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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alexej Balabanow

    Alexej Balabanow

    Kurz nach dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich viele westlichen Unternehmen und Konzerne aus Russland zurückgezogen. Unter anderem waren es Unterhaltungsriesen wie Disney und Warner Bros, die Filmstarts stoppten. Die leer gewordenen Kinoprogramme musste man zwangsläufig mit russischen Filmen füllen und es ließ sich nicht lange suchen, was Kinobesucher gerne (erneut) schauen würden: Bereits Ende März 2022 ging in die Kinos die Film-Dilogie Brat vom russischen Regisseur Alexej Balabanow, die in Russland bereits zur Jahrtausendwende Kultstatus errungen hat. Und die Wahl hatte womöglich nicht nur allein mit der Popularität dieses Filmes und des Protagonisten – dem heldenhaften Kriminellen Danila Bagrow – zu tun, sondern auch mit angeblichem Patriotismus und vermeintlichem Antiamerikanismus. Die starken Zitate aus dem Film – vor allem das berühmte „Sila w prawde“ (dt. Die Macht liegt in der Wahrheit) – tauchen immer wieder in Reden von russischen Politikern bis hin zu Wladimir Putin auf und dienen als Propaganda-Slogans. Doch wer war der Schöpfer dieser Filme, deren Protagonisten und Zitate die russische Gesellschaft in den letzten 20 Jahren so geprägt haben? 

    Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen / Foto © Aleksandr Schtscherbak/Kommersant
    Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen / Foto © Aleksandr Schtscherbak/Kommersant

    Alexej Balabanow (1959–2013) verstand es meisterhaft, Unvereinbares zu vereinen. Dadurch würde zusätzliche Energie entstehen, wie die zweite Ehefrau und Witwe des Regisseurs, die Kostümbildnerin Nadeshda Wassiljewa in einem Interview meinte.1 Das Aufeinanderprallen von Dingen, Handlungen oder Ideen, die nicht zusammenpassen, erzeugt Effekte des Staunens, der Verwunderung oder Irritation, lässt Ambivalenzen entstehen. Entsprechend bleibt das Gesamtwerk von Balabanow auch zehn Jahre nach seinem Tod widersprüchlich. Für die einen war er ein Genie, für die anderen ein Provokateur. Die einen liebten seinen unverwechselbaren Stil, die anderen fühlten sich von den exzessiven Gewaltszenen abgestoßen. Vielen Zuschauern in Russland gilt er bis heute als Kultregisseur. Im Gegensatz dazu wusste man seine Filme außerhalb von Russland oft nicht richtig einzuschätzen und hatte überdies Probleme mit dem Chauvinismus der Brat-Serie. Seine Filme – zwölf sind es an der Zahl – wurden auf internationalen Festivals zwar gezeigt, aber mit keinem einzigen wichtigen internationalen Filmpreis ausgezeichnet. Dass Balabanow zeit seines Lebens seine künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit bewahrte, gilt jedoch als unumstritten. 

    Wanderer in der Großstadt

    Ein augenfälliges formales Beispiel für Balabanows Liebe zum Unvereinbaren hält die Eröffnungsszene seines kommerziell erfolgreichsten Films – des Mafiathrillers Brat-2 (2000) – bereit. Der aus Brat (1997) bereits bekannte Protagonist Danila Bagrow geht an einem Filmset vorbei, während der Aufnahme läuft Tschaikowskis Schwanensee. Da fällt sein Blick auf einen jungen Mann in schwarzem Anzug, der vor einem unförmigen schwarzen Geländewagen steht und wie ein Schuljunge ein Gedicht von Michail Lermontow rezitiert. Das lyrische Ich des romantischen russischen Dichters aus dem 19. Jahrhundert vergleicht sich mit Lord Byron („Nein, ich bin nicht Byron, ich bin ein anderer“) und scheint auf den ersten Blick so gar nicht zu diesem „neuen Russen“ oder Banditen zu passen. Bei genauerem Hinsehen trifft es die Protagonisten Balabanows jedoch in ihrem Kern, denn auch sie sind – so weiter im Gedicht – „von der Welt gejagte Wanderer“2, Fremde in der modernen Großstadt, die sie erobern oder von der sie verschlungen werden. Denn die Stadt, so der Obdachlose mit dem deutschen Nachnamen Gofman in Brat, ist eine „schreckliche Kraft“ – sie saugt die Menschen auf, und nur die Starken überleben.3 

    Die Wanderungen von Balabanows mit wenigen Ausnahmen männlichen Protagonisten sind aus einem genuin filmischen Stoff. Ihre mit zeitgenössischer Rockmusik unterlegten Streifzüge durch die Großstadt, meist ist es Sankt Petersburg, verleihen Balabanows Filmen ihren unverwechselbaren Rhythmus, ihre Dynamik und Energie. Die Protagonisten erschließen sich die urbanen Räume, und wir folgen ihnen auf ihren Wanderungen und Autofahrten bis in die Wohnungen hinein mit unseren Blicken. Was wir dabei zu sehen bekommen, ist – und das gilt insbesondere für die Filme, die in den 1990er Jahren beziehungsweise in der jeweiligen Gegenwart spielen – eine industriell überformte, im unmittelbaren Sinn postsowjetische Stadtlandschaft, meist in ihrem Verfall. 

    Kritik an der Moderne

    Eine grundlegende Skepsis gegenüber der Moderne und den damit einhergehenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen sowie eine Ablehnung von auf Geld basierenden Beziehungen ziehen sich wie ein roter Faden durch Balabanows filmisches Werk. Um diese Grundhaltung filmisch zum Ausdruck zu bringen, konzentriert sich der Regisseur auf zwei zeitliche Kristallisationspunkte: einerseits die Zeit des Fin de Siècle, andererseits die Transformationszeit nach dem Zerfall der Sowjetunion. 
    Die Stadt Sankt Petersburg mit ihren rastlosen Wanderern erscheint im Licht der Umwälzungen des Fin de Siècle als seelenlose und menschenfeindliche Steinwüste, wie in Balabanows an die Ästhetik des Absurden angelehnten Debütfilm Stschastliwyje dni (1991; dt. Glückliche Tage), oder als Ort des geistigen Niedergangs und der Perversion, wie in Pro urodow i ljudei (1998; Englisch bekannt als Of Freaks and Men). 

    In seinem auf Michail Bulgakows frühen Arztgeschichten basierenden Film Morfi (2008; dt. Morphium) verweist Balabanow darüber hinaus explizit auf die Faszination und Macht, die von dem mit der Moderne untrennbar verbundenen Medium Film ausgeht. In der Schlussszene landet der gescheiterte, Morphium süchtige junge Arzt in einem Kino und erschießt sich mit einer Pistole, während die Stummfilmkomödie weiterläuft – für einen Menschen des Kinos wie Balabanow der ideale Tod, wie seine Biographin Maria Kuwschinowa bemerkt: in einem Kinosaal, unbemerkt, mit einem Lächeln auf den Lippen.4 Auf die eine oder andere Weise sind Balabanows Filme daher immer auch Filme über das Kino. In seinem vorletzten Film Kotschegar (2010; dt. Der Heizer) wird das filmische Prinzip der Rahmung – des Framing – im Szenenbild verankert: Die Wände der Wohnungen sind voller Bilder, Ikonen und Spiegel, während die immer wiederkehrenden Kamine mit dem lodernden Feuer als eine archaische Entsprechung des Kinos erscheinen.

    Chauvinismus oder Volksnähe?

    Zwischen Balabanows ersten beiden Spielfilmen – Stschastliwyje dni nach Motiven von Samuel Becket und Samok (1994; dt. Das Schloss) nach Franz Kafka – und seinen Publikumserfolgen Brat (1997; Der Bruder) und Brat-2 (2000) liegen die bis in die 1980er Jahre unvereinbaren Welten des Autorenfilms einerseits und des kommerziellen Genrekinos andererseits. Um die Wende zum Populären zu vollziehen, kehrt Balabanow im Mafiathriller Brat die Ohnmacht der Protagonisten gegenüber der sie verschlingenden modernen Großstadt um. Danila Bagrow, gespielt vom Jungstar der 1990er Jahre Sergej Bodrow (1971–2002), ist ein sozialer Außenseiter aus der russischen Provinz, der aus dem brutalen Tschetschenien-Krieg zurückkehrt, und dem die Stadt als eine Art magische Energiequelle dient. So tritt er von Petersburg aus über Moskau und schließlich die USA einen Siegeszug über eine Welt an, in der die Gewalt der Mafia und die Macht des Geldes regieren. Diesen Sieg erringt er in der naiven Überzeugung, die Guten von den Bösen unterscheiden zu können und die Bösen entsprechend auch richten zu dürfen. Seine Kraft bezieht er aus traditionell hochgehaltenen Werten wie Wahrheit, Freundschaft und Liebe zur Heimat, die er in griffige Sinnsprüche packt: „Sila w prawde“ (dt. In der Wahrheit liegt die Kraft / Macht) verkündet er in Brat-2. Genau dieses Motto kursierte im Februar 2022 in den russischen Medien und wurde so zur Propagandawaffe im Angriffskrieg gegen die Ukraine.

    Es ist insbesondere die von Balabanow geschaffene Figur des Danila Bagrow, die dem Regisseur den berechtigten Vorwurf einbrachte, ein „Handlanger“5 von Chauvinismus und Nationalismus zu sein. Unter dem Deckmantel, doch nur die Sprechweise der einfachen Leute wiederzugeben,6 findet sich insbesondere in den kommerziell erfolgreichen Filmen – den beiden Brat-Filmen wie auch dem Folgefilm Woina (2002; dt. Krieg) – eine Fülle an chauvinistischen, russisch-nationalistischen, antisemitischen, antiamerikanischen und rassistischen Sprüchen.7 Und trotzdem bleibt die Figur des Danila Bagrow insbesondere in Brat ambivalent, beinhaltet im Kontext ihrer Entstehungszeit vor allem auch „die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren angeblich grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden.“8 

    Parodie und Provokation

    Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen. Das demonstrierte er in allen Filmen, die auf Woina noch folgen sollten. In Shmurki (2005), einer tiefschwarzen Komödie, setzte er auf das vor Blut triefende Kino eines Quentin Tarantino noch ein Stück drauf und schuf eine schrille Parodie auf die von ihm selbst ersonnenen romantisierten Banditen der Brat-Filme. In der Schluss-Szene präsentiert Balabanow einen Blick in die Gegenwart des Jahres 2005 und darüber hinaus: Aus den brutalen kriminellen Existenzen der 1990er Jahre sind eifrige Diener im politischen System Putins geworden. Fünf Jahre später entstand der Film Kotschegar, in dem die Banditen der 1990er Jahre dagegen im Lichte des russischen Kolonialismus erscheinen. Der Heizer des Filmtitels ist ein Jakute in Sankt Petersburg, ein Afghanistan-Veteran und Held der Sowjetunion, der für seinen ehemaligen Kriegskameraden die unzähligen Leichen, die dieser und sein Kumpane hinterlassen, im Heizofen einer Fabrik entsorgt. Doch die Beziehung zwischen dem Russen und dem Jakuten nimmt kein gutes Ende – ähnlich wie im zaristischen Russland. Mit dieser eindeutigen, von vielen als russophob kritisierten Botschaft ist Kotschegar einer der wenigen postkolonialen Filme, die das russische Kino bis heute hervorgebracht hat. In seiner Machart aber ist der Film ein minimalistisches filmisches Meisterwerk des Absurden und Unheimlichen.

    Cargo 200

    Als Balabanows umstrittenster und verstörendster Film gilt jedoch Grus 200 (2007; engl. Cargo 200). Der Film spielt im Jahr 1984 in einer sowjetischen Provinzstadt, in der die Ankunft einer besonderen Luftfracht angekündigt wird – die als Grus 200 in den russischen Sprachgebrauch übergegangenen Zinksärge mit in Afghanistan gefallenen Soldaten. Vor diesem Hintergrund baut Balabanow eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs auf, der in einem Exzess abstoßender physischer und psychischer Gewalt endet. Im Mittelpunkt der Handlung steht, kurz zusammengefasst, der psychopathische, impotente Milizionär Shurow (gespielt von Alexej Polujan) und die junge Anshelika (gespielt von Agnija Kusnezowa), die von Shurow entführt wird. Shurow bringt die junge Frau in seine Wohnung, kettet sie an ein Eisenbett, legt ihren toten Verlobten aus einem der eingetroffenen Zinksärge neben sie, lässt sie von einem von der Miliz festgenommenen Alkoholiker vergewaltigen und liest ihr schließlich die Liebesbriefe ihres Verlobten vor. Am Ende dieser mehrmals durch Parallelhandlungen unterbrochenen Szene des Grauens findet sich die junge Frau inmitten von drei Männerleichen wieder, der Shurows inklusive.

    Der Filmmusik, die ein integrales Moment in allen Filmen Balabanows darstellt, kommt in Grus 200 die zentrale Funktion eines ironisch-distanzierenden Kommentars zu Bild und Erzählung zu. So ist der sich aufbauende Gewaltexzess mit populären sowjetischen Hits unterlegt, unter anderem mit Na malenkom plotu (dt. Auf einem kleinen Floß) von Juri Losa. Was Balabanow in diesem Sozialthriller daher aufeinanderprallen lässt, ist das sowjetische Gewaltregime der Exekutive und des Militärs einerseits, und die Erinnerung an ein fröhliches, glückliches Leben in der Sowjetunion andererseits. Metaphorisch gelesen schändet die bereits impotente Sowjetmacht den unschuldigen Volkskörper. Das eigentliche Monster aber, das Balabanow mit diesem Film erlegen will, ist die um sich greifende, ideologisch genährte Sowjetnostalgie. So gesehen geht es Balabanow in Grus 200 keineswegs um Gewalt als filmischen Selbstzweck, sondern um eine gesellschaftliche Schocktherapie.9 Angesichts der staatlichen und militärischen Gewaltexzesse, die aus Russland und aus dem Krieg in der Ukraine seit 2022 immer wieder bekannt werden, ist Grus 200 zehn Jahre nach dem Tod des Regisseurs daher aktueller denn je.


    1. vDud’ (YouTube): „Balabanov – genial’nyj režisser”, 15. Mai 2018 ↩︎
    2. Lermontov, Michail (2000): Gedichte. Russisch / Deutsch. Übersetzt von Kay Borowsky und Rudolf Pollach. Stuttgart, S. 59 ↩︎
    3. Im russischen Original: „Gorod – strašnaja sila. […] On zasasyvaet. Tol’ko sil’nyj možet vykrabkat’sja.“ ↩︎
    4. Vgl. Kuvšinova, Marija (2015): Balabanov. Sankt-Peterburg, S. 159 ↩︎
    5. dekoder.org: [gnose-4005]Kino #3: Brat[/gnose] ↩︎
    6. Eine von Balabanows Antworten auf den Nationalismusvorwurf lautet wie folgt: „Alle bezichtigten mich des Nationalismus. Absolut ohne Grundlage. Ich gebe das Befinden unseres Volkes wieder. Mögen die Menschen in der Provinz etwa die Juden? Natürlich nicht. Dieses Gefühl verstehen die russischen Menschen, und es ist ihnen vertraut. Und dass sie die Kaukasier nicht mögen ist genauso offensichtlich.“ (im Original: [В]се меня обвиняли в национализме. Абсолютно безосновательно. Я отражаю состояние нашего народа. В провинции люди евреев любят? Точно говорю, что не любят. Это ощущение русским людям понятно и близко. И то, что хачиков не любят — тоже абсолютно очевидно). Vgl. seance.ru: Balabanov o Balabanove ↩︎
    7. Dazu gehören aus den beiden Brat-Filmen Sprüche wie, adressiert in der konkreten Szene an Kaukasier, „Ne brat ja tebe, gnida černožopaja!“ (Ich bin für dich kein Bruder, du schwarzärschige Zecke); adressiert an Amerikaner „Muzyka tvoja amerikanskaja – govno […] Da i sami vy… Skoro vsej vašej Amerike – kirdyk.“ (Deine amerikanische Musik ist Scheiße […] Und überhaupt seid ihr selber… Bald wird’s eurem ganzen Amerika an den Kragen gehen.); adressiert an Ukrainer „Vy mne, gady, ešče za Sevastopol’ otvetite“ (Ihr Schweine werdet mir noch für Sevastopol’ büßen); schließlich, adressiert an den amerikanischen Mafiaboss, „Vot skaži mne, amerikanec, v čem sila? Razve v den’gach?… Ja dumaju, čto sila v pravde. Tot, u kogo pravda, tot i sil’nee“ (Nun sag mir, Amerikaner, worin liegt die Stärke? Etwa im Geld?… Ich denke, dass die Stärke in der Wahrheit liegt. Derjenige, der im Besitz der Wahrheit ist, ist auch stärker). ↩︎
    8. dekoder.org: [article-9083]Putin – Geisel der 1990er Jahre?[/article] ↩︎
    9. Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen von Daria Ezerova: Ezerova, Daria (2020): Laughing Apocalypse: Horror and/as Comedy. In: Nancy Condee et al (Hg.): Cinemasaurus. Russian Film in Contemporary Context. Boston, S. 84–104 ↩︎

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  • Kino #13: Komm und sieh – Krieg im sowjetischen Film

    Kino #13: Komm und sieh – Krieg im sowjetischen Film

    Volkstragödie, Abenteuer, psychologisches Drama, pyrotechnisches Theater, romantische Verklärung – das alles war der Krieg im sowjetischen Film und noch viel mehr. In der Kriegsdarstellung spiegelte sich der Zeitgeist, und das Verhältnis zu diesem Krieg blieb für die Bestimmung des historischen Bewusstseins der sowjetischen Gesellschaft immer richtungweisend. Der Wechsel der Stile war ein genauso sensibles Merkmal einer veränderten Sicht auf den Krieg wie die Koexistenz von staatstragender und nicht angepasster Kunst im Kriegsfilm. Im Kaleidoskop der Genres und Stile nimmt der Film Idi i smotri (Komm und sieh!) von Elem Klimow eine ganz besondere Haltung ein: Er zeigt Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium.

    Im Film „Idi i smotri“ („Komm und sieh!“) inszeniert Elem Klimow den Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium. Szene aus dem Film / © Evgeyi Koktyish/Sputnik
    Im Film „Idi i smotri“ („Komm und sieh!“) inszeniert Elem Klimow den Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium. Szene aus dem Film / © Evgeyi Koktyish/Sputnik

    Die ersten Kriegsfilme, die noch während des Großen Vaterländischen Krieges (1941–1945) gedreht wurden, waren naturalistisch und brutal. „Heute und morgen sind wir gezwungen“, sagte Alexander Dowshenko 1942, „den Rahmen des in der Kunst Erlaubten zu erweitern. Heute schreit unsere Leinwand nach Galgen, brennenden Häusern, die mit gequälten Menschen überfüllt sind, nach Gefolterten, nach lebendig Begrabenen. Die unzähligen Opfer stöhnen: Dreht euch nicht weg von uns, die wir einen unästhetischen Tod gestorben sind.“1

    Sowjetische Kriegsfilme: Abenteuer, Märtyrer und pyrotechnisches Theater

    Der Film Ona saschtschischaet rodinu (Sie verteidigt die Heimat (1943)) stellte die Figur der Mutter in den Mittelpunkt – eine rächende, gnadenlose, „kastrierende“ Mutter (= Russland), die in den 1930er Jahren im Figurenensemble der sowjetischen Kinematografie fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). Diese Frau kann mit dem Beil Feinde erschlagen und den Mörder ihres Sohnes mit dem Panzer niederwalzen. Ihr Hass ist gegen Männer gerichtet, die auf der Leinwand – neben der Vernichtungsarbeit des Krieges – meist bei Trinkorgien dargestellt werden. 

    Der Film „Sie verteidigt die Heimat“ (1943) stellte die Figur der Mutter (= Russland) in den Mittelpunkt, die in den 1930er Jahren im Figurenensemble fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). / © RIA Novosti/Sputnik
    Der Film „Sie verteidigt die Heimat“ (1943) stellte die Figur der Mutter (= Russland) in den Mittelpunkt, die in den 1930er Jahren im Figurenensemble fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). / © RIA Novosti/Sputnik

    Die parallel entstandenen Partisanenfilme verklärten den Krieg auf andere Weise. Es waren Märtyrerfilme wie Soja (1944) oder Marytė (1947), in denen sich junge Mädchen opfern und gefoltert werden, und Abenteuerfilme wie Sekretar raikoma (Der Sekretär des Rayonkomitees (1942)) oder Podwig raswedtschika (Heldentaten eines Kundschafters (1944)), in denen entschlossene starke Männer den Feind besiegen. Sie schlüpfen in die Rolle geheimnisvoller omnipotenter Rächer und spielen mit den dummen Deutschen „Räuber und Gendarm“. Die bärtigen, humorvollen Partisanen werden zu märchenhaften Großväterchen der Nation. 
    Bald geriet der Krieg im Film zum pyrotechnischen Theater. Die perfekten Kriegsspektakel stellen die großen Schlachten nach – von dem auf 70 mm gedrehten Mehrteiler Juri Oserows Oswoboshdenije (Befreiung (1970–1977)) bis hin zu heutigen, von Videospielästhetik geprägten Feuerorgien wie T-34 (2019), einer Panzeroper mit Special Effects.

    Menschenschicksale und Romantisierung

    Die Lockerungen der Tauwetter-Ära gingen im Film eng einher mit dem Kriegsthema und fanden ihren Ausdruck in den wirklichkeitsgetreuen Schützengrabenfilmen der späten 1950er Jahre: Soldaty (Soldaten, 1956) – der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte damals wie eine erste große Offenbarung. Sudba tscheloweka (Menschenschicksal (1959)) oder die erste Geschichte von einer untreuen Kriegsbraut Letjat Shurawli (Die Kraniche ziehen, 1957) wurden zu Ereignissen. Das individuelle Schicksal war plötzlich genauso wichtig wie das der Massen und die entfesselte Kamera ein Ausdruck dafür. 

    Der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte in der Tauwetter-Ära wie eine erste große Offenbarung. Szene aus dem Film „Die Kraniche ziehen“ / © RIA Novosti/Sputnik
    Der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte in der Tauwetter-Ära wie eine erste große Offenbarung. Szene aus dem Film „Die Kraniche ziehen“ / © RIA Novosti/Sputnik

    Die 1960er Jahre stellten den Krieg so dar, wie er in Erinnerung geblieben war. Lichte Melancholie der Ballada o soldate (Ballade von Soldaten (1961)) war hier genauso berechtigt wie radikale Expressivität – Iwanowo detstwo (Iwans Kindheit, 1961). Die gewonnene Authentizität wurde durch Romantisierung abgelöst. Und so blieb es bis Alexej Germans Prowerka na dorogach (Straßenkontrolle (1971)) und Larissa Schepitkos Woschoshdenije (Aufstieg (1977)). Krieg wurde zum einzig erlaubten Terrain, auf dem harte existentielle Fragen – nach der (Un)möglichkeit einer Freiheit der Wahl – abgehandelt werden konnten. Die Parabeln haben eine Wahrheit des Krieges tragisch verallgemeinert. 

    Eine ganz andere Dimension eröffnete Elem Klimow, als er 1984 denselben Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium inszenierte. 

    Ästhetisierter Horror oder suggestive Beeinflussung?

    Elem Klimow und seine Frau Larissa Schepitko begannen zur selben Zeit am selben Thema zu arbeiten. Larissa nahm sich den Stoff des Belarussen Wassil Bykau, Elem den des Belarussen Ales Adamowitsch vor. Nur wurde sein Projekt nach den ersten Drehtagen 1976 gestoppt und erst 1982 wiederaufgenommen. Adamowitschs Drehbuch basierte auf autobiografischen Erlebnissen, die er bereits in mehreren Büchern (Chatyn-Erzählung, Partisanen, Exekutionskommando, Ich bin aus dem Feuerdorf) verarbeitet hatte. Er dachte zunächst an eine Komödie: die Abenteuer eines halbwüchsigen Tollpatsches im Grauen des Krieges. Klimow entschied sich für einen Horrorfilm mit apokalyptischen Zügen. Er forderte den Zuschauer aggressiv heraus: „Komm und sieh!“ Der Titel ist ein Zitat aus der Offenbarung Johannes (Kapitel 5-8): „Und ich hörte ein viertes Wesen sagen wie mit einer Donnerstimme: ‚Komm und sieh!‘ Und ich sah ein blasses Pferd, und der darauf saß, dessen Name war der Tod, und ihm folgte die Hölle.“


    Klimow entrollt das Bild einer Apokalypse im Belarus des Jahres 1943, in einem von Hunderten niedergebrannter Dörfer (Klimow sprach von 600, heute zirkuliert eine Zahl von 9000). Klimow weicht von der dokumentarischen Vorlage Adamowitschs und konkreten Ort-Zeit-Bezeichnungen – Chatyn, 1943 – ab, zielt auf Totalität. Auf ein Bild der Vernichtung. Nicht nur der physischen Natur (Wald, Haus, Mensch), sondern der Psyche. Was kommt, nachdem die Hemmschuhe der Kultur abgeworfen werden und die Menschheit in zwei Lager zerfällt: Metzger und Schlachtvieh? Das Individuum schwindet – es ist nicht sein existentielles Drama. Opfer und Henker haben – nach Klimow – keine individuelle Geschichte. Kein Gesicht. Und in Erwartung des totalen Vernichtungskrieges – der Apokalypse – geht es ja um das Geschlecht der ganzen Menschheit. 
    Statt der Frage nach Entscheidung und Schuld, wie sie in anderen Kriegsfilmen dieser Zeit üblich war, wählte Klimow einen anderen Ansatz: „Das Gesicht des Menschen, der dich erschießt, siehst du nicht. Und es ist unwichtig, ob er gezwungen war, schwach oder willens, welche Kompromisse und Gewissensbisse er zu überwinden hatte – er schießt. Eine Differenzierung von Henkern, egal welche Uniform sie tragen, ist unnötig. Eine Differenzierung von Opfern ebenfalls. Wenn Bomben fallen, sehen wir weder Gesichter noch Nuancen. Für mich war die Frage des Stils entscheidend. Ich habe Coppolas berühmte Apocalypse now gesehen. Aber das war ein Kriegsschauspiel – Theater in realer Landschaft. Für mich muss maximale emotionale Einwirkung mit extremer Wahrhaftigkeit einhergehen. Dabei meine ich nicht dokumentarische Authentizität. Unsere Wahrnehmung ist durch Berge von Leichen im Fernsehen beim Abendbrot völlig abgestumpft.“2 

    Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren in „Idi i smotri“ neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Szene aus dem Film / © L. Luppov/Sputnik
    Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren in „Idi i smotri“ neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Szene aus dem Film / © L. Luppov/Sputnik

    Dagegen kämpft Klimow mit hypnotischer Suggestion von Horror, Ekel, Atemnot und Todesangst an. Mit einer für den Zuschauer unmerklich forcierten Vereinnahmung, mit dessen gewaltsamer Platzierung an die Stelle des Helden – und zwar so raffiniert und allmählich, dass der zum Kommen und Sehen Aufgeforderte dies erst wahrnimmt, nachdem die Falle schon zugeschnappt ist und er nicht mehr entrinnt. 


    In der ersten Szene beobachtet die Kamera aus einiger Entfernung zwei Jungen, die ein Gewehr aus der Erde buddeln, das einem Toten gehörte, ohne zu ahnen, was das bringt. Bereits in der nächsten Szene, als die Mutter den glücklichen Finder Fljora nicht zu den Partisanen in den Wald lassen will, ändert sich die Perspektive. Über die Optik dieses 14-jährigen naiven Dorfjungen öffnet sich der Blick auf den Krieg. Die Kamera schlendert mit ihm durch das Partisanenlager, staunt über die seltsamen Typen und ihr buffoneskes Leben. Doch allmählich verliert das Gewohnte den Charakter des Sicheren, überall lauert der Tod, und er ist allmächtig. Mit der Bombardierung des Waldes beginnt Fljoras Marsch durch alle möglichen Tode: erschossen zu werden oder im Moor zu ertrinken, auf eine Mine zu treten oder im Feuer zu sterben. Der Ton imitiert sein subjektives Hören, die subjektive langsame Kamerafahrt seinen Blick. Der Regisseur rückt den Zuschauer aus der Position des distanzierten Betrachters heraus, immer mehr in das (physiologische) Erleben des Geschehens hinein. In der Drängelei der Massen in der Scheune – in Erwartung eines gemeinsamen unausweichlichen Endes – überkommt den Rezipienten Atemnot, und er empfindet selbst Bedrohung. 


    Das verzerrte Antlitz des Jungen wird zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Wenn Fljora dem Massaker entkommt, ist er dennoch als Mensch vernichtet, entwürdigt. Erst hier ändert Klimow erneut die Erzählperspektive: Dokumentaraufnahmen vom Ende des Krieges laufen rückwärts. Fljora entlädt sich, indem er immer wieder auf ein Bild des Führers schießt. Auch dessen Leben spult sich rückwärts ab. Bei einem Kinderbild Hitlers hält Fljora inne. Dies wird meist als Zeichen für wieder aufgebaute Menschlichkeit im Opfer gedeutet. Ob der Zuschauer genauso schnell aufzurichten ist und zur Mündigkeit zurückfinden kann, wird dabei nicht beachtet. Doch diesen Effekt wollte Klimow mit seinem radikalen „Hyperrealismus“ und Schockeffekten erreichen. 
    Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Treibsand voller Leichen, Reiter der Apokalypse auf Motorrädern, die aus dichtem Nebel erscheinen; panoramaartige Szenen, die wie Höllenkreise wirken; weißer Schnee, der am Ende plötzlich wie ein Leichentuch die Märtyrer bedeckt. 
     

    Das verzerrte Antlitz des Jungen wird in Klimows Film zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Szene aus dem Film / Foto © L. Luppov/Sputnik
    Das verzerrte Antlitz des Jungen wird in Klimows Film zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Szene aus dem Film / Foto © L. Luppov/Sputnik

    „Gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd“

    Klimows Arbeitsmethoden waren, wie so oft bei seinen Filmen, ungewöhnlich. Um bei den Darstellern die Intensität des Grauens zu maximieren, ließ er das Gerücht verbreiten, dass ein tatsächliches Feuer gelegt wird. Anstelle der üblichen Platzpatronen wurden – trotz des erheblichen Risikos – echte Granaten und Leuchtspurgeschosse benutzt. Mit seinem Hauptdarsteller, einem 16-jährigen Moskauer Jungen, arbeitete Klimow nach der von ihm entwickelten „Methode der Posthypnose“. Um ihn vor psychischen Schäden zu bewahren, gab es im Filmstab eine Gruppe von Psychologen und Hypnotiseuren, die den Jungen nach den enormen Belastungen in den Zustand der Ansprechbarkeit zurückholten. Auch den Zuschauer schonte Klimow nicht: „Der denkt, er wisse alles über den Krieg. Aus Büchern, Filmen, aus Familiengeschichten. Doch Information ist nicht alles – gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd.“
    Klimows Film erschien im selben Jahr wie das Buch des französischen Philosophen Paul Virilio Krieg und Kino (dt. 1986). Beide meinten, unabhängig voneinander, dass es keinen Krieg ohne die Eroberung der Wahrnehmung gebe. Kriegsfilme, die eine derartige psychologische Macht ausüben, gehörten daher in die Kategorie der Waffen. 
    Klimows Film ist auf diese überwältigende suggestive Wirkung ausgerichtet. Die internationale Kritik sah in ihm einen barbarischen Zirkus, eine Mischung aus lyrischer Poesie und expressionistischem Albtraum und – ein gnadenloses Meisterwerk. 

    Text: Oksana Bulgakowa
    Veröffentlicht am: 22.06.2021



    1.zit. nach Istoria sovetskogo kino, Band 4, 1941-1952. Moskau 1975, S. 49 
    2.Das Interview mit Klimow hat Oksana Bulgakowa zusammen mit Dietmar Hochmuth 1984 in Moskau geführt. 

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    Animationsfilm „Wareshka“
    Animationsfilm „Wareshka“



    Aber wo kann man diese Filme in Deutschland sehen? Bei den Filmfestivals natürlich! goEast zeigt jedes Jahr eine Auswahl an neuen und älteren Werken, aber auch Dok Leipzig stellt traditionell viele interessanten Filme aus dem russischsprachigen Raum vor.

    Und für einen anspruchsvollen Filmabend allein zu Haus im Corona-Advent: Eine Adresse für gute (osteuropäische) Dokumentarfilme ist die Online-Plattform dafilms, wo Filme im Original mit englischen Untertiteln angeboten werden. Momentan steht unter anderem eine Viktor Kossakowski-Retrospektive zur Verfügung, inklusive einer Masterclass mit dem bekannten Petersburger Filmemacher. In den letzten Jahren hat der Altmeister (mit Ausnahme von GUNDA) nach meinem Geschmack vor allem größenwahnsinnige, allzu metaphysische Filme gemacht. Auf dafilms stehen die früheren Perlen seines Filmschaffens zur Verfügung, wie BELOWY (Die Belows), LOSEV oder SWJATO, in dem Kossakowskis zweijähriger Sohn Swjatoslaw zum ersten mal sein eigenes Spiegelbild entdeckt.
    Außerdem auf dafilms: einer meiner absoluten Favoriten DURAKAM SDES NE MESTO (No Place for Fools) von Oleg Mawromatti, ein Film, der das Motiv des heiligen Tors (jurodiwy) ins 21. Jahrhundert katapultiert, mit einem Protagonisten voller interessanter Widersprüche. 

    Tipp für untern Weihnachtsbaum: Geschenkgutscheine für dafilms können online erworben werden. 

    Online-Filme schauen ist gut und schön. Ich würde dennoch immer dafür plädieren, dass man, falls man glücklich genug ist, ein Kino in seiner Umgebung zu haben, dass gute eigene Programme gestaltet, diesen Ort auch während der Pandemie unterstützt – soweit möglich. Für Russophile in der Hauptstadt ist dies das Kino Krokodil. In dem kleinen Ladenkino in der Greifenhagener Straße sollte in diesem Monat zum Beispiel der exzellente (wenn auch grausame) Dokumentarfilm SPACE DOGS von Elsa Kremser und Levin Peter auf dem Programm stehen. Sollte die Kinotour nach der Pandemie wieder fortgesetzt werden, ist dieser Film absolut zu empfehlen.

    Auch Gutscheine für das Kino Krokodil können per Mail bestellt werden. 

    Wer findet, dass Hunde im Schnee besser aufgehoben sind als im Weltall, dem sei der süße Kinderklassiker WARESHKA (dt. Fäustling) empfohlen. Auf dem Youtube-Kanal des sowjetischen Animationsfilmstudios Sojusmultfilm steht der Kurzfilm, zusammen mit vielen anderen Klassikern, kostenlos zur Verfügung. 

    Oder schaut mal im Programmkino um die Ecke, wenn es wieder geöffnet ist. Es braucht euch jetzt mehr denn je!


    Heleen Gerritsen ist Leiterin des Filmfestival goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Die Filmproduzentin und Kuratorin studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und VWL in Amsterdam und Sankt Petersburg und leitete unter anderem das europäische Dokumentarfilmfestival dokumentART in Neubrandenburg.

     

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  • „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    In Deutschland wurde Regisseur Ilja Chrshanowski bekannt, als er 2018 für die Premiere seines Filmprojekts Dau die Berliner Mauer temporär wieder errichten wollte. Das Projekt scheiterte, zwei Dau-Filme wurden in Deutschland schließlich im Februar 2020 auf der Berlinale gezeigt, ohne wiedererrichtete Mauer. 
    Aber auch in Russland und in der Ukraine polarisiert der international erfolgreiche Künstler und Filmemacher, der derzeit an einem Konzept für das Museum von Babyn Jar arbeitet, wo 1941 knapp 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
    Im Interview mit Meduza spricht Ilja Chrshanowski über seine Kindheit unter Künstlern und Dissidenten, über „sowjetischen Geruch”, den die russische Gesellschaft bis heute ausströme, und das Museum als Ort einer emotionalen Erfahrung.  

    Meduza: Erzählen Sie von Ihrer Familie und der Umgebung, in der Sie aufgewachsen sind.

    Ilja Chrshanowski: Geboren bin ich in der Familie des Filmregisseurs Andrej Chrshanowski und der Philologin Maria Nejman. Ich war ein spätes Kind, für sowjetische Verhältnisse sogar extrem spät – meine Eltern waren 35 und 36 Jahre alt.   
    Und offenbar hatten sie so lange auf mich gewartet, dass sie sich dann nicht mehr von mir trennen wollten und mich überallhin mitnahmen – was für mich natürlich ein absolutes Glück war. Das war mir schon damals klar, aber jetzt schätze ich das noch mehr. Weil ich die ganze Zeit mit meinen Eltern verbrachte, hatte ich bis 13 praktisch keine eigenen Freunde, sondern war vor allem mit den Freunden meiner Eltern befreundet. Wenn ich heute auf diese Situation zurückblicke, verstehe ich es als riesiges Geschenk, von diesen wunderbaren Menschen umgeben zu sein, etliche von ihnen wahre Größen ihrer Zeit, und dadurch habe ich eine andere Beziehung zu Zeit. 

    Ich war vor allem mit den wunderbaren Freunden meiner Eltern befreundet

    Mein Taufpate, der Schriftsteller Sergej Alexandrowitsch Jermolinski, wurde 1900 geboren. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und schrieb einen Brief an Lew Tolstoi, der, wie Sie wissen, ziemlich viele Briefe bekam. Doch Tolstoi antwortete ihm und erklärte dem 10-Jährigen lang und breit, warum er doch besser kein Schriftsteller werden solle, was das für eine schwere und schwierige Arbeit sei. Trotzdem wurde Sergej Alexandrowitsch Schriftsteller und einer der ersten sowjetischen Drehbuchautoren. Viele Jahre lang war er eng mit Bulgakow befreundet. 
    Das alles wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde verhaftet, man verlangte von ihm, Bulgakow zu denunzieren, gegen seine Freunde auszusagen, doch er unterschrieb nichts und lebte noch sehr lange. Er und seine Frau Tatjana Alexandrowna Lugowskaja, die Schwester des Dichters Wladimir Lugowski, waren mit meinen Eltern befreundet. 
    Im Haus von Jermolinski und Lugowskaja wurden gern Feste gefeiert – Namenstage und Geburtstage, dort fanden sich immer illustre Gäste ein: die Kulturszene und die echte Intelligenzija jener Zeit. 

    Ihre Begegnung mit dem Millionär Sergej Adonjew – ist das die Fortsetzung einer Reihe von nützlichen und wichtigen Bekanntschaften, die in Ihrer Kindheit begonnen hat, oder ist das eine eigene Geschichte?

    Na ja, das Leben nahm seinen Lauf, und man begegnet verschiedenen Menschen unter unterschiedlichen Umständen. Sergej Adonjew lernte ich zufällig kennen. Mein Freund, der Restaurantbetreiber Iljuscha Demitschew, der seit ein paar Jahren in London lebt und dort fabelhafte Restaurantprojekte vorantreibt, hat im Wissen, dass es bei dem Film Dau Finanzierungsschwierigkeiten gab, einer gemeinsamen Bekannten davon erzählt – Uljana Zejtlina. Und die wiederum hat Sergej Adonjew getroffen, und als im Gespräch der beiden das Thema Kunstförderung, Kulturförderung aufkam, erzählte sie ihm von Dau. Sergej sagte, er habe den Film 4 gesehen, der habe ihm gut gefallen und er wolle mich kennenlernen. 

    Sergej Adonjew unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung

    Sergej ist ein außergewöhnlicher, geradezu genialer Mensch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Denn ich habe in meinem Leben schon viele Genies gesehen, Gott sei Dank, als Kind, aber auch als Erwachsener. Sergej hat eine enorme persönliche Gabe, diese Welt zu sehen und zu spüren. Er ist ein einflussreicher Mann und hat einen besonderen Einfluss. Er wirkt auf das Bewusstsein der Menschen, die in seine Nähe kommen. Das Leben dieser Menschen verwandelt sich dann irgendwie, verändert sich. Dass Sergej über Geldsummen verfügt, ohne die Dau und viele andere Kulturprojekte in Russland undenkbar wären, ist gar nicht das Entscheidende. Er unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung. Ich bin überzeugt, dass wir uns der Bedeutung von Sergejs Einfluss auf die heimische Kultur in Zukunft noch bewusst werden.  

    Führen Sie Ihre Zusammenarbeit mit Adonjew also auf einen Zufall zurück und nicht auf die Tatsache, dass Sie in bestimmten Kreisen reicher Menschen verkehrten?

    Natürlich, weil ja die Intelligenzija, wie Sie wissen, nie Berührungspunkte mit der Welt der sogenannten Reichen hatte. Schon zu Tschechows Zeiten wurden Geschäftsleute von der Intelligenzija verachtet, und in der Sowjetunion wuchs sich der Spalt zwischen Intelligenzija und Geschäftswelt zu einem Abgrund aus. 
     
    Was hat Sie an der Persönlichkeit Lew Landaus so beeindruckt, dass Sie beschlossen, ihm einen Film und in weiterer Folge ein ganzes Projekt zu widmen? Kann man sagen, dass die Zeit, in der die Handlung von Dau angesiedelt ist, 1938 bis 1968, gewissermaßen eine wichtigere Rolle spielt als die Figur Landaus? 

    Es fügte sich alles ineinander: Mich hat schon immer das Phänomen des sowjetischen Bewusstseins interessiert, des sowjetischen Menschen, des sowjetischen Genotyps. Nach der Katastrophe des Jahres 1917 wurde ein bestimmter Genotyp des Sowjetmenschen entwickelt, dem wir alle mehr oder weniger angehören. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, ist es schwer, damit umzugehen und – wie ein berühmter Schriftsteller es nannte – Tropfen für Tropfen diesen Sklaven aus sich herauszupressen. Anders schafft man es nicht, ihn aus sich herauszupressen. Man darf nicht so tun, als hätte man ihn nicht in sich. Ich finde das Thema des sowjetischen mentalen Sklaventums sehr interessant.

    Man darf nicht so tun, als hätte man man den sowjetischen Sklaven nicht in sich

    Hinzu kommt der Eindruck, den Landau bei mir als Kind hinterlassen hat, als ich ein Buch über ihn las, und später als Jugendlicher die Memoiren seiner Frau Kora. An alldem faszinierte mich in erster Linie dieser absolut freie und interessierte Mensch, der sein Leben abgesehen von der Wissenschaft der Frage widmete, was Glück ist und wie das Glück des Einen das Unglück des Anderen sein kann. 
    Landau war ein Mensch, der alles hatte, von Kind an wusste er, dass er ein Genie war, und auch alle anderen wussten, dass er ein Genie war. Er war immer sehr erfolgreich – bis auf eine dramatische Episode, wo er ein Jahr im Gefängnis saß, aber auch daraus wurde er befreit, konnte sich retten. Er wurde von den Frauen geliebt und von allen bewundert. Was ist Glück für so einen Menschen? Was ist Freiheit für so einen Menschen, für so einen Persönlichkeitstyp? Das war der Ausgangspunkt. 
    Doch dann kamen wir davon ab, Landaus Biografie zu verfilmen, weil es unmöglich ist, einen historischen Film zu machen, ohne ihn sich auszudenken, und wir wollten ihn uns nicht ausdenken, wir wollten ihn gewissermaßen herausbilden. Deswegen gibt es in diesem Projekt zwar einige Motive aus dem Leben Landaus und anderer Physiker, doch hat das alles nichts zu tun mit ihnen.  

    War Ihre Familie vom Stalinistischen Terror betroffen?

    Natürlich. Es gibt keine Familie, die nicht betroffen war.

    Das passierte auf verschiedene Arten. Wurde Ihre Wahrnehmung der damaligen Zeit innerhalb der Familie geprägt oder waren es die unzähligen Freunde Ihrer Eltern, die Ihnen ihre Erinnerungen mitgeteilt haben?

    Ich habe bereits meinen Taufpaten erwähnt, der inhaftiert gewesen war und sein Leben lang Angst vor der Polizei hatte. Und mein Vater hat eben jahrelang nicht gearbeitet, weil man ihm das verboten hatte. 
    1968 machte er den Film Die Glasharmonika und fuhr damit just an dem Tag, an dem unsere heldenhaften Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten, zu Goskino. Mit dem Ergebnis, dass der Film verboten wurde. Sie stellten ihn ins Regal, die erste Version vernichteten sie einfach, indem sie sie im Hinterhof des Filmstudios mit einer Axt in Stücke schlugen. Und Papa schickten sie, „damit er das Volk näher kennenlerne“, für zwei Jahre zur Marineinfanterie an Kampfschauplätze. Und das waren schon eher vegetarische Zeiten. Die Brüder meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters, saßen an die 20 Jahre in sowjetischen Gefängnissen. 

    Die Angst vor dem KGB war immer Teil des Lebens der Intelligenzija

    Meine Großeltern sind in der Kommunalka gestorben, in der nebenan Spitzel wohnten, Amateurspitzel oder tatsächliche Sicherheitsbedienstete von Stalin. Mein Großvater ist niemals irgendwelchen Vereinigungen von Künstlern, Schauspielern oder Theaterleuten beigetreten, zu denen er eingeladen wurde, weil er mit dem sowjetischen System nichts zu tun haben wollte. Er hatte bei Filonow, Malewitsch und Petrow-Wodkin gelernt und war ein absolut freier Mensch, aber eben frei auf dem abgesteckten Gebiet seines persönlichen Lebens und seiner Seele.
    Wir alle sind mit diesem Leben fest verbunden. Ich weiß noch, wie sie mir als Kind auf der Straße den Ermittlungsbeamten Chwat zeigten, der Meyerhold gefoltert hat. Und wir alle kennen Meyerholds berühmten Brief, in dem er beschrieb, was sie im Gefängnis mit ihm machten. Ein sehr enger Freund meines Großvaters war Erast Pawlowitsch Garin, ein Lieblingsschüler von Meyerhold, der sein Leben lang litt und die Tragödie um Meyerhold nicht überwinden konnte. Die Angst vor dem KGB in seinen verschiedenen Ausformungen war immer Teil des Lebens der Intelligenzija.

    Wie ist der Genotyp des Sowjetmenschen, den Sie mit Dau erforschen, entstanden und wie hat er sich etabliert?

    Er ist über all die Jahre hindurch herangereift. Das ist ein langer Prozess – das ist ja das Entsetzliche. Nazideutschland existierte nur 13 Jahre, und sie sind noch immer damit beschäftigt, es hinter sich zu lassen. Die Sowjetmacht war 70 Jahre am Ruder. Bürgerkrieg, Repressionen, Terror, Emigration, Großer Terror, Zweiter Weltkrieg, wieder Terror, Emigration, Emigration – alles Gute in diesem Land wurde vernichtet, es war ein Genozid am eigenen Volk.  
    Diejenigen, auf die unsere Kultur jetzt stolz ist, wurden in diesem Land vernichtet und misshandelt: Denken Sie nur daran, wie Sacharow gejagt wurde, was mit Solshenizyn passierte, wie Anatoli Efros gehetzt und hereingelegt wurde, wie Pasternak, Achmatowa, Soschtschenko, Sabolozki und viele andere sekkiert wurden, was sie mit Schostakowitsch machten, dass der Arme sogar zum Parteibeitritt gezwungen wurde, in so einer Angst lebte er und freute sich noch, dass sie ihn nicht einsperrten. Und wer hat all diese Schriftsteller und Künstler angeschwärzt? Ihre Kollegen! Und genau das ist der Genotyp. Das haben nicht irgendwelche anderen Leute gemacht, das haben dieselben Leute gemacht, die dann überlebten und stolz waren auf ihre Errungenschaften. Das ist alles ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte, des Leids und des Traumas. 
    Und dieser sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus. Und um ihn loszuwerden, müssen wir verstehen, was da war. Dau ist ein Teil der Erforschung dieses Genotyps.

    Sie haben die Arbeit an Dau mit 30 Jahren begonnen und waren die nächsten 15 Jahre mit diesem Projekt beschäftigt. Generell ist das eine der aktivsten und produktivsten Phasen im Leben eines Menschen. Hätten Sie diese Jahre besser verbringen können?

    Nein, besser hätte ich sie nicht verbringen können. Ich bin absolut glücklich über die Möglichkeit, dieses Projekt zu machen, wie schwierig es auch sein mag, welche Reaktionen es auch immer hervorgerufen hat und welche Schwierigkeiten es mitunter in mein Leben bringt. Es ist ein absolutes Glück, dass mir die Möglichkeit zuteil wurde, dieses Projekt zu machen, dass mir das Glück zufiel, die Menschen zu treffen, mit denen ich dieses Projekt gemeinsam gemacht habe. Zum einen war es eine große Mühe, zum anderen ein großes Glück. 

    Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus

    Und ich bin mir sicher, dass es, egal wie es jetzt aufgenommen wird, ein langes Leben haben wird. Es wird eine gewisse Bedeutung haben für jene, die etwas erfahren wollen über das Leben, über die Zivilisation, über die Mechanismen, in denen wir heute leben. 

    Wer hat Ihnen angeboten, das Projekt des Museums Babyn Jar zu leiten und warum?

    Von diesem Projekt hat mir Michail Fridman erzählt. Und ich war eine der Personen, mit denen die Mitglieder des Aufsichtsrats besprachen, wie man diese tragische Geschichte erzählen und emotional vermitteln kann, welche Sprache es dafür braucht. 
    Diese Geschichte ist mir nicht fremd. Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie, erst recht in jeder jüdischen, war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama – nämlich aufgrund dessen, was mit Leuten passiert ist, die das Gedenken dieser Tragödie aufgreifen wollten. Der Schriftsteller Viktor Nekrassow etwa war einer, der damit begann, sich für dieses Gedenken einzusetzen, und so wie viele andere musste er dafür büßen. Übrigens, der Vorsitzende unseres Aufsichtsrats, [der Bürgerrechtler] Natan Schtscharanski, wurde erstmals auf dem Weg zu einer Kundgebung im Rahmen von Babyn Jar verhaftet. 

    Meine Mutter wurde in der Ukraine geboren, überlebte durch ein Wunder den Holocaust, und auch ich war einige Zeit in der Ukraine, für mich ist das kein fremdes Land. Deswegen habe ich, wie mir scheint, das Recht, dieses Projekt in Augenschein zu nehmen, mir Gedanken darüber zu machen. Zuerst fuhr ich dort allein hin, dann auf Einladung des Aufsichtsrats zusammen mit einem hervorragenden Schriftsteller, dem Autor des Romans Die Wohlgesinnten, Jonathan Littell, um das Projekt genauer kennenzulernen und zu besprechen, wie es weitergehen soll. So begann mein regelmäßiger Kontakt zu Mitgliedern des Aufsichtsrats. 

    Und dann begann eine Art freies Gespräch, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln könnte: Wie kann man ein Museum gestalten, das die Leute auch in 20, 50 und in 100 Jahren Jahren sehen wollen – wie seltsam das in Bezug auf einen derart tragischen Ort auch klingen mag –, um etwas zu klären und zu entdecken über sich selbst, für sich selbst, sich selbst zu erlauben, durch den Schmerz zu gehen. Schmerz und Leid sind nicht unbedingt ein sadistischer, quälender Akt, wie das in der physischen Welt so ist. Die Bereitschaft, Anteil zu nehmen an fremdem Schmerz und fremdem Leid, ist ein Weg zu seelischer Gesundheit, darauf bauen zumindest die meisten Religionen der Welt auf. 

    Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama

    Allmählich gab es immer mehr Gespräche, ich redete mit anderen Kulturschaffenden, Künstlern, Philosophen über das Projekt. Dann stellte sich uns noch eine Frage: Was wird das Museum in Zukunft darstellen? Wenn man davon ausgeht, dass es in fünf, sechs Jahren gebaut wird, dann ist es in 30 Jahren immer noch ein neues Museum. Und schon jetzt muss man eine Sprache finden, die in der Zukunft gehört wird und aktuell ist. Unser Ziel war es, ein lebendiges Denkmal zu schaffen, nicht ein Denkmal im sowjetischen Sinn dieses Wortes. 

    Warum dieses Projekt Sie interessiert und Ihnen wichtig ist, ist klar, aber warum hat Michail Fridman Sie ausgewählt? Kannten Sie ihn schon?

    Mich hat nicht Fridman ausgewählt, sondern der Aufsichtsrat. Ja, wir kannten uns. Um genau zu sein, hat Fridman sich an mich gewandt. Und davor hat er, soweit ich weiß, meine Kandidatur mit dem Aufsichtsrat besprochen, von dem ich einige Mitglieder auch schon kannte. Fridman kenne ich aus London, wo ziemlich viele reiche Leute russischer Herkunft leben, während russischsprachige Menschen, die sich wirklich für Kultur interessieren, ja nicht so dicht gesät sind.  
    Fridman ist ein großer Kulturkenner, sehr interessiert. Als gründlicher Mensch verfügt er über ein enzyklopädisches Wissen über Literatur, Musik, Geschichte, und beim Film kennt er sich zum Beispiel viel besser aus als ich.  
    Natürlich war das Projekt Dau einer der Gründe, warum ich dorthin eingeladen wurde – immerhin ist das ein großer Teil meines Lebens. Wobei man hinzufügen muss, dass ich fast nie fremde Projekte gemacht habe, sondern immer nur meine eigenen. Aber hier war klar, dass das nicht einfach irgendein Projekt ist, sondern ein großes, komplexes, öffentliches Projekt, das man wie sein eigenes behandeln muss, während man gleichzeitig eine Riesenmenge Regeln aller Art beachten muss. 
    Im Endeffekt ist der Aufsichtsrat zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Projekt eine künstlerische Leitung braucht. Mir wurde angeboten, mir Gedanken über die kreative Umsetzung zu machen. 

    Hat sich an der umstrittenen Reputation des Projekts Dau keines der Aufsichtsratsmitglieder gestoßen? Gab es welche, die gegen Ihre Kandidatur eintraten? Waren Sie mit irgendeiner Art Widerstand konfrontiert?

    Soweit ich weiß, wurde ich einstimmig ernannt. Man muss wissen, dass Dau in Europa, in England, Frankreich, Deutschland, in den USA einen gewissen Ruf als einzigartiges Kunstprojekt hat – bei allen Skandalen, die es rund um das Projekt gab.

    Was wird die hauptsächliche interaktive Methode des Museums Babyn Jar sein?

    Die grundlegende Methode hängt damit zusammen, dass es für jeden Besucher ein individuelles Erlebnis werden soll. Die Menschen sollen dort etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine, in Osteuropa wurde praktisch komplett vernichtet. Zu Beginn der 1940er Jahre war in Kiew jede vierte Familie jüdisch, somit wurde ein riesiger Teil des Lebens einfach ausgerottet und vernichtet.  

    Das heißt, die Welt, die jetzt existiert, ist eine andere: Kinder wurden nicht geboren, Wissen wurde nicht generiert, Werke wurden nicht erschaffen, wissenschaftliche Entdeckungen wurden nicht gemacht, es riecht nicht mehr so wie damals, das ganze Ökosystem menschlichen Lebens existiert nicht mehr. Das heißt, diese verlorene Welt muss man wahrnehmen, man muss sie spüren und lieben. Man kann nicht etwas lieben, ohne es wahrzunehmen, und man kann nicht mitfühlen, ohne zu lieben. 

    Die Menschen sollen im Museum von Babyn Jar etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine

    Dafür muss eine Sprache, dahin muss ein Weg gefunden werden. Lieben, fühlen, erleben kann man nur durch Berührung. Und Berührung muss für ein 10-jähriges Kind anders aussehen als für einen 35-jährigen Erwachsenen oder einen 85-jährigen Greis, weil jeder von ihnen mit seiner eigenen Erfahrung ins Museum kommt. Dabei helfen uns moderne Technik und sogar sogenannte Big Data, mithilfe derer wir zu jedem in einer ihm verständlichen Sprache über das sprechen können, wozu er aufnahmebereit ist. 
    Mir schwebt vor, dass es die Aufgabe dieses Museums ist, den Menschen ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit der Welt zu vermitteln.

    Mit welchen Instrumenten wird das umgesetzt? Wie wollen Sie diese Erfahrung für Erwachsene und Kinder personalisieren? Wie werden die Big Data gesammelt?

    Beim Kauf der Eintrittskarte wird der Besucher im System registriert und wählt aus, in welchem Umfang er Zugriff auf seine Daten gewähren möchte. Das erlaubt es uns, seinen Rundgang individueller zu gestalten. Derzeit verfolgen wir die Idee, dass das Auswählen eine wichtige Rolle im Museum spielen wird. Während des Rundgangs dann wird der Besucher immer wieder Entscheidungen treffen und selbst bestimmen, was ihm als Nächstes begegnet. Die Geschichte dieses Museums ist eine Geschichte der Entscheidungen, denn in der ganzen Menschheitsgeschichte geht es um Entscheidungen. Manchmal um sehr kleine, unbedeutende, wo man gar nicht dazu kommt, [seinen Schritt] zu reflektieren, doch genau diese kleinen Entscheidungen ergeben zusammen eine große. 

    Bei der Präsentation bekommt man den Eindruck, dass die Museumsbesucher nicht nur Zuschauer und Beobachter bleiben, sondern an manchen nachgestellten Ereignissen unmittelbar teilnehmen. 

    Ja, aber man muss bedenken, dass wir in der Zeit des immersiven Theaters leben, der immersiven Projekte, Installationen, Performances, der Hologramme und Virtual Reality – all das ist eine Sprache der modernen Realität, und, in der Folge, Kultur. Die Wahrnehmung des Menschen hat sich verändert, das muss man sich eingestehen. Damit etwas in der Zukunft funktioniert, darf man es nicht nach den Mustern der Vergangenheit bauen. Sonst werden wir immer Autos der Marken WAS und SAS herstellen, und selbst wenn wir sie Lada oder Tawrija nennen, wird daraus kein Tesla. Stellen Sie sich einfach vor, dass das hier der Tesla der Museumswelt wird.

    Ich möchte, dass Sie verstehen: Mein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass ins Museum Babyn Jar Millionen von Menschen kommen. Wenn sie nicht kommen, heißt das, dass das Konzept nicht aufgegangen ist. Millionen Menschen kann man nicht dazu zwingen, irgendwo hinzukommen, sie müssen einen Grund und den Wunsch haben, das zu tun, und sie müssen wiederkommen wollen. 

    Stellen Sie sich einfach vor, dass Babyn Jar der Tesla der Museumswelt wird

    Ich glaube, es gibt solche Momente, solche Gelegenheiten, wo man etwas Originelles machen kann und soll, und nicht irgendetwas nach Schema F, einfach um es abzuhaken. Niemand wird in ein Museum gehen, in dem ihm in verstaubter Sprache erzählt wird, wie viele gute Juden von den bösen Deutschen getötet wurden. Das wird niemanden interessieren. Und das bedeutet, dass diese Lektion der Geschichte nicht verinnerlicht wird. 

    Es wird aber auch niemand in ein Museum gehen, in dem er ein psychisches Trauma erleiden kann. 

    Wie können Sie in einem Museum ein psychisches Trauma erleiden?

    Wenn Sie von Auswahlmöglichkeiten für die Besucher sprechen, die werden wahrscheinlich wählen müssen, für wen sie den nächsten fiktiven Zug machen: für einen Ordnungspolizisten, ein Opfer oder einen SS-Offizier. Ist das die Wahl, die man treffen muss?

    Nein, solche Entscheidungen sind gar nicht gefragt, sondern die Leute können schauen, wie bei ihnen selbst psychologische Mechanismen funktionieren. Ich glaube nicht, dass das traumatisieren kann, sondern das zeigt jedem, wo sich in seiner Seele jene Grenzen befinden, die er nicht überschreiten darf.  

    In Deutschland passierte der Völkermord nach der Weimarer Republik – nach einer freien, wunderbaren, großartigen Zeit. Auch die Menschen damals waren wunderbar, religiös, gläubig, kulturell gebildet. Was war da mit ihnen geschehen innerhalb weniger Jahre? Wie wurden sie zu jenen deutschen Jungs, die in ein paar Tagen zigtausende Menschen erschossen und ihren Opfern dabei in die Augen sahen? Was waren das für Ausgeburten der Hölle? Wie ist das passiert, wie passiert so etwas? Wie wurden wir zu jenem Volk oder jenen Völkern, die Millionen von Denunziationen schrieben? Wie wurden wir zu denen, die schwiegen? Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert.       

    Andererseits muss man versuchen, in sich selbst die komplizierte Mechanik des Verständnisses für das Andere und des Zugeständnisses der Rechte des Anderen zu entfalten. 

    Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert       

    Wir sehen, was jetzt in einer großen Anzahl sehr demokratischer europäischer Länder vor sich geht: An die Macht kommen Rechtsradikale. Man darf nicht vergessen dass auch Hitler demokratisch gewählt wurde, und Stalin wurde geliebt, während Sacharow im ganzen Land angefeindet wurde und nur wenige es verweigerten, Briefe gegen ihn zu unterschreiben. Und wieder ein paar Jahre später kamen hunderttausende Menschen zu seinem Begräbnis, und jetzt stellen sie ihm Denkmäler auf. 

    Wir kennen leider viele solcher Geschichten, aus diesen Geschichten ist auf jenem Territorium, das Sowjetunion hieß, das Leben gewebt. Deswegen glaube ich, dass die Konfrontation mit sich selbst, mit den eigenen Entscheidungen, kein Trauma ist. Ein Trauma ist es, wenn du in einer Situation bist, wo du ein Trauma, das du schon in dir trägst, nicht verarbeiten kannst, wo du ein zukünftiges Trauma nicht abwenden kannst. Darin liegt vor allem die Gefahr, weil dann die nächste Generation mit diesem Trauma zu tun haben wird.   

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Ilja Chrshanowski

    Ilja Chrshanowski

    Im Januar 2019 wurde in Paris die Weltpremiere des „Monsterprojekts“ Dau gefeiert. Über 10 Jahre lang kursierte darüber nicht viel mehr als eine Fülle an Gerüchten. Vor allem in den russischen Medien war die Rede von Chaos am Filmset, Machtmissbrauch, Ausbeutung, exzessiven Sex- und Gewaltszenen sowie dubiosen Finanzierungsquellen. Die zentrale Figur hinter all dem ist der Regisseur Ilja Chrshanowski. In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet er die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts und er macht das auf eine unkonventionelle, innovative, gleichzeitig aber höchst polarisierende Weise. Chrshanowski provoziert, inszeniert und seziert menschliches Verhalten in extremen existentiellen Situationen, um die Wirkmechanismen totalitärer Systeme „erlebbar“ zu machen. Dieses Grundprinzip wird er nach Dau im Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew weiterverfolgen. Seine Bestellung zum künstlerischen Leiter, die im Herbst 2019 erfolgte, wurde von den Medien ebenso wie Dau äußerst kontrovers wahrgenommen: Die Kritiker befürchten die Errichtung eines „Holocaust-Disneyland“.

    In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet Ilja Chrshanowski die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Foto © Ekaterina Chesnokova/Sputnik
    In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet Ilja Chrshanowski die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Foto © Ekaterina Chesnokova/Sputnik

    Ilja Chrshanowski (geb. 1975 in Moskau) ist im Milieu der sowjetischen künstlerischen Intelligenzija aufgewachsen. Sein Vater ist der bekannte Regisseur, Trickfilmer und Drehbuchautor Andrej Chrshanowski. Sein Großvater war Künstler und Sänger und verlieh ab den 1950er Jahren zahlreichen Animationsfilmen seine Synchronstimme. Das besondere kulturelle und intellektuelle Umfeld seiner Kindheit hebt Chrshanowski in Interviews immer wieder als persönliches Privileg hervor. Gleichzeitig offenbarten sich ihm gerade in diesem Milieu vom Autoritarismus ausgeprägte menschliche Verhaltensweisen. So erinnert er sich in einem Interview mit Meduza an Peredelkino, ein sowjetisches Künstlerdorf in der Nähe von Moskau, wo die Familie Haus an Haus mit bekannten Kulturschaffenden wohnte. Über einen davon, den landesweit berühmten und angesehenen Schriftsteller Valentin Katajew, sagt Chrshanowski in dem Gespräch: „Sobald eine Hetzjagd gegen einen seiner Kollegen losging, [eilte er] nach Moskau, um rechtzeitig seine Unterschrift unter ein Verleumdungsschreiben zu setzen“.

    Im Jahr 1992 ging Chrshanowski zum Kunststudium nach Bonn, kehrte aber bereits ein Jahr später wieder nach Moskau zurück: ihm erscheine das Leben in Russland der 1990er Jahre weit interessanter als jenes in Europa.1 Zum gleichen Zeitpunkt stellte der Altmeister des Sowjetfilms Marlen Chuzijew einen Regiekurs an der Moskauer Filmhochschule WGIK zusammen, in den auch Chrshanowski aufgenommen wurde. Zehn Jahre später kam sein erster Spielfilm heraus, der den rätselhaften Titel 4 (2004) trägt. Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in diesem Film erkennen.

    Fingerübung und Sprungbrett

    Vier Jahre lang arbeitete der junge Regieabsolvent an seinem Debütfilm. Das Drehbuch stammte vom postmodernen Kultautor Vladimir Sorokin, dessen Handschrift und Themen im Filmsujet auch deutlich zu erkennen sind. Zwei Männer und eine Frau kommen eines nachts in einer Bar ins Gespräch und präsentieren ihre scheinbar fiktiven Identitäten, die im weiteren Handlungsverlauf immer realer und realistischer werden. Einer der beiden Männer stellt sich als Wissenschaftler vor, der in einem Geheimlabor Menschen klont. Seit 1947 solle es in der Sowjetunion Experimente gegeben haben und ganze Dörfer seien von geklonten Menschen bevölkert. Wie sich später zeigen wird, ist wohl auch die junge Frau, Marina, gemeinsam mit ihren drei gleich aussehenden Schwestern ein derartiger Klon.

    https://www.youtube.com/watch?v=RLaYLv77o9s

     
    Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in seinem Debütfilm 4 erkennen

    Im Mittelpunkt der Handlung steht die Rückkehr Marinas in ihr Dorf. In den Dorfszenen, die das inhaltliche und formale Gravitationszentrum des Films bilden, wird das anfängliche Science-Fiction-Sujet durch die Archaik des russischen Dorfes konterkariert. Ungewöhnlich bis skandalös wirken vor allem die dokumentarischen Aufnahmen der erotisch-morbiden, ekstatischen, karnevalesken Dorfgemeinschaft: alte Frauen bei einem Saufgelage, die sich vor laufender Kamera nackt präsentieren und sich gegenseitig an die schlaffen Brüste fassen. Der Literaturwissenschaftler Mark Lipovetsky bietet eine pointierte Beschreibung von Chrshanowskis Szenerie: „Man stelle sich ein Zaubermärchen vor, mit drei russischen Schönen, mehreren Baba Jagas (gespielt von echten Dorfbewohnerinnen), die fluchen, trinken, sich prügeln, lachen und weinen – und all das ist in einem dokumentarischen, fast emotionslosen Stil gedreht“.2

    Bereits sein Debütfilm und vor allem die filmische Darstellung des Dorfes stießen im damaligen Russland auf heftige Kritik. Der Film wurde schließlich jedoch für den Verleih freigegeben, was heute allein schon aufgrund der extensiven Verwendung der Vulgärsprache Mat undenkbar wäre (Mat darf laut Gesetz seit 1. Juli 2014 nicht mehr im Kino, Fernsehen, Theater sowie in den Medien verwendet werden). Beachtlich war dagegen die internationale Resonanz. Der Film lief 2004 bei den Filmfestspielen von Venedig außer Konkurrenz und erhielt im darauffolgenden Jahr auf Filmfestivals eine Auszeichnung nach der anderen, unter anderem in Rotterdam, Athen, Seattle oder Buenos Aires.

    Dieser Erfolg ebnete Chrshanowski den Weg, ein weit größeres Projekt in Angriff zu nehmen. Dabei entwickelte er seine Konzeption konsequent weiter und verfolgte eine für alle Beteiligten herausfordernde, künstlerisch und philosophisch höchst aktuelle Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität, Inszenierung und Beobachtung, Spielfilm und Dokumentarismus, Parawissenschaften und (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis: 2005 beginnt er seine Arbeit an Dau.

    Vom Biopic zum Modell des Sowjetsystems

    Anfänglich plante Chrshanowski, das Leben des sowjetischen Physikers und Nobelpreisträgers Lew Landau zu verfilmen, und begann mit Sorokin am Drehbuch zu arbeiten. Sehr schnell verwarf er jedoch diese Pläne wie auch die Drehbuchvarianten, die Sorokin vorgelegt hatte.3 Aus dem Biopic über „Dau“, wie man den Physiker im Familien- und Freundeskreis nannte, wurde etwas unvergleichbar Größeres, das den Namen Mammutprojekt verdient – und ohne Drehbuch realisiert wurde.

    Chrshanowski ließ, dank der großzügigen finanziellen Unterstützung des russischen Unternehmers Sergej Adonjew, in der ukrainischen Stadt Charkiw an der Stelle eines still gelegten Freibads ein Filmset errichten. Auf 6000 Quadratmetern4 entstand das Modell eines sowjetischen Forschungsinstituts, in dem die sowjetische Gesellschaft als Ganzes simuliert werden sollte: mit realen Menschen von heute, die im „Institut“ bis zu drei Jahre lang wohnten und in die Rollen der Menschen der Jahre 1935 bis 1968 schlüpften – von Physikern über Buffetkräfte und Straßenfeger bis hin zu Miliz und Geheimpolizei. Im „Institut“ wurde mit sowjetischem Geld bezahlt, Gegenstände und Kostüme entsprachen der jeweiligen Zeit, das Essen war sowjetisch und aus den Lautsprechern war ausschließlich sowjetisches Radio zu hören.

    Das „Institut“ war für die Jahre 2008 bis 2011 Filmset und Versuchsanordnung zugleich. Diese war auf menschliches Verhalten in bestimmten Situationen fokussiert. Chrshanowski ging dabei konsequent an die Scham- und Tabugrenzen: Sex in hetero- oder homosexueller und sogar inzestuöser Form, Alkohol, Gewalt gegen Mensch und Tier. In Ergänzung dazu zielte die Versuchsanordnung auf menschliches Verhalten unter autoritären bzw. totalitären Bedingungen ab – eine Aufgabenstellung, der sich in den USA der 1960er und 1970er Jahre psychologische Experimente, wie das Milgram-Experiment oder das Stanford-Gefängnis-Experiment, verschrieben hatten.

    Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen

    Chrshanowski konzentrierte sich darauf, sowjetische Macht-, Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen emotional und intellektuell zu erschließen und dadurch „erlebbar“ zu machen. Obwohl eine Reduktion des Projekts auf dieses Moment zu kurz greifen würde, geht es doch im Wesentlichen um Vergangenheitsaufarbeitung in einem umfassenden Sinn oder, wie der russische Filmkritiker Anton Dolin es formuliert, um die „komplexen Wechselbeziehungen des postsowjetischen Menschen (insbesondere des Wissenschaftlers und Künstlers) zum totalitären Erbe der Sowjetunion“.5

    Die Teilnehmenden erklärten sich bereit, in jeder Situation gefilmt zu werden und sie wussten, wann gefilmt wurde. Mit Ausnahme von Radmila Schtschegolewa in der Rolle von Daus Ehefrau Nora sind die DarstellerInnen allesamt Laien. Aus der beobachtenden Kamera ergibt sich auch die spezifische Ästhetik der entstandenen Filme: lange Einstellungen, wenig Handlung, eine auf Eskalation ausgerichtete Dramaturgie, die serienhafte Wiederkehr der Figuren und Themen. Dabei besteht die mediale und ethische Herausforderung für die ZuschauerInnen darin, dass sie auf eine bisher kaum gekannte Art involviert werden. Unabhängig davon, ob sie den Figuren bei ihren Trinkexzessen, bei ihren intimen Beziehungskrisen oder bei kollektiven Zerstörungsorgien zusehen, werden die ZuschauerInnen durch die zur Schau gestellten Akte der Erniedrigung und Selbsterniedrigung nicht nur in die Rolle von VoyeurInnen versetzt, sondern erleben fast zwangsläufig das Gefühl der Scham. Scham für den Anderen zu evozieren ist eine Form der Empathie, die das konventionelle Kino nicht kennt.

    Vom Regisseur zum Ausstellungsmacher

    Obwohl die Dreharbeiten Ende des Jahres 2011 abgeschlossen wurden und Chrshanowski das „Institut“ real auseinandernehmen ließ (mit einer Zerstörungsorgie ukrainischer Neonazis endet auch der sechsstündige Film Dau. Degeneratsia), dauerte es noch mehrere Jahre, bis das Projekt öffentlich präsentiert wurde. Die Postproduction-Phase wurde von Charkiw nach London verlegt. Dort, in Chrshanowskis Studio in der Piccadilly Street, wurden nicht nur aus 700 Stunden gedrehtem Material mehrere Filme und Miniserien montiert, sondern auch Screenings für geladene Gäste veranstaltet.6

    Als Präsentationsorte waren für Herbst/Winter 2018/19 zuerst Berlin, dann Paris und London vorgesehen. Präsentiert werden sollte das Projekt in Form einer Ausstellung mit Screenings, Performances, Installationen und Konzerten. Die BesucherInnen sollten zu Beginn einen persönlichen Fragebogen ausfüllen, auf Basis dessen ein individualisiertes Programm vorgeschlagen werden sollte – zweifelsohne eine Provokation in Bezug auf Fragen des Datenschutzes. Vorgesehen waren darüber hinaus individuelle Gespräche mit VertreterInnen der Religionen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen in beichtstuhlartigen Kabinen, die gefilmt und auf Wunsch auch wieder gelöscht werden sollten.

    Die Weltpremiere von Dau, das nun als interdisziplinäres Kunstprojekt deklariert wurde, war für den 12. Oktober 2018 geplant. Als Veranstaltungsort war das Kronprinzenpalais am Boulevard Unter den Linden in Berlin vorgesehen. Das Areal rund um das Palais sollte von einer Mauer aus Beton umsäumt werden. Die Berlinpremiere scheiterte jedoch an der baulichen Genehmigung für die Mauer. Abgesehen davon skandalisierten deutsche Pressestimmen das Kunstprojekt zu einem „DDR-Disneyland“ und „stalinistischen Retro-Spektakel mit Gruselfaktor“.7

    Im Pariser Centre Pompidou und in den beiden Theatern Théâtre de la Ville und Théâtre du Châtelet wurde das Projekt schließlich von 24. Januar bis 17. Februar 2019 öffentlich in der geplanten Form präsentiert. Nach Berlin zurück kehrten ein Jahr später zwei Filme: Der sechsstündige Dau. Degeneratsia wurde im Berlinale Special gezeigt, während Dau. Natasha als Film im Wettbewerb der Berlinale lief und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde (den Preis erhielt der deutsche Kameramann Jürgen Jürges). Im April 2020 schließlich, mitten in der Corona-Krise, ging die Streaming-Plattform Dau Cinema online, die 15 Spielfilme und 6 Serien verzeichnet, die sukzessive online gestellt werden.

    In Russland ist an eine Präsentation des Projekts aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen derzeit nicht zu denken. Vier von insgesamt zehn der beim Kulturministerium eingereichten Dau-Filme erhielten keine Verleihgenehmigung, weil sie Pornografie propagieren würden..Gegen dieses Urteil hat die Produktionsgesellschaft Phenomen Films im Februar 2020 beim Moskauer Schiedsgericht Klage eingereicht.8

    Mediales Echo

    Betrachtet man den wuchernden medialen Diskurs über Dau, so kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass das mediale Echo als integrativer Bestandteil des Projekts angelegt ist. Wo immer Chrshanowski in Erscheinung tritt, entspinnt sich in den Medien eine Polemik über den Regisseur, über seine Arbeitsmethoden und Finanzierungsquellen. Zu den konstanten Vorwürfen gegen ihn gehört, dass er Menschen manipuliere, ihre Arbeitskraft ausbeute (was gleichermaßen für die Dreharbeiten in Charkiw wie für die Dau-Präsentationen in den europäischen Metropolen gilt),9 dass er sich als männliches Genie und Sektenführer gerieren würde. Im Rahmen der Berlinale 2020, auf der zwei Dau-Filme zu sehen waren, wurde eine #metoo-Debatte losgetreten.

    Die moralischen und – konkret in der Ukraine – strafrechtlichen Vorwürfe10 gegen das Projekt wirbeln in der medialen Öffentlichkeit oberflächlich vor allem Staub auf. Indirekt demonstrieren sie dagegen, dass Chrshanowski auf eine Kunst abzielt, die sich nicht einfach konsumieren lässt, sondern die BetrachterInnen treffen will. Dieser Ansatz polarisiert in besonderem Maße. So gibt es neben vehementen KritikerInnen nicht nur eine Fülle an prominenten UnterstützerInnen, sondern auch euphorische Stimmen, wie beispielsweise die des deutschen Filmkritikers und Festivalkurators Jochen Werner, für den es besseres und aufregenderes Kino als Dau derzeit nicht zu sehen gebe.11

    Babyn Yar: ein Holocaust-Disneyland?

    An das Dau-Projekt, das Chrshanowski über die Jahre entwickelt hat, knüpft er nun konzeptionell in einem Museumsprojekt an. Im Herbst 2019 wurde Chrshanowski zum künstlerischen Leiter des in Entwicklung begriffenen Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew bestellt. Für das Museum, das an das Massaker an rund 33.000 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt am 29. und 30. September 1941 erinnern soll, sieht Chrshanowski einen individualisierten, auf Basis neuer Medientechnologien generierten „Weg“ durch die Ausstellung vor. Die Lebensgeschichten der Opfer sollen medial aufbereitetet werden und insgesamt geht es ihm um ein Erlebbarmachen des Holocaust über die emotionale Einwirkung auf die BesucherInnen. Wie Chrshanowski im Interview mit Meduza sagte, könnten Menschen nur über den unmittelbaren Kontakt – über das In-Berührung-Kommen – „lieben, fühlen und erleben“.12

    Die Reaktionen auf die Ernennung Chrshanowskis als künstlerischer Leiter waren nicht weniger kontrovers, als die Reaktionen auf das Dau-Projekt. Die bis dahin für die Konzeption Verantwortlichen nahmen den Hut. Die ehemalige geschäftsführende Direktorin Jana Barinowa etwa krisitierte, das Projekt würde sich nun von den internationalen Standards des Holocaust-Gedenkens weg in eine vollkommen andere Richtung bewegen.13 Die kritischen Einwände zielen inhaltlich auf die Infragestellung gewohnter Grenzziehungen ab. So erscheint die Befürchtung durchaus berechtigt, Chrshanowski würde die Grundfeste einer Holocaust-Gedenkstätte, die den historischen Fakten verpflichtet ist und die Würde der Opfer ins Zentrum der Erinnerung stellt, erschüttern. Nicht adäquat erscheint dagegen die Assoziation mit einem „Holocaust-Disneyland“. Auf Unterhaltung, Vergnügung und Zerstreuung zielt Chrshanowski zweifelsohne nicht ab. Vielmehr verspricht er in Bezug auf den Holocaust, uns Nachgeborene auf eine durchdringende Weise mit den unvorstellbaren Gräueln des 20. Jahrhunderts neu zu konfrontieren.


    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Leinwandbilder: Russen und Deutsche im Film

    Ausländer werden in der russischen Kulturgeschichte häufig nicht nur auf Zelluloid zu Klischeefiguren: Der Franzose galt in Russland oft als ein nicht ernstzunehmender Frauenheld. Und der Deutsche erschien als betrunkener Schlosser namens Schiller, der den nicht weniger betrunkenen Schuster Hoffmann darum bittet, ihm die Nase abzuschneiden. Denn Schiller hatte errechnet, dass die Nase mit ihrer Leidenschaft für Tabak zu viel Ausgaben verursachte. Die Logik eines Deutschen erweist sich als absurde Unlogik: die Zahlen, an die sich der vernünftige Schiller klammert, verraten nicht Verstand, sondern verdecken den Wahnsinn. Nikolaj Gogol, der die beiden Gestalten so in seiner bekannten Erzählung Newski-Prospekt defilieren ließ, entdeckte diesen Bruch, der das Klischee des Deutschen von nun an prägte – später auch im Film.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Der sowjetische Film schien sich dieser Tradition zunächst kaum bewusst. Deutsche, die noch neuen Feinde aus dem soeben beendeten Krieg, kommen hier zunächst kaum vor – außer in kurzen Frontrückblenden. Doch dann werden sie in erster Linie nicht als Deutsche, sondern als betrogene Proletarier dargestellt: Die Grenze verläuft hier zwischen den Klassen und nicht zwischen den Nationen. 
    Filimonow, der Protagonist von Oblomok imperii (Der Mann, der sein Gedächtnis verlor, 1929) erblickt in einem Deutschen gar den eigenen Doppelgänger. Und Hans Klering – als deutscher Kriegsgefangener in Okraina (Vorstadt, 1933) von Boris Barnet – vollendet brillant diese Darstellungstradition, die im Grunde eine Image-Setzung ist: Genauso wie die Heldin des Films ist auch der Zuschauer bereit, diesen schweigenden, Mundharmonika spielenden, einsamen Deutschen – einen naiven, gütigen Kerl – brüderlich zu lieben und vor russischen Chauvinisten zu verteidigen. 

    Kinder von Karl Marx

    In den 1930er Jahren ändert sich das Bild des Deutschen im russischen Film. Es sind die deutschen Arbeiter, die Kinder von Karl Marx, die nun massiv auf der sowjetischen Leinwand erscheinen.

    Das geschieht in drei Wellen: Anfang der 1930er Jahre entstehen Filme, die den Kampf gegen die sogenannten Sozial-Faschisten (Sozialdemokraten) darstellen – in denen die Nationalsozialisten selbst aber nicht präsent sind; darauf folgen Volksfrontfilme, die bereits im nationalsozialistischen Deutschland angesiedelt sind. Und schließlich flimmern Bilder vom zukünftigen Krieg mit Deutschland über die Leinwand.1

    Straßenkämpfe mit der Polizei und Streikbrechern, Arbeitslosigkeit und hungernde Kinder sind die variierten Themen bei fast gleichbleibenden Sujets dieser Werke: Die Sozialdemokraten – Verräter der Arbeiterklasse – wirken Hand in Hand mit der Polizei und liefern Kommunisten aus.

    Entlarvung des Faschismus

    Von 1936 bis 1938 kämpfen tausende Freiwillige aus der Sowjetunion in Spanien gegen die Putschisten, die wiederum von deutschen Fliegern der Legion „Condor“ unterstützt werden. Zu dieser Zeit entstehen viele sowjetische Filme, die den Faschismus entlarven sollen, unter Mitwirkung deutscher Emigranten. Diese sind als Drehbuchautoren, Regisseure, Schauspieler und Berater tätig (genauso wie zur selben Zeit russische Emigranten in Deutschland am Bild der Russen im deutschen Kino mitwirken).2

    Das dramaturgische Schema der antifaschistischen sowjetischen Filme sieht gewöhnlich so aus: Zu sehen ist das leidende und sich dem Faschismus widersetzende Volk einerseits – und andererseits eine kleine Gruppe von Schurken, eben die Nazis, die das Volk terrorisieren. Die gute deutsche Arbeiterklasse, immer als Vorbild angesehen, wird idealisiert und verklärt, selbst noch Mitte der 1930er Jahre, als die Naziherrschaft sich fest etabliert hat. In all diesen Filmen finden sich entschlossene Kämpfer gegen das Regime, und sie gehen aus der Filmhandlung stets als Sieger hervor. Auch im Epilog von Moorsoldaten heben die Arbeiter die Hände nicht zum Hitlergruß, sondern ballen ihre Fäuste zum Rotfront-Gruß. 

    „Schule des Hasses“

    Mit dem Kriegsausbruch erledigt sich diese Idealisierung der deutschen Arbeiterklasse, die Deutschen werden nun monolithisch dargestellt – als Feind. Das Bild ist eindeutig: der Deutsche ist Faschist und nicht Klassenbruder, ein Schurke, ein Paranoiker, ein Sadist, ein physisch und psychisch kranker Mensch. 

    Dieses Bild wird zunächst in den Bojewyje kinosborniki (Kriegs-Filmalmanache) verankert, die ab Juli 1941 produziert werden. Sie sollen die politischen Losungen des Tages in Spielszenen verkörpern, Verhaltensmodelle vorführen und die Stimmung der Bevölkerung beeinflussen. Später werden diese Novellen als „Schule des Hasses“ bezeichnet.

    Ausschnitt aus dem Film „Alexander Newski“ / Foto © YouTube (Screenshot)
    Ausschnitt aus dem Film „Alexander Newski“ / Foto © YouTube (Screenshot)

    Die grobe Satire ist bei der Zeichnung des deutschen Feindes das ausschlaggebende Mittel. Hitler zum Beispiel erscheint in diesen Novellen regelmäßig derb karikiert. Er beherrscht seine Bewegungen nicht – wie ein Spastiker, er spricht nur in hysterisch überdrehtem Tonfall, wirkt lächerlich und krankhaft. Ein totaler Gegensatz zu dem sich kaum bewegenden, mit der Monumentalität eines Denkmals ausgestatteten Stalin, der lange schweigt, um dann die Szene mit einer aphoristischen Pointe zu beenden: als kluger Sieger. 
    In Michail Tschiaurelis Padenije Berlina (Der Fall von Berlin, 1949) beißt Hitler zwar nicht in den Teppich, doch kaut er unentwegt an seinen Fingernägeln, was ihm die Bemerkung von Eva Braun einträgt: „Mussolinis Nägel sehen viel besser aus …“

    Für die meisten Filme der ersten Kriegsperiode sind Schematismus und Vereinfachung kennzeichnend, sie leiden an einer auffälligen Grobheit der gewählten Ausdrucksmittel und schockieren durch naturalistische Darstellung der Gewalt. In Ona saschtschischtschajet rodinu (Sie verteidigt die Heimat, 1943, Friedrich Ermler) wird ein dreijähriger Junge vom Panzer zermalmt, in Raduga (Regenbogen, 1943, Mark Donskoj) erschießt der deutsche Kommandant einen gerade geborenen Säugling vor den Augen seiner Mutter. 

    Was beim Vergleich der Filme aus den 1930er und 1940er Jahren sofort auffällt, ist das Antlitz der deutschen Helden und die Schauspielerwahl: Wenn deutsche Arbeiter bislang von schönen, kräftigen, blonden Athleten gespielt wurden – breites Lächeln, offenes Gesicht mit regelmäßigen Zügen (Boris Liwanow) –, so werden die Faschisten nun von Darstellern verkörpert, die bis dato nur negative Rollen gespielt haben (Michail Astangow oder Sergej Martinson) und dem Zuschauer als Spione, Saboteure oder innere Feinde geläufig sind. Ab 1941 werden die Deutschen plötzlich dünn, schwarzhaarig, etwas krumm und gebeugt. Die Gesichter wirken spitz und verschlossen, als habe das Bild einer Nation binnen zwei Jahren eine unwahrscheinliche Wandlung durchgemacht. 

    Trotzdem bleibt die Gogolsche Formel „Rationalität als Wahnsinn“ erhalten. Eine satirische Replik auf den logischen Wahnsinn des Deutschen liefert der Komödienregisseur Iwan Pyrjew, indem er 1942 einen ersten Partisanen-Actionfilm Sekretar raikoma (Der Sekretär des Rayonkomitees) inszeniert. Der deutsche Offizier stellt einen gefangenen russischen Partisanen vor die Alternative: Tod oder zwei Kühe, eine Frau, ein Haus, ein Pferd, ein Leben. Die Rechnung ist logisch und die Entscheidung für den Deutschen eindeutig. Im Dialog werden mehrmals die Zahlen durchgegangen: ein Pferd, zwei Kühe, ein Haus, ein Leben – oder den Tod. Die Entscheidung des Russen zu sterben ist für den Deutschen nicht nachvollziehbar. Dem russischen Zuschauer aber verrät die Zahlenlogik des Deutschen dessen völliges Unverständnis darüber, worum es hier eigentlich geht.

    Davor hatte Alexander Newski von Sergej Eisenstein (1938) die Gogolsche Vision des Deutschen aus der Sicht des Russen hochgeholt, vielleicht zum ersten Mal im Film. Wieder geht es um Rationalität als Wahnsinn. Der Film baut auf den einfachen Kontrast zwischen dem Lebendigen (= Russischen) und dem Toten (= Deutschen). Der Kontrast wird als visuelles und akustisches Zeichen gefestigt. Die warmen Stimmen der russischen Frauen singen ein melodisches Lied, das deutsche Horn dagegen gibt disharmonische, schrille und finstere Klänge von sich. Auf der russischen Fahne des Fürsten ist die Sonne zu sehen, auf der deutschen – das (Toten)Kreuz. Doch den prägendsten Kontrast bilden die Körper: Bei den Russen ist es sinnliches Fleisch, seine Fülle, seine Verwundbarkeit. Bei den Deutschen ist der Körper durch ein perfekt geschmiedetes Eisen ersetzt und das Gesicht durch die eiserne Maske. Das ist kein Mensch, sondern ein durchdachtes, gut organisiertes Instrument des Krieges, kein Einzelkörper, sondern eine zielsichere Todesmaschine, die in ihrer Perfektion Sieger sein muss. Auch der Rhythmus ihrer Musik ist mathematisch genau. Doch gerade diese durchgerechnete Mechanik, die perfekte strahlende (die Farbe der Teutonen ist weiß) Rationalität zieht die deutsche Armee in den Tod. Die gut gebaute Todesmaschine kann nichts gegen das Leben ausrichten, weil sie eine Maschine ist. Sie geht in der russischen Naturgewalt ganz profan unter: im Wasser. Ihre eiserne Logik entpuppt sich als Wahnsinn.

    Major Stierlitz

    Der Bruch (und Durchbruch für den Deutschen) kommt allerdings viel später, in den 1970er Jahren mit Semnadzat mgnoweni wesny (Siebzehn Augenblicke des Frühlings, 1973, von Tamara Lijosnowa). Ein sowjetischer Kundschafter, getarnt als Major Stierlitz, dargestellt von Wjatscheslaw Tichonow, steht ganz oben in der Diensthierarchie, ist befreundet mit der nächsten Umgebung des Führers (Bormann, Kaltenbrunner, Ribbentrop etc.). Und eben diese Hitler-Umgebung erscheint zum ersten Mal auf der Leinwand, das heißt auf dem Fernsehbildschirm, dargestellt als ein Kreis normaler, ja durchaus intelligenter Menschen in gut sitzenden Uniformen. Es löst eine Schockwirkung aus. Lehrer schreiben Briefe an das Zentrale Sowjetische Fernsehen und ermahnen die Filmemacher, sie würden die gesamte ideologische Erziehung untergraben, wenn sie Faschisten als kluge sympathische Menschen darstellen.

    Dicke deutsche Kapitalisten

    Viel später erreichen den sowjetischen Film die dicken westdeutschen Kapitalisten. Sie haben in den kitschigen Perestroika-Aufschwung-Geschichten irgendwo im Land irgendwas investiert, sich in russische Blondinen verliebt und so für die Völkerfreundschaft gesorgt (Den ljubwi, Tag der Liebe, 1989). 

    Sie werden liebevoll behandelt, doch ihr Zahlenfetischismus sorgt stets für Lacher. Ein deutscher Geschäftsmann, der seinem russischen Partner vorrechnet, wie unwirtschaftlich dieser seine Geschäfte macht, geht aus dem Dialog als kleinlicher Verlierer hervor. Er kann zwar mit Zahlen umgehen, hat jedoch kein Format, keinen Maßstab und tritt deshalb stets daneben. 

    Der Russe im deutschen Film

    „Zwei kennzeichnende Züge hat angeblich der Russe. Erstens: er ist weich, fühlsam. Zweitens: er ist radikal. Es ließe sich dilettantisch-dogmatisch äußern: erstens – ein Slawe; zweitens – ein Tatar. […] Also diese zwei Gegensätze (das Einfühlsame, zweitens das Radikale) sind hier verschmolzen“,3 so schreibt Alfred Kerr 1927 in dem Aufsatz Russenfilm

    Die Russenfilme der 1920er Jahre4, gedreht von den Deutschen oder russischen Emigranten, bringen einen Hauch unheimlicher Leidenschaft in das deutsche Kleinbürger-Melodram ein und fügen sich in das expressionistische Weltbild (unbeherrschbares Chaos, Tyrannen, Triebhelden) – allerdings mit einem Unterschied: Ihre Hysterie wird als Naturell dargestellt, nicht als künstlerische Überhöhung. Sie braucht weder die mystische Motivierung noch das Milieu der Wahnsinnigen oder Vampire als Erklärung. 

    Der Russe wird in seinem Naturell als ein geborener Filmschauspieler gesehen. „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren“, schreibt ein anonymer Autor 1927, „dass das russische Volk seit Jahrhunderten auf dieses Ausdrucksmittel seiner Seele gewartet, dass es sich nun seiner mit einem Fanatismus bemächtigt hat“, um seine Ekstase und Leidenschaft wie „riesige Granitblöcke“ auf Filmmaterial fixieren zu lassen.5  
    Auch die konkrete historische Situation verlangt russischen Emigranten die Fähigkeit ab, sich dem Schicksalswechsel anzupassen, soziale Rollen und Gesichter wie Masken zu wechseln: So wird der Aristokrat zum Kellner, der Offizier zum Taxifahrer, werden der Grand Duke und die Prinzessin zu Filmkomparsen – etwa in Die Dame mit der Maske (Wilhelm Thiele, 1927),  Anastasia, die falsche Zarentochter (1928) von Arthur Bergen.

    Brutalität, Naturalismus und große visuelle Effekte

    Ein Beispiel für die wilden Phantasien der Europäer über das Reich der zivilisierten Barbaren und heiligen Wunder ist Michel Strogoff (Kurier des Zaren,1927) von Viktor Tourjansky, nach dem Roman von Jules Verne. Der Held muss allerhand Hindernisse bezwingen: wilde Tiere (er beschützt das zarte Mädchen vor durchgegangenen Pferden und Bären im Wald), Naturgewalten (Gewitter) und wilde Menschen (Tataren), ganz abgesehen von den Weiten Sibiriens. 

    Seine Feinde, Tataren, sehen mal wie Türken aus, mal tragen sie usbekische Kleidung. In ihrer Funktion ersetzen sie Indianer. Taiga und Steppe erscheinen ohnehin wie der Wilde Westen, und die Tataren fesseln dort den Telegraphisten wie in einem amerikanischen Western. Sie entfalten muslimische Fahnen, dann veranstalten sie buddhistische Zeremonien, die unmittelbar von „Zigeunertänzen“ und Harem-Schönheiten abgelöst werden. Brutalität, Naturalismus und große visuelle Effekte (sogar ein brennender Fluss bei Nacht) vervollständigen diesen perfekten ausländischen „Russenfilm“. 

    In den 1930er Jahren verändert sich das Bild der Russen: aus Verwunderung wird Feindseligkeit. „Bei den Russen herrschte Armut und Schmutz, bei den Deutschen Ordnung und Sauberkeit“ steht in den Erdkunde-Lehrbüchern des Dritten Reichs.6 Dies bebildert Friesennot (Dorf im roten Sturm, 1935, von Willi Krause alias Peter Hagen). Die unheimlichen roten Reiter erreichen das idyllische Dorf der Wolga-Deutschen. Sie sind verschlagen und hinterhältig, morden, vergewaltigen Mädchen, klauen Würste, verwüsten die Kirche und glauben an nichts, auch nicht an Gott. Sie besaufen sich unter dem gekreuzigten Christus und parodieren die Messe. Der Film endet mit einem Massaker: Die zutraulichen frommen Deutschen vernichten die roten Teufel, zünden deren Häuser an und machen sich auf die Suche nach einer neuen Heimat. 

    Doch nicht nur „rote“ Sadisten und „braune“ Ungeheuer erscheinen auf der Leinwand – aus den Figuren der Fremden werden auch Unterhaltungsmomente gewonnen. Der „liebe“ Deutsche erscheint als kauziger Musiklehrer in Lustige Burschen (Weselyje rebjata/Die lustigen Burschen von Alexandrow, 1934), der nette Russe als ein sentimentaler, singender „Tatar“ – wie Hans Albers in Savoy Hotel 217 (Gustav von Ucicky, 1936). Über Musik – Kosakenchöre, Balalaika-Klänge, Glinka-Romanzen – werden die Feindbilder gemildert. 1939 besetzt die UFA einen Film über Pjotr Tschaikowski mit ihren größten Stars – Zarah Leander und Marika Rökk: Es war eine rauschende Ballnacht, ein Riesenerfolg. 1940 wird Puschkins Postmeister verfilmt und ab Juni 1941 in den besetzten Ostgebieten gespielt, zusammen mit speziell produzierten Agitationsfilmen über das Sowjet-Paradies.

    Erstaunlicherweise findet man in westdeutschen Kalter-Krieg-Filmen kaum Russen. Sie erscheinen in der Burleske Genosse Münchhausen (1961) von Wolfgang Neuss. Jetzt wird die Zerrissenheit der Seele satirisch ausgespielt, nicht als nationale Eigenschaft begriffen, sondern als ideologische Heuchelei: Mörderisch ist die trockene, kaum nachvollziehbare Ideologie, der sich die Russen mit militärischer Disziplin beugen, einfühlsam sind sie in biologischen Äußerungen wie Hunger und Sex (sympathische Barbaren, Naturmenschen). Radikal sind sie in der Seriosität absurdester Behauptungen: Die Reise nach Sylt, in die Utopia Kapitalia, wo ihr kaputtes Raumschiff landet, wird als authentische Venuslandung beschrieben.

    Deserteure, Mafiosi und Philosophen

    Nach der Wiedervereinigung zieht sich die Sowjetarmee aus Deutschland zurück, und auch das Bild des Russen im deutschen Film ändert sich: Ein sympathischer Deserteur taucht in einer deutschen Komödie auf, wenn auch mit Maschinenpistolen, doch unwahrscheinlich blauäugig: Wir können auch anders (1993, von Detlef Buck). Die deutschen Mädchen sind bereit, dem Charme seines zärtlichen Blicks zu verfallen. Wie auch die deutschen Jungs in Good Bye, Lenin (2003) oder Du bist nicht allein (2007) im Westen wie im Osten Deutschlands. Maxim Dessau siedelte diese Geschichte sogar in das Jahr 1943 um, in das schwarzweiße Retrogramm über eine Liebe in Deutschland, zwischen einem Kriegsgefangenen und einer mecklenburgischen Bäuerin: Erster Verlust. Nur der vollends besiegte ehemalige Feind wird in Love-Stories plötzlich zum geeigneten Helden. Ganz normal und ohne Wahn.

    In Fernsehkrimis dagegen agieren die alten bösen Russen, die skrupellosen Mafiosi. Oder die unschuldig schuldigen naiven Mädchen, die zur Prostitution gezwungen und von einem blonden deutschen Polizisten gerettet werden (Im Angesicht des Verbrechens, 2010). Hier kann die Liebesgeschichte wieder beginnen. 

    Auch die aktuellen russischen Filme korrigieren die Bilder von den Deutschen. Nun sind sie wieder Dichter und Philosophen aus dem Land von E.T.A. Hoffmann und Schiller, das mit Russland die tragische historische Erfahrung der Diktatur teilt, sei es ein Ingenieur (Lieber Hans, bester Pjotr, 2015), ein romantisch verliebter SS-Offizier im Todeslager (Paradies, 2016) oder eine in der Taiga, weit vom Terror aufgewachsene, zarte Elsa (Kraj – Am Ende der Welt, 2010).


    1. Diese Entwicklung haben mehrere Filme eingeleitet, darunter: Vladimir Petrovs Fritz Bauer (1930), Il’ja Traubergs Dlja vas naidёtsja rabota (Sie finden hier Arbeit, 1932), Pavel Paškovs Solnze voschodit na zapade (Die Sonne geht im Westen auf, 1932), Pёtr Kirillovs Utirajte slёsy (Wischt die Tränen ab, 1932), Pudovkins Desertir (Der Deserteur, 1933), Ivan Pyrёvs Konveer smerti (Fließband des Todes, nach einem Drehbuch von Michail Romm und Viktor Gusev, 1933), Vladimir Nemol’jajevs Kar’era Rudi (Rudis Karriere, 1934) und Margarita Barskajas Rvanye Bašmaki (Die zerrissenen Stiefel, 1933) leiteten diese Entwicklung ein ↩︎
    2. Dazu gehörten: Borzy (Kämpfer, 1936, Buch und Regie: Gustav von Wangenheim), Borba prodolžaetsja (Der Kampf geht weiter, 1939, Buch: Friedrich Wolf, Regie: Vasilij Žuravlёv), Bolotnyj soldaty (Die Moorsoldaten, 1938, Buch: Jurij Oleša und Aleksandr Mačeret, Regie: Mačeret), Professor Mamlock (1938, nach Friedrich Wolf, Regie: Adolf Minkin und der aus Deutschland kommende Österreicher Herbert Rappoport), Sem’ja Oppengejm (Die Familie Oppenheim, 1939, nach Lion Feuchtwanger, Buch und Regie: Grigorij Rošal, Beratung: Hans Rodenberg). Auch Erwin Piscators Vosstanie rybakov (Aufstand der Fischer, 1934) und Mečislava Maevskajas und Aleksej Masljukovs Karl Brunner (1936). Das Drehbuch zu Letzterem hatte der in die Sowjetunion emigrierte ungarische Regisseur Béla Balázs nach seinem Kinderbuch Karlchen, durchhalten! geschrieben ↩︎
    3. Kerr, Alfred (1927): Russische Filmkunst, S. 11 ↩︎
    4. Raskolnikow, inszeniert 1923 von Robert Wiene, dem Caligari-Regisseur; Pique Dame (1918 von Arthur Wellin mit Alexander Moissi) und Die Hauptmannstochter/Еmel’ka Pugačev (1922), Der zweite Schuss (1923 von Maurice Kroll) nach Puškin; Der lebende Leichnam (1918 von Richard Oswald und 1922 von Rudolf Walter-Fein, 1929 von Fёdor Ocep), Anna Karenina (1920), Kreutzersonate (1922), Auferstehung (1923, alle von Friedrich Zelnik) und Macht der Finsternis (1923 von Conrad Wiene) nach Lev Tolstoj, und immer wieder Dostoevskij: Erniedrigte und Beleidigte (1922, von Zelnik), Die Brüder Karamasoff (1920, von Carl Froelich, 1931 von Fёdor Ocep und Der Idiot/Irrende Seelen (1921) ebenfalls von Carl Froelich mit Asta Nielsen) ↩︎
    5. W. A. (1927): Russische Filmkunst, in: Das Magazin des Phoebus-Theaters, März 1927, Heft 31, S.6 ↩︎
    6. Von deutscher Art: Ein Lesebuch für Mädchen, Paderborn 1930, zitiert nach Volkmann, Hans-Erich (1994, Hrsg.): Das Rußlandbild im Dritten Reich, S. 229 ↩︎

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  • „In diesen Kreisen kenne ich mich aus“

    „In diesen Kreisen kenne ich mich aus“

    Um Konstantin Bogomolow hat sich in Russlands liberalen Kreisen eine heftige Debatte entzündet. Bogomolow gilt neben Kirill Serebrennikow als einer der wichtigsten Theaterregisseure des Landes. Er hat außerdem die erste russische Serie gedreht, die Amazon für die Kategorie Originals and Exclusives kaufte und seit Dezember auch auf Deutsch zeigt.

    Zwar nimmt sich die Filmkritik zu Sodershanki (Russian Affairs, dt.: Mätressen) nicht so überschwänglich aus wie üblicherweise die Theaterkritik zu Bogomolows Inszenierungen, insgesamt sind die Rezensenten aber wohlwollend. Mit viel Sex erzählt die erste Staffel vom Glamour-Milieu der russischen Hauptstadt: Intrigen und Machtspiele sind hier demnach genauso an der Tagesordnung wie Geldgier und Zynismus.

    Ähnliches werfen nun einige auch Bogomolow selbst vor: Noch 2013 hatte er gegen Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin und die Ergebnisse der Moskauer Bürgermeisterwahl protestiert, 2018 aber plötzlich im Wahlteam für Sobjanin getrommelt. Bogomolow habe sich verkauft, so der häufige Vorwurf. Meduza hat mit dem Regisseur über Sodershanki gesprochen und ihn mit dem Vorwurf konfrontiert. 

    Konstantin Bogomolow / © Dmitriy Dubinskiy
    Konstantin Bogomolow / © Dmitriy Dubinskiy
    Alexandra Serkalewa: Warum haben Sie beschlossen, eine Serie über die Moskauer High Society zu drehen? Was macht das Thema gerade jetzt aktuell und interessant für Sie?

    Konstantin Bogomolow: Ich wähle Themen nicht nach ihrer Aktualität aus. In diesem Fall wollte ich mich in der Filmbranche ausprobieren, ich habe noch nie eine Serie gedreht. Ich habe mich mit den Produzenten zusammengesetzt, und gemeinsam sind wir mögliche Themen durchgegangen. Am Ende waren wir uns einig, dass eine Serie über das moderne Leben in Moskau, innerhalb einer gewissen Moskauer Bourgeoisie, genau das Richtige für ein Debüt wäre. In diesen Kreisen kenne ich mich mehr oder weniger aus, kann mehr oder minder glaubwürdig, auf jeden Fall ehrlich, darüber berichten. Das ist alles. Dann kam das Drehbuch.

    Ich habe nur die erste Folge gesehen, darin gibt es sehr viel Sex, und der ist für russische Verhältnisse ziemlich realistisch dargestellt. Man hört von vielen russischen Schauspielern und Regisseuren, bei uns seien weder die Zuschauer noch die Filmemacher Sex auf der Leinwand gewohnt. Hatten Sie keine Schwierigkeiten damit?

    Nein. Ich finde, das ist ein echtes Problem im russischen Film und unter russischen Schauspielern. In dieser Hinsicht ist uns vielleicht sogar eine Art Durchbruch gelungen. Es stimmt, in der ersten Folge gibt es viele erotische oder explizite Szenen; in der siebten Folge gibt es eine fantastische Sex-Szene, die Seltenheitswert für den russischen Film hat.

    Ich wollte, dass man die Erotik spürt, die Schönheit, den Sex

    Mir ging es darum, diesen natürlichen, wesentlichen, schönen Teil des menschlichen Lebens nicht in diesen verschämten Bildern zu zeigen, bei denen sie auf ihm sitzt, schnell runterklettert, und dann liegen beide erschöpft da. Oder die Lippen berühren sich, seine Hand wandert irgendwohin – und dann wird abgeblendet. Ich wollte, dass man die Erotik spürt, die Schönheit, den Sex. Ich finde, das ist uns auch gelungen: Man hat wirklich das Gefühl von echtem Sex.

    Wenn es im russischen Film schlecht um den Sex bestellt ist, dann findet er im russischen Theater überhaupt nicht statt.

    Im Theater Sex darzustellen ist witzlos. Das Theater ist nicht die Kunstform, die das braucht. Ich bin prinzipiell gegen zu viel Körperlichkeit, zu viel physische Nacktheit auf der Bühne.

    Warum?

    Weil auf der Bühne niemand lebt und niemand stirbt. Aber damit wären wir bei ästhetischen Überlegungen, die ich ungern im Interviewmodus bespreche. Das Theater ist eben die Kunst des Bedingten, nicht des Unbedingten, verstehen Sie? Im Theater mit körperlicher Freizügigkeit zu schocken, ist dumm. Einfach dumm, so sehe ich das.

    Im Westen gibt es die #MeToo-Bewegung und im Kino den Superheldinnen-Film Captain Marvel, während bei uns zur selben Zeit der Film Ljubownizy (dt. Liebhaberinnen) und die Serie Sodershanki an den Start gehen. Ist das die russische Filmversion von starken Frauen?

    Ich denke nicht in diesen Kategorien, ganz ehrlich. Ich finde diesen ganzen Kontext furchtbar langweilig, diese ganzen Genderrollen, Feminismus und so weiter.

    Dabei haben Sie jüngst in einem Interview gesagt, Frauen seien – sowohl als Protagonistinnen sowie als Schauspielerinnen – heutzutage viel spannender als Männer.

    Ja, so ist die Zeit. In den 1970ern waren Männer spannender als Frauen. Es gab sehr unterschiedliche Protagonisten, viele komplexe Männerfiguren auf der Leinwand. Jetzt gerade gibt es sehr viel mehr energetisch interessante Frauen als Männer.

    Und womit hängt das zusammen?

    Vielleicht damit, dass in den 1970er Jahren die Vorkriegsgeneration nachwirkte, heute die Nachkriegsgeneration. Krieg, Revolution, Emigration und so weiter – das hat vor allem die männliche Linie getroffen. Die Opfer des 20. Jahrhunderts waren überwiegend Männer, deshalb ist die weibliche Linie besser erhalten. Vielleicht hat es damit zu tun. Vielleicht ist es auch nur eine Kulturperiode.

    Also sehen Sie keinen Zusammenhang zu gesellschaftlichen Bewegungen?

    Ich bitte Sie, womit soll das zusammenhängen, mit welchen gesellschaftlichen Bewegungen? Soll der Feminismus etwa dafür gesorgt haben, dass es weniger energetische Männer gibt? Nein.

    Oder gibt es wegen des Feminismus mehr energetische Frauen? Das hat nichts mit gesellschaftlichen Bewegungen zu tun. Ich glaube, der Qualitätsverfall der männlichen Bevölkerung ist eine Phase, die entweder mit den Genen oder mit gesellschaftlicher Nachfrage zu tun hat.

    So eine Art Winterschlaf der männlichen Gemeinschaft. Jeder muss sich mal ausruhen

    So eine Art Winterschlaf der männlichen Gemeinschaft. Jeder muss sich mal ausruhen. Das ist normal. Wie bei einem Tischgespräch, da will man auch mal schweigen. Vielleicht ist das so eine Phase, in der die Männer eben beschlossen haben, den Mund zu halten.

    Sie sind aktiv in Sozialen Netzwerken, schreiben auf Facebook und Instagram. 2018 haben Sie eine Reihe von Beiträgen veröffentlicht, wie sehr sich Moskau zum Besseren verändert habe. Kurz darauf gaben Sie bekannt, dass Sie Sobjanin als Vertrauensmann [bei der Bürgermeisterwahl – dek] unterstützen. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

    Weil ich seine Arbeit in Moskau unterstütze. Ich finde, er ist ein sehr effektiver Manager, Moskau hat Glück mit diesem Mann, er hat die Stadt wieder zu einem neuen Leben erweckt, er hat sie reanimiert und vor dem Kollaps bewahrt. Einem atmosphärischen Kollaps, sozusagen. Es wurde irgendwann unerträglich, sich in der Stadt aufzuhalten. Sobjanin und seine Leute haben das Blatt gewendet, die Stadt ist wieder eine Stadt für die Menschen geworden, nicht nur Steine, ohne Grün, ohne Gehwege, ohne irgendein urbanes Leben.

    Wir sind dauernd genervt, das ist die Natur der Russen – immer genervt sein, immer mosern und meckern

    Verstehen Sie, irgendwann ist man genervt vom Genervtsein. Wir sind dauernd genervt, das ist die Natur der Russen – immer genervt sein, immer mosern und meckern. Da, ein kaputter Gehweg – der perfekte Grund für einen spitzfindigen Instagram-Post mit Foto, oder? Aber die Bäume auf der Twerskaja, die sind wohl kein Grund. Ganz objektiv nicht: Niemand postet ein Foto von den Bäumen auf der Twerskaja. Aber ich erinnere mich, dass da in meiner Kindheit Bäume standen, ich weiß noch, wie sie unter Lushkow zerstört und abgeholzt wurden. Und jetzt sehe ich die Twerskaja meiner Kindheit wieder.

    Aber wenn kurz vor den Wahlen auf Instagram 50 Posts mit dem Hashtag erscheinen, wie schön jetzt alles ist, dann hat das etwas Künstliches.

    Das ist wohl eher eine Frage an die Macher der Kampagne. Wahrscheinlich hätte man das Ganze komplexer gestalten sollen.

    Aber es war Ihnen nicht unangenehm, da mitzumachen?

    Nein, warum? Ich habe da aus Überzeugung mitgemacht. Mir waren meine gesellschaftlichen Aktivitäten noch nie unangenehm. Sie fragen mich ja auch nicht: War es Ihnen nicht unangenehm, gegen die KPdSU oder für Jelzin auf die Straße zu gehen? Das habe ich gemacht, ja.

    Sie sind auch 2012 auf die Straße gegangen.

    2011, 2012 und 2013, für [Alexej] Nawalny. Ja, das bin ich, ich habe kein Problem damit. Wenn mir etwas in dem Moment richtig erscheint, tue ich das aus Überzeugung.

    Würden Sie heute nicht mehr für Nawalny auf die Straße gehen?

    Nein.

    Haben Sie keine Angst, wenn Sie als Kunstschaffender Ihre Überzeugungen ändern und heute zum Beispiel die Regierung unterstützen, morgen die Gunst der Herrschaft aber in einen Zorn der Herrschaft umschlagen und man Ihnen das alles nachtragen könnte?

    Ich bitte Sie, welche Gunst der Herrschaft? Habe ich denn ein Theater? Auf welche geheimnisvolle Weise ergoss sich die Gunst der Herrschaft über mich? Wenn ich etwas mache, das mit dieser Regierung zu tun hat, dann, weil ich es für richtig halte und nicht, weil ich dafür Zuckerbrot bekomme.

    Aber Sie können sich durchaus vorstellen, dass Sie Ihre Meinung vielleicht in drei Jahren wieder ändern?

    Hören Sie, meine Ansichten verändern sich ständig, jetzt sehe ich das so, morgen vielleicht anders, heute betrachte ich Europa und Russland auf diese Weise, gestern war es eine andere. Ich kann heute mit dem Sender Spas reden, und gleichzeitig gebe ich Ihnen ein Interview. Gestern habe ich mit Doshd gesprochen. Ich habe kein Problem damit, überall das zu sagen, was ich denke. Auf Spas rede ich darüber, dass ich nicht getauft und ziemlich kirchenfern bin. Und bei Doshd sage ich, dass mir diese ganze liberale Clique auf den Geist geht, sie ist dumm und untalentiert. Ich habe kein Problem damit, zu sagen, was ich denke. Ob das jemandem gefällt oder nicht, ob man was anderes von mir erwartet oder was anderes gewohnt ist – das ist nicht mein Problem.

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  • „Jeder Kriegsfilm muss ein Antikriegsfilm sein“

    „Jeder Kriegsfilm muss ein Antikriegsfilm sein“

    Wie findet man nach einer Gewalterfahrung zurück ins Leben? Kann es nach dem Krieg eine Normalität geben? Diese Fragen lotet der 28-jährige Regisseur Kantemir Balagow in seinem Film Dylda (engl. Fassung: Beanpole) aus, der in fast gemalten Bildern eine Frauenfreundschaft in Leningrad nach der Blockade und dem Großen Vaterländischen Krieg beschreibt. 

    Der Film wurde international mehrfach ausgezeichnet. In Cannes etwa lief Dylda in der Sektion Un Certain Regard und erhielt den Preis für die Beste Regie sowie den FIPRESCI-Preis der Filmkritiker. Außerdem stand er auf der Shortlist für den sogenannten Auslands-Oscar (auch wenn es am heutigen Montag keine Nominierung für ihn gab).

    Tatjana Rosenschtain hat mit dem Regisseur Kantemir Balagow für Kommersant-Ogonjok gesprochen.

    Tatjana Rosenschtain: Aufgrund Ihres Alters, Sie sind 28 [zum Zeitpunkt des Interviews und im russ. Original noch 27 – dek], werden Sie oft als Jungregisseur bezeichnet. Doch Sie wagen sich an komplexe Themen heran. Der Große Vaterländische Krieg, die Nachkriegszeit: Woher schöpfen Sie Ihre Vorstellung von dieser Zeit, Ihr Wissen darüber? Auf welche Grundlage stützen Sie sich?

    Kantemir Balagow: Alles begann mit dem Buch der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Als ich es gelesen habe, eröffnete sich mir eine ganze Welt. Davor hatte ich selten über den Krieg nachgedacht und fast nie über das Schicksal der Frauen, die ihn überlebt haben. Laut Statistik ist der Zweite Weltkrieg der Krieg mit der höchsten Frauenbeteiligung. Das hat mich vor viele Fragen gestellt. Ich fragte mich: „Was passiert mit einer Frau, die von der Front zurückkehrt?“ Oder: „Wie kann eine Frau nach den Dingen, die sie im Krieg gesehen hat, neues Leben geben?“ Ich glaube, der Krieg führt zu einem erheblichen Knacks in der Psyche einer Frau. Er verstümmelt sie, und es braucht viel mehr Zeit, bis sie wieder zu einem normalen Leben zurückfindet.

    Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren

    Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren und nichts über diesen Abschnitt der Geschichte wissen. Das ist verständlich, für sie ist das längst Vergangenheit. Viele denken: „Es gab einen Krieg, na und?“ Ehrlich gesagt, habe ich bis vor Kurzem so ähnlich gedacht. Aber dann wurde mir klar, dass es meine Pflicht ist, einen Film über dieses Thema zu drehen, als Regisseur, als Mensch und als Staatsbürger. Es war mir wichtig, die Folgen des Krieges durch die Augen meiner Generation zu zeigen.

    Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen

    Anders gesagt: Einen Film für meine Altersgenossen zu machen, für junge Leute. Wahrscheinlich habe ich das Thema auch deshalb gewählt, weil sich in mir eine Art Zeitverschiebung ereignet hat: Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen. Heute glaube ich tatsächlich, dass Ija und Mascha (so heißen die beiden Protagonistinnen im Film – Ogonjok) 1945 gelebt haben. Um sie auf der Leinwand zu verkörpern, haben meine Darstellerinnen viel geprobt und sich in das Thema vertieft. Sie haben Alexijewitsch gelesen oder zum Beispiel die Erzählungen von Andrej Platonow. Es war mir wichtig, dass sie es schaffen, die Atmosphäre der Zeit einzufangen.

    Man hat den Eindruck, dass Sie Ihr Thema gefunden haben: Sie erzählen vom menschlichen Schmerz, losgelöst vom Kontext. Nehmen wir zum Beispiel Ihre Hauptfigur. Man könnte Ihre Arbeit auch mit der eines Psychotherapeuten vergleichen: Sie versuchen, das Trauma mit dem Zuschauer durchzusprechen. Da ist wiederum die Frage: Woher kommt dieses Interesse an den tragischen Aspekten des Lebens?

    Ich interessiere mich für die Menschen. Ich mag es, in ihre Psychologie einzutauchen, Grenzzustände und die menschlichen Reaktionen zu beobachten. Ich möchte herausfinden, wie sich unmoralische Handlungen auf ihr späteres Leben auswirken.

    Wie wirken sich unmoralische Handlungen auf das spätere Leben aus?

    Ich glaube außerdem, dass menschliches Leid unabhängig von der Epoche, der Zeit und der Entwicklungsstufe einer Gesellschaft existiert.

    Menschliche Gefühle sind nicht transformierbar, sie verändern sich nicht mit dem Entstehen sozialer Netzwerke oder technischer Geräte. Etwas sitzt in uns, im Inneren des Menschen; dieses Etwas kann die Schattierung oder Richtung ändern, aber im Kern bleibt es gleich. 

    Ich glaube, die Russen reagieren sehr empfindlich auf Schmerz. Hier herrschten schon immer harte Lebensbedingungen, die eng mit den Gesellschaftssystemen verbunden waren. Ich kann nicht beurteilen, wie hart die Geschichte der Franzosen, Engländer oder Italiener ist. Ich bin in Russland geboren und habe keinen Vergleich. Aber mir scheint, dass die russische Geschichte komplizierter und schwieriger ist als die europäische. Repressionen, Kriege, die Härten des Alltags – das alles prägt das Weltbild. Nach so viel Leid sind die Menschen so.

    In Russland werden heutzutage viele Filme über den Krieg gedreht. Was denken Sie, was unterscheidet einen Hurra-Patriotismus von einem echten, natürlichen?

    Ich finde, man muss die Erinnerung an die Gefallenen im Stillen bewahren. Sie erforschen, kennen, sich dafür interessieren, und sie nicht an jeder Ecke herausposaunen. Das bedeutet Respekt und Würde. Der Hurra-Patriotismus mit seinem Paradigma „wir können das wiederholen“ führt zu Kriegseuphorie. Die Folgen eines solchen Patriotismus sind traurig, sogar katastrophal, sie können zu einem neuen Krieg führen.

    Ich bin überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss

    Als Regisseur bin ich überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss und sich auf das Schicksal der Menschen konzentrieren. So ist es bei Dylda – der Film erzählt von den Auswirkungen des Krieges auf Einzelschicksale, davon, wie schwer es diesen Menschen fällt, zu ihrem Leben vor dem Krieg zurückzukehren. Ich persönlich denke, eine Rückkehr ist für sie unmöglich. 

    Jemand, der als Jugendlicher, mit 17 oder 18, in den Krieg gezogen und mit 24 oder 25 zurückgekehrt ist, hat seine Jugend verpasst. Er wird diese Leerstelle, die verpassten Lebensabschnitte nie mehr füllen können. In meinem Film gibt es eine Szene, in der Mascha ein grünes Kleid anprobiert, das ihre Nachbarin, eine Schneiderin, für einen Auftraggeber näht. In dem Moment, als sich die seelisch und körperlich angeschlagene junge Frau (ihr droht Unfruchtbarkeit, ihr einziger Sohn ist gestorben) in dem festlichen Kleid vor dem Spiegel dreht, begreift sie, dass sie die verpassten Jahre nie mehr zurückholen kann. Sie wird niemals jung sein, und das ist eines der zentralen Themen in meinem Film. Warum es nie wieder Krieg geben darf.

    Mir schien, dass Mascha ihren Schmerz besonders dramatisch erlebt und ihn sogar auf ihre Freundin Ija (Dylda) überträgt. Kann man für den Schmerz eines anderes verantwortlich sein?

    Das sehe ich anders. Sie überträgt ihren Schmerz nicht, sie teilt ihn mit ihrer Freundin, weil diese bereit ist, ihn zu teilen. Die beiden Frauen zehren von ihren gegenseitigen Gefühlen. Wie Yin und Yang – sie scheinen zu verschieden, aber sie ergänzen sich perfekt. Mascha pocht darauf, dass ihre Freundin ein Kind zur Welt bringt, das ihre seelischen Wunden heilt. Ich denke nicht, dass sie damit recht hat.

    Wenn man sich die Zukunft der beiden Heldinnen vorstellt, glaube ich, dass ihre seelischen Wunden, genau wie ihre physischen, nicht heilbar sind. Ich wurde mehrfach gefragt, warum die beiden Frauen so gelassen auf den Tod, den Verlust ihrer Nächsten reagieren. Das ist die Reaktion von Menschen, die jahrelang in der Atmosphäre von Gewalt gelebt haben, sie haben sich an den Tod gewöhnt, deswegen traumatisieren sie neue Verluste nicht mehr. Wenn man ihren Zustand beschreiben wollte, dann würde ich sagen, dass beide „in Trümmern liegen“.

    Ihr Film ist wunderbar inszeniert, sehr stimmungsvoll, doch es schwingt eine gewisse Theatralik mit, die, wie ich finde, dem russischen Kino insgesamt eigen ist und durch eine starke Theatertradition genährt wird …

    Wenn Sie meinen Film als zu theatralisch empfinden, habe ich meine Aufgabe als Regisseur vermutlich nicht gut erfüllt. Wobei es einen Aspekt gibt, der mir in dem Film besonders wichtig ist: die Darstellung der Stille. In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste. In ihr lebt unsere Seele. Für mich zählt nicht so sehr der Inhalt der Dialoge, sondern das, was dazwischen geschieht, in der Stille. Der Inhalt erzeugt die Form. 

    In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste

    In meinem ersten Film Tesnota war die Heldin eine Rebellin, deshalb ist er viel dynamischer und schneller geschnitten. In Dylda geht es um eine andere Zeit, andere Menschen. Weil Ija aufgrund eines Kopftraumas immer wieder in Starre verfällt, atmet die Kamera mal, mal friert sie ein.

    Außerdem war es mir wichtig, das Leningrad der Nachkriegszeit nachzubilden: Die ganze Stadt hat die Blockade erlebt. Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen. 

    Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen

    Es war mir wichtig, die Stadt so zu zeigen, wie sie in jenen Jahren war. Die Straßenbahn war eine Leihgabe des Museums für Elektromobilität in Sankt Petersburg. Der Mercedes, den der Sohn der Parteifunktionäre fährt, wurde 1938 gebaut, der Darsteller musste eine spezielle Schulung durchlaufen, um ihn fahren zu können. Ijas Zimmer gibt die typische Atmosphäre der Nachkriegs-Kommunalwohnungen wieder, mit Wänden, an denen mindestens fünf Tapetenschichten klebten: von der vorrevolutionären Zeit bis nach dem Krieg, als man anstelle von Tapeten Zeitungen benutzte. Wir haben Archive durchforstet, haben uns von einem Historiker beraten lassen. Als er die Rekonstruktion der Petersburger Wohnung gesehen hat, war er erstaunt, wie genau sie war. 

    Bei der Arbeit an Dylda ließ ich mich von bildender Kunst inspirieren, insbesondere von holländischer Malerei. Die Farbpalette des Films wird von Rot- und Grüntönen dominiert. Die Gegenüberstellung dieser Farben kann man mit dem Gegensatz von Trauma, Schmerz und dem Leben selbst vergleichen. 


    https://www.youtube.com/watch?v=ojtukdoyWzY

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  • „Filmreifen Irrsinn gibt es überall genug“

    „Filmreifen Irrsinn gibt es überall genug“

    Der Videodesigner und Filmemacher Dimitri Kalaschnikow hat aus den besten russischen Dashcam-Videos einen Langfilm produziert. The Road Movie (russ. Titel Doroga) wurde gestern zwar nicht nominiert, stand aber auf der Longlist für die Oscars. Im Interview mit Bumaga erzählt der Regisseur, was einem auf russischen Straßen so vor die Linse kommt und was er daraus gelernt hat.

     

    Wladislaw Tschirin: Wie und wann sind Sie auf die Idee zu The Road Movie gekommen?

    Dimitri Kalaschnikow: Mir ist irgendwann aufgefallen, dass Dashcam-Videos aus Sicht des Dokumentarfilms sehr interessant sind. Sie sind nicht einfach nur lustig oder furchtbar, sondern sind dank ihrer Aufnahmetechnik etwas Besonderes. Alles passiert absolut zufällig, niemand steuert die Kamera. So, wie der Fahrer sie montiert hat, bleibt sie auch, und dann vergisst man sie und fasst sie nicht mehr an, bis etwas passiert ist, was man aufbewahren möchte. Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall. 

    Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall

    Außerdem fällt das Gefühl weg, dass eine Kamera da ist, die das Geschehen beeinflusst. Was auch immer du beim Dokumentarfilm machst, wie sehr du dich auch bemühst, unsichtbar zu sein und dich der Hauptfigur anzunähern, damit sie sich an dich gewöhnt und nicht mehr auf dich achtet – von der Kamera geht trotzdem eine Wirkung aus. Vielleicht nur eine geringe, aber sie ist da. Bei der Dashcam läuft alles von selbst, und niemand denkt daran, dass das Geschehen aufgenommen und in einem Film gezeigt wird.  
    Auch das Wechselspiel zwischen der realen Umgebung außerhalb des Autos und der Reaktion darauf aus dem Inneren, die wir hören, fand ich spannend. Ich habe Material gesucht, das dieses Wechselspiel wiedergibt.
    Der Film war im August/September 2016 fertig, ich habe rund ein Jahr dafür gebraucht. Premiere war im November 2016 auf dem Festival IDFA in Amsterdam. 

    Der Film besteht zur Gänze aus Dashcam-Videos aus dem Internet. Was ist bei so einem Film die Rolle des Regisseurs?

    Die Regieführung, also die Anordnung des Materials. Im Dokumentarfilm arbeiten wir mit einer Wirklichkeit, die wir entweder selbst aufzeichnen oder die bereits in dokumentierter Form vorliegt. Das Genre des Found-Footage-Films ist ziemlich alt. Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden. Ob man einen Film aus der Wochenschau der 1920er Jahre oder aus Videos des 21. Jahrhunderts montiert, macht wohl keinen wesentlichen Unterschied.

    Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden

    Es war mir sehr wichtig, die größtmögliche Natürlichkeit des Materials zu erhalten. Mein Eingreifen als Autor soll während der Episoden nicht wahrnehmbar sein. Das ist wie bei einer Galerie, in der ich der Kurator bin und die Bilder den Besuchern in einer bestimmten Abfolge präsentiere. 
    Und dann ist es ja auch ein Langfilm, also musste ich mit der Struktur arbeiten. Es entstand etwas Zyklisches: vom Winter zum Sommer, vom Sommer zum Herbst und wieder zum Winter. Darin wiederum habe ich Blöcke mit Nachtaufnahmen eingebaut. Es gibt ein paar Episoden, die mit Musik untermalt sind, nur vier – meines Erachtens sorgen sie für Dynamik und helfen der Struktur des Films, sich zu entwickeln. 

    Warum ist der Film in den USA im Verleih, aber in Russland nicht?

    Weil ziemlich viel nichtnormative Lexik darin vorkommt. Damit ein Film in Russland eine Verleihgenehmigung erhält, muss man die Kraftausdrücke daraus entfernen. Ich finde aber, Mat ist ein wesentlicher Bestandteil meines Films, und es würde viel verlorengehen, wenn man die Vulgärsprache herausnähme. Ich glaube nicht, dass das sinnvoll wäre. 

    Warum ist so ein Filmformat in den USA auf Interesse gestoßen?

    Soweit ich gehört habe, interessiert es die Leute genau wegen der Dashcam-Videos. Die wissen dort, dass es bei uns viele solcher Videos gibt – anscheinend wurde das nach dem Tscheljabinsker Meteor bekannt, der eben zufällig mit Dashcams gefilmt wurde. Vielleicht ist auch Russland ein aktuelles Thema. Und der Film ist für das Publikum … keine Attraktion zwar, aber doch Entertainment. Sehr emotional, oft lustig, oft dramatisch, stellenweise vielleicht auch beängstigend.   

    „Egal, was passiert – die Leute bleiben gelassen“ / Filmstill © The Road Movie/D. Kalashnikov
    „Egal, was passiert – die Leute bleiben gelassen“ / Filmstill © The Road Movie/D. Kalashnikov

    Haben Sie in Ihrem Film Lieblingssequenzen?

    Es gibt eine Episode in einem brennenden Wald. Ein Auto fährt auf einer schmalen Straße durch einen Wald, der zu beiden Seiten lichterloh brennt. Im Auto sitzen offenbar drei Personen, die alles kommentieren, dem Fahrer Tipps geben, wie er fahren soll, auf welchem Fahrstreifen. Man hört, wie nervös sie diese Situation macht. Alles wirkt sehr apokalyptisch. Am Straßenrand taucht einmal ein Auto auf, das schon brennt – ich weiß nichts Genaueres, was damit im Weiteren passiert ist. Am Ende fahren sie aus dem Wald heraus auf eine normale Straße, unterwegs kommt ihnen ein Feuerwehrauto entgegen, alles wird kommentiert und reflektiert. Das ist sehr emotional und filmisch.

    Was erzählt der Film über Russland und die Menschen hier?

    Ich glaube, er zeichnet ein allgemeines Portrait des Landes und des russischen Menschen. Die Leute im Film sind meistens Extremsituationen ausgesetzt. Es ist faszinierend zu beobachten und zu hören, wie sie auf die Geschehnisse reagieren und damit fertig werden. 
    Aber was ich vor meiner Arbeit an dem Film nicht erwartet hätte: Was auch immer passiert, Verrücktes oder Schreckliches – die Leute [in den Videos] bleiben gelassen. 

    Was ich nicht erwartet hätte: Egal was passiert – die Leute bleiben gelassen

    Auf alles reagieren sie mit stoischer Ruhe, sie nehmen das Schicksal hin, das über sie hereinbricht. Natürlich ist es nicht in jedem Fall so, aber eine gewisse Gemeinsamkeit lässt sich doch ausmachen.  


    Dashcams sind nichts spezifisch Russisches, auf Youtube werden sie aber gerade mit Russland assoziiert. Glauben Sie, man könnte genauso einen Film auch über ein anderes Land machen? 

    Ja, da geht es wirklich vor allem um Russland und die postsowjetischen Staaten. Abgesehen von Russland sind mir am häufigsten Kasachstan, die Ukraine und Belarus untergekommen. Es gibt ziemlich viele Videos aus den USA und aus einigen asiatischen Ländern wie Thailand und Malaysia, aber das sind deutlich weniger.

    Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, deswegen gibt es so viele Videos. Der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich

    Wenn man eine Kamera montiert und die ganze Zeit filmt, dann kommt einem auf jeden Fall irgendetwas Bemerkenswertes vor die Linse. Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, und deswegen gibt es so viele dieser Videos. Aber der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich. 

    In einer Rezension wurde befürchtet, Sie könnten den Erfolg von The Road Movie nicht noch einmal erreichen, ohne sich zu wiederholen. Was sagen Sie dazu, und welche künstlerischen Pläne haben Sie jetzt? 

    Ich habe noch nie hauptberuflich Filme gedreht, weil ich noch keinen Weg gefunden habe, damit Geld zu verdienen. Meistens war ich bei kommerziellen Projekten als Videodesigner beschäftigt. Deswegen habe ich seit 2016 keinen neuen Film mehr gemacht. Stattdessen habe ich ein weiteres Studium angefangen – an der Petersburger Schule des neuen Films, in der Werkstatt für Experimentalfilm. Ich möchte in ein Umfeld eintauchen, in dem sich die Leute für Film interessieren und damit arbeiten. 
    Ideen für Projekte habe ich schon, aber ein Drehbuch gibt es noch nicht. Ich werde sicher nicht auf Dashcam-Videos zurückkommen, die interessieren mich nicht mehr, ich kann mir nicht vorstellen, was ich noch daraus machen könnte. Ich möchte andere Arten von Dokumentarfilmen drehen und auch mal Spielfilme versuchen.     

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    Juri Norstein

  • Juri Norstein

    Juri Norstein

    Ein kleiner Igel verirrt sich im Nebel und wird von einem Uhu verfolgt. Dieser erscheint plötzlich aus dem Nichts, ruft laut sein „Uhu-uhuhuhu“ und verschwindet wieder in den Tiefen des Nebelmeers. Der Igel schaut ihm eine Weile nach und quittiert seinen Auftritt schließlich schulterzuckend mit einem lapidaren „Psich“ (dt. etwa „Spinner“). 

    Allein mit dieser Sequenz aus dem Zeichentrickfilm Joshik w Tumane (dt. „Der Igel im Nebel“) schafft Juri Norstein einen Klassiker: Eine ganze Generation benutzt von nun an ironisch den stehenden Begriff „Psich“. Die Animation selbst gewinnt seit ihrem Erscheinungsjahr 1975 unzählige Preise und wird 2003 in Tokio als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet. Der Autor gilt für viele als „lebendes Genie“ und als eines der „Wunder des 20. Jahrhunderts“. 

    Tatsächlich hat Norstein eine einzigartige und außergewöhnliche filmische Welt erschaffen, die der Animation eine neue Richtung verlieh und Kinder sowie Erwachsene bis heute begeistert und berührt.

    Drei Monate nachdem die deutschen Truppen in die Sowjetunion einmarschieren und seine Familie aus Moskau evakuiert wird, kommt Juri Norstein am 15. September 1941 in der Oblast Pensa zur Welt. Mit der Rückkehr nach Moskau im Winter 1943 sind seine ersten Erinnerungen verbunden. Die Familie bewohnt ein Zimmer in einer Kommunalka in einem alten Haus in Marjina Roschtscha, unweit des Zentrums. Dieses Haus ist die Bühne seiner Kindheit, der Schauplatz seiner frühesten Erinnerungen und eine der Hauptinspirationsquellen für seinen späteren Animationsfilm Skaska Skasok (dt. „Das Märchen der Märchen“).1

    „Ich hasste mich selbst, die Filme, das Studio.“

    1956 – mit dem Beginn der Tauwetter-Periode – beginnt Norstein, eine Zeichenschule zu besuchen. Er möchte Künstler werden, wird jedoch an der Kunsthochschule vermutlich aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht angenommen2 und entscheidet sich schließlich, einen zweijährigen Kurs beim staatlichen Animationsfilmstudio Sojusmultfilm zu absolvieren. Trotz erstklassiger Lehrer kann Norstein sich mit den Filmen, die das Studio während dieser Zeit produziert und ihrem „Spielzeugdesign“ lange nicht anfreunden.3 Nach der Ausbildung arbeitet er zunächst als Zeichner bei Sojusmultfilm an vielen Filmen, die ihn nicht inspirieren: „Ich äußerte mich oft über deren schlechte Qualität. Ich hasste mich selbst, die Filme, das Studio.“4 

    1967 dreht er mit 25-е, Perwy den (dt. „25. – Der erste Tag“) zusammen mit Arkadi Tjurin seinen ersten eigenen Film, der thematisch an die Kunst der russischen Avantgarde-Maler des frühen 20. Jahrhunderts angelehnt ist.

     

    „25-е, Perwyj den“ (dt. „25. – Der erste Tag“) ist das Erstlingswerk von Juri Norstein

    Gemeinsam mit seiner Frau Frantscheska Jarbussowa und seinem Kameramann Alexander Shukowski (1933–1999) entwickelt er in der Folge eine eigene Animationstechnik, in der Zeichen- und Legetrick auf besondere Weise verknüpft sind. 1973 plant Norstein einen Film über den Dichter Wladimir Majakowski, die staatliche Filmproduktions- und Aufsichtsbehörde Gosfilm lehnt diesen Plan jedoch ab. Norstein wendet sich daraufhin einem Genre zu, das für Zensurbehörden unverfänglicher ist: „Dann mache ich eben ein Märchen. Irgendeins. Vielleicht ,Hase und Fuchs‘?“5

    Die Wiedergeburt der Märchen aus dem Geiste der Zensur

    1974 erscheint der Film Zaplja i Shurawl (dt. „Der Reiher und der Kranich“). Obwohl er auf einem russischen Märchen basiert, stößt auch dieses Projekt bei Goskino zunächst auf Ablehnung. Erst als Fjodor Chitruk, ein Doyen der sowjetischen Animation dafür eintritt, kommt der Film schließlich dennoch in den Verleih. Über die anhaltenden Schwierigkeiten mit der Zensur berichtet Norstein: „Wenn sie irgendeinen Film verboten, wusste ich nicht, wohin ich mich vor all dem retten sollte. Einmal habe ich zum Beispiel geträumt, dass ich versuche, Sehnen zu durchnagen, in irgendeinem Raum, wo der Kopf des Direktors schwimmt. Wie sehr muss es einem an die Nieren gehen, damit solche Träume entstehen?!“6

     

    Norsteins Animation „Zaplja i Shurawl“ (dt. „Der Reiher und der Kranich“) basiert auf einem alten russischen Märchen

    Trotz aller Widrigkeiten verfolgt Norstein unbeirrt die Umsetzung seiner künstlerischen Ideen. Der Film Joshik w Tumane (1975, dt. „Der Igel im Nebel“), der unzählige Preise gewann und 2003 in Tokio als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet wurde, ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Der Film erzählt die Geschichte eines kleinen Igels, der sich im Nebel verirrt und sich damit auf eine Reise ins Ungewisse begibt, während sein Freund, der Bär, auf ihn wartet, um mit ihm die Sterne zu zählen. Spätestens in diesem Film wird spürbar, dass Norstein innerhalb der Animation zu einem ganz persönlichen künstlerischen Stil gefunden hat, zu einer eigenen Metaphorik und poetischen Bildsprache. 

     

    „Joshik w Tumane“ (1975, dt. „Der Igel im Nebel“) wurde 2003 als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet

    Im Nebel verirrt?

    In Kiew wurde der Hauptfigur des Films vor einigen Jahren ein Denkmal gesetzt. Auf einem kleinen Platz zwischen der Heorhijiwski-Gasse und der Rejtarska-Straße sitzt auf einem hölzernen Sockel ein kleiner Igel und guckt die Vorübergehenden mit großen Augen an. Folgt man seinem Blick, erhebt sich nur wenige Meter entfernt auf der anderen Seite der Straße ein Reiterdenkmal. Dieses zeigt einen Kosaken auf einem (viel zu kleinen) Pferd und ist den „Verteidigern der Grenzen des Vaterlandes aller Generationen“ gewidmet. Die räumliche Nähe der beiden Denkmäler bekommt eine ironische Note, wenn man sich vor Augen führt, dass der Erfinder des kleinen Igels mit der Krim nasch-Bewegung sympathisiert und die Angliederung der Halbinsel an Russland im Frühjahr 2014 mit Nachdruck befürwortet. 

    Juri Norstein / © X-Javier unter CC BY-SA 3.0
    Juri Norstein / © X-Javier unter CC BY-SA 3.0

    Dabei steht Norstein der russischen Politik der Ära Putin im Allgemeinen kritisch gegenüber. 2010 bemüht er in der Novaya Gazeta Fjodor Dostojewskis Großinquisitor und nimmt damit Bezug auf den sogenannten Gesellschaftsvertrag: „Und wir haben laut geschrien, als wir unsere Freiheit dem Herrscher zu Füßen legten: ‚Versklaven Sie uns ruhig, doch geben Sie uns Essen‘“.7Sergej Magnitski starb in Norsteins Augen nicht an „eigenem“ Herzversagen, sondern „am Herzversagen Putins“8. Und im Juni 2018 unterzeichnet er gemeinsam mit anderen Kulturschaffenden ein Gnadengesuch für den ukrainischen Regisseur Oleg Senzow. Vor diesem Hintergrund entflammte in russischen Medien eine Debatte darüber, ob sich der Schöpfer des beliebten kleinen Igels in der Krim-Frage möglicherweise selbst im Nebel der russischen Propaganda verirrt habe.9
    Zu der Gretchenfrage, ob ein Künstler menschlich irren kann, hat er sich selbst in einem Interview von 2010 geäußert: „Was denken Sie – kann ein Künstler ein Schuft sein und trotzdem Wunderbares erschaffen? Kann er. Das sind Fragen von Ethik und Ästhetik, manchmal fallen sie zusammen, manchmal laufen sie auseinander.“10

    Schon lange vor der Annexion reflektiert Norstein über das Wort „Krim“, als er über die Entstehung von Joshik w Tumane spricht. Dabei schildert er jene Assoziationen, die für ihn als Kind das Wort Krim, oder vielmehr der Klang des Wortes hervorrief, lange bevor er eine konkrete Bedeutung damit verknüpfte, geschweige denn sich mit Geographie auskannte.11 In diesem Text wird deutlich, dass Norstein eine sehr persönliche Beziehung zu diesem Ort hat, an dem bis heute ein Teil seiner Familie lebt und wo er in seiner Jugend entschied, den Weg des Filmemachers einzuschlagen. Die Krim erscheint damit ein wenig wie ein sagenumwobener Sehnsuchtsort – ein Ort, an dem alles für ihn begann. 

    Innere Mission

    Deutlich wird auch, dass Norstein wie immer unbeirrt seine eigene Position vertritt, auch wenn diese die Gemüter spaltet und bei vielen seiner Freunde und Künstler-Kollegen auf Unverständnis stößt. Beim Filmemachen folgt er dabei zumeist seiner Intuition. So erzählt er, dass er zu Beginn der Dreharbeiten zu Joshik w Tumane zunächst aufgrund der Wahl des Sujets von allen ausgelacht wurde. Niemand sah in der insgesamt handlungsarmen Geschichte ein besonderes Potential, bis Norsteins Visionen schließlich Form annahmen und die Bilder auf der Leinwand sich langsam zu einem Kunstwerk zusammenfügten.

     

    „Skaska Skasok“ (dt. „Das Märchen der Märchen“) ist Norsteins wohl persönlichster Film

    Auch bei seinem wohl persönlichsten Film Skaska Skasok (dt. „Das Märchen der Märchen“) scheint er einer inneren Mission zu folgen. Der Film, der 1979 nach langem Ringen mit der Zensur erscheint, basiert auf Kindheitserinnerungen und entstand in Zusammenarbeit mit der Bühnenautorin Ljudmila Petruschtschewskaja. In Skaska Skasok wirft Norstein alle narrativen Gesetzmäßigkeiten über Bord und schafft eine Art Episodenfilm, eine Komposition aus biographischen Momenten, historischen Ereignissen und intermedialen Bezügen. Dabei sind die einzelnen Sequenzen des Films auf vielerlei Weise miteinander verknüpft, am augenscheinlichsten jedoch durch die Figur eines kleinen Wolfes, der die verschiedenen Welten, und damit die verschiedenen Zeitebenen und filmischen Räume, als einziger mühelos durchschreitet.

    Aus Gogols Mantel geschlüpft

    1981 beginnt Norstein mit einem Langzeitprojekt: der Verfilmung von Nikolaj Gogols Erzählung Schinel (dt. „Der Mantel“). Wegen seiner langsamen und perfektionistischen Arbeitsweise wird Norstein 1985 von Sojusmultfilm entlassen. Die Arbeit gerät daraufhin – nicht zuletzt aufgrund mangelnder Finanzierung – immer wieder ins Stocken. Schon jetzt ist Der Mantel das wohl längste Projekt in der Geschichte des Zeichentrickfilms. Mit der Vollendung dieser Mammutaufgabe wird sich Norstein sicherlich wieder ein Denkmal setzen. Die Bedeutung des Mantels für die russische Literatur ist kaum zu überschätzen, ein gängiges Sprichwort dazu lautet: „Wir alle sind aus Gogols Mantel geschlüpft.“


    1. vgl. Kitson, Clare (2005): Yuri Norstein and Tale of Tales: An Animatorʼs Journey, Eastleigh, S. 9 ↩︎
    2. vgl. animation.ua (2012): Yuri Norstein – after „The Overcoat“ ↩︎
    3. vgl. Kitson, Clare (2005), S. 23 ↩︎
    4. Brief an Clare Kitson vom 20. April 2001, vgl. ebd. S. 30 ↩︎
    5. Norštejn, Jurij (1994): Metafory, in: Iskusstvo kino Nr. 7, S. 116 ↩︎
    6. zit. nach: obozrevatel.com (2006): Jurij Norštejn: „Iskusstvo dolžno nachodit’sja v stesnennych obstojatel’stvach.“ ↩︎
    7. Novaya Gazeta (2010): Jurij Norštejn: Trudno ne označaet, čto vsë poterjano ↩︎
    8. aif.ru (2010): Norštein: Magnistkij sko čalsja ot serdečnoj nedostačnosti Putina ↩︎
    9. bbc.com (2016): Kinoblog: Jurij Norštein i ego ličnyj Krym ↩︎
    10. ebd. ↩︎
    11. vgl. Norštein, Jurij/Jarbusova,Frančeska (2005): Ëžik v tumane, in: Skazka skazok (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), S. 284 ↩︎

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