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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Karriere in Uniform

    Karriere in Uniform

    „In der ganzen Welt wünschen sich Eltern für ihre Kinder eine Karriere als Arzt“, schreibt Jewgeni Karassjuk auf Republic. In Russland, so legt er dar, steht daneben noch etwas anderes hoch im Kurs: der Dienst beim Militär oder bei Sicherheitsorganen.

    Wie kommt das? Gerade die Armee hatte eine Mehrheit laut einer Umfrage noch vor sechs Jahren als Zukunft für ihre Kinder abgelehnt, zu viel Angst vor Gewalt, Willkür und politischer Verantwortungslosigkeit gaben die Befragten als Gründe an. Das hat sich geändert. Es sind heute meist Eltern ärmerer Schichten, die für ihren Nachwuchs eine Karriere in der Armee oder bei den Sicherheitskräften erträumen. Wo Jobs fehlen, wo Perspektiven ausbleiben, bietet sich hier zumindest die Aussicht auf ein stabiles Gehalt: Je nach Dienstgrad und -jahren kann zum Beispiel ein Berufssoldat rund 1000 Euro im Monat verdienen. Ärzte bekommen Umfragen zufolge oft nur rund 310 Euro. Entsprechend legendär sind die Wsjatki, Bestechungsgelder, die Patienten oft an Ärzte zahlen.

    Karassjuk erklärt auf Republic, weshalb es nicht nur an Propaganda, Ukraine und Syrien liegt, dass viele Russen ihren Kindern eine Karriere ausgerechnet dort wünschen – und verdeutlicht das mit anschaulichen Infografiken.

    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto ©  Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0
    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto © Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0

    Vergangenen Herbst hielt Wladimir Mau, Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst, einen Vortrag an der privaten Wirtschaftshochschule Skolkowo. Dort sprach er über die Zukunft der Bildung in Russland und zeigte dem Publikum erneut auf, welche Zukunft sich die Russen für ihre Kinder wünschen: Reichere Familien erwägen eine Karriere als Manager in einem staatlichen Unternehmen, ärmere Familien eine Laufbahn beim Militär oder bei den Sicherheitsbehörden.

    „Eine unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“

    Die Armut im Land nimmt weiter zu, dem entsprechen auch die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM: Über die Hälfte der Bürger (53 Prozent) ziehen als zukünftigen Arbeitsplatz für ihre Kinder die Polizei-, Justiz- oder andere Sicherheitsbehörden in Betracht. Den Staat mit seiner jetzigen Beschäftigungsstruktur – eine „unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“ – nennt Alexander Idrissow, Chef der Strategy Partners Group, eine Katastrophe. Doch das Interessanteste steht womöglich erst noch bevor. Denn die kommende Generation von Russen folgt vielleicht dem elterlichen Rat und schlüpft massenhaft in Uniformen. Warum halten die Russen eine Karriere als Militärangehöriger, Polizist oder Mitarbeiter der Geheimdienste für eine gute Idee?

    In ihren Präferenzen unterscheiden sich russische Eltern gar nicht so sehr von Eltern in anderen Ländern. Fast alle Untersuchungsergebnisse sind mit den Daten ähnlicher internationaler Erhebungen vergleichbar – einzige Ausnahme: der Wunsch nach einer Karriere in den Sicherheitsbehörden.



     * Die Angaben zu den Berufswünschen Ärzte, Unternehmer, Lehrer und Wissenschaftler sind einer Studie entnommen, die die Higher School of Economics 2013 durchgeführt hat. In der Umfrage waren mehrere Antworten möglich. Laut dieser Studie haben 14 Prozent der Befragten eine Karriere bei der Armee als bevorzugt angegeben. Quelle: Republic (WZIOM, HSE)


    Quelle: Republic (WZIOM)

    Assoziation einer längst vergessenen Stabilität

    Eltern aus 16 Ländern, die von der [weltweit agierenden Bank] HSBC im Rahmen der Studie Learning for Life befragt wurden, wollten im Schnitt, dass ihre Kinder Ärzte (19 Prozent), Ingenieure (11 Prozent) oder Programmierer/Software-Entwickler (8 Prozent) werden. Die russischen Daten zu diesen Berufswünschen fallen ähnlich aus: 21, 13 und 14 Prozent. Doch spielen das Innenministerium (MWD), der Inlandsgeheimdienst FSB und die Armee heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle, wenn es um die Prioritäten geht, die in Familien gesetzt werden.

    In den letzten Jahren wecken Menschen in Uniform bei Russen Assoziationen einer fast vergessenen Stabilität. Die monatliche Vergütung für Militärangehörige steigt. 2015 betrug sie im Schnitt 62.200 Rubel [rund 1000 EUR – dek], was mehr als das Doppelte des Durchschnittslohns ist.

    Außerdem steigen die Renten und Pensionen, die ein Großteil der Mitarbeiter in den Militär- und Sicherheitsstrukturen bereits früher beziehen (vor dem üblichen Renteneintrittsalter: 55 Jahre bei Frauen und 60 Jahre bei Männern). In Zeiten der Krise, so verkündete die stellvertretende Verteidigungsministerin Tatjana Schewzowa stolz, „gelingt es, die finanzielle Vergütung der Militärangehörigen auf dem Niveau der führenden Wirtschaftsbranchen zu halten“. Im Jahr 2015 haben auch erstmals in der neuesten Geschichte Russlands mehr Berufssoldаten (300.000) als normale Wehrdienstpflichtige (276.000) in der Armee gedient.



    * Mittelwerte für die Offiziershochschulen Blagoweschtschensk, Nowosibirsk, Rjasan
    ** Mittelwerte für die MGTU, MIFI und MFTI 2014-2016
    Quelle: Republic (Universitäten, Verteidigungsministerium)

    „Ich beschäftige mich seit langem mit den Aufnahmeprüfungen an den Militärhochschulen. Eine derartige Konkurrenz wie in diesem Jahr hat es noch nie gegeben“, meinte im Jahr 2015 der stellvertretende Verteidigungsminister Nikolaj Pankow. Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge ist die Zahl der Abiturienten, die auf Militärhochschulen gehen, im Laufe des vergangenen Jahres um 36 Prozent gestiegen. „Heute haben wir, wie es aussieht, den größten Andrang auf unsere Ausbildungsstätten“, erklärte der Minister.

    Gleichzeitig steigt auch die Nachfrage nach Plätzen in den Nachimow– und Suworow-Militärschulen und Kadettenkorps (2015 gab es 3,5 Bewerber pro Platz). An den zivilen technischen Hochschulen werden sogenannte Wissenschafts-Kompanien eingerichtet, und auch da ist der Andrang groß.

    Selbstisolierung spielt Militär in die Hände

    Der explosionsartige Beliebtheitssprung bei militärischen Berufen erfolgt vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Selbstisolierung der Bevölkerung, auch im Bildungssektor. Für jene, die sich von Feinden umringt fühlen (laut Lewada-Zentrum 68 Prozent), die meinen, dass man Russland in der Welt fürchte und dass das gut sei (75 Prozent laut FOM), wäre es merkwürdig, davon zu träumen, die Kinder zum Studium ins Ausland zu schicken.

    68 Prozent der Russen, die 2015 im Rahmen der Studie Integrationsbarometer der Eurasischen Entwicklungsbank befragt wurden, konnten oder wollten kein einziges Land nennen, in das sie ihre Kinder theoretisch zwecks Studium fahren lassen könnten. Zum Vergleich: Den Daten der HSBC zufolge denken in westlichen und asiatischen Ländern 77 Prozent der Eltern mit Kindern bis 23 Jahre daran, die Kinder für Bachelor-, Master- oder Doktoranden-Programme ins Ausland zu schicken.

    Die Russen in Uniform fühlen sich sicher

    Es wäre zu einfach, das gestiegene Interesse der Russen an einer Arbeit in den Sicherheitsbehörden mit den Ereignissen in der Ukraine und in Syrien zu erklären oder mit der speziellen Art, wie darüber in den staatlichen Medien berichtet wird. Das Internationale Konversionszentrum Bonn (BICC) führt Russland bereits seit vielen Jahren unter den zehn (und häufiger noch: fünf) am stärksten militarisierten Staaten. Dem Ranking des internationalen Zentrums liegen mehrere Faktoren zugrunde, beispielsweise die Haushaltsausgaben für Militär im Verhältnis zu denen im Gesundheitssektor, das Zahlenverhältnis von Militärangehörigen (inklusive Milizen, aber ohne Mitarbeiter von Polizei und Justiz) und Ärzten zur Gesamtbevölkerung sowie die Menge schwerer Waffen bezogen auf die Bevölkerungszahl.



    Quelle: Republic (Finanzministerium)

    Viele Russen fühlen sich in Uniform sicher – und zwar ungeachtet der Wirtschaftskrise und planmäßigen Kürzungen sowie der außerplanmäßigen Reformen in einigen Behörden. Was die Staatsfunktionäre auch immer sagen mögen über die Unterstützung aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst – die Silowiki erfahren die Fürsorge des Staates zuerst. So bedeutet der Anstieg der Ausgaben für den öffentlichen Dienst, wie er im Haushaltsplanentwurf 2017 bis 2019 vorgesehen ist, in erster Linie eine Ausgabensteigerung für die Staatsanwaltschaften, das Ermittlungskomitee, den FSB und andere privilegierte Behörden des Innen- und Verteidigungsministeriums.

    Auch die immaterielle Motivation wird immer größer. „Ränge, Auszeichnungen, die Vertikale der Macht und das Unterordnungsprinzip gehören zu den Grundsätzen einer militärischen Organisation der Gesellschaft. Und diese Prinzipien zeigen sich wieder im alltäglichen Leben des heutigen Russland“, schreibt Cyril Bret vom Pariser Institut für politische Studien (Sciences Po).

    Wie es aussieht, ist die Mehrheit der Russen aufrichtig davon überzeugt, dass diese Kasernenstruktur im Land noch lange Bestand haben wird. Wenigstens für die Kinder wird’s reichen.

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  • Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA

    Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA

    Spätestens seit Donald Trumps Einzug ins Weiße Haus im Januar 2017 schaut die Welt gespannt auf die wechselhaften Beziehungen zwischen Russland und den USA.

    Aktuell sind die politischen Beziehungen anhaltend auf einem Tiefpunkt. Das war nicht immer so, im Gegenteil. Anfang der 1990er Jahre wünschte sich die große Mehrheit noch die USA als Kooperationspartner.

    Wie kam dieser radikale Umschwung zustande? In welchem Zusammenhang stehen die Umfragewerte mit politischen Ereignissen im Verlauf der Zeit?

     

    Quelle: Lewada

    „Wie stehen Sie zu den USA?“ Diese repräsentative Infografik verdeutlicht die Höhen und Tiefen in den Zustimmungs- und Ablehnungswerten, wie sie das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada in regelmäßigen Abständen ermittelt. Wir haben diese Grafik mit einigen Ereignissen versehen, die das Auf und Ab der Linie erklären können. Um ein genaueres Bild zu bekommen, können Sie in bestimmte Zeiträume hineinzoomen.

    Es fallen insgesamt vier steile Ausschläge auf, immer zum Zeitpunkt eines Krieges: im Kosovo, Irak, Georgien und in der Ukraine. Auch dazwischen gab es viel Bewegung, doch wenn man das gesamte Bild betrachtet, dann fällt auf, dass bis zur Angliederung der Halbinsel Krim auf jeden Anstieg ein nahezu symmetrischer Wiederabfall folgte.

    Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.

    Große Linien

    Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg standen die Zeichen im Russland der frühen 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wurde – dann vor allem von den USA. Wenn nach einem Land gefragt wurde, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte – auch dann wurden die Vereinigten Staaten genannt. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sahen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 Bis heute hat sich dieses Bild allerdings umgekehrt, und zwar nahezu parallel zum Wandel der bilateralen Beziehung zwischen Russland und den USA.

    Der erste Stimmungswandel kam in den Jahren 1998 und 1999. Damals fielen viele Ereignisse zusammen: die Nato-Intervention im Kosovokrieg, die Russland kritisierte, der Zweite Tschetschenienkrieg, der massive Kritik des Westens am russischen Vorgehen nach sich zog, die erste Nato-Osterweiterung vom 12. März 1999, die wiederum für Zerwürfnisse sorgte.

    Der demonstrative Schulterschluss nach dem 11. September 2001 verpuffte schnell – Anfang 2002 kündigten die USA an, einseitig vom ABM-Vertrag zurückzutreten, der seit 1972 die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen regelte. Hintergrund waren Pläne der Bush-Regierung ein nationales Raketenabwehrsystem zu installieren, was in Russland auf Skepsis traf.

    Zum ersten sichtbaren Bruch zwischen den USA und Russland kam es schließlich in den Jahren 2003 und 2004. Der Irakkrieg, die bunten Revolutionen in Georgien und der Ukraine sowie die zweite Nato-Osterweiterung führten zu einer massiven Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern.

    Seit Mitte der 2000er Jahre werden die USA in Meinungsumfragen zu einem der größten Feinde Russlands gezählt. Die Rede, die Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 hielt, wurde vor diesem Hintergrund als eine „Brandrede“ aufgefasst, für viele Beobachter markierte sie eine Wende in der russischen Außenpolitik.

    Einen weiteren Tiefpunkt in den Beziehungen markierte der Georgienkrieg 2008. Der Amtsantritt Barack Obamas, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirkten zwar eine neuerliche Annäherung, doch das war nur ein kurzes Intermezzo. Die Angliederung der ukrainischen Halbinsel Krim, der Krieg in der Ostukraine, die daraufhin als Antwort verhängten Sanktionen und der Krieg in Syrien entzweiten Russland und die USA nachhaltig.

    Parallele Linien – was die Grafik nicht sagt

    Doch wie hängen all diese Ereignisse mit dem öffentlichen Meinungsbild in Russland zusammen? Warum sind die ermittelten Zustimmungs- und Ablehnungswerte nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml?

    Zum einen kann der Zusammenhang damit erklärt werden, dass die Befragten sich bei solchen Umfragen unter Anpassungsdruck wähnen und deshalb nicht ihre eigentliche Meinung äußern, sondern die sozial erwartbare. Soziale Erwünschtheit nennt man diesen Effekt. Zum anderen sind Amerikakritik und Antiamerikanismus global anzutreffende Haltungen, die sich bei solchen Ereignissen wie dem Irakkrieg in vielen Ländern verstärken, nicht nur in Russland.2

    Außerdem spiegeln sich in Umfragen auch vielschichtige individualpsychologische Phänomene, wie zum Beispiel eine Neigung zu Stereotypen oder Verschwörungstheorien.

    Jenseits solcher Erklärungen stellen viele unabhängige Beobachter – sowohl in Russland als auch im Westen – einen weiteren möglichen Zusammenhang fest: Seit über zehn Jahren werden mit jeder Verschlechterung der bilateralen Beziehungen auch mittels Propaganda die gewünschten Stimmungen in der Gesellschaft erzeugt.3 Staatliche und kremlnahe Medien konstruieren demnach Feindbilder und tragen so zum Selbstbild Russlands als „belagerter Festung“ bei. Dies lenke erstens von innenpolitischen Problemen ab und stelle zweitens „Gefahren“ her, die eine einende Kraft entfalten und das Volk hinter dem Präsidenten versammeln.

    Mit dem Amtsantritt Donald Trumps schien sich die Situation zunächst zu ändern. Der neue amerikanische Präsident gab sich bisweilen betont Putin-freundlich. Und in den unabhängigen russischen Medien häufte sich schon die Frage, wie das russische Herrschaftssystem ohne ein Feindbild auskommen könne.

    Die großen Erwartungen an eine Annäherung zerschlugen sich aber bereits während Trumps ersten Monaten im Amt. Anfang August 2017 setzte er seine Unterschrift unter die neuen Sanktionen gegen Russland, die sich unter anderem für die Angliederung der Krim und die mutmaßliche Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen richten. 

    Vor allem Russlands Rohstoffgeschäft, das einen großen Teil des Staatshaushalts ausmacht, kann durch diese Sanktionen betroffen werden. Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow kommentierte die erste Reaktion der politischen Elite Russlands als Panik.4

    Panik kam auch auf, nachdem die USA im April 2018 neue Sanktionen beschlossen: Wegen mutmaßlicher Einmischung in den US-Präsidentschaftswahlkampf fielen 24 russische Oligarchen und mehr als ein Dutzend Unternehmen unter die neuen Sanktionen. Die Finanzmärkte in Moskau taumelten, der Rubel verlor rund zehn Prozent gegenüber dem Euro, manche Analysten sprachen vom Schwarzen Montag an der Moskauer Börse.

    Einige Tage zuvor hatten die USA außerdem beschlossen, 60 russische Diplomaten auszuweisen. Damit demonstrierten sie einen Schulterschluss mit anderen westlichen Ländern, die wegen des Falls Skripal ebenfalls russische Diplomaten des Landes verwiesen.

    Den vorläufigen Tiefpunkt in der Eskalationsspirale bildete der von den USA im April 2018 initiierte Luftangriff auf syrische Lager und Forschungseinrichtungen für Chemiewaffen. Die Angriffe waren eine Reaktion auf den mutmaßlichen Giftgaseinsatz durch das syrische Regime. Einige russische Politiker drohten im Vorfeld des Luftangriffs mit einem Gegenschlag, sodass manche Beobachter schon die zweite Kuba-Krise heraufziehen sahen. Da Russland nicht mit militärischen Mitteln auf den Angriff reagierte, trat das Szenario nicht ein. Trotz Aufatmens bedeutete der Angriff aber dennoch eine neue Verschärfung des Konflikts zwischen Russland und den USA.

    Vor dem Hintergrund anhaltend schlechter Beziehungen zwischen Russland und den USA staunten viele Beobachter, als die antiamerikanischen Stimmungen in der russischen Gesellschaft nach der Fußball-WM 2018 rapide sanken. Das Ab in der Kurve erklärten sie mit rund drei Millionen ausländischen WM-Touristen, die das seit Jahren verbreitete Bild des russophoben Ausländers ins Wanken brachten. Die renommierte russische Politologin Lilija Schewzowa etwa meinte in diesem Zusammenhang, dass die propagandistischen Feindbilder mitsamt der Formel belagerte Festung immer weniger Anklang fänden: „Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen“, so Schewzowa.

    Text: Anton Himmelspach
    aktualisiert am 19.04.2018


    1.polit.ru: Lev Gudkov: Otnošenie k SShA v Rossii i problema antiamerikanizma
    2.Speulda, Nicole: Documenting the Phenomenon of Anti-Americanism
    3.siehe zum Beispiel republic.ru: Pjat’ mifov ob Amerike, tiražiruemych v Rossii; bpb.de: Notizen aus Moskau: Woher kommt der russische Antiamerikanismus?; the-village.ru: Sociolog Lev Gudkov – ob effektivnosti propagandy v Rossii
    4 republic.ru: Chuže, tschem pri Obame. Pochemu novye sankcii SShA vyzvali paniku v Moskve.
     

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  • HIV-Epidemie in Jekaterinburg?

    HIV-Epidemie in Jekaterinburg?

    „HIV in Jekaterinburg offiziell zur Epidemie erklärt“ – diese Meldung erregte kürzlich großes Aufsehen in Russland. Auch weil schnell ein unerwartetes Statement kam: Das sei überhaupt keine Neuigkeit und in vielen russischen Regionen der Fall. Jekaterinburgs Bürgermeister Jewgeni Roisman hatte sich da zu Wort gemeldet, ein unkonventioneller Typ in der russischen Regionalpolitik.

    Roisman – der nicht im Tagesgeschäft der Stadtregierung steckt, sondern repräsentative Funktionen hat – sprang mit seiner Stellungnahme zum HIV-Problem dem eigenen Gesundheitsamt zur Seite, das ohne Umschweife einfach nur neueste Zahlen präsentiert habe. Die schockierenden Zahlen einerseits und das halbe Dementi zur Meldung andererseits verschafften dem Thema zusätzlich großes mediales Echo.

    Das liberale Webmagazin slon.ru bat Anton Krassowski, den Leiter des gemeinnützigen HIV-Präventivfonds spid.center, gemeinsam mit Roisman zum Interview. Ist die Situation in Jekaterinburg tatsächlich schlimmer als anderswo in Russland?

    Jewgeni Roisman, Bürgermeister von Jekaterinburg

    Kürzlich wurde bekanntgegeben, dass in Jekaterinburg 1,8 Prozent der Bevölkerung mit HIV infiziert sind. Aber das bedeutet ja nicht – betrachtet man ganz Russland – dass in Jekaterinburg die meisten Menschen mit HIV leben, sondern dass die Erkrankung in Jekaterinburg am häufigsten festgestellt wurde.

    Eine derartige Situation haben wir nicht nur in Jekaterinburg – sondern im ganzen Land. Nur hat unser städtisches Gesundheitsamt den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir haben keine Angst, das laut zu sagen.

    In Wirklichkeit unterscheidet sich Jekaterinburg, was die Anzahl von HIV-Infizierten betrifft, überhaupt nicht von anderen russischen Millionen- und Industriestädten. Bei uns ist es genauso wie bei allen anderen. Aufs Ganze gesehen ist die Situation im Land sogar schlechter als in Jekaterinburg. Wir haben nur einfach die höchste Anzahl an getesteten Personen. Das Gesundheitsamt in Jekaterinburg arbeitet schon seit vielen Jahren an der Dokumentation von HIV. Wir haben ein großes Zentrum für Prävention und Bekämpfung von Aids. In Jekaterinburg wurde bislang etwa ein Viertel der Bevölkerung erfasst, also auf HIV getestet. In ganz Russland sind das durchschnittlich weniger als 15 Prozent.

    In der Oblast Swerdlowsk ist die Anzahl der HIV-Infizierten auf 100.000 getestete Personen sicherlich höher als in Jekaterinburg. Ganz sicher gibt es auch eine ähnliche Situation in Saratow, Nowosibirsk, Irkutsk, Kimry, Twer, Wyschni Wolotschok und vielen anderen russischen Städten. In landwirtschaftlichen Regionen sieht es vielleicht etwas besser aus, aber in Millionenstädten ist die Situation schlechter.

    Warum dann jetzt erst die Nachrichtenschwemme über eine Epidemie?

    Еine allgemeine Epidemie liegt vor, wenn mehr als ein Prozent der Bevölkerung infiziert ist. Das haben wir doch schon vor fünf Jahren öffentlich gemacht. Ich persönlich spreche seit 1999 davon, dass sowohl in der Stadt als auch in der gesamten Region eine HIV-Epidemie grassiert, weil es schon damals offensichtlich war.

    Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche.”

    Den Zahlen des Gesundheitsamtes zufolge steigt die Zahl der Infizierten jährlich. Wenn ich es richtig verstehe, handelt es sich bei diesen Zahlen um die im jeweiligen Jahr dokumentierten HIV-Fälle und nicht um Neuinfektionen. Wie steht es denn um die tatsächliche Zahl der Neuinfizierten? Denken Sie, dass sie gerade zurückgeht?

    Ich denke, die Dynamik dürfte sich ein bisschen verlangsamen. Dennoch steigt die Gesamtzahl der HIV-Infizierten, und diese werden unweigerlich weitere Menschen anstecken.

    Die erste sehr starke HIV-Welle wurde durch Heroinkonsum ausgelöst: Bis zu 40 Prozent der heroinabhängigen jungen Männer hatten HIV. Von den jungen Frauen, die heroinabhängig waren, hatten es fast alle, außerdem waren fast alle von ihnen Prostituierte. Aber seit jener Zeit gibt es in den Apotheken sehr viele Einmalspritzen, so dass man sie problemlos kaufen kann.

    Dann kam die zweite Welle durch die Droge Desomorphin, im Volksmund auch Krokodil genannt. Zu der Zeit wurden in allen Apotheken im Land tonnenweise codeinhaltige Präparate vertrieben und jeder – vom Apothekerlehrling bis zum Gesundheitsminister – wusste ganz genau, wem und wozu sie verkauft wurden.

    Damals lief alles völlig aus dem Ruder, denn Desomorphin ist eine Gemeinschaftsdroge, sie wird in den letzten Löchern konsumiert. Hinzu kommt noch, dass die Droge mit eigenen Spritzen aus einer gemeinsamen Schüssel aufgezogen wird. Im Vergleich mit Heroin war das so, als würde man Öl ins Feuer gießen – ich hatte mit diesen Menschen zu tun, die Zahl der Infizierten unter ihnen war erheblich höher.

    Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche. Wir haben in 15 Jahren etwa 9.000 Drogenabhängige behandelt und haben jeden, den wir aufgenommen haben, zur Blutabnahme ins HIV-Zentrum gebracht.

    Codeinhaltige Präparate werden seit 2012 offiziell nur noch auf Rezept verkauft. Hat sich die Situation dadurch gebessert?

    Man muss bedenken, dass HIV mit der Zeit vom Drogenmilieu in besser sozialisierte Schichten vorgedrungen ist. Es gibt plötzlich eine Menge Leute, die überhaupt nichts dafür können, dass sie sich angesteckt haben. Die Menschen stecken sich im normalen Leben an – bei Bluttransfusionen, und natürlich durch Geschlechtsverkehr. Doch am meisten schmerzt, dass bei uns seit Mitte der 1990er Jahre Kinder mit HIV zur Welt kommen. (In Jekaterinburg wurde bei 342 Kindern HIV diagnostiziert, bei weiteren 400 besteht der Verdacht. – Slon)


    Anton Krassowski, Leiter der Stiftung spid.center

    Laut den Ihnen vorliegenden Informationen: Handelt es sich um eine Epidemie oder nicht?

    Ich kenne keinen Fall, wo eine HIV-Epidemie auf regionaler Ebene festgestellt wird. Es geht ja hier nicht um eine Grippe, um eine Krankheit, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, und auch nicht um eine, die sich durch regionale Maßnahmen bekämpfen ließe, verstehen Sie? Welche epidemologischen Maßnahmen könnten denn erfolgen? Das ist mir völlig unklar. Die Region kann natürlich eine gewisse Summe für den Einkauf von Präparaten beisteuern, lokale Programme und andere Dinge vorschlagen, aber das ganze Maßnahmenpaket muss mit Moskau abgestimmt werden. Das heißt grob gesagt: Die Region muss beim Gesundheitsministerium, beim Verbraucherschutz, beim Föderationsrat und bei der Regierung irgendwelche Subventionen für irgendwelche Zusatzausgaben erwirken. Das alles ist eine sehr schwierige Angelegenheit.

    Aber die Zahlen in Jekaterinburg sind tatsächlich so: zwei Prozent – und das sind nur die offiziell dokumentierten zwei Prozent.

    Wie unterscheiden sich die Zahlen für ganz Russland?

    Momentan sind in Russland über eine Million Menschen mit HIV-Infektion erfasst: Am 1. Juni waren es 1.057.000, zum Ende des Jahres werden es 1.120.000 Menschen sein. Und das sind die Zahlen über die gesamte Zeitspanne seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt gerade in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.

    Eine Epidemie beginnt, sobald in einem Land der erste Fall einer Infektionskrankheit auftaucht, die sich ausbreitet. Nach dem ersten Fall folgten immer mehr, es sind nie weniger geworden, sondern immer mehr. Die Epidemie war seit Beginn bekannt. Auch vor 30 Jahren in der Sowjetunion war sie bekannt. Heute sprechen wir jedoch von einer „generalisierten Epidemie“. Das tut man, wenn die Epidemie den Charakter einer Naturkatastrophe annimmt und ein Ausmaß erreicht, das sich durch nichts und niemanden kontrollieren oder vorhersagen lässt. Wenn also die Zahl ein Prozent übersteigt.

    Hinzu kommt, dass das nicht die gesamte Bevölkerung betrifft, sondern den sexuell aktiven Teil. Die Epidemie grassiert also nicht unter Rentnern über 65. Das heißt zwar nicht, dass es unter ihnen keine Virusträger gibt, aber sie sind nicht der „Motor im Handelsverkehr“. Kinder auch nicht. Das sind Menschen im Alter zwischen 18 und 50. Und von dieser Bevölkerungsgruppe sind 5 Prozent infiziert. Bei Männern im Alter zwischen 20 und 39 Jahren sind es sogar 10 Prozent. Das sind die realen Zahlen.

    „​Das sind Zahlen seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.”

    Welche Regionen stehen außerdem noch oben auf der Liste?

    Das ganze Uralgebiet, die ganze Wolgaregion, ganz Westsibirien. Aber das Problem ist ja nicht, dass in irgendeiner Stadt, beispielsweise in der Oblast Swerdlowsk, ausnahmslos alle HIV haben. In dieser und vielen anderen Regionen ist das Problem, dass ausnahmslos alle kein Geld und keine höhere Bildung haben. Aber sie haben HIV. Fahren Sie mal zum Beispiel nach Sewerouralsk und versuchen Sie dort, Menschen auf HIV zu testen. Oder versuchen Sie mal in Nishni Tagil, einen Aidstest durchzuführen.

    Es geht nicht darum, dass die Menschen die Krankheit nicht dokumentieren lassen wollen, sondern darum, dass sie überhaupt keine Vorstellung davon haben, wie sie mit ihr umgehen sollen. Das Problem heißt nicht „HIV in Russland“, es heißt: Drogenkonsum wegen der depressionsfördernden Situation in den Regionen mit stümperhafter Lokalpolitik.

    Das bedeutet, solange es bei uns Drogenkonsum gibt – und den wird es geben –, werdet ihr mit keiner Mühe dieser Welt das HIV-Problem lösen. Solange ihr keine Methadon-Therapie in eurem Land erlaubt. Solange ihr nicht aufhört, Drogenkonsum zu kriminalisieren und jeden kleinen Junkie nach Paragraph 228 zu verurteilen, anstatt ihn anständig zu therapieren, ihm ein paar Tropfen Methadon, ein paar Tabletten und einen Job zu geben. Doch in unserem Land sperrt man ihn stattdessen für acht Jahre weg. Das ist der Grund, warum wir nächstes Jahr zwei Millionen Infizierte haben werden. Andere Lösungen gibt es nicht – das ist eine wissenschaftlich belegte Tatsache.

    In der ganzen Welt wird sie anerkannt, nur bei uns herrscht eine andere Politik: Unser Chef-Suchtmediziner sagt, die Heilung von Drogensucht sei eine Frage der Willenskraft des Abhängigen. Und morgen behauptet dann der Chef-Onkologe, das Problem unserer Krebstherapie bestünde in der fehlenden Willenskraft der Krebskranken. Deswegen ist es völlig unmöglich, HIV zu besiegen. Hier ist es unmöglich.

    Ende Oktober hat Premierminister Dimitri Medwedew die offizielle Regierungsstrategie im Kampf gegen die Verbreitung von HIV bis ins Jahr 2020 und darüber hinaus bestätigt.

    Ja, und sie ist grausig. Diese Strategie lautet folgendermaßen: „Wir werden weiterhin haargenau das tun, was wir all die Jahre getan haben, sprich gar nichts.“ Wir werden den Drogenkonsum nicht bekämpfen. Wir werden Drogenabhängige weiterhin einsperren. Wir werden keine Tabletten ausgeben, weil wir kein Geld haben. Aber dafür werden wir irgendeine gemeinnützige Organisation unterstützen, die sich für irgendwelche traditionellen Familienwerte, geistig-moralische Klammern usw. einsetzt. Dann gibt es noch die Webseite des Gesundheitsministeriums o-spide.ru [über-aids.ru – dek], die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat.

    Es gibt viele gemeinnützige Organisationen, die tatsächlich versuchen etwas zu verändern, mit gefährdeten Gruppen zu arbeiten, über das Problem zu sprechen. Ehrlich gesagt, ohne unsere Bemühungen hätte man überhaupt nicht angefangen, darüber zu reden. Noch vor zwei Jahren hat niemand darüber geredet. Glauben Sie etwa, die Dynamik war damals eine andere? Dass die Zahlen sehr viel anders waren? Das waren sie nicht. Die Situation in Jekaterinburg war vor einem Jahr genau die gleiche wie vor zwei Jahren. Sie war einfach immer gleich, das muss man sich vor Augen führen. Sicherlich wird etwas getan, aber vor allem der Staat müsste etwas tun. Die Gesellschaft, oder genauer gesagt die NGOs, sollten den Staat unterstützen, und er sollte diese Hilfe dankbar annehmen. Aber der Staat hat kein Recht, wissenschaftlich fundierte Methoden im Kampf gegen das Problem abzulehnen. Ein Staat, der verkündet: „Wir werden den Virus und Drogenkonsum mit Ikonen und Kreuzprozessionen bekämpfen“, hat kein Recht darauf zu existieren. Und ganz sicher wird er HIV nicht besiegen.


    Quelle: Föderales AIDS-Bekämpfungszentrum

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    „Wir glauben Gauß!“ – so und ähnlich lauteten Aufschriften auf Schildern, die während der Massenproteste nach der Dumawahl 2011 zu sehen waren. In abgewandelter Form taucht das Stichwort nun nach dieser Dumawahl wieder auf, nicht auf der Straße, aber in der Berichterstattung unabhängiger russischer Medien – und in den Sozialen Netzwerken.  

    Gemeint ist die Gaußsche Glockenkurve, die in der Statistik eine Normalverteilung anzeigt. Der Physiker Sergej Schpilkin machte diese Kurve unter Kritikern der Dumawahl besonders populär. Bereits 2011 und jetzt wieder nutzte er sie zur Analyse der Wahlbeteiligung und der abgegebenen Stimmen. In den erstellten Histogrammen fällt auf, dass die Machtpartei Einiges Russland in Wahlbezirken, in denen die Wahlbeteiligung auf 100 Prozent zugeht, auffällig viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Schpilkins Analyse wirft Fragen auf. Weisen seine berechneten Kurven auf Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe hin? Wie kommt regional eine unterschiedliche Wahlbeteiligung mit teils hohen Stimmenzuwächsen für Einiges Russland zustande? Für den Physiker selbst deutet das auf Manipulationen hin, Kritiker sehen einen klaren Beweis für Fälschungen.

    Die Ergebnisse der Dumawahl vom 18. September wurden unterdessen von der Zentralen Wahlkommission (ZIK) offiziell für gültig erklärt. ZIK-Vorsitzende Ella Pamfilowa sagte, das Komitee gehe aber noch ausstehenden Hinweisen zu möglichen Verstößen bei der Wahl nach. Die unabhängigen Wahlbeobachter der Bewegung Golos haben zahlreiche Verstöße – sowohl aus dem Wahlkampf als auch vom Tag der Stimmabgabe – registriert und fassen sie für die Regionen in Berichten zusammen.

    Was hat der Physiker Schpilkin, der derweil vielfach zitiert wird, genau ausgerechnet? Wie ist er vorgegangen? Im Interview mit der Novaya Gazeta erklärt Schpilkin seine Methode und wie seinen Berechnungen zufolge ein bereinigtes Wahlergebnis aussehen müsste.

    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“
    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“

    Anna Baidakowa: Inwiefern deuten Schwankungen in der Wahlbeteiligung auf mögliche Fälschungen hin?

    Sergej Schpilkin: Die russische Gesellschaft ist äußerst homogen: Sie hält sich in einem einheitlichen, vom Fernsehen geschaffenen Informationsraum auf und zeigt nur geringfügige Unterschiede, was Herkunft und Bildung angeht. Es gibt kaum eine Aufteilung in Gesellschaftsschichten, die sich politisch unterschiedlich verhalten würden.

    Eine Ausnahme bildet die sogenannte Moskauer Bildungsschicht – das ist ein recht überschaubarer Bevölkerungsanteil, der in Moskau, St. Petersburg und ein paar anderen Städten existiert und dort unterschiedlich groß ist. Ansonsten unterscheiden sich nicht einmal die ärmsten Stadtbezirke stark genug von den mittelreichen, als dass sich der Unterschied im Wahlverhalten niederschlagen würde – Ghettos gibt es hier nicht.

    Man kann nur einige wenige Wahlbezirke ausmachen, wo die Menschen ganz anders wählen. Zum Beispiel im Hauptgebäude der MGU oder im Wohnkomplex Grand Park an der Metro Poleshajewskaja, wo Prochorow [bei der Präsidentschaftswahl – dek] 2012 die meisten Stimmen bekam. Aus diesen Gründen schwankt auch die Wahlbeteiligung nur geringfügig. Sogar zwischen städtischen und ländlichen Gebieten einer Region gibt es kaum Unterschiede.

    Was passiert nun, wenn wir die Wahlen fälschen, das Ergebnis zugunsten eines bestimmten Kandidaten verschieben wollen? Ich könnte einfach seine Stimmenzahl erhöhen – zum Beispiel hole ich Menschen ran und sage ihnen, sie sollen ihn wählen. Allerdings lässt sich nur schwer überprüfen, was sie dann tatsächlich tun. Ich kann auch einfach von der Wahlkommission verlangen, die Zahlen zu fälschen: Einem Kandidaten die Stimmen wegnehmen und sie einem anderen zurechnen, doch das geschieht selten.

    Das allereinfachste ist, einen Stapel Stimmzettel in die Urne zu werfen, so steigt auch die Wahlbeteiligung: Je mehr Stimmzettel eingeworfen werden, desto höher wird sie. In diesen Wahlbezirk sehen wir dann eine hohe Stimmenzahl für einen Kandidaten und nur ein paar Stimmen für die Opposition. Ohne solch ein Auffüllen von Wahlzetteln ist das Stimmverhältnis in allen Wahlbezirken mehr oder weniger ähnlich, wenn wir aber zusätzliche Stimmzettel einwerfen, steigen die Zahlen von einer Partei. Im gegebenen Fall von Einiges Russland.

    Wie sah es denn mit der Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen aus?

    Ich schlüssele alle Wahlbezirke nach Wahlbeteiligung auf, sehe mir an, wie viele Stimmen pro Intervall [pro Prozentpunkt Wahlbeteiligung – dek] für jeden Kandidaten abgegeben wurden und erstelle dann Histogramme.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Nimmt man alle Wahlbezirke zusammen, wurden insgesamt die meisten Stimmen in denjenigen abgegeben, in denen die Wahlbeteiligung bei durchschnittlich 36 Prozent lag, sprich,  immer so zwischen 25 und 40 Prozent. Wahrscheinlich war in diesen Wahlbezirken alles in Ordnung. Und alles, was über diese Grenzen hinausschießt, sieht exakt so aus, als hätte jemand einfach Stimmen für Einiges Russland hinzugefügt. Denn wenn Menschen abstimmen, ergeben sich eigentlich zufällige Zahlen, die Verteilungskurve verläuft fließend.

    Verschiebe ich nun die Zahlen in einzelnen Wahlbezirken, bekomme ich statt einer fließenden Verteilung eine sägezahnförmige Figur – 2011 wurde das Phänomen als Tschurow-Bart bezeichnet. Verdächtig sind vor allem Bezirke mit einer Wahlbeteiligung von 50, 60 oder 75 Prozent. Solch schöne Zahlen ergeben sich so gut wie nie zufällig.

    Wenn die Wahlbeteiligung in einem Wahlbezirk bei 95 Prozent liegt, ist das höchstwahrscheinlich eine Fälschung. So etwas kommt in Großstädten nicht vor. Die Fälschungen finden auf dem Weg von der Stimmabgabe bis zum Eintrag in das GAS-Wahlen-System statt.

    In welchen Regionen gab es denn die meisten Auffälligkeiten bei der Wahlbeteiligung?

    In Tatarstan, Baschkortostan, in den Republiken des Nordkaukasus, mit Ausnahme von Adygeja, in der von allen geliebten Oblast Saratow, in Belgorod und Brjansk. Dort gab es die meisten Bezirke mit einer auffällig hohen Wahlbeteiligung und hohen Ergebnissen für Einiges Russland.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Im Nordwesten und nördlich von Moskau passiert das in der Regel selten. In Sibirien stehen die Dinge nur in Jakutien, Kemerowo und Tjumen schlecht, teilweise auch in Omsk. Besonders auffällig war diesmal die Oblast Woronesh: Dort gab es eine riesige Anzahl von Wahlbezirken mit einer Beteiligung von 80 bis 100 Prozent.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind

    Auf der Krim und in Sewastopol wurde meines Erachtens fair ausgezählt. Dort war die Wahlbeteiligung hoch, doch die Verteilung folgt durchaus einem städtischen Muster und ähnelt sehr der von Moskau.

    Können Sprünge in den Zahlen nicht auch natürlich sein? Es sind einfach mehr Leute gekommen, um zu wählen?

    Dann würde sich die gesamte Grafik verschieben – so wie im Fall von der Oblast Kirow oder der Oblast Kursk – aber nicht einzelne Teile. Sie würde einfach insgesamt höher liegen.

    Ähnelt die Situation der von 2011?

    Auf der Website der Zentralen Wahlkommission gibt es Daten zu allen Wahlen seit 1999. Und je weiter wir zurückgehen, desto mehr ähnelt die Stimmverteilung einer glockenförmigen Kurve, die man auch die Gauß-Kurve nennt – also einer Normalverteilung.

    Von Anfang 1999 bis 2005 wich die Wahlbeteiligung in allen Moskauer Bezirken nie um mehr als 5 Prozent vom Durchschnittswert der Stadt ab.  

    2008 musste die Moskauer Regierung wohl unbedingt ihre Loyalität mit Dimitri Medwedew demonstrieren – da klaffte die Wahlbeteiligung weit auseinander, sogar in  benachbarten Bezirken. Das wiederholte sich 2009 bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, als es in dem Bezirk, wo Mitrochin selbst gewählt hat, keine einzige Stimme für Jabloko gab. Dann folgte der Skandal bei den Dumawahlen 2011: Als Einiges Russland beispielsweise im Moskauer Bezirk Ramenki in ein und demselben Wohnkomplex in der einen Hälfte 28 Prozent bekam und in der anderen 58 Prozent. Es kam zum Skandal, zu Protesten und so weiter und so fort, also hat man 2012 die Fälschungsmaschine in Moskau drastisch gedrosselt. Die Wahlbeteiligung lag wieder bei Normalwerten. Normalwerte gab es auch bei der Bürgermeisterwahl 2013.

     


    Für die Stadt Moskau hat Schpilkin in diesem Jahr keine extremen Unregelmäßigkeiten festgestellt. / Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Ich habe im Vorfeld vermutet, dass diese Wahlen entweder dem Szenario von 2003 (den fairsten Wahlen, zu denen uns Daten vorliegen) oder dem Szenario der Wahlen von 2011 (den unfairsten) folgen würden.

    Von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wurde die schlechteste gewählt. Beziehungsweise wurde sie gar nicht gewählt – die Maschine ist längst in Gang und läuft von selbst. Um sie zu stoppen, müsste man ihr lange auf die Finger hauen.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind. Und im Gegensatz zu 2011 fehlen diesmal auf der Gewinnerliste neue Gesichter – seinerzeit war Gerechtes Russland auf der Bildfläche erschienen.

    Besonders niedrig war die Wahlbeteiligung in Moskau und in Sankt Petersburg (35,2 und 32,7 Prozent). Wie wichtig ist das?

    Vor zehn Jahren lag die Wahlbeteiligung in Moskau bei 56 Prozent. Das heißt, dass die Stimme eines Moskauers diesmal doppelt so viel zählte und sogar eine kleine Zahl von Anhängern der Demokraten hätte ihren Kandidaten in die Duma bringen können. Momentan beträgt der Anteil von Staatsangestellten und Rentnern zehn Prozent – was ausreicht, um einen beliebigen Kandidaten ins Amt zu bringen. Bei so einer Wahlbeteiligung entscheiden sie alles. Bekanntlich fehlten Nawalny für die zweite Runde 35.000 Stimmen. Wären mehr Menschen gekommen, hätte es eine zweite Runde gegeben. Es könnte also sein, dass die Großstädte gewisse Chancen ungenutzt gelassen haben.

    Wie würden Ihren Berechnungen zufolge die tatsächlichen Wahlergebnisse aussehen?

    Für Einiges Russland wurden 28 Millionen Stimmen abgegeben, davon wurden nach meinen Berechnungen 12 Millionen künstlich aufgestockt. Das bedeutet, dass 45 Prozent der Stimmen für Einiges Russland gefälscht sind, was einem Anteil von etwa 11 Prozent aller Wahlberechtigten entspricht. Das bedeutet, dass wir statt der offiziellen Wahlbeteiligung von 47,8 Prozent eine Beteiligung von 36,5 Prozent haben. Statt der 54 Prozent für Einiges Russland ergeben sich 40 Prozent. Aus politischer Sicht ist das ein ziemlich wichtiges Ergebnis: 15 Prozent aller Wahlberechtigten haben demnach die Partei unterstützt. Mit diesen realen 15 Prozent (und – wenn man mit den aufgestockten Stimmen rechnet – mit den offiziell ausgewiesenen 27 Prozent) werden sie nun irgendwie leben müssen.


    „Wir glauben Gauß!“ – Für Demonstranten im Jahr 2011 war es ein starkes Argument, auf die Straße zu gehen: die gezackte Statistik, die der Physiker Schpilkin aus den Daten gewann. Sie deutete auf Unregelmäßigkeiten bei den Wahlergebnissen hin / Foto © politonline.ru


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Triumph für Einiges Russland. Die Machtpartei holt ihr bestes Ergebnis seit der Gründung 2001. Mit rund 54 Prozent der Stimmen und 343 Sitzen in der Duma stellt sie jetzt sogar die verfassungsändernde Mehrheit. Die wichtigere Zahl dieses Wahltages aber lautet: 47,88. So viel Prozent nämlich beträgt die (offizielle) Wahlbeteiligung – ein historischer Tiefstand. Wie der Erfolg von Einiges Russland zustande kam und welche Fragen sich daran anschließen, erläutern wir anhand unserer Infografiken zu den Wahlergebnissen.

     

    Quelle: ZIK

    Haushoch überlegen – für die Partei Einiges Russland, die sich im Wahlkampf als „Partei Putins“ präsentierte, weist das Ergebnis rund 54 Prozent der Stimmen aus.  

    Die Systemopposition verlor dagegen einiges an Stimmen, an Sitzen jedoch überproportional viel mehr. Vor fünf Jahren sah die Stimmverteilung hier noch so aus: Kommunisten (KPRF) 19 Prozent (92 Sitze), Liberaldemokraten (LDPR): 12 Prozent (56 Sitze), Gerechtes Russland 13 Prozent (64 Sitze).

     

    Quelle: ZIK / RBC

    Insgesamt wurden bei der Wahl alle 450 Dumasitze neu besetzt. Die eine Hälfte davon über Kandidaten im lokalen Wahlkreis und die andere über die Parteiliste. Gerade die Stimmen für die Direktkandidaten haben zum Ergebnis von Einiges Russland beigetragen. 202 von 225 Direktmandaten gingen an die Machtpartei, über die Parteiliste kamen noch 141 Mandate dazu. Mit 343 Abgeordneten hat Einiges Russland 76 Prozent der Sitze in der Duma inne und stellt damit nun eine verfassungsändernde Mehrheit – es ist das beste Ergebnis für die Partei seit ihrer Gründung 2001.

     

    Quelle: ZIK / RBC

    47,88 Prozent Wahlbeteiligung ist aber wohl die wichtigere Kennzahl dieser Dumawahl. Sie liegt 12 Prozentpunkte unter der Wahlbeteiligung im Jahr 2011. Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten ist diesmal also nicht zur Wahl gegangen. In den großen Städten Moskau und Sankt Petersburg lag die Wahlbeteiligung überhaupt nur bei 35,2 bzw. 32,7 Prozent. Wie ist diese schweigende Mehrheit eingestellt? Bedeutet Schweigen Zustimmung oder Protest? Das ist die Frage, mit der sich das Land in den nächsten Monaten beschäftigen wird.

     

    Quelle: ZIK / RBC

    Woher kommen aber die markanten regionalen Unterschiede bei der Wahlbeteiligung? Für unabhängige Medien nähren die Zahlen Zweifel an der Sauberkeit der Wahlen, denn Einiges Russland schnitt genau in solchen Regionen besonders gut ab, in denen es statistische Ausreißer nach oben bei der Wahlbeteiligung gab.

    Die Hinweise auf mögliche Wahlfälschungen sind insgesamt zahlreich – laut unabhängiger Wahlbeobachter bislang aber nicht so zahlreich wie bei der vergangenen Dumawahl.

    Vor diesem Hintergrund ist ein Wiederaufflammen der politischen Proteste von 2011/12 unwahrscheinlich. Die Opposition wird nun wohl vielmehr das Wahlsystem kritisieren. Bei niedriger Wahlbeteiligung spiele es nämlich noch mehr der Machtpartei in die Hände.

    Zwar entsteht damit nun kein Einparteiensystem, die Dominanz von Einiges Russland wird aber noch massiver: Über eine Opposition, die im Parlament die meisten Entscheidungen der Regierungspartei inzwischen ohnehin mitträgt und insofern zum „System Putin“ dazugehört.

    Ausgehend von dieser Dumawahl stellen sich also folgende Fragen: Wird die Systemopposition vor diesem Hintergrund Systemopposition bleiben oder eine neuerliche Wahlrechtsreform fordern? Und wie werden sich die oppositionellen Parteien Jabloko und PARNAS verhalten, die – wie bisher schon – außerhalb der Duma stehen? Werden sie angesichts ihrer schlechten Ergebnisse zu einer gemeinsamen Linie der demokratischen Opposition finden, oder werden sie nun von parteiinternen Querelen zerrissen?

    Mit der Dumawahl wurden in Russland die politischen Weichen neu gestellt – sowohl für das „System Putin“ als auch für die Opposition. Obwohl die Duma im politischen System Russlands eine untergeordnete Rolle spielt, werden diese Wahlen ein wichtiges Stimmungsbarometer für die politische Elite sein – auch angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage im Land. 

     


    Text: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 19.09.2016


    Die Erstellung dieser Infografik wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Am 18. September wählen die russischen Staatsbürger ihr Parlament – die Staatsduma. Obwohl die Volkskammer nur eine geringe Rolle in der politischen Landschaft Russlands spielt, ist diese Wahl von enormer Bedeutung. Sie wird ein Stimmungsbarometer abgeben und somit mittelbare Folgen für die wohl meistbeachtete Statistik Russlands haben: die Zustimmungswerte des Präsidenten.

    Was sagen uns diese Zahlen? Ist Putin wirklich dermaßen beliebt? In welchem Zusammenhang stehen die Umfragewerte mit den politischen Ereignissen? Diskutieren Sie mit uns auf facebook!

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

    Wie beliebt ist Putin? Diese repräsentative Infografik verdeutlicht die Höhen und Tiefen in den Zustimmungswerten seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada, das kurz vor der Dumawahl 2016 zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, ermittelt sie in regelmäßigen Abständen.

    Wir versahen diese Grafik mit wichtigen Ereignissen, die das Auf und Ab der Werte erklären können. Sie können in bestimmte Zeiträume hineinzoomen, um ein genaueres Bild zu bekommen. Beachten Sie dabei aber den Leitspruch, der in jedem Statistik-Lehrbuch zu finden ist: „Traue keiner Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast.“

    Denn zum einen: Was heißt „Zustimmung“? Drückt dieses Wort tatsächlich Beliebtheit aus oder einfach nur den Umstand, dass die Befragten nichts Schlechtes über Putin sagen können? Solche Begriffe sind dehnbar und verzerren somit das Ergebnis. Hinzu kommt die Tendenz, bei Umfragen eine Meinung kundzutun, die eher auf soziale Zustimmung träfe als die wirkliche Meinung. Soziale Erwünschtheit nennt man dieses Phänomen. Es dürfte zwar in allen Ländern eine wichtige Rolle spielen, in autokratischen Systemen aber umso mehr, wo die Bürger einem gewissen Anpassungsdruck ausgeliefert sind.

    Lassen wir aber mal die eigentlichen Zustimmungswerte außer Acht und betrachten nur die Kurve. Da zeigt sich, dass es die höchsten Zuwachsraten nach Konflikten gibt: wie der Antiterror-Operation im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002, der Verhaftung Chodorkowskis im Oktober 2003, dem Georgienkrieg im August 2008 und der Krim-Angliederung im März 2014. In die umgekehrte Richtung, nämlich nach unten, ging es nach solchen Ereignissen wie dem Untergang der Kursk im August 2000, der Orangen Revolution Ende 2004, den Sozialprotesten 2005 und den Bolotnaja-Protesten 2011/12. 

    Alles nur Zufall? Manche Soziologen sehen durchaus Zusammenhänge. Einen möglichen eröffnet Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums: In Zeiten von Konflikten laufe die Propaganda-Maschinerie auf vollen Touren. Sie wende sich an sowjetische und imperiale Vorstellungen, aktiviere Feindbilder und suggeriere Gefahr. Dies mobilisiere die Gesellschaft und solidarisiere sie hinter dem Präsidenten, so Gudkow.

    Vor dem Hintergrund anhaltend schlechter Beziehungen zwischen Russland und den USA staunten viele Beobachter, als die antiamerikanischen Stimmungen in der russischen Gesellschaft nach der Fußball-WM 2018 rapide sanken. Das Ab in der Kurve erklärten sie mit rund drei Millionen ausländischen WM-Touristen, die das seit Jahren verbreitete Bild des russophoben Ausländers ins Wanken brachten. Die renommierte russische Politologin Lilija Schewzowa etwa meinte in diesem Zusammenhang, dass die propagandistischen Feindbilder mitsamt der Formel belagerte Festung immer weniger Anklang fänden: „Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen“, so Schewzowa.


    Text: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 12.09.2016

     


    Die Erstellung dieser Infografik wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Staatsduma

    Staatsduma

    Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

    Russlands Parlament, die Föderale Versammlung, ist in zwei Kammern organisiert. Als Oberhaus vertritt der Föderationsrat die Regionen. Das Unterhaus wird als Staatsduma (Gosudarstwennaja Duma) bezeichnet. Die Namensgebung weist auf die historische Vorgängerin hin, die von 1905 bis zur Oktoberrevolution 1917 als Staatsduma des Russischen Imperiums tagte.

    In drei Schritten zur Dominanz der Exekutive

    Am 12. Dezember 1993 fanden die Wahlen zur ersten postsowjetischen Duma und gleichzeitig das Referendum über die Verfassung der Russischen Föderation statt. Dies war die endgültige Abkehr vom Obersten Rat und damit vom Sowjetparlamentarismus, der keine Gewaltenteilung kannte.

    Die Beziehungen im Dreieck zwischen Präsident, Regierung und Duma lassen sich in drei Phasen einteilen. Sie unterscheiden sich  im Hinblick darauf, inwieweit der Präsident durch parlamentarische Fraktionen und Gruppen unterstützt wird: 1994 bis 1999 waren die pro-präsidentiellen Parteien in der Minderheit, 2000 bis 2003 konnte Putin eine Koalition aus vier Fraktionen schmieden, seit 2004 dominiert Einiges Russland die Duma.1

    Grafik 1: Fraktionen und Gruppen in den Legislaturperioden I bis VI (1994-2016)2

    Die gesamte erste Phase, und auch Teile der zweiten, waren durch ein schwach institutionalisiertes Parteiensystem3 gekennzeichnet: Den pro-präsidentiellen Parteien der Macht standen eine Vielzahl anderer Fraktionen und Gruppen gegenüber. In der zweiten Duma stellten die Kommunisten gar die meisten Abgeordneten (s. Grafik 1). Dennoch regierte Jelzin nicht einfach mit Präsidialerlassen am Parlament vorbei, sondern handelte Unterstützung für Gesetzesvorhaben aus, in dem er beispielsweise im Gegenzug bestimmten Interessensgruppen bei der Haushaltsplanung entgegenkam4.

    Mit den Parlamentswahlen von 1999 änderte sich das Bild. Die neu kreierte Regierungspartei Einheit erlangte zwar nur knapp 17 Prozent der Mandate, zusammen mit drei weiteren Fraktionen setzte sie jedoch die von Präsident und Regierung eingebrachten Gesetze weitgehend um. Mit den Wahlerfolgen der Einheit-Nachfolgerin Einiges Russland in den Jahren 2003 und 2007 wurde in Phase drei der Übergang zu einem dominanten Parteiensystem mit einem Parlament, das weitgehend von der Exekutive bestimmt wird, vollzogen. Die Politikwissenschaftlerin Petra Stykow spricht daher bei der Staatsduma von einer „institutionalisierten, autoritären Legislative“.5

    Auswirkungen auf die Funktionen des Parlaments

    Die Ausübung der verfassungsmäßig garantierten Kernfunktionen fällt in den drei Phasen entsprechend unterschiedlich aus.

    Erstens: Die Ernennung des Regierungschefs. Im Unterschied zu vergleichbaren politischen Systemen werden in Russland Regierungsposten nicht an parlamentarische Parteien vergeben6, sondern Präsidenten bestellen Technokratenregierungen. Allerdings muss die Duma zustimmen, wenn der neugewählte Präsident den Regierungschef ernennt. Während Jelzin noch zu Eingeständnissen gezwungen war (zur Auflösung der Duma nach der dritten Ablehnung kam es allerdings nie), wurden Putins Ministerpräsidenten ausnahmslos mit deutlichen Mehrheiten bestätigt.

    Zweitens: Misstrauensvoten gegen die Regierung. Abstimmungen wurden 1994, 1995, 2001, 2003 und 2005 lanciert. Lediglich 1995 nach der Geiselnahme in Budjonnowsk kam eine Mehrheit von 241 Stimmen zustande – allerdings gestattet es die Verfassung auch hier dem Präsidenten, das Misstrauensvotum zu ignorieren. Die Duma kann außerdem ein komplexes Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten einleiten, sollte der Verdacht bestehen, dass sich der Präsident einer schweren Straftat schuldig gemacht hat. 1998 lancierte die Fraktion der Kommunisten ein solches Verfahren gegen Jelzin, jedoch fand keiner der fünf zur Abstimmung gebrachten Anklagepunkte die nötige Zweidrittel-Mehrheit für die Weiterleitung an den Föderationsrat und das Verfassungsgericht.

    Drittens: Die Gesetzgebung, das Hoheitsrecht der Duma. Grafik 2 veranschaulicht, dass zwischen 1994 und 1999 die Hälfte bis ein Drittel der von Präsident und Regierung initiierten Gesetzesentwürfe nicht die Unterstützung der Duma fanden. Mit dem Siegeszug von Einiges Russland ändert sich das Bild: Exekutive Gesetzesentwürfe scheitern nur noch in Ausnahmefällen. Umgekehrt verhält es sich mit präsidentiellen Vetos: In den 1990er Jahren legte Jelzin durchschnittlich gegen 15 bis 25 Prozent der Gesetze, die von der Staatsduma verabschiedet wurden, Widerspruch ein. Unter Putin starb das Veto im Laufe der Zeit aus.
     

     


    Grafik 2: Erfolgsrate von Präsident und Regierung in der Duma, Quelle: Autor

     

     


    Grafik 3: Veto russischer Präsidenten, Quelle: Autor

    Allgemein lässt sich festhalten, dass sich mit dem Übergang in die Putin-Ära die Abwesenheit von Abgeordneten bei Abstimmungen verringert und die Fraktionsdisziplin erhöht hat. Auch die Anzahl der Gesetze und die Geschwindigkeit, mit der diese verabschiedet werden, hat sich gesteigert.

    Die Duma als Faktor der Regimestabilität

    In den Medien kursiert der angebliche Ausspruch des ehemaligen Vorsitzenden Boris Gryzlov, dass die Duma „kein Ort für Diskussionen“7 sei. Der Volksmund sieht in ihr gar einen „durchgedrehten Drucker“, der Gesetze am laufenden Band ausspuckt. Als „autoritäre, institutionalisierte Legislative“ kann die Duma nicht mehr ihrer horizontalen Kontrollfunktion8 gegenüber Präsident und Regierung nachkommen. Dies macht die Kammer jedoch nicht bedeutungslos, denn bürokratische Verteilungskämpfe um Ressourcen innerhalb der Exekutive werden auch in und mit der Duma ausgetragen9. Wenn Ministerien etwa um Ressourcen konkurrieren, können diesen loyal gesinnte Abgeordnete Gesetze verzögern oder Änderungen beantragen.

    Nach den Protesten 2011/2012 wies die Gesetzgebung vor allem in den Bereichen Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einen zunehmend repressiven Charakter auf. Ein Beispiel dafür ist das Gesetz über ausländische Agenten10. Mit anhaltender Wirtschaftskrise nehmen außerdem Gesetze überhand, die über Steuern und andere Abgaben Eigentum von Bürgern und Unternehmern „konfiszieren“. Die Politologin Ekaterina Schulmann11 argumentiert, dass es immerhin besser sei, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, als ins Gefängnis zu wandern. Sicher ist jedenfalls, dass die Duma auch nach den Wahlen 2016 eine wichtige Rolle dabei spielt, Repression und Konfiskation ins Gleichgewicht zu bringen und somit über Regimestabilität und -wandel mitentscheiden wird.


    1. Chaisty, P. (2014): Presidential dynamics and legislative velocity in Russia, 1994–2007, in: East European Politics, 30(4), S. 588-601 ↩︎
    2. Interaktive Quelle zum Weiterklicken: Ria Novosti: 20 let Gossudarstvennoj dumy ↩︎
    3. Stykow, P. (2008): Die Transformation des russischen Parteiensystems: Regimestabilisierung durch personalisierte Institutionalisierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 772-794 ↩︎
    4. Remington, T. F. (2007): The Russian Federal Assembly, 1994–2004, in: The Journal of Legislative Studies, 13(1), S. 121-141 und: Troxel, T. A. (2003): Parliamentary Power in Russia, 1994-2001 ↩︎
    5. Stykow, P. (2015): Parlamente und Legislativen unter den Bedingungen „patronaler Politik“: Die eurasischen Fälle im Vergleich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 396 – 425 ↩︎
    6. University of Oxford: The Coalitional Presidentialism Project ↩︎
    7. Gryzlov wurde von den Medien nicht korrekt zitiert, allerdings ist die plakative Phrase fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses über die Duma geworden. Hier das Originalzitat von Gryzlov ↩︎
    8. Whitmore, S. (2010): Parliamentary oversight in Putin’s neo-patrimonial state: Watchdogs or show-dogs?, in: Europe-Asia Studies, 62(6), S. 999-1025 ↩︎
    9. ben.noble.com: Rethinking ‚rubber stamps‘: Legislative Subservience, Executive factionalism, and policy-making in the Russian state duma ↩︎
    10. Inzwischen existiert eine Liste mit Gesetzen, die aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit nach Meinung eines Expertenkomitees rückgängig zu machen sind. ↩︎
    11. Vedomosti: Čto lučše: kogda sažajut ili kogda razdevajut? ↩︎

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