität des totalen Kompromisses, in dem sogar Google Maps die Krim als russisch oder ukrainisch anzeigt, abhängig davon, wie es euch gefällt. Zu wem gehört die „unblutig“ angegliederte Krim, wenn auch viele Jahre später noch ein Mensch bereit ist zu sterben und sich weigert, die Angliederung anzuerkennen?

    Das Festival-Schicksal des Films Gamer, der Senzow in die Kinowelt brachte, und seine heutige Gefängnisexistenz hinter dem Polarkreis zwingt folgende Frage auf: Was ist eigentlich Kultur, wer schafft sie und aus welcher Haltung heraus? Es gibt darauf verschiedene Antworten.

    Kultur ist ein Instrument, das der Reflexion dient, eine Möglichkeit der Selbsterfahrung und Selbstfindung der Menschen und der Gesellschaft; dabei geht es nicht unbedingt um „hohe Kunst“, das kann auch Popmusik sein oder Mode oder Rap. Oder sie ist, für Menschen mit einem bestimmten Einkommensniveau, kurzen Arbeitstagen und langen Wochenenden, eine Art, die Freizeit zu verbringen.

    Selbstfindung oder Freizeitspaß?

    Es ist offensichtlich, dass die Kultur, die heute in Russland unter der Ägide von Medinskis Ministerium entsteht, nicht zur Kultur des ersten Typs gehört. Die kompromisshaften, zensurfreundlichen „Werke“, die in der Kulturgemeinschaft entstehen, haben gar nicht die Möglichkeit, eine der Fragen zu berühren, vor denen das Land und die Welt heute stehen. Der Donbass und die gesamte Ukraine sind ein großer weißer Fleck – vor fünf Jahren gab es mit ihnen noch umfangreiche und alles durchdringende Verbindungen. Aber man muss ja weiter „arbeiten“. Und was die ganzen schmerzhaften Momente angeht, so ist es leichter zu sagen „das interessiert doch niemanden“ und lieber einen Film zu drehen über die Schwierigkeiten im Familienleben eines trinkenden Arztes und einer nicht trinkenden Krankenschwester.

    Wenn wir über den zweiten Typ sprechen – Kultur als Freizeitvergnügen – dann sprechen wir in erster Linie von Moskau, wo es nur so sprudelt vor Premieren, Lesungen und Ausstellungen – viel, viel seltener ist das in den anderen großen Städten Russlands anzutreffen. In den Regionen ist Kultur des Moskauer Typs nur möglich in Form von innerer Kolonisation.

    Es gibt noch zwei weitere Antwortmöglichkeiten, was denn Kultur sei: Sie ist Propaganda oder einfach ein Aushängeschild von Unternehmen, um sich Staatsgelder anzueignen. Die Auswahl ist nicht besonders groß, und so entsteht ein Motivationsparadoxon: Wenn du dich heute einverstanden erklärst mit Propaganda, Raspil und unnötigen Freizeitfreuden, zensurfreundlichen Kunstprodukten und innerer Kolonisation zwecks Geld, Status und Zugehörigkeit zur professionellen Gemeinschaft, so befindest du dich als Beteiligter automatisch außerhalb der sinnstiftenden Kultur.

    Aus diesem Teufelskreis herauszutreten, und sei es nur als Zeichen des Protests gegen den langsamen Selbstmord eines in einer konstruierten Strafsache verurteilten Kollegen, dazu lässt sich niemand hinreißen, denn das ist nicht praktisch. Obwohl wir durch die Ereignisse der letzten Monate und Jahre schon längst jenseits der Angst hätten landen sollen – das Gefängnis droht heute jedem ohne Ausnahme, Unschuldigen wie Schuldigen.

    Unfähig zur Empathie

    Der postsowjetische Infantilismus ist ein totaler, er befällt die Intelligenzija nicht weniger als das Volk. Infantilismus bedeutet die Unfähigkeit zur Empathie, die Unfähigkeit sich in die Lage des Anderen zu versetzen, selbst wenn dieser Andere der seit 20 Jahren aufs Genaueste studierte Präsident Putin ist, ein Mensch mit einem klaren ethischen System.

    Allem Anschein nach ist die Botschaft, die mit der Festnahme Kirill Serebrennikows versandt wurde, noch immer unverstanden geblieben. Sie besagt: Man darf nicht von Papas Tisch essen und den alten Herrn dann besudeln – das ist gegen die Ponjatija. Willst du ein Dissident sein? Dann nimm den schweren Weg der Festnahmen wegen Ordnungswidrigkeiten und verweigerten Raumanmietungen, der Marginalisierung und Verzweiflung. Willst du ein großes Theater im Zentrum von Moskau? Dann spiel nach den Regeln.

    Kulturschaffende, die heute gegen den Arrest von Kollegen protestieren, die offene Briefe unterzeichnen, aber dabei im System bleiben und ihre Worte nicht mit Taten untermauern, bleiben für die Staatsmacht erträglich. Für die Leute außerhalb von Moskau sind sie Mittäter bei Plünderungen und Genozid.

    Senzow hat die Wahl getroffen zwischen 16 Jahren langsamen Dahinsiechens in der Strafkolonie und einem demonstrativen Selbstmord, nicht einmal, um Aufmerksamkeit auf sein eigenes Schicksal, sondern auf das von anderen politischen Gefangenen zu lenken. Unabhängig vom Ausgang seines Hungerstreiks hat er einen neuen Maßstab für die menschliche und berufliche Würde geschaffen. Ob man diesen Maßstab annimmt oder nicht – das ist eine Sache jedes Einzelnen. Aber ignorieren kann man ihn jetzt nicht mehr.


    Hintergründe:
    Im August 2015 wurde der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in Rostow am Don zu 20 Jahren Haft verurteilt – für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.
    Außerdem wurde in diesem Zusammenhang noch Oleksandr Koltschenko verurteilt – zu zehn Jahren Straflager. Aus den Mitschriften [der Verhandlung, veröffentlicht auf Mediazona dek] geht hervor, dass als einziger Beweis für die Existenz einer terroristischen Organisation die Aussagen von Alexej Tschirni gelten, der mit Senzow nicht einmal bekannt war. Der Video-Mitschnitt von der Operation der Festnahme Tschirnis mit einem Rucksack, in dem sich eine Sprengsatz-Attrappe befindet, wird von der Propaganda oft als Mitschnitt von Senzows Festnahme ausgegeben.
    Aktivist des Automaidan
    Vor seiner Festnahme war Senzow Aktivist des Automaidan und organisierte im Frühling 2014 friedliche Proteste gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. „Der gestrige ,Autokorso der Smertniki‘ hat auf den Straßen Simferopols stattgefunden, aber in sehr begrenztem Umfang“, schrieb er am 12. März [2014 – dek] auf Facebook. „Am Treffpunkt versammelten sich bloß acht Autos plus sechs Kameras mit Journalisten plus zwanzig Aktivisten als Beifahrer. Ich hatte auf mehr gehofft, aber leider hat die Mehrzahl der Sofa-Revolutionäre Angst bekommen. Verkehrspolizei und Miliz waren auch am Start und haben eindringlich empfohlen, im Sinne unserer Sicherheit nicht loszufahren. Wir haben gesagt, dass unsere Aktion friedlich ist, dass wir nicht vorhätten, die Verkehrsregeln zu brechen, und haben ihnen vorgeschlagen, uns zur allgemeinen Beruhigung zu begleiten.“
    Der zweite Angeklagte, Oleksandr Koltschenko, hat gestanden, dass er beteiligt war an der Inbrandsetzung eines Raums, der in den Akten des Verfahrens als Büro von Einiges Russland bezeichnet wird, obwohl sich dort im April 2014 noch das Büro der ukrainischen Partei der Regionen befand. Die Brandstiftung erfolgte nachts und zielte auf materiellen Schaden, nicht auf menschliche Opfer.
    Man hat versucht sowohl Senzow als auch Koltschenko mit dem in Russland verbotenen Rechten Sektor in Verbindung zu bringen. In Senzows Fall ist das nicht bewiesen. Im Falle Koltschenkos, der für seine links-anarchistischen Ansichten bekannt ist, absurd. Gennadi Afanassjew, der zweite Zeuge, auf dessen Aussagen sich die Anklage stützt, erklärte, dass auf ihn Druck ausgeübt und er gefoltert worden sei.

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  • Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Mutter und Kind in der Wohnung eines Moskauer Außenbezirks. Zwecks Verkauf wird die Wohnung von Menschen besichtigt. Der Vater kommt spät abends nach Hause. Die Eltern streiten. Eine Familie ist dabei, sich zu trennen. Und keiner will den Sohn zu sich nehmen. Alle haben Besseres zu tun. „Ich kann nicht mehr“, sagt der Sohn beim Frühstück. Dann ist er weg. Verschwunden. Andrej Swjaginzews Film Neljubow (engl. Loveless) erzählt von der Suche nach dem Jungen, einem Jungen in der Atmosphäre von Nichtliebe.

    Bei der Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag ist der aktuelle Film des mehrfach ausgezeichneten Regisseurs Andrej Swjaginzew (Die Rückkehr, Leviathan) in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ nominiert. Sergej Medwedew hat ihn sich für Republic angesehen – und versteht Neljubow als Diagnose für die gesamte Gesellschaft.

    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube
    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube

    Neljubow ist ein Film von Andrej Swjaginzew über ein verschwundenes Kind. Swjaginzew trifft damit einen wunden Punkt an der Schnittstelle zwischen Politik, Propaganda und kollektivem Trauma.

    Im Prinzip geht es in allen seinen Filmen auf die eine oder andere Art um das Thema verlassene Kinder. Die Rückkehr eines verlorenen Vaters zu seinen allein gelassenen Söhnen endet tragisch, im Film Die Verbannung setzt die Abtreibung eines unerwünschten Kindes eine Serie von Todesfällen in Gang, in Jelena ist der zentrale Konflikt jener zwischen Vater und Tochter, in Leviathan kommt der Sohn der Hauptfigur in eine Pflegefamilie.

    Ungeborene, unerwünschte, verlassene, entrissene Kinder sind ein Schlüsselbild und ein Symbol für den zerfallenden Kosmos, die wachsende Entropie, die moralische Katastrophe, die der Regisseur in jedem seiner Filme zeigt.   

    Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos

    Auch in Neljubow steht im Zentrum des Geschehens ein Kind – beziehungsweise sein Verschwinden. Im Raum des Films entsteht eine Leere, die sich ausbreitet wie ein Erdtrichter, der die Protagonisten und ihre Nächsten verschluckt – die Häuser, das Wohngebiet und den Stadtwald. Die Ästhetik der Abwesenheit – markiert durch die Spuren des verschwundenen Jungen, seine Jacke, die Vermisstenanzeigen, das Rufen der Suchtrupps im leeren Wald – steigert die Spannung, macht aus dem Familiendrama einen Psychothriller, macht die Suche nach dem Kind zu einem Leidensweg, der mehr als einmal an Stalker von Tarkowski erinnert. Die Kamera von Swjaginzews Langzeit-Kameramann Michail Kritschman verleiht einfachen Dingen schonungslose Härte und metaphysische Tiefe. Seine langen Einstellungen und matten Farben verwandeln den Moskauer Schlafbezirk in ein Totenreich, dem nur der erste Schnee vorübergehende Anmut verleiht, ihn für Sekunden in eine Bruegelsche Winterlandschaft verzaubert.

    Einen Gott gibt es hier nicht

    In diesem Raum nimmt die Entropie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik zu: Einen Gott gibt es hier nicht (obwohl es bärtige Männer und ein pseudo-orthodoxes Büro gibt), genau so wenig wie einen Staat – der Polizeibeamte macht den Eltern sofort klar, dass man nicht nach dem Jungen suchen wird. Stattdessen taucht ein freiwilliger Such- und Rettungstrupp auf, ein direktes Zitat von Lisa Alert (die Geschichte der Retter wird insgesamt zu einem eigenen Handlungsstrang und zu dem einzigen Quell von Handlung im ganzen Film).

    Die Familien sind tot und die Schule ohnmächtig: Die Lehrerin wischt hilflos mit dem Lappen über die Tafel, lässt Kreideschlieren zurück, und draußen beginnt es langsam zu schneien. Hier gibt es nicht mal Schuldige: Alle wurden in einen lieblosen Raum hineingeboren und leben darin und reproduzieren ihn sorgfältig als einzige ihnen zugängliche Daseins- und Kommunikationsform.

    Die Leere kommt mit Macht

    Die Apotheose der Leere: ein zerstörter Kulturpalast irgendwo im Wald, der letzte Aufenthaltsort des Jungen. Das undichte Dach, Pfützen auf dem Boden, Scherben der menschlichen Zivilisation – das alles erinnert  wieder an das Zimmer und die Zone in Stalker, die für Tarkowski eine Metapher für die verwaiste, leere Seele waren.  

    Und sogar die geniale Szene im Leichenschauhaus, die in ihrer Vieldeutigkeit und Unentschiedenheit unbedingt Eingang in die Regie-Lehrbücher finden muss, ist rund um die Abwesenheit aufgebaut. Wir sehen weder Sachverhalt noch Ereignis, nur dessen Spiegelung in den Gesichtern und Reaktionen der Protagonisten.

    Doch die allerschrecklichste Leere tut sich im Epilog des Films auf, in den Augen der Protagonistin, die in einem Trainingsanzug von Bosco mit der Aufschrift RUSSIA auf dem Laufband joggt: Die Kamera versinkt gleichsam in diesem abwesenden Blick. Am einfachsten wäre es, sie als Zerrbild von Mütterchen Russland zu verstehen, das ihr eigenes Kind verloren hat und nun in der Loggia einer schicken Wohnung auf dem Laufband auf der Stelle tritt, während ihr neuer Mann geistesabwesend Nachrichten aus dem Donbass mit Dimitri Kisseljow guckt.

    Moralischer Defekt, mitten im Herzstück unserer Existenz

    Aber mit so flachen Metaphern arbeitet Swjaginzew nicht: Er entlarvt nicht, sondern stellt fest, er beschuldigt nicht, sondern stellt eine Diagnose. Er hat einen Film über eine zerbrechende Familie gedreht, und heraus kam ein Film über Russland; Kisseljow und der Donbass in den letzten Einstellungen sind kein politisches Pamphlet wie in Leviathan, sondern der Geist der Zeit, der auf dem Fernsehschirm zum Bild erstarrt ist.  

    Geht es bei Boris Godunow letztendlich um einen getöteten Jungen oder um die russische Staatsmacht? Genau so ist es bei Neljubow: Der Film deckt einen moralischen Defekt auf, einen im Stich gelassenen Jungen, mitten im Herzstück unserer Existenz. Die politischen Umstände sind jeweils nur einzelne Folgen dieser umfassenden ethischen Katastrophe.

    Das  Mistkerl-Gesetz

    Von zentraler Bedeutung ist, dass die Zeit der Handlung im Film deutlich markiert ist: Dezember 2012 (im Radio diskutiert man das Ende der Welt laut Maya-Kalender), kurz vor Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes, das den Spitznamen Mistkerl-Gesetz erhielt und das Dutzende kranke russische Waisenkinder, deren Adoption ins Ausland bereits kurz bevorstand, zu einem Leben im Heim, zu Krankheit und manche auch zum Tod verurteilte. Gerade in diesem Moment, der die herrschende Klasse mit dem Blut von Kindern verquickte, begann der endgültige moralische Verfall der Machthaber bei lähmender Gleichgültigkeit der Bevölkerung.

    Der Film endet 2015, im Jahr der Normalisierung, als der Schock der Krim und der Boeing vorbei war und Russland sich mit den Sanktionen abgefunden und eingesehen hat: Dieser Zustand von Regierung und Gesellschaft ist ernst und wird länger dauern. Swjaginzew dreht einen Film über eine Familie, aber die Handlung vollzieht sich unter den Bedingungen eines nie dagewesenen moralischen Verfalls.

    Und das Hauptproblem sind hier nicht Putin und Kisseljow, nicht die Krim und der Donbass und nicht mal die Korruption und Ausbeutung – das alles sind Symptome einer Krankheit, während der Regisseur von der Krankheit selbst spricht: Von einer Gesellschaft, die in Lüge, Zynismus und Misstrauen feststeckt, die die Hoffnung auf Zukunft und Veränderung verloren hat. Putin und Kisseljow gießen diese Lüge nur in die Formen von Politik und Medien, exportieren sie in die Außenwelt. 

    In der moralischen Sackgasse

    Es war absolut kein Zufall, dass 2016 im öffentlichen Diskurs Russlands das Thema Ethik aufkam: die Aktion #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: „Ich habe keine Angst, es zu sagen“), der Skandal um die Schule Nr. 57, Diskussionen über häusliche Gewalt und Folter in Gefängnissen, Debatten über das historische Gedenken und die Verantwortlichkeit von Stalins Henkern (Der Fall Karagodin). Der reflektierende Teil der Gesellschaft beginnt, sich der moralischen Sackgasse bewusst zu werden, in die wir alle geraten sind, und jenes konspirativen Schweigens, das die Probleme Gewalt, Demütigung und Trauma umgibt.

    Das sind genau die Fragen, von denen Swjaginzew seit vielen Jahren spricht, mitsamt dem Problem der Stummheit, des Abreißens der Kommunikation. Unter Bedingungen, in denen es weder einen Staat mit Sozialpolitik gibt noch eine sozial verantwortliche und nahe am Menschen stehende Kirche noch eine Kultur des öffentlichen Dialogs zu Themen rund um Familie, Kindheit, Geschlechterrollen, stellen seine Filme genau die fundamentalen moralischen Fragen, über die wir lieber schweigen – oder die wir an zynische Populisten wie Milonow und Misulina verpachten. Wenn man darüber nachdenkt, ist Andrej Swjaginzew heute in Russland eigentlich der, der sich am meisten mit Klammern befasst – mit echten, nicht mit solchen, die die Propaganda sich ausdenkt, doch die Staatsmacht würde ihm diese Rolle niemals zugestehen, sondern schränkt lieber den Verleih ein und verteufelt den Film in der Presse, so wie es auch bei Leviathan war.

    Eines der durchgehenden Motive in Neljubow ist ein Absperrband. Ganz zu Beginn des Films findet es der Junge im Wald, bindet es an einen Stock und wirft es auf einen Baum. Jahre vergehen, neue Kinder werden geboren, doch das Band ist immer noch dort. Swjaginzew hat unsere Gesellschaft mit diesem Band quasi abgegrenzt, hat damit den Umkreis der humanistischen Katastrophe und des moralischen Sumpfes, in dem wir versinken, abgesteckt.

    So wie Puschkins „blutender Knabe“ kündet sein verschwundenes Kind von dem fundamentalen Verbrechen, das unserem vermeintlichen Wohlstand zugrunde liegt, von Dingen, die wir vergeblich zu vergessen versuchen. Das macht seine Filme so schonungslos, so unbequem und so absolut sehenswert.   

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  • Sergej Eisenstein

    Sergej Eisenstein

    Sergej Eisenstein (1898–1948) wird oft der Leonardo da Vinci des 20. Jahrhunderts genannt – der Filmregisseur, der ein brillanter Zeichner, Kostüm- und Bühnenbildner, zugleich Schriftsteller und Theoretiker war.1

    Sein Leben ist fast eine Metapher für das Schicksal eines Künstlers im 20. Jahrhundert – mit allen Wendungen, Verführungen und Konflikten: zwischen dem großbürgerlichen Elternhaus und dem existentiellen Modell eines Avantgardekünstlers; zwischen dem Avantgardisten und dem proletarischen Publikum, in dessen Namen er zu sprechen glaubt und das ihm nicht folgen kann.

    Als sowjetischer Linker traf er auf die westeuropäische Bohème und die Maschine Hollywood. In Mexiko drehte er einen Film, den man heute indie nennen würde, finanziert von Upton Sinclair und einigen kalifornischen Millionären, die anonym bleiben wollen. Er hätte im Exil bleiben oder – wie seine Freunde Isaak Babel und Wsewolod Meyerhold – durch ein Sondergericht zur Erschießung verurteilt werden können. Er lernte jedoch, unter Stalin zu leben und mit ihm – zwischen Verboten, Verlockungen, Erpressung, Angst und Anpassung.

    Stalinist? Opportunist? Dissident? – Der schillernde Regisseur Sergej Eisenstein gibt bis heute viele Rätsel auf
    Stalinist? Opportunist? Dissident? – Der schillernde Regisseur Sergej Eisenstein gibt bis heute viele Rätsel auf

    Die Rezeption dieses zum Klassiker gewordenen Umstürzlers war keineswegs eindeutig. Zu Zeiten der Wiederentdeckung sowjetischer Avantgardekunst wird Eisenstein im Westen von der Generation der 1968er als linker Künstler gefeiert. In seiner Heimat dagegen erblickt die gleiche Generation – nach dem XX. Parteitag – in ihm einen Konformisten. Eisenstein habe, genauso wie die Futuristen in Italien, den Faschismus gefeiert und gestützt, er habe der Stalinzeit ein pathetisches und daher fragwürdiges Monument gesetzt – eine Meinung, die Alexander Solschenizyn einem seiner Protagonisten in den Mund legt. Russische Intellektuelle von heute interpretieren die oft deklarierte Absicht Eisensteins, das Bewusstsein mittels Kunst beeinflussen zu wollen und deren Wirkung zu programmieren, als eine totalitäre Poetik: Die Kunst habe die Gewalt des Staates genährt.

    Biographie als Erziehungsroman

    Eisensteins Biographie lässt sich bequem in einem soliden Roman unterbringen. Eine bürgerliche Familie zerbricht an der Tyrannei des Vaters und den neurotischen Liebesabenteuern der Mutter. Der Weg des einzigen Sohnes (geb. 10. (22.) Januar 1898 in Riga) steht schon vor der Geburt fest: Er soll – wie der Vater – Architekt werden. Die Revolution 1917 kommt dazwischen, bringt seinen Vater um den Generalsrang und seine Mutter um das Vermögen, ihm gibt sie die Freiheit, selbst zu bestimmen – entgegen der Erwartung von papa, den die Revolution ins Exil treibt. So empfindet sie der Sohn als seine persönliche Befreiung und wird Regisseur.

    Mit 27 wird er mit seinem zweiten Film Der Panzerkreuzer Potemkin (1925) als Revolutionskünstler weltberühmt. In Oktober oder 10 Tage, die die Welt erschütterten stellt er die Oktoberrevolution nach – beeindruckender, als sie war. Nachdem er mit seinen experimentellen Drehbüchern in Hollywood scheitert, lässt er sich auf ein Abenteuer ein – einen Film in Mexiko zu drehen, den er allerdings nicht beendet. Er wird von Stalin zurückgerufen, und doch kann er fünf Jahre lang keinen Film machen. Zwei seiner Filme werden verboten, zwei mit Preisen, Orden und hohen Honoraren belohnt. Er stirbt mit 50 in Moskau als gefeierter, doch verbotener Akademiker.

    Eisenstein wollte all seinen Biographen zuvorkommen. Bereits 1927 beschloss er, unter dem Eindruck von Freuds Essay über Leonardo da Vinci, eine psychoanalytische Studie über sich selbst zu schreiben; er nannte sie My Art in Life. In den erst Jahre später (1943) begonnenen autobiographischen Aufzeichnungen2 verwandelte er sich in eine literarische Figur aus einem alten Erziehungsroman, welchen er allerdings in der neuen Stilistik des „automatischen Schreibens“ verfasste.

    War er ein Homosexueller? Ein Stalinist? Opportunist? Dissident? Darauf gibt Eisenstein in seinen Biographien keine Antwort. So ist es auch kein Wunder, dass in den letzten Jahren weniger Eisensteins Filme oder Schriften das Interesse für ihn anheizten, sondern die Figur des Künstlers selbst. Ihn haben sowohl die Kämpfer gegen den Totalitarismus als auch LGBT-Aktivisten oder Hüter der jüdischen Kultur, zu er sich nicht zählte, für sich vereinnahmt. Es ist ebenso kein Wunder, dass es mehrere Versuche gab, das Leben Eisensteins zu „verfilmen“. Selten jedoch wurde er zu einer tragischen oder pathetischen Figur gemacht, eher zum Helden eines Melodramas mit Slapstickeinlagen.3

    Körperlichkeit und Bisexualität

    All diese Versuche, Eisenstein in eine Fiktion zu pressen, geraten – unverdient – traditionell, wie auch die Darstellung seiner Körperlichkeit, die für den realen Eisenstein eine andere Dimension hatte. Die Theorie war in seinem Verständnis durch und durch körperlich bestimmt – als Erlebnis von Bisexualität, die für ihn eine Voraussetzung für dialektisches Denken war: „Überhaupt ist ein Genie ein Mensch, der die dialektische Entwicklung des Universums fühlt, der sich in sie einfügen kann. Bisexualität als eine physiologische Voraussetzung muss bei allen creative dialectics vorhanden sein.“4

    Während Eisenstein diese Gedanken in seinem mexikanischen Tagebuch notiert, schreibt er auch einen Brief an Magnus Hirschfeld und fragt ihn nach Belegen für Hegels Bisexualität.5 Das war exakt der Rahmen, in dem er sich sah. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.6

    Vor seiner Sexualität hatte er Angst. Er verdrängte sie in erotischen Zeichnungen und Scherzen, aber auch in seinen Filmen, die er allerdings nicht als Sublimierung der Erotik, sondern des eigenen Sadismus verstand. Er sah sich als ein Kind, dessen Brutalität durch emotionale Unreife und sexuelle Verklemmtheit entstand. In seiner Kunst – sie war für ihn die einzige Realität und Notwendigkeit – traf er die wunden Punkte des Jahrhunderts: Gewalt und Massenmord, die Erotik der Masse und der von ihr eroberte Raum, Zersplitterung der Wahrnehmung und Sehnsucht nach verlorener Totalität.

    Terror, Revolution und Massaker an den Massen

    Eisenstein verstand Film als eine Form der Gewaltausübung über den Zuschauer. Nicht nur hinsichtlich des direkten Zeigens von kalkulierten Schockmomenten mit Blut. Von seinen leidenschaftlichen, brutalen, exzentrischen, sensiblen, propagandistischen, experimentellen Filmen waren Douglas Fairbanks und Antonin Artaud, Chaplin und Le Corbusier, die Dadaisten, Psychoanalytiker und Berufsrevolutionäre begeistert. Diese Filme machten Terror, Revolution, die Massaker an den Massen zum Sujet des neuen russischen Films.

    Nach der Premiere von Panzerkreuzer Potemkin in Berlin wurde der russische Montagefilm zu einer Mode in Europa und Eisenstein zu seinem berühmtesten Vertreter, zum Theoretiker der neuen Expressivität. Dieser Film transportierte ein neues Filmverständnis, ein anderes Russlandbild und einen anderen Heldentyp. Die Revolution war mit Gewalt verbunden. Mit dieser Gewalt – Pogrom, Zerstörung, Aufstand und Massenvernichtung – setzten sich Eisensteins Filme auseinander. Dabei atmeten ihre apokalyptischen Bilder eine Euphorie des Neuanfangs, und diese wirkte ansteckend. Die neue Ästhetik verblüffte, ihre hypnotische Wirkung konnte nicht gleich eingeordnet werden.

    Zwei kennzeichnende Züge

    Im Westen gab es unterschiedliche Interpretationsversuche. Die Eigenart des neuen „Russenfilms“ erklärte der Kritiker Alfred Kerr aus Gegensätzen, die in der nationalen Mentalität verankert seien und diese würde durch die geopolitische Grenzlage Russlands – zwischen Europa und Asien, zwischen Zivilisation und Barbarei – bestimmt. „Zwei kennzeichnende Züge hat angeblich der Russe. Erstens: er ist weich; fühlsam. Zweitens: er ist radikal. Es ließe sich dilettantisch-dogmatisch äußern: erstens – ein Slawe; zweitens – ein Tatar. […] Also diese zwei Gegensätze (das Einfühlsame, zweitens das Radikale) sind hier verschmolzen.“7 Die besondere Montagetechnik des Panzerkreuzers Potemkin, die mit der Konfrontation gegensätzlicher Bilder arbeitete, wurde deshalb als eine „russische“ bezeichnet.

    Eisenstein jedoch nannte sie nicht russisch, sondern dialektisch. Oskar A. H. Schmitz maß den Film an bürgerlichen Romanen und sprach ihm künstlerische Qualitäten ab, da hier das Individuelle total fehle. Wogegen Walter Benjamin in seiner Erwiderung den überraschendsten und treffendsten Vergleich mit dem amerikanischen Slapstick, dem „Groteskfilm“, anbot: Dieser habe genauso wie Potemkin eine neue Formel gefunden, die den Fortschritt der Kunst markiere – im Gleichschritt mit der Revolution der Technik.8

    Die Bewusstwerdung dieser Tatsache und der von Eisenstein reflektierte Zusammenhang zwischen Raum und kollektivem Schicksal, wie er für das 20. Jahrhundert bestimmend wurde, hoben den Film heraus aus dem alten Verständnis, was Kunst war, was Film konnte und was die „russische Seele“ ausmachte. Die Montage intensivierte nicht nur die Bewegung, sie entblößte den Mechanismus des Wirkens der sozialen Maschine.

    Damit entwickelte sich Film zu jenem Medium, über das eine Totalität der Sicht auf die Entwicklung der Gesellschaft und der Geschichte erreicht werden konnte. Diese Entdeckung war nicht nur für das neue russische Kino wichtig. Allerdings mit einer Korrektur. Die Gewalt wanderte ins Genrekino ab, wurde ästhetisiert und von der Historie getrennt: Film war ein aggressives Aufputschmittel, doch, anders als bei Eisenstein, von jeder Dialektik befreit.


    1. Sergei Eisenstein: My Art in Life – ein Projekt des Google Cultural Institute (Arts & Culture) ↩︎
    2. Klejman, Naum/Korschunowa, Walentina (1984): Eisenstein, Sergej : Yo – Ich, Band 1-2, Berlin ↩︎
    3. Darin ähnelte sich der Ansatz des russischen Regisseurs Gennadi Poloka (Die Rückkehr des Panzerkreuzers, 1996) und dem des kanadischen Regisseurs Renny Bartlett (Eisenstein, 2000). Auch Peter Greenaway verfiel in Muster des herzzerreißenden Melodramas über Liebe und Pflicht (Eisenstein in Guanajuato, 2015), in dessen Zentrum Eisensteins ‚Entjungferung‘ in Mexiko steht. Daraus ist das kitschige Werk eines älteren Mannes geworden, auch wenn der Film mit seiner popartigen Stilistik wie eine Anbiederung beim jüngeren Publikum wirkt. Zu aufwühlender Musik verlässt Eisenstein mit Tränen in den Augen Mexiko und gibt seinen verführerischen mexikanischen Liebhaber dessen Frau und Kindern großzügig zurück, was wenig mit Eisensteins Biografie zu tun hat; dieser ging nach Moskau, weil Stalin ihn zurückbeorderte oder sonst verstoßen hätte. ↩︎
    4. Russisches Archiv für Literatur und Kunst: Tagebuch, 10. März – 22. August 1931, Blatt 138-139 ↩︎
    5. Bulgakowa, Oksana (1998): Eisenstein und Deutschland, Berlin, S. 96-97 ↩︎
    6. In diesem Kontext ist die Arbeit von Alexander Kluge Nachrichten aus der ideologischen Antike: Marx – Eisenstein – Das Kapital (2008), der sich von Eisensteins Idee, [gnose-6407]Karl Marx‘[/gnose] Kapital zu verfilmen, inspirieren ließ, als Versuch einer heroischen Rehabilitation des intellektuellen Elements in Eisenstein gegenüber dem körperlichen zu sehen. ↩︎
    7. Kerr, Alfred (1927): Der Russenfilm, Berlin, S. 14 ↩︎
    8. Mierau, Fritz (1990): Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film 1918-1933, Leipzig, S. 515-524 ↩︎

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    Brilljantowaja Ruka (dt. Brillantenarm) aus dem Jahr 1969 war der größte Kassenschlager in der Kinogeschichte der Sowjetunion. Regisseur Leonid Gaidai war ohnehin ein Garant für kommerziellen Erfolg. Bei der kulturpolitischen Elite war er zwar eher gering geschätzt, galt sein Komödienfach doch zuweilen als flach und außerdem wenig geeignet, den neuen Sowjetmenschen zu formen.1 Doch er zog die Massen ins Kino, bei Brilljantowaja Ruka in eine Krimikomödie rund um einen Familienvater, der die Polizei auf die Spuren einer Schmugglerbande bringen soll.

    Gaidais Filme, die man heute wohl eher Blockbuster nennen würde, hatten ihren künstlerischen Ursprung in der exzentrischen Komödie der 1920er Jahre und verlieren bis heute nicht an Popularität.

    Im Kanon der Filmklassiker, die im heutigen Russland an Feiertagen wie dem Neujahrsfest im Fernsehen gezeigt werden, ist Brilljantowaja Ruka fest verankert. Eine Mehrheit der russischen Fernsehzuschauer wählte ihn bei einer Umfrage des Kanals RTR im Jahr 1995 gar zur besten Komödie, die jemals gedreht wurde.2 Damit hielt er auch gegen Hollywood stand.


    So einiges brachte Leonid Gaidai in Brilljantowaja Ruka wohl nur deshalb durch die sowjetische Zensur, weil die Zuständigen alle Hände voll damit zu tun hatten, eine Atombombenexplosion im Filmfinale zu verbieten. Diese Szene soll der Regisseur nicht ohne Kalkül hinzugefügt haben.3 Gaidais Komödien, ein zartes Amalgam aus Slapstick, grobmotorischem Klamauk und eingeschriebener Gesellschaftssatire, wurden nie ohne Veränderungen freigegeben. So auch diese nicht. Eine Auflage war, die Rolle der Polizei aktiver zu gestalten bei der Lösung des Kriminalfalls. Dieser dreht sich um den Familienvater und Wirtschaftsfachmann Semjon Semjonowitsch, der in einen Schmugglerring verwickelt wird und bis zur Ergreifung der Bande als Lockvogel dienen soll.

    Es beginnt schon mit einem Ungeschick: Die Sonne brennt, und Semjonowitsch irrt bei seiner ersten Auslandsreise durch die Straßen von Istanbul, bis er auf einer Melonenschale ausrutscht und deshalb von einer Verbrecherbande für den gesandten Kurier gehalten wird. Ehe er sichs versieht, wird ihm der Arm eingegipst und darin wertvoller Schmuck versteckt. „Ich bin kein Feigling, aber ich habe Angst“, sagt er nach der Rückkehr in die Sowjetunion, als er im Schutz der Dunkelheit neben seinem von nun an wichtigsten Vertrauten sitzt, dem Polizisten Michail Iwanowitsch. Seine Worte verraten bereits früh, dass wir es hier nicht mit einem heldenhaften Sowjetmenschen zu tun haben, sondern mit einem ehrlichen Kleinbürger aus einer Küstenstadt, noch dazu mit einem Tollpatsch, der seine Mission mit mehr Glück als Verstand überstehen wird.

    Die exzentrische Komödie

    Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik – den Slapstick. Dabei greift er mit der exzentrischen Komödie auf ein typisches sowjetisches Genre zurück, das maßgeblich in den 1920er Jahren von der Künstlerwerkstatt FEKS mit ihrem absurd-anekdotischen Stil geprägt wurde. Sowohl diese Anfänge wie auch die Renaissance des Genres waren eng mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verwoben: Waren die 1920er Jahre eine Zeit „großer Veränderungen und Erwartungen […] eine Zeit, die im Vorgenuss der schönen neuen Welt schwelgte“; so herrschte im Tauwetter der 1950er und 1960er Jahre mit seinen inhärenten Freiheiten eine ähnliche Aufbruchstimmung.4

    Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik / Foto © Mosfilm
    Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik / Foto © Mosfilm

    Jedoch konnte sich die exzentrische Komödie schon in ihren Anfängen nicht in den strengen Kanon des Sozialistischen Realismus einschreiben, weil sie zu wenig ideologisch war, keine geschliffenen Helden ins Zentrum rückte und sich mit ihren Anleihen beim Zirkus oder der Pantomime5 auf den Pfad zum Unterhaltungsfilm begab. Wie die Begründer dieses Genres Jahrzehnte zuvor, orientierte sich Gaidai schließlich mit Beginn der sogenannten Stagnationszeit stärker an literarischen Vorlagen6. Hatte die Kritik bis dahin nicht viel für ihn übrig, versuchte er, sein Kino auf diese Weise an höher angesehene Kunstformen heranzuführen.7

    Slapstick-Gags eines begnadeten Clowns

    Für Viktor Schklowski, einen Formalisten mit Nähe zur FEKS, diente das Sujet in der exzentrischen Komödie lediglich als Aufhänger für „Gags, künstlerische Verfahren und Attraktionen“. Dies gilt insofern auch für Brilljantowaja Ruka, als dass die Diamanteneinfuhr in die Sowjetunion gar nicht illegal war. Das hatte sich zwar erst während der Dreharbeiten richtig herausgestellt, dennoch wurde die Story deswegen nicht abgeändert. Die absurde Triebfeder für die Handlung entsprach vielmehr dem filmischen Prinzip, das US-Kollege Alfred Hitchcock auch fürs Thriller-Fach gern praktizierte: über eine herbeigeraunte Finte zu suggerieren, es ginge um etwas ganz Großes. Das ermöglicht, die Handlung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren Erklärung bedarf.8

    Selbst die Bösen erscheinen hier beinahe liebenswert / Foto © Mosfilm
    Selbst die Bösen erscheinen hier beinahe liebenswert / Foto © Mosfilm

    Bei den Gags und Attraktionen bediente sich Gaidai aus dem klassischen, manchmal beinahe „abgedroschenen“ Repertoire des Slapstick: Jedes Mal charmant, wenn Publikumsliebling Juri Nikulin, von Hause aus ein begnadeter Zirkusclown, in der Rolle des Semjon Semjonowitsch vor seinem eigenen Schatten erschrickt, Eiscreme ins Gesicht bekommt oder beim Fotografieren vergisst, die Klappe vom Objektiv zu entfernen. 

    Die Gegenspieler reihen sich nahtlos ein: Schurke Ljolik, der mit unglücklichem Händchen als Mittelsmann und Helfer fungiert, sowie Schönling Goscha, der ursprünglich angedachte Kurier für die Istanbuler Schmuggelaktion, der zum Sparringspartner aller Beteiligten avanciert, so sehr leidet er unter querschlagenden Armen, Angeln und Auspuffanlagen. So scheinen selbst die Bösen hier beinahe liebenswert und Semjon Semjonowitsch ist so wenig Held, dass selbst die Polizei es vorzieht, ihm keine echte Waffe zu überlassen.

    Satire mit Cowboylook und 007

    Als der Film 1969 seine Premiere hatte, war der Prager Frühling bereits Geschichte und das Tauwetter abgeklungen. Unter Leonid Breshnew machte sich Stillstand breit. Hinter dem scheinbar harmlosen Brilljantowaja Ruka steckte nichtsdestotrotz eine Satire auf die kleinbürgerliche sowjetische Gesellschaft. Im echten Leben zog es viele Menschen vom Land in die Stadt, zudem trat bescheidener Wohlstand ein.9 Vor diesem Hintergrund persiflierte Gaidai liebevoll die Konsumwünsche und Sehnsüchte der Menschen inmitten des sowjetischen Alltags. Da ist die Hausbesorgerin, die sich als treue Kommunistin inszeniert, Fehlverhalten an den Pranger stellt und doch zu gern auf mitgebrachte Souvenirs aus dem Ausland schielt. Immerhin hat Semjon Semjonowitsch, Inbegriff des Durchschnittsbürgers, geschafft, wovon andere insgeheim oder offen nur träumen konnten: Er war im Ausland, es durfte gleich eine Kreuzfahrt sein. 

    Geschafft, wovon andere nur träumen konnten – Semjon Semjonowitsch war im Ausland / Foto © Mosfilm
    Geschafft, wovon andere nur träumen konnten – Semjon Semjonowitsch war im Ausland / Foto © Mosfilm

    Stolz geht die Familie nach seiner Rückkehr an der Uferpromenade spazieren, mit dem Sohn im Cowboy-Kostüm und der Tochter im Minikleid mit Eiffelturm-Aufdruck. Ein Hauch von Coca Cola und New York schwingt ebenfalls mit, auch wenn Semjon Semjonowitsch nur in Istanbul war. Die Träume und Ziele der Sowjetbürger sind hier also nicht ideologischer, sondern materieller Natur, oder wie Semjon Semjonowitschs Frau anmerkt: „Der Pelz kann warten“ (russ. „Schuba podoshdjot“), wichtiger sei es, die Welt zu sehen. 

    Gaidai balanciert seine überzeichneten Figuren durch Gesangseinlagen, Traumsequenzen und Verfolgungsjagden, die das Tempo der Narration dirigieren und genügend Raum für ausdrucksstarke Mimik und Gestik lassen. Nicht zuletzt erfährt der Agententhriller aus dem Westen seine Referenz, wenn der Bösewicht, ganz im Stil der James-Bond-Reihe, mit (hier schwarzer) Katze auftritt, als Zigarettenschachteln getarnte Funkgeräte platziert werden und eine verführerische Blondine ins Spiel kommt, die es überraschend mit dem ersten Striptease auf sowjetischer Kinoleinwand an der Zensur vorbei geschafft hat10

    Champagner nur für Aristokraten und Degenerierte

    Vielleicht gerade weil dieser Film durch seine künstlerischen Verfahren die Grotesken des Alltags freilegt, verzeichnete Brilljantowaja Ruka nicht nur mit 76,7 Millionen Zuschauern11 die höchste Besucherzahl der Sowjetgeschichte – schon mit den beiden Vorläufer-Komödien Operazija Y i drugije Prikljutschenija Schurika (dt. Operation Y und andere Abenteuer Schuriks, 1965) und Kawkaskaja Plenniza (dt. Die Gefangene aus dem Kaukasus, 1967) brach Gaidai Rekorde – sondern prägte auch in hohem Maße die Alltagssprache. Der tadelnde Seitenhieb der Hausbesorgerin etwa, als sie Verdacht schöpft, Semjonowitsch müsse ein zusätzliches, illegales Einkommen beziehen, fällt auch heute manchmal, wenn etwas seltsam erscheint: „Die Unseren fahren nicht mit dem Taxi zum Bäcker.“ Mit der Phrase „Haben Sie diese auch mit Perlmuttknöpfen?“ lassen sich mit einem Augenzwinkern lästige Sonderwünsche ankündigen. Ein Klassiker bei Alkohol am frühen Morgen bleibt Ljoliks Ausspruch „Champagner am Vormittag trinken nur Aristokraten und Degenerierte“, als sich Goscha nach einem Besäufnis mit Semjon Semjonowitsch, kaum erwacht, erneut die Champagnerflasche an den Mund führt.

    Nicht nur mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik werden die Grotesken des Alltags freigelegt / Foto © Mosfilm
    Nicht nur mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik werden die Grotesken des Alltags freigelegt / Foto © Mosfilm

    Es ist der Film, aus dem laut Umfragen des Russischen Instituts für Kunstwissenschaft die meisten geflügelten Worte in den Sprachgebrauch übergegangen sind12 – noch mehr als aus Ironija Sudby, ebenso wie Brilljantowaja Ruka ein absoluter Klassiker im Fernsehprogramm rund ums Neujahrsfest, aber gedreht vom zweiten großen Komödienregisseur Eldar Rjasanow. 

    Text: Anna Ladinig
    Veröffentlicht am 27.12.2017


    1.vgl. Prokhorova, Elena (2016): The Man Who Made Them Laugh: Leonid Gaidai, The King of Soviet Comedy, in: Beumers, Birgit (Hrsg.):  A Companion to Russian Cinema, Chichester, S. 519f.
    2.ebd.
    3.Cymbal, Evgenij  (2003): Ot smešnogo do velikogo: Vospominanija o Leonide Gajdae, in: Iskusstvo kino, 2003, Nr. 10
    4.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie – ein Stiefkind der sowjetischen Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben: Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 21
    5.ebd., S. 19
    6.Dazu gehören unter anderem Dvenadcat’ stul’ev (1971, nach Il’ja Il’fs und Evgenij Petrovs gleichnamigem Roman), Ivan Vasil’evič menjaet professiju (1973, nach dem Theaterstück Ivan Vasil’evič von Michail Bulgakov) oder Ne možet byt’ (1975, nach Michail Zoščenko). Zu Verschiebungen im Schaffen von Gajdaj ab den 1970er Jahren vgl. Prokhorova, Elena (2016): The Man Who Made Them Laugh: Leonid Gaidai, The King of Soviet Comedy, in: Beumers, Birgit (Hrsg.): A Companion to Russian Cinema, Chichester, West Sussex; Malden, S. 537f.
    7.Bulgakova, Oksana (1999): Der neue Konservatismus, in: Engel, Christine (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, S. 216
    8.vgl. Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie – ein Stiefkind der sowjetischen Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 24. Alfred Hitchcock hat einen solch sinnlosen Aufhänger  für die Handlung „MacGuffin“ getauft, was als Begriff auch Eingang in die Filmkritik fand: „Aber das wichtigste, was ich im Lauf der Jahre gelernt habe, ist, daß der MacGuffin überhaupt nichts ist. (…) Mein bester MacGuffin – darunter verstehe ich: der leerste, nichtigste, lächerlichste – ist der von North by Northwest.“, in: Truffaut, François (2003): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München, S. 127
    9.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 21
    10.Kommersant Weekend: Zakadrovaja politika 
    11.Bulgakova, Oksana (1999): Der neue Konservatismus, in: Engel, Christine (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, S. 216
    12.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck,  S. 23

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  • Kino #11: Das Asthenische Syndrom

    Kino #11: Das Asthenische Syndrom

    Das asthenische Syndrom ist eine Krankheit. Der gleichnamige Film von Kira Muratowa aber ist eine Diagnose, eine katastrophale Diagnose, die Muratowa der späten Sowjetgesellschaft stellt. Der Film aus dem Jahr 1989 wurde zum letzten verbotenen Film in der UdSSR.

    Der Stein des Anstoßes war in erster Linie eine Szene, in der eine Frau im Metro-Waggon nachdenklich über einen Streit monologisiert. Dabei benutzt die elegante Frau die drastischsten Flüche, die das Russische kennt.1 In der U-Bahn fragt sich die Frau nun, warum das eigentlich alles? Alles sei doch so schön.
    Die Sprache des Mat war vorher noch nie auf der Leinwand zu hören gewesen, dennoch kann man davon ausgehen, dass der Zensurbehörde der Film als Ganzes unheimlich war.

    Die Handlung im Asthenischen Syndrom ist von Beziehungslosigkeit, wenn nicht von Brutalität im Umgang miteinander geprägt. Immer wieder mischen sich clownesque Momente unter die Beschimpfungen und Grobheiten und lassen den Sinnverlust noch absoluter erscheinen. Ende der 1980er Jahre war die sowjetische Gesellschaft weitgehend atomisiert, und im öffentlichen Raum herrschte eine feindselige Umgangsart. Die offene Gewalt, die wir im Film auch zu sehen bekommen, wird erst mit den 1990er Jahren Realität. Muratowa selbst sagte einmal über Das asthenische Syndrom, der Film sei ein Portrait des Zustandes der Menschheit.2 Und doch ist der Film, der mehrere dokumentarische Szenen enthält, auch Spiegelbild seines spezifischen Entstehungskontextes. Muratowa liefert mit dem Epos ihre brachiale Antwort auf die zerfallene Gesellschaft der späten Sowjetunion.

    Eine Kopie des Films konnte aus dem Land geschmuggelt werden und der Film erlebte im Jahr 1990 seine Premiere auf der Berlinale. Dort wurde er mit einem Silbernen Bären, dem großen Preis der Jury, ausgezeichnet. In der Sowjetunion wurden Muratowa umso mehr Vorwürfe gemacht. Nach langen Diskussionen und Verhandlungen durfte der Film schließlich sechs Monate später in den eingeschränkten Vertrieb aufgenommen werden. Das bedeutete, dass Vorführungen auf kleine Kino-Clubs beschränkt waren und sie eingebettet sein sollten in Vorträge von Soziologen oder Filmkritikern.3 1991 dann bekam der Film den Nika zugesprochen.

    Individuelles Leid als Leiden der Gesellschaft

    Collage-Sequenzen, spektakelhafte Szenen und exaltierte Figuren / Fotos © Odesskaja Kinostudija
    Collage-Sequenzen, spektakelhafte Szenen und exaltierte Figuren / Fotos © Odesskaja Kinostudija

    Für Das asthenische Syndrom kombiniert Muratowa zwei Drehbücher zu einem Film. Der erste, schwarzweiß gedrehte Teil des Films zeigt eine Frau, Natalja, nach dem Tod ihres Ehemanns. Dem Schmerz über den Verlust begegnet Natalja mit Ausbrüchen verbaler und körperlicher Gewalt. Die Ärztin beschimpft Freunde, Kollegen und greift mehrfach Passanten auf der Straße an. Sie nimmt sich einen Betrunkenen mit nach Hause ins Bett, nur um die ausgemergelte nackte Gestalt kurz darauf laut schreiend aus ihrer Wohnung zu jagen.

    Der Hauptteil des Films, in Farbe, zeigt lose Episoden um den Lehrer Nikolaj. Dieser begegnet uns zum ersten Mal im Kinosaal, in dem der Film über Natalja als Film im Film, vorgeführt worden ist. Ein Moderator und die Darstellerin von Natalja versuchen ein Publikumsgespräch zu führen. Die Zuschauer, so der Moderator, hätten jetzt die Möglichkeit sich mit dem „echten Kino” auseinanderzusetzen, von Regisseuren wie „German, Sokurow, Muratowa”. Doch das Publikum drängt ungeduldig nach draußen, wobei es zu Handgreiflichkeiten unter den Zuschauern kommt. Nataljas individuelles Leid und ihre Aggressionen werden im zweiten Teil des Films auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Als Bindeglied dient der Affekt. Es ist, als würde Muratowa uns sagen wollen: Das menschliche Leben ist eine Tragödie und das zeigt sich bereits darin, dass es schreckliche Unglücke wie den Tod gibt.

    „Warum das eigentlich alles? Alles ist doch so schön."
    „Warum das eigentlich alles? Alles ist doch so schön.“

    Das asthenische Syndrom ist der bis dahin unkonventionellste Film Muratowas. Auch wenn Muratowa schon in ihren vorangegangenen Filmen zunehmend die Handlung fragmentiert und das Verhalten ihrer Figuren verkünstelt, so wird eine durchgängige Geschichte nun komplett aufgekündigt. Anstelle von Verdichtung, Entwicklung und einem Spannungsbogen steht eine Art epischer Realismus. Dieser wird von dokumentarischen Einsprengseln unterstützt. Darunter eine erschütternde Szene verwaister Hunde in einem Hundezwinger, die Schimpftirade einer Frau über die Wohnungsnot, und der wahnsinnige Monolog eines Insassen der Irrenanstalt.4 Dabei baut die Struktur des Films oftmals auf einer Montage von kontrastierenden Erregungen oder Affekten auf. Das Fehlen dramaturgischer Bögen und ursächlicher Zusammenhänge spiegelt die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Zusammenhalts wider.

    Kann Kunst die Welt retten?

    Während sich die meisten Figuren anschreien und prügeln, leidet die Hauptfigur Nikolaj unter dem asthenischen Syndrom: chronischer Schwäche und Müdigkeit. Die scheinen ihn immer dann zu befallen, wenn die Umstände ihn überfordern – was oft der Fall ist. Das gesamte Umfeld Nikolajs scheint dem Wahn verfallen, und als Nikolaj in einer der letzten Szenen in der Irrenanstalt landet, lässt sich kein wesentlicher Unterschied zwischen den Insassen und den Menschen draußen registrieren.

    Dass auch die Kunst nicht in der Lage ist, die Menschheit zum Besseren zu erziehen, lässt uns Muratowa gleich mehrfach wissen. Über der Kinoleinwand am Beginn des zweiten Teils hängt ein Spruchband mit dem legendären Lenin-Zitat „Von allen Kunstformen ist das Kino für uns die wichtigste“. In krassem Kontrast zu dem Stellenwert, den der Film für die Bolschewiki hatte, beschweren sich die ins Foyer strömenden Zuschauer über das anstrengende Kunstkino: „Amüsieren will ich mich”, sagt ein dicker Mann zu seiner verträumt blickenden Ehefrau.

     Ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen Muratowas Filme
    Ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen Muratowas Filme

    Muratowa war die bedeutendste weibliche Regisseurin der Sowjetunion. Nach Abschluss der Moskauer Filmhochschule WGIK realisiert die 1934 in Bessarabien geborene Muratowa ihre Filme fast ausnahmslos am Odessaer Filmstudio in der Ukraine. Ihr Werk nimmt seinen Anfang in den 1960er Jahren, als das liberale Tauwetter gerade zu Ende geht. Fortwährende Probleme mit der Zensur, sowie mehrere Arbeitsverbote prägen Muratowas Werdegang in der Sowjetunion. Mit dem Asthenischen Syndrom findet Muratowa zu der spektakelhaften Filmsprache, mit der sie heute in Verbindung gebracht wird. Eine aufreizende Farbgestaltung, eine Vorliebe für ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen seither ihre Filme.

    Absage an das menschliche Subjekt

    Das asthenische Syndrom durchzieht ein tief greifendes Misstrauen gegenüber der Idee eines rationalen menschlichen Subjekts, dem sich selbst gewissen Ich-Bewusstsein. Während des Schulunterrichts kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen Nikolaj und seinem Schüler Iwnikow. In der Szene darauf quälen zwei junge Frauen auf der Straße einen geistig Behinderten, Iwnikow eilt dem behinderten Mann zur Hilfe, doch kurz darauf jagt und schlägt er die Frauen brutal. Die nächste Szene zeigt einen Vater und seine jugendliche Tochter, die sich nach anfänglich liebevollem Umgang auf einmal einen heftigen körperlichen Kampf liefern. Die Brutalität geht, ähnlich wie im Falle Iwnikows, der dem behinderten Mischa helfen wollte, von einem Menschen aus, der gerade noch Gutes tat. Diese Figuren zeigen uns auf, wie unberechenbar, wie instabil menschliche Identität ist.

    Subjektkritischer Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen
    Subjektkritischer Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen

    Muratowa reiht sich mit diesem subjektkritischen Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen ein in die postmodern geprägte russische Kunst der 1990er Jahre, oder besser: nimmt sie vorweg. Mit der Entstehung der Sowjetgesellschaft wurde das autonome bürgerliche Subjekt der Aufklärung ausgelöscht. Doch das neue sowjetische Subjekt, der sozialistische „Neue Mensch” blieb ein ideologisches Dogma, eine Fiktion, über die man am Küchentisch lachte. Denn die Realität in der Sowjetunion war davon bestimmt, dass Staatsideologie und Alltagserfahrung weit auseinander klafften und das Leben von Absurditäten und Sinnlosigkeiten durchsetzt war. Die Menschen in der Sowjetunion waren also noch lange vor der Postmoderne in der postmodernen Haltung geübt. Sie nannten das Stjob, eine Verhöhnung jeglichen Glaubens.

    Man war sich bewusst, dass man in einer Konstruktion lebte, und somit befand man sich schon im Herzen der Postmoderne. Die Epoche der Postmoderne wurde im post-sowjetischen Raum also wie eine gute alte Bekannte begrüßt und in künstlerische Strategien integriert.

    „In meiner Kindheit, in meiner frühen Jugend dachte ich, dass wenn alle Menschen Lew Nikolajewitsch Tolstoi lesen, dann werden ausnahmslos alle alles, alles verstehen und gute, kluge Menschen werden.”5 Mit diesem Satz wenden sich am Anfang des Asthenischen Syndroms drei alte Frauen direkt an die Zuschauer. Die drei halten sich wie kleine Mädchen bei den Händen, eine hat ein dickes Tolstoi-Buch im Arm. Die Zuschauer ahnen, dass es sich bei dem dissonanten Chor der Alten um Verhöhnung, um Stjob handeln muss. Denn wer alles über die brutale Wirklichkeit versteht, fällt in den albtraumhaften Schlaf des Asthenischen Syndroms.

    Text: Isa Willinger
    Veröffentlicht am 29.11.2017


    https://www.youtube.com/watch?v=CZYJW2q2KAI
    https://www.youtube.com/watch?v=ZoOjiYdNc88


    1.Im Original: „Хуй тебе в жопу, я ему говорю, а он мне говорит, хуй тебе, а я ему отвечаю, что, ёб твою мать, я ебала твою маму, твоего папу, твоего бабушку, твоего дедушку … проститутка, сволочь, гадина, там еще как-то, а я ему говорю, а он мне говорит, сама сволочь… я ебал твою бабушку, я ебал твою дедушку […] .” Im Deutschen etwa: „Fick dich in den Arsch, sag ich zu ihm und er sagt zu mir fick dich und ich zu ihm … ich hab deine Mutter gevögelt, deinen Vater, deine Oma, deinen Opa, … und er sagt zu mir, selber Mistvieh, ich hab deine Oma gevögelt, deinen Opa […] .“ 
    2.Taubman, Jane (2005): The Filmmakers’ Companion: Kira Muratova, New York, S. 45
    3.Vasil’evna, Inna (2004): Novejšaja istorija otečestvennogo kino. 1986—2000. Kino i kontekst, Sankt Peterburg.
    4.Willinger, Isa (2013): Kira Muratova. Kino und Subversion, Konstanz
    5.Im Original: „В детстве, в ранней юности я думала, что если всем людям прочесть Льва Николаевича Толстого, и все-все всё-всё поймут и станут добрыми и умными.”

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  • Alles wäre gut, wären da nicht diese Amis

    Alles wäre gut, wären da nicht diese Amis

    Moskau, Sommer 2013. Eine Autoexplosion hier, ein Mord da: Über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren, doch der FSB ist ihnen auf der Spur. „Konfrontation der Geheimdienste, Intrigen und echte Liebe“ – als „TV-Event des Jahres“ kündigt der staatliche Erste Kanal in Russland seine neue Serie Die Schläfer an, dessen Handlung „auf wahren Begebenheiten“ basiere.  

    Die vom Kulturministerium geförderte, aufwändig produzierte Thriller-Serie sorgt insbesondere in unabhängigen Medien für heiße Diskussionen. Sogar die jüngste Messerattacke auf Tatjana Felgengauer, die stellvertretende Chefredakteurin von Echo Moskwy, wird in Verbindung gebracht mit der Folge, in der eine Journalistin durch einen Messerstich in die Kehle ermordet wird. 

    Zusätzliche Brisanz gewinnt die Serie durch eine Stellungnahme des Regisseurs auf Vkontakte: Juri Bykow, der sich mit Filmen wie Major auch im liberalen Lager einen Namen gemacht hat, erklärt darin seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft, und wirft sich selbst vor, mit der Serie „die gesamte progressive Generation verraten“ zu haben.

    Natalja Issakowa hat die acht Folgen der Schläfer angeschaut und erklärt in einer kritischen Rezension auf Colta.ru, warum sie die Serie gefährlich findet – noch gefährlicher als Propaganda-Nachrichten.

    https://www.youtube.com/watch?v=mC6CBqRoDwA


    „Wie man Russland in acht Folgen zerstört und keiner merkt, dass es total irre ist.“ So in etwa stelle ich mir die Kernidee der Schläfer als Pitch bei einem Filmmeeting vor. Die TV-Serie Die Schläfer, ausgestrahlt im Ersten Kanal, hätte durchaus das Potenzial zu einer fabelhaften schwarzen Komödie im Stil von Borat gehabt, in der die wesentlichen Mythen und Ängste des kollektiven Unterbewussten ausgeschlachtet werden. Aber nein: Das Ganze ist völlig ernst gemeint. Wie viele Kritiker bereits festgestellt haben, unterscheiden sich Die Schläfer ideologisch kaum von Informationssendungen des staatlichen Fernsehens. Sehen wir uns an, warum die TV-Serie Die Schläfer dennoch gefährlicher ist als die Nachrichten. Aber zunächst ein paar Worte zur Handlung. 

    Der CIA-Agent mampft Hamburger

    Die Amerikaner träumen davon, Russland zu zerstören. Ein dämonischer CIA-Agent (Alexander Rapoport) fühlt sich in Russland wie der Boss. Er mampft Hamburger, und zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach (offenbar eine Anspielung auf das Buch The Grand Chessboard des Politologen Zbigniew Brzeziński, in dem, so heißt es oft, der Plan der USA, Russland zu vernichten, beschrieben ist). Nach seiner Pfeife tanzt sogar der amerikanische Botschafter (ein stämmiger Blondschopf, dem ehemaligen US-Botschafter in Russland Michael McFaul recht ähnlich).

    Der CIA-Mann hat überall in Russland seine Agenten, die seinerzeit von einem produktiven MGIMO-Dozenten angeworben wurden. Im nötigen Augenblick bekommen sie die Nachricht: „Wach auf“, und beginnen der Heimat Schaden zuzufügen. In den meisten Fällen tun sie das noch nicht einmal aus Angst oder Geldgier, sondern weil sie irgendwann einmal ihr Wort gegeben haben, zu intrigieren und alles ins Wanken zu bringen.

    Um Russland zu zerstören, muss die Abmachung zwischen Russland und China über den Bau der Pipeline Sila Sibiri platzen. (Wie Russland bis heute überleben konnte, wenn doch alles an dieser Pipeline hängt, bleibt ein Rätsel.) Dafür müssen die Chinesen aus dem Konzept gebracht werden, dann werden sie sich von dem unruhigen Partner schon lossagen. (Aus irgendeinem Grund haben die Macher der Serie die Vorstellung, Chinesen seien prüde und schreckhaft. Wie eine viktorianische Jungfrau brechen sie bei jeder kleinen Anspielung einen Skandal vom Zaun.)

    Korruption? Bei uns klaut die Regierung nicht

    Streng geheime Unterlagen über ein schreckliches Geheimnis werden dem Blogger Asmolow zugespielt, der sich mit Korruptionsbekämpfung beschäftigt (Gruß an Nawalny). Diese Unterlagen sollen Informationen über illegale Absprachen bei der Auftragsvergabe zum Bau der Pipeline enthalten, hinter dem Schattensystem des Geldtransfers steht der FSB. Aber das ist natürlich nicht wahr – denn bei uns klaut die Regierung nicht, und schon gar nicht der Teil der Regierung mit Schulterklappen

    Ein dämonischer CIA-Agent mampft ständig irgendwas, zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 4 Serija“/YouTube
    Ein dämonischer CIA-Agent mampft ständig irgendwas, zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 4 Serija“/YouTube

    Nach einer sensationellen Pressekonferenz von Asmolow über ein Anwesen und, sorry, eine Pipeline mit Entchen (c) jagen die Amerikaner das Auto des Bloggers in die Luft. Das ganze Jean-Jacques (in der Serie ist es das Café Herzen) trauert. Und eine Trollfabrik, natürlich vom State Department finanziert, trichtert dem Volk ein, der FSB würde Oppositionelle umbringen. Die schreckhaften Chinesen versuchen abermals abzuspringen. Aber ein alter sowjetischer General mit erhaben ergrautem Haar beruhigt sie – erschöpft, aber voller Nachdruck.

    Grausamer CIA, tapferer FSB

    Ein einfacher Skandal genügt den CIA-Leuten jedoch nicht. Sie wollen Tausende Unzufriedene auf die Straße bringen und eine Revolution anheizen – Hauptsache die Chinesen machen sich in die Hose und unterzeichnen den Vertrag mit Russland nicht. Doch der Plan geht nicht auf. Ein Nachwuchsblogger filmt den Anschlag auf Asmolow und verkauft das Video an oppositionelle Journalisten. Um Spuren zu verwischen, arbeitet eine russische Verräterin gewissenhaft eine Liste ab und bringt ohne mit der Wimper zu zucken alle um – auf Befehl des CIA, versteht sich. 

    In einer heiklen Situation alle umbringen: Das ist das Lieblingsverfahren der Amerikaner. Um an die geheimen Dokumente über den Bau der Sila Sibiri zu kommen, setzen sie sogar den ihnen gegenüber handzahmen IS auf die russische Botschaft in Libyen an – damit beginnt die Serie. Mehr als 20 Mitarbeiter der russischen Mission sterben, es bricht ein richtiger Krieg aus – und all das nur, damit Uncle Sam einen Aktenkoffer mit ein paar Unterlagen bekommt. So grausame Menschen sind das nämlich. 

    Ganz anders dagegen unsere tapferen Agenten des FSB. Manchmal würden sie dem Feind sogar gern symmetrisch antworten, aber sie können einfach nicht. Sie sind doch Offiziere. Menschen mit schneeweißer Weste. Sie schimpfen nie Mat und lassen ihre Leute nicht im Stich.

    Der Verräter trägt schicke Anzüge

    Du schaust einem von ihnen ins Gesicht, beispielsweise Andrej Rodionow (Igor Petrenko), und weißt: Er könnte keiner Fliege was zuleide tun. Sein ganzes Leben liebt er eine einzige Frau, die seine Gefühle nicht erwidert, und dient seiner Heimat. Zugegeben, den einen oder anderen Verräter gibt es auch bei den Organen, aber die erkennt man sofort an ihren modischen Haarschnitten aus dem Barbershop, den schicken Anzügen und den unangenehmen Stimmen. 

    Eine Autoexplosion hier, ein Mord da – über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 1 Serija“/YouTube
    Eine Autoexplosion hier, ein Mord da – über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren / Foto © Screenshot aus dem Video „Spjaschtschije, 1 Serija“/YouTube

    Worin besteht also die Gefahr dieser Serie? Als wüssten wir nicht schon aus den Nachrichten, dass Russland von Feinden umringt ist und Oppositionelle sich selbst umbringen, nur um dem Staat eins auszuwischen. Doch in den Nachrichten werden die Emotionen nicht so angeheizt. Eine Serie dagegen bietet die Möglichkeit, ideologische Maximen unterm Deckmantel von Küssen ins Herz des Zuschauers zu meißeln. 


    Die schädlichen, liberalen Ideen vertritt selbstverständlich der Bösewicht. Über seine Argumente braucht der Zuschauer gar nicht groß nachzudenken – was soll man schon von einem Menschen erwarten, der ein Agent des State Department ist und, schlimmer noch, seine Frau mit der Frau des Darstellers Fjodor Bondartschuk betrügt. Wenn allerdings der gute FSBler mit dem sanften Bariton seiner Geliebten die Weltverschwörung gegen Russland erklärt, weiß jeder: Nur er und seine Kameraden können das Land vor der Katastrophe bewahren. 

    Alles wäre gut, wären da nicht diese Yankees

    Der Zuschauer bekommt mit den Schläfern ein aufrichtiges Melodram zu sehen, in dem die verwirrte Heldin (Natalia Rogoschkina) hin und hergerissen ist zwischen dem guten FSBler, gespielt von Igor Petrenko, und ihrem schlechten Ehemann, Dimitri Uljanow, der sich ihr zufolge zu den global russians zählt. Die Ideologie wirkt dabei wie ein leichtes, einlullendes Schneegestöber im Hintergrund, das sich sanft im Unterbewusstsein absetzt und den Zuschauer überzeugt: Russland ist ein großartiges Land, und bei uns wäre alles gut, wären da nicht diese Yankees [im Original pindossy dek]. 

    Der Regisseur der Serie Juri Bykow beharrte in der Late-Night-Show Wetscherni Urgant darauf, er habe eine Serie über die Liebe gedreht.
    In jeder Folge gibt es einen programmatischen Monolog, der wirkt, als sei er den Glaubenskriegen aus den Sozialen Netzwerken entnommen. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die Liberalen werden in der Serie immer von Verrätern und Bösewichten vertreten. Alles Übel hängen die Macher der Serie den Bloggern und Journalisten an. 


    Das war tatsächlich nur eine Frage der Zeit – die Verfilmung von Nachrichten, all dieser Geschichten über gekreuzigte Jungen und vertilgte Dompfaffen. Die Krim (seit September im Verleih) und nun Die Schläfer sind künstlerische Umsetzungen von Propaganda.

    Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten

    Für Die Schläfer musste erstmal der Boden bereitet werden: auf neuem Wege zur alten Doktrin: „Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten.“ Das gute alte sowjetische Muster musste man wiederbeleben, das nie ganz vergessen war. Das Bild des FSBlers hat sich allmählich gewandelt: vom ehrlichen Mitarbeiter, den es in diesen Strukturen nur selten gibt und der mit den blutigen Henkern aus der Serie Es war einmal in Rostow (2015) hadert, bis zum intelligenten Typen mit den stählernen Muskeln aus Geheimnisvolle Leidenschaften (2016), ohne dessen Hilfe die sowjetischen Dichter ihr Liebesleben nicht auf die Reihe kriegen und weder ein Spiegelei braten noch Verse schreiben können.


    Eine Neubewertung der jüngsten Vergangenheit ist noch im Gange, bislang ist nicht alles eindeutig geklärt. Es kann noch nicht in Fernsehserien verwertet werden. So gibt es beispielsweise noch keine feste Meinung darüber, wie Gorbatschow zu beurteilen ist. Aber das eine oder andere hat sich mittlerweile herauskristallisiert und wurde auf Hochglanz poliert. Längst ist klar, dass die Sowjetunion unser verlorenes Paradies ist.


    Die Sowjetunion, das verlorene Paradies

    Ein Problem bei der Verfilmung von Nachrichten ist allerdings, dass der Dreh einer Serie sehr zeitaufwändig ist. Während der Entstehung der Schläfer hat sich einiges verändert. Ein Typ wie der Filmemacher mit dem Basecap, eine Mischung aus Vitali Manski und Kirill Serebrennikow, über dessen dramatische Textkraft der Tschekist Rodion sich in der Serie köstlich amüsiert, steht heute unter Arrest. Und unsere tapferen Kämpfer in Syrien lässt das Vaterland mittlerweile in Gefangenschaft umkommen.

    Der Regisseur Bykow, dem mit Der Idiot oder Major noch gelungen war, etwas Wichtiges zu sagen, äußerte sich kurz vor der Premiere auf Facebook in etwa so: Sogar wenn das Land im Unrecht ist, würde er es im Krieg immer unterstützen, weil es sein Land ist. Danach gab er seinen Austritt von Facebook bekannt – man müsse darüber nachdenken, auf wessen Seite man steht. Ich glaube, nach so einer Serie gibt es nicht mehr viel nachzudenken.


    Für ein bisschen Optimismus sorgen nur die Zahlen: Die Quoten der Schläfer lagen etwa bei 13 Prozent (beim vorangegangenen Schnüffler zur selben Sendezeit im Ersten waren es um die 19 Prozent). Vielleicht entscheidet sich der Sender bei einem Blick auf diese Zahlen dafür, von Nachrichtenverfilmungen abzusehen und sich Experimenten im reinen Entertainment-Sektor zu widmen? Immerhin gibt es zwischen Propaganda und Unterhaltung nicht umsonst einen gewaltigen Unterschied: Hier schinden wir unser Hirn, dort legen wir Heilkräuterchen auf. 

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  • Kino #10: Oktober

    Kino #10: Oktober

    Dieser Film hat das Ziel, die Welt zu erschüttern, zum zweiten Mal nach dem Oktoberaufstand: Im September 1926 beschloss eine Kommission des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei unter dem Vorsitz von Michail Kalinin und Nikolaj Podwoiski, dass zum zehnten Jubiläum der Oktoberrevolution ein solcher „zentraler Film“ gedreht werden solle. Der einzige Regisseur, der hierfür in Frage kam, war Sergej Eisenstein (1898–1948). Das Drehbuch, an dem er ab Januar 1927 arbeitete, wurde mehrmals kritisch diskutiert und verändert. Als Eisenstein von einem amerikanischen Korrespondenten gefragt wurde, wer das Buch zu seinem Oktoberfilm schreibe, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken: „Die Partei.“1

    Der eigentliche Film Oktober entstand aber nach den Dreharbeiten am Schneidetisch von Eisenstein: Hier wurde die Dramaturgie bestimmt, die nicht historische Anekdoten, sondern das dialektische Denken visualisierte.
    1917 wurde der Winterpalast politisch erobert. Eisenstein sollte die ästhetische Einnahme dieser Zitadelle der Macht vollenden.2


    Unmittelbar nach der Abnahme des Drehbuches Anfang März 1927, brach der Drehstab nach Leningrad auf. In Begleitung der damaligen Kommandeure des Oktober-Aufstandes, Nikolaj Podwoiski und Wladimir Antonow-Owsejenko, besuchte man die Originalschauplätze. Schon im April begannen die Dreharbeiten. 

    Revolution als heilige Geschichte

    Oktober war eine Mammutproduktion. Erwartet wurde, dass der Film die Welt genauso erschüttert wie der Oktoberaufstand es zehn Jahre zuvor auch getan hatte. Das Budget überstieg das eines sowjetischen Durchschnittsfilms um das 20fache. Cecil DeMilles Superproduktion jener Zeit, Die zehn Gebote (1923), war der Film, mit dem Eisenstein sein Projekt zu vergleichen wünschte. Konnte in Hollywood als Sujet für solche Unternehmungen nur die Bibel herhalten, so war es in der Sowjetunion der 1920er Jahre die Revolution, wobei ihrem Anführer Lenin die Rolle des Erlösers zukam. 

    Eisenstein rechnete mit 50.000 bis 60.000 Statisten. Um riesige Menschenmassen vor die Kamera zu bekommen, drehte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 als Julidemonstration von 1917 – mit 6000 Menschen. Nur die Losungen wurden ausgetauscht, und Eisenstein choreografierte die Demonstration nach historischen Fotos.

    Um große Menschenmassen zeigen zu können, filmte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 / Fotos © Mosfilm
    Um große Menschenmassen zeigen zu können, filmte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 / Fotos © Mosfilm

    Die Bevölkerung der Stadt bewunderte unter der Bewachung berittener Miliz das Geschehen als ein grandioses Spektakel. Als das Team tagsüber die Szenen der aufgezogenen Brücke in Leningrad drehte, legte es damit den Verkehr lahm. Diese Aufnahmen begleiteten viele witzelnde Feuilletons in den Zeitungen: Ein Banküberfall sei offiziell als Filmdreh ausgegeben worden, damit keine unangenehmen Fragen aufkommen.

    Kanon aller späteren Darstellungen

    Vom 13. Juni an wurde zehn Tage lang die zentrale Episode des Oktober-Aufstandes, die Erstürmung des Winterpalastes, gedreht. Für diese Szenen wurde nichts gebaut – Eisenstein durfte am Originalschauplatz filmen. 90 Scheinwerfer machten die Nacht zum Tage, dafür wurde in der ganzen Stadt das Licht abgeschaltet, um die nötige Amperestärke zu garantieren. Die Aufnahmen wurden wie Kriegshandlungen an der Front – unter Beteiligung der Armee – organisiert und durchgeführt. 5000 Statisten kamen Abend für Abend auf Befehl des Stadtparteikomitees zum Drehort. Die Kameras standen auf Dächern und Säulen oder hingen über Toreinfahrten. Die Assistenten waren auf Motorrädern unterwegs, während Eisenstein das Massenballett mit dem Megaphon dirigierte. 

    Dabei waren die Aufnahmen für die historischen Gebäude nicht ungefährlich – zu viel Licht, zu wenig Brandschutz. Noch lange nach Fertigstellung des Films lästerte man, der reale Aufstand hätte bei weitem nicht so viel Schaden angerichtet wie die Dreharbeiten.

    Obwohl Podwoiski, der den realen Aufstand angeführt hatte, Eisenstein jeden Tag am Drehort beriet, ließ der Regisseur die Arbeiterbrigaden anders als in der historischen Wirklichkeit nicht über den Seiteneingang, sondern durch das Hauptportal den Palast erstürmen. Diese Erfindung wurde zum Kanon aller späteren Darstellungen: Eisensteins Filmeinstellungen zierten als „historische Fotos“ viele Jahre die Revolutionsmuseen im ganzen Land. 

    Perversität der Dinge

    In seinem Tagebuch notierte Eisenstein: „Das Winterpalais ist für mich Exotik. Wie ein Kaufhaus. Ein Schlafzimmer: 300 Ikonen und 200 Porzellan-Ostereier. Ein Schlafzimmer, das kein Zeitgenosse psychisch ertragen könnte.“3 Das Palais wirkte wie der Fundus eines Filmstudios, wie ein Museum der Vergangenheit. Eisenstein entdeckte die Absurdität der Macht in der Perversität der von ihr eroberten Dinge. Mit ihnen ließe sich die Revolution gestalten, die zur Befreiung von dieser absurden Welt führte.

    Beim Drehen mit Doppelgängern der historischen Figuren, kam Eisenstein die Idee eines zutiefst symbolischen Films
    Beim Drehen mit Doppelgängern der historischen Figuren, kam Eisenstein die Idee eines zutiefst symbolischen Films

    Beim Drehen an den Originalschauplätzen, mit Doppelgängern4 der historischen Figuren und mit deren tatsächlichen Beratern, die den Winterpalast zehn Jahre zuvor erobert hatten, kam Eisenstein mehr und mehr die Idee eines zutiefst symbolischen Films, der jede Art von Symbolik als lächerlichen Fetischismus zerstören musste. Jeder Vorgang wurde als eine metaphorische Handlung begriffen und auch so inszeniert. Nicht die Provisorische Regierung, die seit Juli 1917 im Winterpalast residierte, sondern die leeren Mäntel machtloser Minister wurden im Film verhaftet. Zwei Matrosen durchbohrten mit ihren Bajonetten das Bett im Schlafgemach der Zarin. Damit ließ Eisenstein die Soldaten den Winterpalast wie eine Frau gewaltsam erobern.


    Im Rausch der Aufputschmittel

    Am 12. September waren die Dreharbeiten in Leningrad vollendet. Nun saß Eisenstein im Schneideraum und sollte aus 49.000 Metern belichteten Materials einen 2000 Meter langen Film montieren. Der Film und seine Dramaturgie entstanden letztendlich erst am Schneidetisch. Eisenstein sah seine Mission nicht darin, die historischen Fakten abzubilden, sondern in der Visualisierung des dialektischen Denkens. Seiner Filmtheorie, die in dieser Zeit entstand, gab er die Bezeichnung „intellektueller Film“. 

    Um die pausenlose Tag- und Nachtarbeit durchzustehen, bekam Eisenstein Aufputschmittel verabreicht. Doch die Allmacht schlug bald in körperliche Ohnmacht um: Eisenstein arbeitete so viel, dass er zeitweilig erblindete. Die Ärzte diagnostizierten totale Erschöpfung und befahlen ihm Bettruhe in einem vollständig abgedunkelten Zimmer. In dem Aufsatz Unser Oktober schrieb er, zehn Tage hätten ihm gefehlt, um den Film zum zehnten Revolutionsjubiläum komplett fertigzustellen.

    „Oktober“ war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte
    „Oktober“ war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte

    Am Abend des 7. November wurden im Bolschoi-Theater nur Ausschnitte aus dem Film vorgeführt. Doch davor war es zu einem Eklat gekommen: An diesem Morgen ging die Trotzki-Opposition in Moskau und Leningrad auf die Straße. Eisensteins Assistent schrieb später in seinen Erinnerungen, dass Stalin persönlich gegen 16 Uhr in den Schneideraum gekommen sei. Er habe gefragt, ob Trotzki in dem Film zu sehen sei, und ließ sich diese Szenen zeigen. Stalin unterrichte die Anwesenden über die Aktion der Opposition, woraufhin Eisenstein die Episoden mit Trotzki herausschnitt.5 Diese Nachricht ging sofort durch die internationale Presse. Eisenstein sah in dieser Weisung keine Einmischung in die künstlerische Freiheit, doch seine europäischen und amerikanischen Kollegen nahmen ihm das später nicht ab.

    Reproduktion gestellter Bilderrätsel

    Oktober wurde schließlich erst im März 1928 fertig, und seine öffentliche Rezeption war keineswegs eindeutig. Die Werbekampagne sah vor, den neuen Eisenstein-Film in eine Art Wettrennen mit Varieté zu schicken, dem „durch und durch erotischen bürgerlichen Schlager“ von Ewald André Dupont. Eisenstein ärgerte sich maßlos darüber. Die Zuschauer blieben weg. Bei der Kritik war das Echo geteilt. Erwartet wurde ja ein zweiter Panzerkreuzer Potemkin
    Das radikale Experiment, das Eisenstein mit diesem Film wagte, verstand damals kaum einer. Die Kritiker warfen Eisenstein historische Lüge, schwere ideologische Fehler und ein totales künstlerisches Versagen vor und sprachen über eine Reproduktion gestellter Bilderrätsel (Béla Balázs).6 Nur wenige erkannten, dass es sich bei Oktober um etwas absolut und gewollt Neues handelte.

    Film über das Ende der Dinge

    Oktober, der den Mythos der Oktoberrevolution festigen sollte, war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte geworden. Natürlich vermochte Eisenstein einige Massenszenen beeindruckender zu zeigen, als sie vermutlich abgelaufen waren. Doch der eigentliche Kern seines Films lag nicht in der Einführung eines Darstellungskanons für das Initiationsereignis der sowjetischen Geschichte. Er lag in Eisensteins intellektuellen Montage-Spielen, in denen mal transparente, mal dunkle Metaphern oder sogar obszöne visuelle Witze den Geschichtsmythos demontieren: Der Kornilow-Putsch gegen die Provisorische Regierung ist als eine Gegenüberstellung zweier Spielzeug-Napoleons inszeniert, der Umsturz der Macht als Demontage eines aus Pappe und Gips nachgestellten Zarendenkmals. Orden, verliehen „fürs Vaterland“, wachsen zu einem Müllberg wertloser Abzeichen an. Der damalige Chef der Provisorischen Regierung Alexander Kerenski steigt endlos die Treppe der Macht empor, doch als sich ihm die Türen zum Thronsaal öffnen, tritt er – dank Eisensteins Schnitt – in das Hinterteil eines mechanischen Pfaus. 

    Viktor Schklowski, Eisensteins schärfster Kritiker in jenen Jahren, überschrieb 1928 seine Rezension des Films mit Gründe für den Misserfolg. 50 Jahre später gab er zu, dass er den Film erst als alter Mann verstanden habe. Das geschah, nachdem er in den Westen fahren durfte und dort den Wahnsinn des Konsumzeitalters erlebte. Eisenstein sei ihm mit seinem Oktober weit voraus gewesen, da er keine Nachstellung der Revolutionsereignisse von 1917, sondern einen Film über das Ende der Dinge gedreht habe. Bis heute überwältigt dieses Werk die Imagination der Zuschauer, indem er sie zwingt, im Kino nicht nur zu sehen, sondern auch zu denken.

    Text: Oksana Bulgakowa
    Veröffentlicht am 09.10.2017


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    1.Freeman, Joseph (1930): The Soviet Cinema, in: Voices of October: Art and Literature in Soviet Russia, New York, S. 541
    2.Russisches Archiv für Kunst und Literatur, 1923- 2-1105, S.75
    3.zit. nach Bulgakowa, Oksana (1998): Sergej Eisenstein: Eine Biographie, Berlin, S. 96-97
    4.Eisenstein wollte keine Schauspieler besetzen, sondern Doppelgänger der damaligen Politiker Alexander Kerenski oder Lenin finden. Dafür wurden in den Leningrader Zeitungen Anzeigen aufgegeben.
    5.Aleksandrov, Grigorij (1976): Epocha i kino, Moskva, S. 117
    6.Balázs, B. (1984): Schriften zum Film, Berlin/DDR, Bd. 2, S. 89

    Dieses Kino-Special wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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