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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Menschen wollen Veränderung“

    „Die Menschen wollen Veränderung“

    Seine politischen Prognosen seien fast so genau wie Wetterberichte, lobte sich einst Waleri Solowei, einer der bekanntesten Politologen Russlands. In der Tat treffen seine Vorhersagen so oft zu, dass der MGIMO-Professor sogar den Spitznamen „politischer Nostradamus“ hat.

    In der Wissenschaft versucht Solowei, demokratische und liberale Positionen mit völkisch-nationalistischen Standpunkten zu vereinen. Über Schwächen und Widersprüche, die jedem Erstsemestler auffallen dürften, geht der Professor mit leichter Hand hinweg. Seine Stärke ist nun mal die politische Prognose – deren hohe Trefferquote vor allem Soloweis Draht zum Kreml zu verdanken sei, so die Einschätzung einiger Beobachter.

    Zum Beginn des Wahljahres resümiert der MGIMO-Professor für die Petersburger Online-Zeitung Fontanka das turbulente 2017 und schaut in seine Glaskugel. Braut sich da etwas zusammen?

    Sein Spitzname ist „politischer Nostradamus“ – Politologe Waleri Solowei / Foto © politdengi.com.ua
    Sein Spitzname ist „politischer Nostradamus“ – Politologe Waleri Solowei / Foto © politdengi.com.ua

    Irina Tumakowa: Waleri Dimitrijewitsch, vor einem Jahr haben Sie vorhergesagt, 2017 würde eine politische Krise ausbrechen, die drei Jahre anhält. Das Jahr ist um. Welche Anzeichen dieser Krise haben Sie beobachtet?

    Waleri Solowei: Vor einem Jahr habe ich gesagt, es würde Bewegung in die Politik kommen, und das ist tatsächlich passiert. Im Herbst war man noch etwas verschlafen, das lag vor allem daran, dass die Opposition nicht in der Lage war, der Gesellschaft ein proaktives Programm vorzulegen und sich politisch zu konsolidieren. Dennoch ist eine deutlich zunehmende Proteststimmung bemerkbar, vor allem auf lokaler Ebene. Sogar laut offizieller Statistik ist die Zahl der Proteste im Vergleich zum Vorjahr um zwei Drittel gestiegen. Sowohl die Regierung als auch regierungsfreundliche Experten sagen, sie würden nach den Präsidentschaftswahlen mit einem neuerlichen drastischen Anstieg rechnen.

    Das ist der erste Punkt, der zweite geht damit einher: Die Wirtschaftskrise in Russland ist nicht vorbei, allen offiziellen Erklärungen zum Trotz. Im November konnten wir regelrecht einen monströsen Einbruch in der industriellen Produktion beobachten, wie es ihn die gesamte Krise hindurch nicht gab.

    Die Wirtschaftskrise ist nicht vorbei

    Das Einkommen der Bevölkerung sinkt schon das vierte Jahr in Folge. Das hatten wir nicht einmal in den 1990er Jahren, mit denen man die derzeitige Stabilität so gern vergleicht. Es gibt auch keinerlei Grund anzunehmen, dass sich die Situation verbessern würde. Bei einem vertraulichen Treffen mit Vertretern der Wirtschaft hat Putin das tatsächlich genauso gesagt: Erwartet nicht, dass sich etwas verbessert, dafür gibt es keinen Grund.

    Bei seiner offiziellen Pressekonferenz hat er doch etwas ganz anderes gesagt. Warum sagt er so etwas bei einem vertraulichen Treffen zu den Wirtschaftsvertretern?

    Wahrscheinlich, weil es nicht besonders förderlich wäre, so etwas zum Auftakt einer Wahlkampagne öffentlich zu verkünden.

    Die Nachfrage nach Veränderung ist größer als die Nachfrage nach Stabilität

    Das dritte Anzeichen einer politischen Krise ist die gesellschaftliche Forderung nach Veränderung. Zum ersten Mal seit 25 oder 26 Jahren ist die Nachfrage nach Veränderung größer als die Nachfrage nach Stabilität. Und zwar in allen soziodemografischen Gruppen. Einschließlich der Jugend und der älteren Generation, darunter auch Menschen im Rentenalter. Zum letzten Mal gab es so etwas 1990/91.

    Offen gestanden sehe ich derzeit nicht die Stimmung von 1990.

    Ja, in dieser Nachfrage überwiegt der Wunsch nach sozioökonomischen Veränderungen. Politische Veränderungen stehen für eine Minderheit an erster Stelle. Aber hier geht es nicht um die spezifische Größe dieser Minderheit, sondern darum, dass sie ein offensives Programm vorlegen und die Gesellschaft dafür gewinnen könnte. So oder so, es gibt den Wunsch nach Veränderung. Und der war in den letzten 25 Jahren noch nie so ausgeprägt wie jetzt.

     


    Quelle: RAN

    Wenn die Soziologen das sehen, warum sieht die Regierung es nicht?

     

    Die Regierung sieht das glasklar. Sie hofft darauf, dass sich die Situation verbessert, sucht einen Weg dahin. Allerdings ohne politische Veränderungen. Das ist die grundsätzliche Einschränkung. Eine weitere besteht in Folgendem: Für Veränderungen müsste man mit dem Westen verhandeln und unsere Regierung will unter gar keinen Umständen Kompromisse eingehen. Aus Sicht des Kreml ist offenbar jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche.

    Aus Sicht des Kreml ist jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche

    Außerdem hofft man, dass sich die Situation von selbst verbessert. Und das Wichtigste ist: Im Kreml interpretiert man den Westen so, als sei es sein Ziel, Präsident Putin zu stürzen, sich in unsere Wahlen einzumischen und Unzufriedenheit zu schüren, die dann zu einer Revolution in Russland führt.

    Eine andere Ihrer Prognosen aus dem letzten Jahr war, dass der neue stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko ein gutes Verhältnis zu den Kulturschaffenden aufbauen würde. Und rausgekommen ist „der Fall Serebrennikow“.

    Das hängt aber nicht von Kirijenko ab. Es gibt „das Prinzip der zwei Schlüssel“. Der eine Schlüssel liegt in der Hand des politischen Blocks, der andere in der der Silowiki. Kirijenko hat wohl kaum etwas damit zu tun, was mit Serebrennikow passiert ist. Dem politischen Block gefällt es nicht, was in diesem Bereich passiert. Eine Politik der Einschüchterung der Kulturschaffenden halten sie für kontraproduktiv.

    Und wozu soll es für den Block der Silowiki gut sein, die Kulturschaffenden einzuschüchtern?

    Damit stellen Sie eine Frage, die für russische Intellektuelle typisch ist: „Wozu?“ Die richtige Frage lautet hier aber: „Warum?“ Weil sie nicht anders können. Es gibt eine Liste erklärter Ziele. Man nimmt an, dass die Neutralisierung gewisser Objekte zur Stabilität beiträgt, dass man ihnen eine Lehre erteilen muss. Zu diesen Zielen zählen auch Serebrennikow und die Europäische Universität in St. Petersburg.

    Die Europäische Universität fällt auch in dieses Raster?

    Ja, sie stehen auf ein und derselben Liste. Wie andere auch.

    Was ist mit dem Fall Uljukajew? Muss man hier „Warum fragen? Oder geht ein „Wozu“?

    Hier sind beide Fragen angemessen. Denn neben dem Instinkt, der die Vertreter dieser speziellen Gilde antreibt, gab es natürlich auch ein Ziel: Dimitri Medwedew und seinen Unterstützern einen herben Schlag zu versetzen. Und in dem Augenblick, als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken. Alle warteten darauf, nicht bloß gefeuert, sondern verhaftet zu werden.

    Als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken

    Sagt die Tatsache, dass jemand Medwedew einen Schlag versetzen wollte, etwas über dessen Chancen aus, den Posten des Premiers auch 2018 zu behalten?

    Nein, überhaupt nicht. Denn die Entscheidung darüber, wer den Posten des Premiers bekommt, liegt beim Präsidenten, und der Präsident hat keinerlei Interesse daran, die Silowiki noch weiter zu stärken. Ihm ist klar, dass man ihnen nicht die Kontrolle über die Wirtschaft anvertrauen darf.

    Wie konnte er dann die Sache mit Uljukajew zulassen?

    Aus meiner Sicht war das kein besonders produktiver Schritt. Es wäre vernünftiger gewesen, die Eliten kurz vor der Wahl nicht einzuschüchtern. Doch soweit ich weiß, gibt es ernsthafte Bedenken hinsichtlich ihrer Loyalität. Aber so wie ich mir das vorstelle, entbehren die jeder Grundlage, denn die Eliten halten dem Thron die Treue. Aber man hat sich dazu entschieden, ihnen eine Lektion zu erteilen, zu zeigen, dass man niemanden schont, nicht einmal die eigenen Leute: Fürchtet euch alle!

    Das politische Erwachen, von dem sie anfangs sprachen – wohin ist es gegen Ende des Jahres verschwunden? Was ist damit passiert?

    Im Großen und Ganzen ist es nicht gelungen, das Potenzial zu nutzen. Hätte jemand eine Idee für eine gute politische Kampagne gehabt, hätte man dieses Potenzial ausweiten und massenwirksam werden lassen können. Das war eine strategische Frage. Aber es ist nicht passiert. Eine solche Idee hätte von Nawalny kommen können. Nicht durchs Land gondeln und Korruptionsbeweise sammeln, sondern eine Protestkampagne starten. Aber er hat das nicht gemacht.

    Hat ihm die Kandidatur von Xenia Sobtschak geschadet?

    Selbstverständlich spricht sie einen gewissen Teil von Nawalnys Anhängern an. Das ist eines der Motive, warum sie aufgestellt wurde.

    Sie denken also, dass sie „aufgestellt wurde“ und sich nicht selbst aufgestellt hat?

    Das ist doch kein Geheimnis. Ja, man hat ihr vorgeschlagen, es zu tun. Es ihr empfohlen. Und sie hat diese Empfehlung sehr positiv aufgenommen. Wenn auch nicht sofort, sie hat darüber nachgedacht. Übrigens waren nicht alle in der Präsidialadministration davon begeistert. Es gab einige Leute, die dagegen waren, sie kandidieren zu lassen. Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen. Denn die Wahlen sind so vorhersehbar langweilig, dass die geringe Wahlbeteiligung nun zu einem ernsthaften Problem zu werden droht.

    Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen

    Der zweite Grund ist: Sie soll die Protestkampagne übernehmen. Und sehen Sie nur: Sie ist in diesem Wahlkampf die Figur mit der größten Medienpräsenz, sie hat einen Blankoscheck für die staatlichen Sender bekommen. Damit sie Nawalny aus der Medienlandschaft verdrängt. Obendrein kann man jetzt auch noch den westlichen Medien zeigen: Seht her, wie super und liberal es bei uns zugeht, es gibt vielleicht keinen Nawalny, dafür aber eine Kandidatin, die sogar über die Krim sagt, dass sie nach internationalem Recht zur Ukraine gehöre.

    Nawalny war allerdings auch vorher nicht in der „Medienlandschaft“ der staatlichen Sender vertreten, dafür spricht dort jetzt Sobtschak über Dinge, die die Zuschauer ansonsten nie zu hören bekommen. Außerdem hat sie Nawalny ins Programm „aufgenommen“ – sie spricht offen über ihn. Haben die Initiatoren ihrer Kandidatur bedacht, dass sie so weit gehen könnte?

    Natürlich haben sie das. Wobei es Markierungen gibt, die sie nicht übertreten wird. Das ist ihr sehr bewusst, auch das ist alles genau ausgehandelt worden. Und vergessen Sie nicht: Sie ist die Kandidatin „gegen alle“. Ein Kandidat mit einem negativen Programm ist nicht sonderlich gefährlich.

    Wodurch wird sich Putin ab März 2018 vom jetzigen Putin unterscheiden?

    Ich glaube nicht daran, dass ein Mensch 18 Jahre lang einen Typ verkörpern und sich dann plötzlich ändern kann. Sicher, die Apostelgeschichte beschreibt, wie der sture Saulus zu Paulus wurde. Aber so eine Metamorphose ist derart selten, dass sie es sogar in die Bibel geschafft hat.

    Dafür passieren Metamorphosen in die andere Richtung relativ häufig. Das beunruhigt mich viel mehr.

    Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht an Gewalt, Verfolgung und Strafen. Ich denke, die Regierung wird zwischen diesen beiden Polen pendeln. Und so ein Gependel ist für die Regierungsstabilität das allerschlimmste. Es tritt meist ein, wenn die Regierbarkeit abnimmt. Und die Regierbarkeit in Russland nimmt gerade ab, das wissen alle, und einige sagen es sogar laut.

    Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht an Gewalt, Verfolgung und Strafen

    Das Land lässt sich auf allen Ebenen schlechter regieren. Es liegt eine signifikante Regierungskrise vor. Sie wurde hervorgerufen durch einen naturgemäßen Verfall, der wiederum eine Folge des Abbaus von Ressourcen und der Krise des vorherigen Regierungsmodells ist. 

    Früher garantierten die Machthaber Loyalität und konnten im Gegenzug Korruption betreiben. Es war genug Geld da, um alle Schandtaten zu verdecken. Sowohl um Olympia auszurichten und um die Sozialleistungen zu erhöhen und um das Militär neu aufzurüsten. Heute ist kein Geld da. Man braucht es dringend, aber kann es nirgends hernehmen. Deswegen werden die fiskalpolitischen Maßnahmen zunehmen und der Steuerdruck auf die Bevölkerung wachsen.

    Und das vor dem Hintergrund der Proteste und der Forderung nach Erneuerung? Ist es nicht gefährlich, das zu tun?

    Was sollen sie sonst tun? Die Regierung braucht Geld. Wie früher Kredite beim Westen aufzunehmen ist nicht mehr möglich. Deswegen wird es eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante. Man setzt auf die eigenen Kräfte.

    Es wird eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante

    Die Preise für Benzin, Tabak und Alkohol werden steigen – alles wie immer. Aus Sicht der Regierung verfügt die Bevölkerung über kolossale Geldressourcen: Fast zwei Billionen Rubel [30 Milliarden Euro – dek] liegen unter Kopfkissen. Denn über zwei Drittel der Bevölkerung glauben nicht daran, dass die Krise überstanden ist und bleiben weiterhin auf Sparkurs. Sie geben ihre Groschen nicht aus. Und zumindest einen Teil davon will die Regierung einziehen.

    Und wenn die Menschen ihr Geld behalten wollen?

    Wird man sie zwingen. Sehen Sie nur, wie schnell die Verarmung in Moskau und Petersburg voranschreitet, von der Provinz ganz zu schweigen. Die Menschen bekommen nur mit Mühe das Geld für Lebensmittel zusammen, zu der Qualität der Lebensmittel will ich lieber gar nichts sagen.

    Und wie soll es weitergehen?

    Tja, da steht nur ein großes Fragezeichen. Hier wirkt ein Axiom aus der politischen Soziologie: Die Dynamik der Massen ist nicht vorhersehbar. Die Regierung hofft darauf, dass sie es aussitzen kann, das ist ihre klassische Strategie.

    Und wenn wir ganz weit nach vorn blicken: Wozu werden diese Tendenzen nach 2024 führen, wenn Putin geht?

    Wenn Putin verschwindet, verschwindet auch das „System Putin“. Das heißt ja nicht umsonst so. Es steht und fällt mit Putin. Wenn er verschwindet, wird eine Demontage des Systems einsetzen. Demontage ist noch gelinde ausgedrückt, es wird wohl eher ein Zerfall. Aber bitte keine Übertreibungen, eine Katastrophe wird es auch nicht, Russland bleibt. Aber es wird unweigerlich tiefschürfende Veränderungen geben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Die Verfassung der Russischen Föderation

    Die Verfassung der Russischen Föderation

    Die russische Verfassung wurde am 12. Dezember 1993 durch ein Referendum angenommen. Rund zwei Wochen später trat sie in Kraft.

    Sie präsentiert sich inhaltlich klar als Gegenentwurf zu ihren sozialistischen Vorgängermodellen: Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten werden zum ersten Mal in der Geschichte Russlands zum höchsten Wert erklärt. Alle Rechte können außerdem über ein Verfassungsgericht eingeklagt werden. Geschützt werden Parteienpluralismus, Meinungspluralismus und Gewaltenteilung. Alle Staatsgewalten sind an die Verfassung gebunden. Diese ist unmittelbar geltendes Recht und genießt Vorrang vor anderen Gesetzen. Heute jedoch halten sowohl viele Verfassungsrechtler als auch Bürger Russlands die Verfassung für ein Feigenblatt.

     

    Ein Geburtsmakel

    1993 schien sich Russland zu einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund wurde die Verfassung im In- und Ausland als wichtiger Schritt bei der Transformation des Landes begrüßt.

    Dieser Optimismus blendete allerdings einen deutlichen Geburtsmakel aus: Die Verfassung ist das Ergebnis eines ebenso erbitterten wie unlauteren Richtungs- und Machtkampfes zwischen dem vom Volk gewählten russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem reformfeindlichen Volksdeputiertenkongress. Letztlich konnte Jelzin den Kampf nur deshalb für sich und die Reformkräfte entscheiden, weil er die Kompetenzen des Parlaments per Dekret außer Kraft setzte und ein Referendum über seinen Verfassungsentwurf durchdrückte. Doch das Ergebnis des Referendums war denkbar knapp: Bei einer Wahlbeteiligung von 54,8 Prozent stimmten nur 58,4 Prozent der russischen Bürger für die neue Verfassung.  

    Garant der Verfassung

    Diese krisenhafte Entstehungsgeschichte ist der Verfassung genauso anzumerken wie Jelzins Handschrift. Dem Präsidenten wird eine Fülle von Kompetenzen zugewiesen. Gleichwohl blieb seine Rolle im Gewaltengefüge dem Wortlaut der Verfassung nach unklar: Während die Verfassung die Staatsgewalt in drei Teile – die Exekutive, die Legislative und die Judikative teilt – wurde der Präsident bis zur Verfassungsreform im Jahr 2020 keiner dieser Gewalten zugerechnet. Viele russische Rechtswissenschaftler haben diese Unklarheit zugunsten einer weiteren Ausdehnung der Macht des Präsidenten interpretiert. Argumentiert wurde, dass er als „Garant der Verfassung“ über den Gewalten stehe.

    Der russische Präsident gilt unter Rechtswissenschaftlern als „Garant der Verfassung“ / Foto © kremlin.ru
    Der russische Präsident gilt unter Rechtswissenschaftlern als „Garant der Verfassung“ / Foto © kremlin.ru

    Als bahnbrechend gilt außerdem die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1995: Aus der Garantenstellung des Präsidenten leitete das Gericht weitere Kompetenzen ab und stärkte damit die Stellung des Präsidenten zusätzlich.1

    Grundrechte

    Im Kampf um die Freiheitssicherung des Bürgers vor dem Staat erwies sich die Verfassung meist als stumpfes Schwert. Der umfangreiche Grundrechtskatalog konnte sein Potential nicht entfalten. Als gefährliches Einfallstor für die Beschränkung der Grundrechte erwies sich Artikel 55 Absatz 3. Danach können die Grundrechte per Gesetz eingeschränkt werden, wie dies zum „Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit notwendig ist“. Derartige Regelungen sind rechtsvergleichend nichts Besonderes: Es ist immer erforderlich, Grundrechte mit den Rechten Dritter und mit Allgemeinwohl-Belangen in Ausgleich zu bringen. Es muss aber Institutionen geben, die diese Abwägung zuverlässig durchführen, in Russland jedoch mangelt es an solchen Institutionen.

    Die ordentlichen Gerichte neigen indes dazu, die Grundrechte weitgehend zu ignorieren. Dies zeigten etwa die Fälle, in denen Künstler wegen „Rowdytums“ belangt wurden. In den betreffenden Urteilen wurde die Kunstfreiheit oft nicht einmal erwähnt, geschweige denn, dass eine verfassungskonforme Auslegung unter Abwägung der betroffenen Verfassungsprinzipien vorgenommen worden wäre.2

    Auch dem Verfassungsgericht ist es bisher nicht gelungen, eine einheitliche Rechtsprechung mit ausreichenden Präzedenzfällen zu entwickeln, die klare Grenzen von einem nicht beschränkbaren Wesenskern der Grundrechte bestimmen. So verbleibt dem Gesetzgeber bei der Einschränkung der Grundrechte ein extrem weiter Einschätzungsspielraum. Außerdem sind die Regelungen, mit denen zum Beispiel Versammlungen oder Vereinigungen beschränkt werden, zu unbestimmt formuliert, um Rechtssicherheit zu bieten.

    Ausgestaltung der Grundrechte

    Auch die russischen Rechtswissenschaftler sind in der Mehrzahl äußerst zurückhaltend bei einer eigenständigen Auslegung der Verfassungsinhalte. Stattdessen wird in den Verfassungskommentaren auf die Gesetzgebung verwiesen. Häufig heißt es, die Grundrechte würden durch die Gesetze „ausgestaltet“. So schafft die Verfassung nicht die Vorgaben für die einfachen Gesetze, sie wird vielmehr umgekehrt von diesen konkretisiert.

    Diese Defizite offenbaren sich eindrucksvoll mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dem jedes Jahr tausende Beschwerden aus Russland vorgelegt werden. Mit keinem anderen Mitgliedstaat vergleichbar ist die Zahl der Verstöße gegen das Recht auf Leben. Obwohl die russische Verfassung das Recht auf Leben schützt, hat der EGMR Russland wegen einer Verletzung dieses Rechts mehrfach verurteilt – 330 Mal bis 2020.3 Die Fälle betreffen in der Mehrzahl den Einsatz von Militär- und Sicherheitskräften, unter anderem in Tschetschenien. Auch Probleme der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz werden allzu häufig in Straßburg bestätigt.

    Funktionslose „Scheinverfassung“?

    Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, die russische Verfassung als bloße „Scheinverfassung“, als „Pseudo-Verfassung“ oder als rein „semantische Verfassung“ ohne normativen Gehalt abzutun.4

    Doch ist die Verfassung nicht funktionslos: Die Staatsorgane halten formal daran fest, wie schon der Ämtertausch 2008 und die Rochade 2012 zeigten, nachdem Wladimir Putin verfassungsgemäß nicht mehr zum Präsidenten gewählt werden konnte und Dimitri Medwedew das Amt für vier Jahre übernahm. Obwohl es eigentlich möglich gewesen wäre, die Verfassung zu ändern, blieb sie unberührt.

    Mit der im Juli 2020 in Kraft getretenen Verfassungsänderung verliert die Rede vom „Fassaden“- oder „Scheinkonstitutionalismus“ jedoch ebenfalls ihre Bedeutung: Dass der Text der neuen Verfassung vielfach an die Verfassungswirklichkeit angepasst wurde, ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Kreml an der Verfassung festhält. Neben der Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, wertet die Verfassungsreform das Präsidentenamt insgesamt massiv auf, während sie die Gewaltenteilung schwächt. Der Präsident ist nunmehr ausdrücklich „Spitze“ der Exekutive. 

    Außerdem ist die neue Verfassung eine Art Zugeständnis an die zahlreichen Stimmen in der Politik, die die Verfassung jahrelang als zu liberal und damit zu westlich kritisierten. Mit der Reform ist der Wertekatalog der Verfassung nun durchzogen von konservativen oder „patriotischen“ Werten wie dem Verweis auf Gott, der Definition der Ehe als Bund von Mann und Frau sowie dem Schutz der „historischen Wahrheit“. 

    Rechtsstaats-Fassade

    Die Selbstbindung russischer Politik an die Verfassung bleibt jedoch punktuell. Die nach dem Verständnis des liberalen Konstitutionalismus primäre Funktion der Verfassung, die Freiheitssicherung, wird ganz bewusst nicht erfüllt: Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzte Russland 2020 Rang 94 von 128, weit abgeschlagen etwa hinter Burkina Faso oder Malawi.

    Der von Machthabern vorgebrachte Verweis auf die Verfassung dient oftmals vielmehr dazu, die Fassade eines funktionierenden Rechtsstaats aufrechtzuerhalten und damit Herrschaft zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund bleibt der Umgang der Macht mit der Verfassung ambivalent: Neben der freiwilligen Bindung an die Verfassung steht die offene Ignoranz durch willkürliche Gesetze und politische Justiz.

    Für die Gesellschaft hat die Verfassung deshalb kaum Bedeutung. Im Januar 2020 waren laut einer Meinungsumfrage von Lewada 47 Prozent der Menschen in Russland der Ansicht, dass die Verfassung nur deshalb geändert werden soll, um Putins Befugnisse zu erweitern und ihm zu erlauben, auch nach 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. 30 Prozent der Menschen gaben an, dass die Verfassung keine große Rolle spiele. Dass die Verfassung grundlegende Freiheitsrechte garantiert, das empfinden in Russland immer weniger Menschen: Seit 2015 ist ihr Anteil von 48 auf 27 Prozent gesunken.5

    aktualisiert am 12.02.2021


    Zum Weiterlesen
    Wieser, Bernd (Hrsg.) (2014): Handbuch der Russischen Verfassung, Wien
    Nußberger, Angelika (Hrsg.) (2010): Einführung in das russische Recht, München
    Nußberger, Angelika/Morščakova, Tamara/Schmidt, Carmen (Hrsg.) (2009): Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation: Dokumentation und Analyse der Entscheidungen des Russischen Verfassungsgerichts 1992–2007, Kehl am Rhein

    1. Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts vom 31.7.1995, Nr. 10-P ↩︎
    2. von Gall, Caroline (2012): Vorerst gescheitert: „Pussy Riot“ und der Rechtsstaat in Russland, S. 2-5 ↩︎
    3. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (2020): Violation by article and by state ↩︎
    4. vgl. Solomon, Peter H. Jr. (2008): Judicial Power in Authoritarian States: The Russian Experience ↩︎
    5. Levada Zentr: Počti polovina rossijan uvereny, čto Konstitucija menjaetsja radi sochranenija Putina u vlasti​ ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Der Große Terror

    Der Große Terror

    „Zwischen dem Parteiausschluß und meiner Verhaftung vergingen acht Tage. Während dieser Tage blieb ich zu Hause und schloß mich in mein Zimmer ein. Ich nahm den Telefonhörer nicht ab. Ich wartete … Und alle meine Lieben warteten auch. Worauf warteten wir? Wir erklärten einander, daß wir auf den Urlaub meines Mannes warteten, […]. Sobald er beurlaubt ist, wollen wir nach Moskau fahren um weiter zu kämpfen. […] Aber insgeheim wußten wir ganz genau, daß alles das nicht eintreten würde, daß wir auf etwas ganz anderes warteten.“1

    So erinnert sich die Journalistin und Autorin Jewgenija Ginsburg in ihren Memoiren2 an das Warten auf ihre Verhaftung. Es ist das Jahr 1937, der Höhepunkt des Großen Terrors, den das sowjetische Regime unter der Herrschaft Josef Stalins zunächst gegen die Eliten der Kommunistischen Partei entfacht, dann zunehmend gegen die gesamte Bevölkerung. Ginsburg wird im Februar 1937 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und als eine angebliche Trotzkistin zu zehn Jahren Haft verurteilt. Insgesamt wurden zwischen 1936 und 1938 rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, knapp die Hälfte davon ermordet.3

    Als einer der Auslöser für den auch als große Säuberungen bezeichneten Terror gilt die Ermordung des Ersten Leningrader Parteisekretärs Sergej Kirow am 1. Dezember 1934. In diesem Zusammenhang werden zunächst vor allem Leningrader Parteifunktionäre verhaftet, aber dann „zog die Affäre immer weitere Kreise, wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.“4 Für Ginsburg beginnt, wie für Millionen ihrer Landsleute, eine Zeit der Verunsicherung und des bangen Wartens. Eine Zeit, für die der britische Historiker Robert Conquest in seiner 1968 erschienenen Monografie den Begriff Großer Terror einführt.5

    Altgediente Bolschewiki werden inhaftiert, einstige Vorbilder als „Volksfeinde“ entlarvt. Im Jahr 1936 kommt es in Moskau zu einem ersten Schauprozess, bei dem Grigori Sinowjew und andere bolschewistische Veteranen ihren Verrat an der Partei einräumen und zum Tode verurteilt werden – die Geständnisse waren unter Folter erpresst worden.6 Sowjetische Medien berichten ausführlich von diesem und den folgenden Schauprozessen: „Die Zeitungsblätter ätzten, verwundeten und vergifteten das Herz, wie der Stachel eines Skorpions. Nach jedem Prozeß wurde die Schlinge enger gezogen.“7

    Fünf, vier, drei, zwei: Auf dem Originalbild von 1926 ist Stalin mit seinen Weggefährten abgebildet, v.l.n.r.: Nikolaj Antipow, Josef Stalin, Sergej Kirow, Nikolai Schwernik und Nikolai Komarow. Nach und nach entzieht ihnen Stalin seine Gunst, Antipow und Komarow fallen 1937 bzw. 1938 dem Großen Terror zum Opfer. Das Bild wird parallel dazu beschnitten und retuschiert. Am Ende steht Stalin nur noch mit seinem Günstling Kirow da, der 1934 unter ungeklärten Umständen von einem Attentäter erschossen wurde.

    Die Repressionen beschränken sich längst nicht mehr auf Moskau, sie schwappen auch in die sowjetische Provinz über. Jewgenija Ginsburg wird im Februar 1937 in Kasan wegen der angeblichen Mitgliedschaft in einer terroristischen Untergrundorganisation verhaftet. Im August 1937 wird sie zu zehn Jahren Isolationshaft8 verurteilt, die später in Lagerhaft umgewandelt werden wird. Ihre Erleichterung über das Urteil ist groß: „Plötzlich wird es um mich hell und warm. Zehn Jahre? Das bedeutet: Leben!“9

    Ginsburgs Freude lässt sich nur aus dem zeitlichen Kontext heraus erklären: Bei geschätzt 680.000 Todesurteilen, die zwischen 1936 und 1938 gefällt wurden,10 erscheinen zehn Jahre Gefängnis für ein nicht begangenes Verbrechen tatsächlich als mildes Urteil.

    Jeschowschtschina

    Neben Mitgliedern der Kommunistischen Partei geraten auch andere Gesellschaftsgruppen ins Visier der sowjetischen Organe: Die Rote Armee wird ebenso „gesäubert“ wie die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten. Eine nochmalige Verschärfung der ohnehin angespannten Situation ergibt sich durch den von NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichneten und einen Tag später vom Politbüro bestätigten Befehl № 00447 „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“.11 Damit kann praktisch jeder Sowjetbürger zum sogenannten „Volksfeind“ erklärt werden.

    Für die einzelnen Republiken, Gebiete und Kreise der Sowjetunion legt der Befehl Kontingente fest – um den Plan zu erfüllen, kommt es massenhaft zu willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen.12 Dem Befehl № 00447 folgt eine Operation, die sich gegen Angehörige ethnischer Minderheiten in der Sowjetunion richtet: gegen Polen, Deutsche, Koreaner und andere.13 Organisiert und ausgeführt wird diese – wie die Repressionen zuvor und danach – durch den NKWD, gebilligt durch das Politbüro unter der Führung Stalins, der zahlreiche Listen mit Todesurteilen selbst unterzeichnet.14

    Ein Ende der Massenrepressionen deutet sich ab dem Sommer 1938 an. Im November 1938 wird NKWD-Chef Jeschow durch Lawrenti Berija ersetzt.15 Der Sturz Jeschows bringt zwar ein Ende der Massenrepressionen, in einen Rechtsstaat verwandelt sich die Sowjetunion jedoch keineswegs. Bis zu Stalins Tod 1953, und in abgeschwächter Form auch darüber hinaus, werden Operationen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, vermeintliche „Volksfeinde“ und „anti-sowjetische Elemente“ organisiert und durchgeführt.

    1937 in der Erinnerungskultur

    Zur Rechenschaft gezogen wird dafür auch nach dem Ende der Sowjetunion niemand. Eine 2007 anlässlich des 70. Jahrestages des Großen Terrors veröffentlichte Meinungsumfrage besagt, dass eine Mehrheit der russischen Bevölkerung keinen Sinn in einer juristischen Verfolgung möglicher Organisatoren und Ausführenden der Repressionen sehe. Fast die Hälfte (49 Prozent) der Befragten sprach sich dafür aus, diese „in Ruhe zu lassen“, da die Repressionen bereits zu lange her seien. Lediglich 26 Prozent befürworteten ein juristisches Verfahren.16

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Dass die Ergebnisse im Jahr 2017 anders ausfallen würden, kann bezweifelt werden. Auch Stalin selbst erfreut sich wieder hoher Beliebtheitswerte: 46 Prozent der vom Lewada-Zentrum im Januar 2017 befragten Russen gaben an, Stalin mit „Begeisterung“, „Verehrung“ oder „Sympathie“ zu begegnen, im März 2016 hatte dieser Wert bei 37 Prozent gelegen. Allerdings stieg auch die Zahl derjenigen an, die dem Diktator mit einem unguten Gefühl, „Angst“ oder „Hass“ begegneten: von 17 auf 21 Prozent.17

    Jewgenija Ginsburgs Gefängnishaft wird 1939 in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt, die sie in unterschiedlichen Lagern des Gulags an der Kolyma verbringt. Erst 1953 darf sie nach Zentralrussland reisen, 1955 wird sie vollständig rehabilitiert. Sie wird weder ihren älteren Sohn, der 1944 bei der deutschen Belagerung Leningrads starb, noch ihren Mann, der kurz nach ihr verhaftet wurde, wiedersehen.


    Zum Weiterlesen:
    Memorial Krasnojarsk: „Der Große Terror“: 1937-1938: Kurz-Chronik
    Schlögel, Karl (2008): Terror und Traum: Moskau 1937, München

    1. Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens, Reinbek bei Hamburg, S. 42 ↩︎
    2. Die Memoiren sind im italienischen Tamisdat erschienen. Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens (Teil 1), Reinbek bei Hamburg und Ginsburg, Jewgenia (1980): Gratwanderung (Teil 2), München/Zürich ↩︎
    3. Bonwetsch, Bernd (2014): Gulag: Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917–1953: Einführung und Dokumente, in: Landau, Julia/Scherbakowa, Irina: Gulag Texte und Dokumente 1929–1956, S. 30–37, hier S. 36. Vor der Öffnung der sowjetischen Archive kursierten wesentlich höhere Zahlen. ↩︎
    4. Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 11 ↩︎
    5. Conquest, Robert (1993): Der Große Terror: Sowjetunion 1934–1938, München. Der Begriff knüpft an den bereits zu Bürgerkriegszeiten gebrauchten Terminus des Roten Terrors an, der seinen Ursprung wiederum in der Französischen Revolution hat. ↩︎
    6. vgl. Baberowski,Jörg (2012): Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt, München, S. 247 ↩︎
    7. Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 27 ↩︎
    8. Isolationshaft ist in diesem Fall nicht gleichzusetzen mit Einzelhaft. Die meiste Zeit ihrer zweijährigen Gefängnisstrafe verbrachte Ginsburg gemeinsam mit einer weiteren Gefangenen in einer Zelle, von den anderen Häftlingen waren sie weitgehend isoliert. Dennoch gelang es ihnen, etwa über Klopfzeichen, miteinander zu kommunizieren. ↩︎
    9. Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 156 ↩︎
    10. vgl. Fußnote 5 ↩︎
    11. Eine deutsche Übersetzung des Befehls № 00447 sowie eine umfangreiche Darstellung und Analyse der Operation findet sich in Binner, Rolf /Bonwetsch,Bernd /Junge, Marc (2009): Massenmord und Lagerhaft: Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin ↩︎
    12. vgl. und siehe dazu ausführlich ebd. ↩︎
    13. siehe dazu ausführlich Baberowski: Verbrannte Erde, S. 341–354, außerdem Martin,Terry (2000): Terror gegen Nationen in der Sowjetunion, in: Osteuropa: Unterdrückung, Gewalt und Terror im Sowjetsystem, Nr. 6 (2000), S. 606–616 sowie Polian,Pavel (2003): Soviet Repression of Foreigners: The Great Terror, the Gulag, Deportations, in: Dundovich, Elena/Gori, Francesca/Guerctti, Emanuela (Hrsg.): Reflections on the Gulag: With a documentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Mailand, S. 61–103 ↩︎
    14. Stalins Verantwortung für die Massenrepressionen wird durch Studien belegt, die historisches Quellenmaterial auswerten. Besondere Beachtung hat die Monografie Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt von Jörg Baberowski gefunden, auf die bereits verwiesen wurde. Zur Kritik an Baberowski siehe die Ausgabe Im Profil: Stalin, der Stalinismus und die Gewalt der Zeitschrift Osteuropa (4/2012). ↩︎
    15. Jeschow wird im April 1939 verhaftet und im Februar 1940 erschossen. ↩︎
    16. levada.ru: Obščestvennoe Mnenie – 2007 – hier: S. 258 ↩︎
    17. RBC: Ljubov rossijan k Stalinu dostigla istoričeskogo maksimuma za 16 let. Die in dem Artikel verwendeten Umfragedaten stammen vom Lewada-Zentrum. ↩︎

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  • Debattenschau № 51: Ukraine bannt russische Internetseiten

    Debattenschau № 51: Ukraine bannt russische Internetseiten

    Zensur oder Sicherheitsmaßnahme? In einem Dekret hatte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko Anfang der Woche angekündigt, dass mehrere russische Internetseiten, darunter Soziale Netzwerke und Email-Provider, in der Ukraine gesperrt werden – für mindestens drei Jahre. Betroffen sind unter anderen das russische Facebook-Pendant VKontakte, Odnoklassniki, die Suchmaschine Yandex oder der Email-Provider mail.ru – sie gehören zu den Top-10 der beliebtesten Seiten in der Ukraine.

     

    Quelle: TNS Ukraine

    Die überraschende Ankündigung entfachte entsprechend aufgeregte Debatten in der Ukraine und auch in Russland. Vor allem seitens der ukrainischen Zivilgesellschaft und junger liberaler Politiker hat das Vorhaben viel Kritik geerntet. Sie sehen die Meinungsfreiheit bedroht. Befürworter dagegen bewerten es als notwendigen Schritt für die nationale Sicherheit und zur Abgrenzung gegenüber Russland. All diese Argumente werden auch in russischen Medien diskutiert: dekoder bringt Debatten-Ausschnitte aus beiden Medienlandschaften.

    Blog Ukrainska Pravda: Sicherheitslücke füllen

    Der Westukrainer Maksym Sawanewskyj, Online-Experte und Leiter der PR-Agentur PlusOneDa, unterstützt im Blog der Ukrainska Pravda das Verbot vor allem aus Sicherheitsgründen:

    [bilingbox]Es ist kein Geheimnis, dass alle bedeutenden IT-Firmen in Russland von den Geheimdiensten kontrolliert werden oder Informationen mit ihnen austauschen. Die Leute verstehen oft nicht, welche Fülle an Informationen sie den Sozialen Netzwerken übergeben: Informationen über Chats, Freunde, Vorlieben – alles, was man liked, teilt und kommentiert; Webseiten, die man besucht. […]~~~Ні для кого не секрет, що всі значущі ІТ-компанії Росії так чи інакше контролюються або обмінюються інформацією з російськими спецслужбами.

    Люди часто не усвідомлюють, який масив інформації вони передають соцмережам:

    – інформація про коло друзів

    – переписка з ними

    – ваші уподобання – що ви лайкаєте, поширюєте, коментуєте

    – сайти, які ви відвідуєте […][/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Meduza: Tipps vom russischen Staats-TV

    Beim Exilmedium Meduza wundert man sich, dass ausgerechnet der staatliche Fernsehsender Rossija 24 in seinem Programm erklärt hat, wie man mit Hilfe von Anonymizern und anderen Tricks die Sperren umgehen kann:

    [bilingbox]Ungeachtet dessen, dass ein föderaler [russischer – dek] Fernsehsender die Benutzung von Anonymizern empfiehlt, werden diese in Russland aktiv bekämpft. Roskomnadsor beispielsweise fordert, dass Anonymizer keinen Zugang zu Seiten geben dürfen, die offiziell in der Russischen Föderation gesperrt sind – und natürlich blockiert die Behörde Anonymizer.

    Hervorzuheben ist, dass die Anleitung für die Ukrainer auf einem Kanal gezeigt wurde, der seit 2014 in der Ukraine verboten ist.~~~Невзирая на то, что федеральный телеканал советует пользоваться анонимайзерами, в России с ними активно борются. Роскомнадзор, в частности, требует, чтобы анонимайзеры закрывали доступ к сайтам, официально заблокированным в РФ — и, конечно, блокирует сами анонимайзеры.
    Отдельно следует отметить, что инструкцию для украинцев показали на телеканале, который с 2014 года запрещен на Украине.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Vedomosti: Doppelte Standards

    Auch im Wirtschaftsblatt Vedomosti sprechen Pawel Aptekar und Nikolay Epplée von einer widersprüchlichen Haltung russischer Offizieller zum Thema Internetsperren:  

    [bilingbox]Wenn es um Russland geht, wird oft das „souveräne Recht des Staates“ betont, „die Informations-, Technologie- und Wirtschaftspolitik im nationalen Segment des Netzes ,Internet‘ zu bestimmen“. Werden in den Ländern Zentralasiens den jeweiligen Regierungen gegenüber kritische russische Internetseiten blockiert, tun russische Offizielle so, als wüssten sie von nichts. Wenn aber die Ukraine russische Internetseiten sperrt, dann ist das natürlich „politisch motivierte Zensur“.~~~Когда дело касается России, важно «суверенное право государства определять информационную, технологическую и экономическую политику в национальном сегменте сети «Интернет». Когда в странах Центральной Азии происходит блокировка российских интернет-ресурсов, критически настроенных к властям этих стран, российские официальные лица как бы не в курсе. Но если российские ресурсы блокирует Украина, это, конечно, «цензура по политическим мотивам».[/bilingbox]

     

    erschienen am 17.05.2017

    Echo Moskwy: Eine Identitätsfrage

    Alexander Baunow, Chefredakteur von Carnegie.ru, sieht im Interview mit Echo Moskwy die Entscheidung vor allem in der ukrainischen Identitätsfrage begründet:

    [bilingbox]Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Staatsmacht und öffentliche Meinung [in der Ukraine – dek] mehr oder weniger einigen können, ist der: Die Ukraine ist nicht Russland. […]

    Bei der ganzen Geschichte geht es darum, dass dieses Land tatsächlich spürt: Es kann seine Identität nicht aufbauen, solange es in engem Kontakt mit Russland steht, weil die Ähnlichkeit so groß ist, das Gravitationszentrum aber aufgrund der unterschiedlichen Masse in jedem Fall in Richtung Moskau rückt. Der gemeinsame russisch-ukrainische Raum sollte deswegen so wenig wie möglich gemein haben.~~~главный вектор всех сил, на котором более-менее сошлись власти и общественное мнение – что Украина не Россия. […]
    Это все история про то, что действительно это страна чувствует, что свою идентичность, находясь в тесных связях с Россией, она не может построить в связи с тем, что сходство велико, а центр тяжести из-за разности масс все равно, так или иначе, будет откатываться в сторону Москвы. Этого общего российско-украинского пространства поэтому должно быть как можно менее общим.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.017

    Nowoje Wremja: Poroschenkos Pseudo-Patriotismus

    Serhij Leschtschenko, einer der führenden liberalen Politiker der Ukraine und Abgeordneter des Block Petro Poroschenko, kritisiert in der ukrainischen Nowoje Wremja das Vorhaben heftig:

    [bilingbox]Das wird alles übel enden. Denn Poroschenkos Plan ist es, die öffentliche Aufmerksamkeit zu verschieben: vom Kampf gegen Korruption hin zu einem Pseudo-Patriotismus. Er wird immer neue Ideen haben, um die Illusion zu erzeugen, dass ausgerechnet er der wichtigste Schutzschirm gegen die russische Aggression ist. Und parallel wird er Szenarien zur Vernichtung des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine und zur Diskreditierung von Korruptionsbekämpfern vorantreiben. […]

    Hauptsache ist, möglichst laut über „Moskaus Hand“ zu schimpfen und alle, die nicht einverstanden sind, als „Putins Agenten“ zu bezeichnen.~~~Все это плохо закончится. Потому что идея Порошенко – перевести фокус общественной дискуссии: с борьбы с коррупцией на тему псевдопатриотизма. Он будет выдумывать все новые и новые идеи, призванные создать иллюзию, что именно он – главный заслон от российской агрессии. И параллельно будет продвигать сценарий уничтожения НАБУ и дискредитации антикоррупционеров.
    […] Главное – погромче кричать о „руке Москвы“ и называть „агентами Путина“ всех несогласных. [/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Facebook: Social-Media-Flüchtlinge

    Oleksij Tschupa, Poetry-Slammer aus der Ostukraine, gehört zu denen, die die Aufregung wegen des Verbots eher lächerlich finden und ironisch kommentieren:

    [bilingbox]Ein wahrlich hartes Schicksal haben die Ukrainer. Nicht nur, dass viele von ihnen im Laufe ihres Lebens die Stadt oder das Land, ihren Beruf oder ihre Sprache wechseln müssen – jetzt sind sie auch gezwungen, ihr bevorzugtes Soziales Netzwerk zu wechseln. Ach du meine Güte. Schande dem Diktator Poroschenko. […] Wenn es Flüchtlingslager für die Flüchtlinge aus VKontakte und Odnoklassniki geben wird – sagen Sie mir Bescheid, ich werde ihnen ein Brötchen überweisen.~~~Справді трагічна доля випала українському народові. Мало того, що багатьом доводить упродовж життя змінювати місто та країну проживання, доводиться кілька разів за життя змінювати професію чи мову спілкування, так тепер ще й змушені будуть змінювати пріоритетну соцмережу.
    Лышенько-лышенько
    Ганьба диктаторові Порошенку.
    […]
    Коли з’являться табори для біженців із ВК та ОК – дайте знати, перекажу їм булочку.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Sekret Firmy: Infrastruktur fehlt

    Sergej Petrenko, Ex-CEO des ukrainischen Yandex, äußert im Interview mit dem russischen Business-Portal Sekret Firmy Zweifel in Bezug auf die Umsetzbarkeit des Vorhabens:

    [bilingbox]Anders als Russland verfügt die Ukraine nicht über die Infrastruktur für derartige Blockierungen. Es gibt kein Roskomnadsor oder eine andere Stelle, wo eine Liste der zu sperrenden Seiten veröffentlicht wird. […] 
    Die einzig reale Möglichkeit für eine solche [Sperrung] wäre es, die 1500 Provider (oder wieviele wir hier haben) abzuklappern und sie davon zu überzeugen, bestimmte IP-Adressen zu sperren. Ich weiß nicht mehr, wieviele IP-Adressen Yandex genau hat, aber ein paar Zehntausend sind es sicher.~~~Дело в том, что у Украины, в отличие от России, нет инфраструктуры для таких блокировок. Нет Роскомнадзора или другого места, где публикуется общий список адресов, которые нужно заблокировать. […]
    Единственный реальный способ это сделать — ногами обойти 1500 (или сколько там у нас) провайдеров и уговорить их заблокировать определённые IP-адреса. Я не помню, сколько именно IP-адресов у «Яндекса», но несколько десятков тысяч точно есть.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    dekoder-Redaktion, Inga Pylypchuk

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  • Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    Tiefer geht’s nicht mehr – über die Richtung der russischen Konjunktur sind sich die meisten Wirtschaftsexperten einig. Nach einer ernsthaften Wirtschaftskrise und Stagnation schwört die russische Politik schon Aufbruchstimmung herauf. Angeheizt wird diese – rund zehn Monate vor der Präsidentschaftswahl – vor allem durch zwei Wirtschaftsprogramme, die Wachstum verheißen: das Programm des sogenannten Stolypin-Klubs sowie eine Strategie, die ein Team rund um Ex-Finanzminister Kudrin erstellt. Erarbeitet in einer zur Schau gestellten Konkurrenz, sollen beide Programme im Mai dem Präsidenten vorgelegt werden. Der entscheidet dann darüber, welche Wirtschaftsstrategie das Land in den nächsten Jahren prägen wird.

    Auf republic.ru fragt Wladimir Korowkin, Wirtschaftswissenschaftler der Moskauer Skolkovo School of Management, nach den Unterschieden dieser beiden Drehbücher. Auf welche Strategie soll Russland setzen – angesichts des weiterhin niedrigen Ölpreises, der Sanktionen und einer Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess von bis zu 70 Prozent?

    Unter Familien-Psychotherapeuten kursiert ein Insider-Spruch: „Bringen Sie bitte das Kind wieder in Ordnung.“ Er beschreibt den populären Anspruch der Kunden: „Es war ein gutes Kind, aber plötzlich ist es ‚kaputt gegangen‘, kam mit Fünfen nach Haus, wurde grob, fing an zu lügen, zu klauen, zu rauchen. Machen Sie wieder ein gutes Kind draus, bringen Sie es in Ordnung!“

    Erfahrene Psychotherapeuten hassen diesen Anspruch. Denn Kinder gehen nicht von allein kaputt. Eine erhebliche Verhaltensänderung eines Kindes ist ein Anzeichen für ernste Probleme in der Familie, die allein mit einer systemisch greifenden Therapie behandelt werden können. Eltern scheuen für gewöhnlich davor zurück, das Systemische anzuerkennen: „Nicht die ganze Familie muss behandelt werden, es geht einfach nur darum, dass das Kind wieder gut wird.“

    Keine Verbesserung ohne eine Änderung im System

    Diese Situation erinnert einen auf frappierende Weise an die gegenwärtigen Diskussionen über die Wirtschaft in Russland. Die hat nach der Veröffentlichung  der Strategie des Stolypin-Klubs am 9. März dieses Jahres heftig an Fahrt gewonnen. „Bringt unsere Wirtschaft in Ordnung!“, so lautet die Forderung an die Fachleute. „Sie soll keine Fünfen mehr bekommen, freundlich sein und nicht mehr hinter der Turnhalle rauchen!“

    In Wirklichkeit aber ist jede Wirtschaftsdiskussion ein tiefgreifender Streit über Staat und Gesellschaft. Über die Verteilung von Macht und Recht zwischen ihnen. Über die Art und Weise, in der Konflikte zwischen ihnen geregelt werden.

    Ohne eine Bereitschaft zu diesbezüglichen Systemänderungen ist kaum zu erwarten, dass die Wirtschaft plötzlich eine drastisch bessere Entwicklung nimmt.

    Eine echte Wirtschaftsdiskussion ist eine Seltenheit

    Eine vollwertige Wirtschaftsdiskussion ist in Russland eine Seltenheit. Die letzte Diskussion entbrannte in jenem fernen Jahr 1999, während der heftigsten Parlamentswahlen, die es in der neuesten Geschichte Russlands gegeben hat. Seinerzeit bestand eine wichtige Kampflinie zwischen Jabloko und dem Block Vaterland – Ganz Russland (OWR) auf der einen Seite der Barrikaden sowie Einheit und Union der Rechten Kräfte auf der anderen Seite. Bei dem Streit ging es um die Entwicklung Moskaus unter Bürgermeister Juri Lushkow, einem der Führungsmänner von OWR.

    Im Vergleich zum übrigen Russland erschien Moskau zu dieser Zeit mit seinen Megaprojekten wie dem Dritten Verkehrsring und seiner halbwegs handgesteuerten Wirtschaftsführung wie ein merkwürdiger Hort des Wohlstandes.

    Michail Leontjew war ein politischer Gegner Lushkows und trat damals als wichtigster Wirtschaftsanalytiker von Einheit auf. Dem Moskauer Bürgermeister warf er regelmäßig „Keynesianismus“ vor, wobei er dieses Wort voller Verachtung aussprach. Laut Leontjew sei die richtige Wirtschaftspolitik nur dann gegeben, wenn die Rolle des Staates minimal ist: Der solle lediglich die nötigen Bedingungen für die Entwicklung des privaten Unternehmertums schaffen.

    „Effiziente“ versus „soziale“ Wirtschaft

    Wenn es um langfristige Wirtschaftspläne geht, geht es immer auch um Wirtschaftszyklen, nämlich um die Frage, an welchem Punkt des Zyklus die Wirtschaft gerade steckt und mit welchen Bewegungen der Weltkonjunktur sie zu rechnen hat. Weit weniger Aufmerksamkeit wird jedoch den Zyklen des Wirtschaftsdenkens geschenkt.
    Was schlecht ist. Gerade diese bestimmen in erheblichem Maße die Probleme, Instrumente und Ansätze, die in die Planung einfließen. Die wirtschaftlichen Denkzyklen bewegen sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen zwei Polen, der „effizienten Wirtschaft“ und der „sozialen Wirtschaft“.
    Die effiziente Wirtschaft ist seit Adam Smith ein Fetisch der Klassiker und Neoklassiker. Die soziale dagegen erfuhr ihre machtvolle theoretische Darstellung durch den britischen Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes – eben jenen Keynes, dem Michail Leontjew eine solche Abneigung entgegenbrachte.


     


    Quelle: IWF

    Die Diskussion in Russland läuft aktuell in einer einzigartigen historischen Situation, da die Kräfte hinter den beiden theoretischen Ansätzen ungefähr gleich stark sind. Wie schon in den 1930er Jahren, befand sich die Keynessche Lehre nach der weltweiten Wirtschaftskrise 2008 im Einklang mit den praktischen Maßnahmen, die Regierungen in aller Welt unternahmen. Die Krise wurde einem Scheitern des neoklassischen Ansatzes zugeschrieben und der Keynesianismus verlor seinen schlechten Ruf. Paul Krugman, ein prominenter Vertreter dieser Lehre, erhielt den Nobelpreis, und Michail Leontjew ist nun Topmanager bei einem Staatsunternehmen.

    So arbeitet auch das im März vorgestellte Programm [des Stolypin-Klubsdek] unverkrampft mit dem ganzen Instrumentarium der Jünger Keynes’: Es verweist direkt auf die Notwendigkeit, Nachfrage zu schaffen, es erkennt an, dass zu diesem Zweck Staatsverschuldung möglich und nützlich ist, es erwähnt den „Multiplikator-Effekt“, bei dem jeder staatliche Rubel vier bis fünf Rubel privater Investitionen nach sich zieht.

    Gegenprogramm: Staatliche Einmischung als Hauptfeind von Wachstum

    Ein Gegengewicht hierzu bildet das Programm von Alexej Kudrin: Es konzentriert sich auf die „makroökonomische Stabilität“, also vor allem auf eine niedrige Inflation. In der Tradition der klassischen Wirtschaftstheorie ist eine hohe Inflation die Folge zu starker staatlicher Einmischung und der Hauptfeind von Wirtschaftswachstum, da sie Anreize für langfristige Investitionen untergräbt.

    Die Programme gehen auch hinsichtlich des Rubelkurses ganz grundsätzlich auseinander: Die Vertreter des Stolypin-Klubs fordern die Stützung des Kurses durch den Staat – im Denkschema der Marktwirtschaft dagegen gilt das als eine der sinnlosesten Maßnahmen, als ein Versuch, sich den objektiven Kräften von Nachfrage und Angebot entgegenzustellen.

    Entgegengesetzte Grundlogik

    Insgesamt stehen die beiden Programme für entgegengesetzte Grundlogiken. Das Stolypin-Programm geht davon aus, dass die Ankurbelung der Mikroökonomie (indem die Arbeit der einzelnen Unternehmen fast handgesteuert organisiert wird) wie von selbst auch die allgemeine wirtschaftliche Situation in Ordnung bringen werde. Kudrin dagegen setzt bei der Makroökonomie an: Sind die Verhältnisse dort günstig, bedeutet das automatisch Anreize für die Unternehmen.

    Allerdings lassen die beiden Programme auch überraschend viele Gemeinsamkeiten erkennen. Hier wie dort wird eine grundlegende Verbesserung des Rechtssystems in den Fokus gestellt. Hier wie dort wird von der Notwendigkeit gesprochen, das Unternehmertum stärker zu entwickeln und die Steuerlast sowie den bürokratischen Druck zu senken.

    Beide Ansätze sind sich einig: Es ist nicht nur (oder dermaßen) wichtig, was getan wird, sondern wie es geschieht. Es wird dort zwar nicht explizit gesagt, aber: Diese Erkenntnis ist angesichts der gegenwärtigen Situation in Russland von höchster Bedeutung.

    Eine theoretische Grundlage für die Beachtung des Wie bietet die stetig stärker werdende Schule des Institutionalismus. Die lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Wenn die Qualität der wirtschaftspolitischen Instrumente im Land zu schlecht ist, wird keine Steuerungsmaßnahme die erwarteten Ergebnisse bringen.

    Katastrophales Ungleichgewicht

    Ein Institutionalist würde wahrscheinlich darauf verweisen, dass das Wirtschaftswachstum in Russland jetzt weniger durch die schwache internationale Konjunktur oder die Sanktionen und Gegensanktionen unterminiert wird. Ursache sei vielmehr das katastrophale Macht- und Rechts-Ungleichgewicht der Schlüsselakteure im Wirtschaftssystem: Gesellschaft, Unternehmen und Staat.

    Letzterer hat sich von einem Instrument zur zielgerichteten Umverteilung und zum Ausgleich von Marktversagen in einen vollauf eigenständigen Akteur verwandelt, der der Gesellschaft de facto seine wirtschaftlichen Ziele diktiert. Eine solche Position entbehrt einer stabilen Grundlage und bedeutet erwiesenermaßen eine geringe Effizienz.

    Privatwirtschaft als effektives Zugpferd

    Beide Programme, Kudrins Programm und das des Stolypin-Klubs, versuchen den Staat dezent auf seinen rechtmäßigen Platz zu verweisen, indem sie daran erinnern, dass nur die Privatwirtschaft zu einem effektiven Zugpferd für Wachstum werden kann.
    In den Kommentaren zu beiden Programmen wird explizit festgestellt, dass der Anteil der mittelbaren oder unmittelbaren Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess mit bis zu 70 Prozent unglaublich hoch ist. In den Korridoren des Staates allerdings, vor allem in jenen der Staatsunternehmen, weht derzeit eher ein Wind der Nostalgie mit Sehnsucht nach den Zeiten des Gosplan.

    Die gegenwärtigen Probleme mit der „kaputtgegangenen“ Wirtschaft Russlands sind das Ergebnis eines systemimmanenten Ungleichgewichts: Wie verstehen Gesellschaft und Staat die wechselseitigen Rechte und Pflichten? Die Gesellschaft hat dem Ideal der „Stabilität“ den Zuschlag gegeben und ist größtenteils froh darüber, dass der Staat sich um sie kümmert und sie versorgt, selbst wenn das Niveau allmählich sinkt.

    Vater Staat soll’s richten

    „Wir nehmen es erstmal hin, der Staat wird es dann schon richten.“ Mit Phrasen dieser Art lässt sich ungefähr die gegenwärtige wirtschaftliche Passivität umreißen. Es ist die gleiche Gesellschaft, die mittels Richtern und Verwaltungen wirkungsvoll wirtschaftliche Unabhängigkeit missbilligt und bestraft.
    Das russische Wort „bisnes“ [von engl. business, gemeint ist privates Unternehmertum – dek] ist im Massenbewusstsein stabil mit illegaler Vorgehensweise assoziiert, einzig und allein Unternehmen mit dem Zusatz „staatlich“ haben eine Existenzberechtigung.

    Der Staat befindet sich jetzt in einer fast uneingeschränkten Komfortzone und hat kaum Anreize, diese wieder zu verlassen.

    Es wird weitergehen wie bisher

    Man kann sich durchaus vorstellen, wie der Staat mit den beiden Programmen umgehen wird: Er wird wohlklingende Deklarationen – Wachstum, Innovationen, Einkommenssteigerungen – aufgreifen. Alle schwer umzusetzenden, dabei jedoch unbedingt notwendigen Punkte, dagegen wird er rausschmeißen, etwa die Frage nach einer wirksamen Justiz- und Gesetzgebungsreform. Im Endeffekt wird er so weitermachen wie bisher und instinktiv seine Präsenz in der Wirtschaft ausbauen.

    Gegenwärtig ist weder ein wirksamer Imperativ des Staates für die Modernisierung der Gesellschaft zu erkennen, noch eine gesellschaftliche Nachfrage nach Veränderung. Man könnte sagen, es hat sich eine ideale „konterrevolutionäre Situation“ ergeben, die der Leninschen revolutionären Situation entgegengesetzt ist: Die da oben können nicht auf neue Art leben, und die unten wollen es nicht. Daher erwarten uns aller Wahrscheinlichkeit nach – unabhängig von der formalen Entscheidung für ein wirtschaftliches Aktionsprogramm – Jahre sozialer Bequemlichkeit und zunehmender wirtschaftlicher Rückständigkeit.

    Das „kaputtgegangene Kind“ (die Wirtschaft) kann nicht ohne wesentliche Verschiebungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft repariert werden. Wobei derzeit weder die eine noch die andere Seite überhaupt bereit ist, ernsthaft an sich zu arbeiten.

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    In Russland liegt der Mindestlohn noch unter dem Existenzminimum. Die Niedriglöhne gehen oft mit geringer Arbeitsproduktivität einher – darin sehen viele Experten den Kern der russischen Wirtschaftsprobleme. Im Februar hat die Duma bereits über eine Angleichung beraten, voraussichtlich im August soll eine Arbeitsgruppe dazu eine Entscheidung vorlegen.

    Auf Vedomosti erklärt Maria Podzerob, weshalb allerdings nicht nur Arbeitgeber, sondern auch viele Arbeitnehmer in Russland Niedriglöhne als einen Vorteil begreifen.

    Veraltete Transformatoren, die oft repariert werden müssen – darüber läuft die Stromversorgung der Stadt Kineschma in der Oblast Iwanowo. Laut Sergej Sirotkin, Generaldirektor des örtlichen Stromversorgers, würden eine neue Technik und eine Modernisierung der Anlagen 125 Millionen Rubel [ca. 2 Millionen Euro] kosten. Da das Unternehmen über solche Mittel nicht verfügt, stellt es für die Reparaturen 130 Handwerker ein, denen es 20.000 Rubel [ca. 333 Euro] im Monat zahlt. Im Jahr machen diese Gehälter 31,2 Millionen Rubel [ca. 520.000 Euro] aus – deutlich günstiger als eine technische Umrüstung. Auch die regionalen Behörden seien zufrieden: Sie wollen nicht, dass aufgrund von Automatisierung Mitarbeiter entlassen werden – die seien auf dem Arbeitsmarkt in Kineschma nicht wieder vermittelbar, sagt Sirotkin. 

    Vizeministerpräsidentin Olga Golodez gab kürzlich bekannt, dass 4,9 Millionen Beschäftigte im Land unter der Armutsgrenze leben. Daten von Rosstat zufolge lag im Vorjahr bei 10,4 Prozent der Beschäftigten der Verdienst unter dem Existenzminimum.

     

     
    Nach Angabe der Statistikbehörde Rosstat waren 2015 rund 72 Millionen Personen mit Wohnort in Russland erwerbstätig, etwa vier Millionen Menschen galten als arbeitslos. Die amtliche Statistik über Verdienste erfasst allerdings nur rund 29 Millionen Beschäftigte. Auf diese krasse Differenz machte Olga Golodez schon 2013 aufmerksam: Der Staat wisse überhaupt nicht, was diese Menschen eigentlich machen – darüber habe man keinerlei Daten. Quelle: Rosstat.

    In Russland habe sich eine große Klasse von Working Poor herausgebildet, heißt es in einem kürzlich erschienenen Bericht des Zentrums für strategische Entwicklung (ZSR), der zusammen mit der Moskauer Higher School of Economics erstellt wurde. Tatsächlich ist es aber nicht nur für Unternehmen lohnend, Working Poor anzustellen – auch Arbeitnehmer profitieren davon, für ein paar Kopeken zu arbeiten.

    Spezielles Arbeitsmarkt-Modell

    Laut ZSR-Bericht ist in Russland ein spezielles Arbeitsmarkt-Modell entstanden: Wirtschaftskrisen werden demnach nicht mittels wachsender Arbeitslosenzahlen gemeistert, sondern dank sinkender Löhne. Letztere können Unternehmen fast ungehindert senken, da ja das obligatorische Minimum – der Mindestlohn – sehr niedrig sei, so der Bericht. Derzeit beträgt der Mindestlohn 7500 Rubel [ca. 125 Euro]. 

    Der Staat sei daran interessiert, dass die Betriebe möglichst wenigen Mitarbeitern kündigen. Auch jetzt üben regionale Regierungen weiterhin Druck auf Großbetriebe mit mehr als 500 Mitarbeitern aus, um Kürzungen und Arbeitslosigkeit nicht zuzulassen, so Alexander Safonow, Vizerektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation.

    Laut Sergej Sokolow, ehemaliger GR-Manager bei Nike, kommen sich Behörden und wichtige Arbeitgeber dabei gegenseitig entgegen: Die Regionalverwaltung erteilt den Betrieben etwa die Erlaubnis, einigen wenigen Personen zu kündigen, jedoch dürfe das die Arbeitslosenzahlen in der Region nicht erhöhen, weswegen sich der Betrieb wiederum verpflichtet, Umschulungskurse zu organisieren oder Umzug und Arbeitsaufnahme in einer anderen Region zu finanzieren. Im Gegenzug berücksichtigt die Behörde etwa stärker, wenn ein Unternehmer vorankommen möchte und um Unterstützung seiner Investitionspläne bittet. 

    Den Rest gibt’s im Briefumschlag

    Alexander Masljuk, Senior Consultant der Korn Ferry Hay Group, erläutert, ein offizielles Gehalt in Höhe des Mindestlohns würden vor allem große staatliche Infrastrukturunternehmen zahlen. Für die sei eine verdeckte Arbeitslosigkeit charakteristisch, bei der die Leute zwar im Personalbestand erfasst sind, aber nur minimale Aufgaben erfüllen. 

    Private Unternehmen, die offiziell Gehälter in Höhe des Mindestlohns zahlen, händigen ihren Mitarbeitern in Wahrheit den Rest im Briefumschlag aus, sagt Masljuk. Laut Rosstat sind die Beschäftigtenzahlen im Schattensektor von 2010 bis 2014 von 15,2 Millionen auf 16,4  Millionen gestiegen.  

    Angestellte, die monatlich 8000 bis 9000 Rubel [etwa 125 bis 150 Euro] bekommen, seien nicht daran interessiert, sich großartig abzumühen, und würden versuchen, die Situation für sich zu nutzen, meint Dimitri Koschnew, Koordinator der interregionalen Gewerkschaft Rabotschaja assoziazija [Arbeitsassoziation – dek], die zur Arbeitskonföderation Russlands gehört. 

    Er hat selbst drei Jahre in einer Fabrik gearbeitet, in der Drehgestelle für Schienenfahrzeuge produziert wurden. Und er erinnere sich noch, wie ein Drittel der Werkstatt auf Sauftour ging und der Chef nicht wirklich eingriff: Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel [knapp 85 Euro] im Monat verdient? In der Fabrik seien ständig Bauteile und Werkzeuge weggekommen, erinnert sich Koschnew. 

    Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel im Monat verdient?

    Geklaut wird auf Schritt und Tritt, stimmt der Top-Manager eines mächtigen Energiekonzerns zu. In Energieunternehmen, sagt er, lassen die Angestellten oft Stromkabel mitgehen, um sie weiterzuverkaufen. 

    Die niedrigen Löhne würden außerdem dazu führen, dass die Leute in zwei oder drei Jobs gleichzeitig arbeiten – wovor die Arbeitgeber eher die Augen verschließen, so Safonow. 
    Die Kehrseite der niedrigen Gehälter ist eine geringe Produktivität, konstatieren die Experten des ZSR. In Branchen der New Economy (Einzelhandel, Onlineverkauf, Banken, Autoindustrie) kämpfe man ernsthaft um die Produktivität des Personals.  

    Höhere Löhne senken Konkurrenzfähigkeit 

    Für die Arbeitgeber sei es günstiger, niedrige Löhne zu zahlen, als in eine Automatisierung der Produktion und Umstrukturierung der Organisation zu investieren, meint Sergej Lossinski, Regionalentwicklungschef am Zentrum für infrastrukturelle Ökonomie.   

    Sergej Sirenko, Generaldirektor einer Schnurfabrik in Tscheljabinsk, hat Zeiten erlebt, in denen es vom Umsatz her möglich gewesen wäre, einem neu angestellten Arbeiter 40.000 Rubel [etwa 670 Euro] im Monat zu zahlen. Doch das habe er nicht gemacht, weil in der Region ein vergleichbarer Fachmann nicht mehr als 30.000 Rubel [etwa 500 Euro] verdiente. Wenn man den Leuten mehr zahle als andere Betriebe, sinke die Konkurrenzfähigkeit der Produktion, zur Verringerung der Herstellungskosten müsse man automatisieren, wofür aber wiederum das Geld nicht reiche, überlegt Sirenko.  
        
    Daten aus dem Bericht des ZSR zufolge geben Verarbeitungsbetriebe für Löhne derzeit ungefähr 30 Prozent weniger aus als zu Beginn der 2000er Jahre.

    Niedrige Einkommen, also keine Nachfrage, also keine Modernisierung, also keine anständigen Gehälter 

    Safonow gibt zu bedenken, dass die Voraussetzung für die technische Umrüstung eines Betriebs die ausreichende Nachfrage sei. In einer einkommensschwachen Bevölkerung entstehe aber keine hohe Nachfrage. Ohne Nachfrage keine Modernisierung, also auch keine anständigen Gehälter. 

    Wer sich für die Modernisierung entscheide, gewinne langfristig an Perspektive, meint Dimitri Teplow, Generaldirektor des Reparatur- und Montagewerks Krasnokamsk (Region Perm), der seine Produktionstechnik 2013 erneuert hat. Seine Fabrik stellt Landwirtschaftsmaschinen her und ist im Lieferantenverzeichnis von Rossagrolising gelistet. Nach Angaben von SPARK-Interfax stiegen ihre Erträge zwischen 2012 und 2015 um 27 Prozent auf 311 Millionen Rubel [gut 5 Millionen Euro], die Aktiva um 43 Prozent auf 201,4 Millionen Rubel [rund 3,4 Millionen Euro].  

    Im Februar beriet die Duma, den Mindestlohn auf das Existenzminimum anzuheben. Eine solche Anhebung könne die Betriebe zwar zu einer kleinen Lohnerhöhung bewegen, meint Safonow, ändere aber noch nichts am ökonomischen Modell. Das man aber, den Autoren des ZSR-Berichts zufolge, auch gar nicht ändern soll: Dieses Arbeitsmarktmodell habe Krisensicherheit bewiesen. Eine große Armee von Working Poor sei eben der Preis für die niedrige Arbeitslosenrate. 

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  • Nawalny obenauf?

    Nawalny obenauf?

    38 Prozent aller Russen, so ermittelte das renommierte Lewada-Zentrum, befürworteten das Handeln derer, die Nawalnys Protestaufruf vom 26. März gefolgt waren.

    Vedomosti hat bekannte Sozialwissenschaftler dazu befragt: eine Zahl und ihre unterschiedlichen Interpretationen.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    38 Prozent der Russen befürworten das Handeln der Menschen, die am 26. März zu Massenprotesten gegen Korruption in der Regierung auf die Straße gegangen sind, so die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums.

    Ebenfalls 38 Prozent denken, dass die wachsende Unzufriedenheit mit der Situation im Land die Bürger dazu gebracht hat zu protestieren. 36 Prozent erklären die Demonstrationen damit, dass die Menschen ihrer Empörung über Korruption Ausdruck geben wollten. Nur 24 Prozent glauben, die Demonstranten seien bezahlt worden.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Mehr als 60 Prozent der Befragten geben an, über die russlandweiten Proteste vom 26. März „gut Bescheid zu wissen“ oder zumindest „davon gehört“ zu haben. Die Umfrage belegt außerdem einen radikalen Einbruch der Zustimmungswerte des Premiers Dimitri Medwedew, der hauptsächlichen Zielscheibe der Proteste: Innerhalb eines Monats sind seine Zustimmungswerte um zehn Prozentpunkte gesunken, die Regierung verlor sechs Prozentpunkte.

    Das Interesse an den Demonstrationen sei wesentlich geringer als 2011/2012, obwohl die Motive der Teilnehmer in etwa dieselben seien, so der stellvertretende Leiter des Lewada-Zentrums Alexej Grashdankin. Damals hätte es außerdem mehr als doppelt so viele Befürworter gegeben, als Menschen, die sie ablehnten. Heute hielten sich Befürwortung und Ablehnung in etwa die Waage, sagt er und fügt hinzu: „In den Jahren 2014 und 2015 hingegen war die Ablehnung im Zweifel doppelt so hoch wie die Befürwortung.“

    Die Mobilisierung der Gesellschaft werde wieder abnehmen, aber das Vertrauen in die Regierung sei sowieso höher als 2013, so der Soziologe. „Ein Abwärtstrend bei den Zustimmungswerten der Regierung und der Machtorgane besteht seit 2015. Aktueller Auslöser für den Stimmungsumschwung ist das Video des Fonds für Korruptionsbekämpfung über Medwedew gewesen. Das Verhältnis zu Putin ist unverändert, aber Medwedews Zustimmungswerte sind just wegen des Videos um zehn Prozentpunkte gefallen.“

     

     
    Quelle: Lewada-Zentrum

    Grashdankin berichtet, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad Höchstwerte erreicht habe. Gleiches gilt für die potenzielle Bereitschaft, bei der Präsidentschaftswahl für ihn zu stimmen: Kannten ihn im April 2011 nur sechs Prozent der Befragten und waren nur zwei Prozent bereit, ihn zu unterstützen, so kennen ihn jetzt 55 Prozent. Davon können sich rund zehn Prozent vorstellen, für ihn zu stimmen, zwei Prozent sind sich dessen sicher.

     

     
    Quelle: Lewada-Zentrum

    „Momentan können wir von einem Gleichgewicht zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Proteste sprechen. Wenn die Regierung keine Gegenmaßnahmen ergreift, könnte die Zahl der Befürworter (der Protestaktionen – Vedomosti) wieder steigen. Um die Protestwelle zu brechen, hat man seinerzeit die (TV-Dokumentationsreihe – Vedomosti)  Anatomie des Protestes und Gerichtsprozesse auf Sendung gebracht; bisher ist die Propaganda-Artillerie noch nicht in Stellung gebracht, aber nichts würde dem entgegenstehen, es wieder zu tun“, so Grashdankin.

    Keine offizielle Stellungnahme der Regierung

    Die Regierung hat bislang auf offizielle Stellungnahmen zu den gesunkenen Zustimmungswerten des Premiers verzichtet. „Die Zustimmungswerte der Regierung und des Premiers fallen immer niedriger aus als die des Präsidenten, denn die Regierung fällt die unliebsamen wirtschaftlichen Entscheidungen. Deswegen sieht man schwankende Umfragewerte im Weißen Haus gelassen“, erklärte ein Mitarbeiter des Regierungsapparats gegenüber Vedomosti.

    Die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter vom 26. März bedürfe einer Überprüfung, man könne noch nicht eindeutig sagen, ob sich eine neue Protestwelle entwickle, meint der Politologe Konstantin Kostin. „Betrachtet man die Dynamik von 2011/2012, stellt man fest: Je weniger Proteste es gab, desto mehr Menschen fanden es in Ordnung, dass jemand auf die Straße geht, um seine Rechte einzufordern. Noch nicht einmal der Maidan hat daran etwas geändert, nur während der Krim-Mobilisierung sank die Bereitschaft, an Protestaktionen teilzunehmen.“

    Aus den Ergebnissen des Lewada-Zentrums Schlüsse über die Präsidentschaftswahl zu ziehen, das sei erst recht schwierig, erklärt Kostin und fährt fort: „Bei den jetzigen Aktionen ist der Kern der Protestbewegung auf die Straße gegangen, dazu kamen Menschen, die Lösungen für bestimmte lokale Probleme forderten, außerdem gab es noch eine situative Reaktion der Jugend.“ Kostin bezweifelt, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad 55 Prozent erreicht hat.

    Der Politologe Alexander Kynew findet die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter überwältigend, mahnt jedoch zur Skepsis: In den Medien, aus denen der Großteil der Bevölkerung seine Informationen bezieht, sei die Darstellung der Proteste ausschließlich negativ.

    Der Protest werde vielen zugutekommen, nimmt der Politologe Abbas Galljamow an: „Vor allem ist er gut für die Systemopposition, denn im Gegensatz zu Nawalny wird sie auf den Stimmzetteln stehen. Sie muss jetzt nur noch ihre Protest-Rhetorik hochfahren und kann den Zustimmungsraten beim Wachsen zusehen.“

    Aber auch Nawalny habe Grund zum Optimismus: Wenn so viele Menschen in Erwägung ziehen, für ihn zu stimmen, dann bedeute es auch, dass die Zahl derer, die seinem Aufruf, auf die Straße zu gehen, folgen würden, in die Millionen gehen könnte, so Galljamow. „Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht – indem beispielsweise der Premier am Tag der Proteste schreibt, er sei schön Skifahren gewesen, oder die Regierung die Rechtswidrigkeit der Proteste vom 26. März in den Vordergrund stellt, während sie selbst demonstrativ gegen das Gesetz verstößt, wenn sie Veranstaltungen organisiert – dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern.“

    Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht, dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern

    Für Putin seien eine apolitische Einstellung und ein zügiger Verlauf der Präsidentschaftskampagne von Vorteil, davon ist Galljamow überzeugt: „Eine Politisierung schadet der Regierung. Jetzt, wo der Protest wieder in Mode kommt, gilt für die Regierenden: Je weniger Politik, desto besser.“ Bei den Regionalwahlen im September werde sich die Agenda des Protests nur verstärken, lautet seine Einschätzung. 

    Bis zur [Präsidentschafts-] Wahl sei es noch lange hin. Dass die Proteste so lange anhalten, sei natürlich möglich, aber unwahrscheinlich, meint der Politologe Michail Winogradow: „Die 38 Prozent beweisen, dass das Thema Korruption sowohl bei den Regimekritikern als auch bei den Regierungsanhängern Anklang findet. Das eröffnet der Opposition die Möglichkeit, um die Sympathie der Regierungsanhänger zu kämpfen. Offen bleibt nur die Frage, ob die Protestierenden es schaffen, das öffentliche Interesse aufrechtzuerhalten, und die Spaltung in der Gesellschaft.“

    Wenn sie das schaffen, würde es zu einer höheren Wahlbeteiligung und einer geringeren Machtdemonstration der bestehenden Regierung führen, fährt er fort. Wir würden dann wahrscheinlich dieselbe Taktik wie 2011 beobachten: Man stimmt für jede x-beliebige, nur nicht für die Regierungspartei.

    Davon könnten Politiker wie Jewgeni Roisman in Jekaterinburg profitieren. „Aber die Leute beachten nicht, was in anderen Regionen geschieht. Auch wenn ich die Wahlen in der Oblast Swerdlowsk allzu gern als ein Beispiel für Offenheit heranziehen würde, heißt das noch lange nicht, dass die Moskauer oder die Petersburger sich dafür überhaupt interessieren.“ 

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    Wer geht da demonstrieren?

  • Wer geht da demonstrieren?

    Wer geht da demonstrieren?

    Auffallend viele junge Leute waren am 26. März landesweit auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren. Zuvor hatte der Handymitschnitt einer Diskussion zwischen Lehrern und Schülern im Runet Furore gemacht, bei der die Schüler ganz andere politische Ansichten äußerten als die Lehrkräfte, und diese auch selbstbewusst vertraten.

    Politologin Ekaterina Schulmann warnt jedoch davor, den Protest als Protest von Jugendlichen darzustellen – zumal es keine zuverlässigen Zahlen dazu gibt. Sicher dagegen sei: Es war ein Protest von Erwachsenen – mit einem hohen Anteil Jugendlicher. Und was die heute bewegt, das hat Schulmann sich für Takie Dela genauer angesehen:

    Die Politologin Ekaterina Schulmann über das, was die Jugend heute bewegt / Foto © Ekaterina Schulmann/facebook
    Die Politologin Ekaterina Schulmann über das, was die Jugend heute bewegt / Foto © Ekaterina Schulmann/facebook

    Plötzlich treten viele junge (und sehr junge) Menschen bei den Protesten am 26. März in Erscheinung – und es kommt zu einem neuen Interesse an Youth Studies in unterschiedlichster Form: Vom allseits bekannten Genre „ein Bekannter hat mir erzählt“ bis hin zu historischen Parallelen (besonders beliebt ist gerade das Jahr 1968, aber auch die Roten Garden werden sukzessive herangezogen).

    Der Protest war kein Kinderkreuzzug

    Zunächst möchte ich davor warnen, den Protest vom 26. März als eine Art Kinderkreuzzug zu betrachten. Sicherlich war das kein Schüleraufstand und auch keine Studentenrevolte wie 1968 in Europa. Leider haben wir keine zuverlässigen Daten, wie viele Menschen an den Protesten beteiligt waren, geschweige denn Angaben über ihr Alter oder ihre soziale Zugehörigkeit.

    Doch nach dem uns vorliegenden Material zu urteilen (Fotos, Videos, Festnahmen), handelte es sich insgesamt um einen Protest Erwachsener mit einem hohen Anteil an Jugendlichen. Dieser sorgt für großes Aufsehen, weil junge Menschen früher nicht an Protesten beteiligt waren – oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Für gewöhnlich gehen sie selten zu Demonstrationen, und zu Wahlen schon gar nicht. Die Jugend ist eine Bevölkerungsschicht, die in unserem politischen Geschehen fehlt.

     

     

     
     
    Quelle: Rosstat

    Was wissen wir denn über unsere Mitbürger unter 25? Vor allem, dass es wenige sind. Sehen Sie sich die demographische Pyramide von Russland für 2016 an. Nach den 25- bis 29-Jährigen folgt ein Einbruch: Die Generation, die in der ersten Hälfte der 1990er geboren wurde, ist relativ klein.

    Die nächstfolgende Sparte, die heute 15- bis 19-Jährigen, fällt noch kleiner aus. Ab 2002 steigt die Geburtenrate allmählich, und wir sehen an der Basis unserer Pyramide zwei solide Blöcke – die heute Zehnjährigen und Jüngere. Aber es bleibt abzuwarten, ob und wie sie sich am politischen Prozess beteiligen werden.

    In unserem politischen Geschehen fehlt die Jugend

    Die meisten Studien zur Generation Z dienen Marketing-Zwecken: Man will herausfinden, wie man diesen Menschen Waren und Dienstleistungen am besten verkauft. Dennoch lassen sich aus diesen Studien auch politische Erkenntnisse gewinnen.

    Eine jüngere Untersuchung der Firma VALIDATA im Auftrag der Sberbank hatte zum Ziel, allgemeine Merkmale der Russen zwischen 8 und 25 Jahren zu bestimmen. Methodisch griff man dabei auf Fokusgruppen, die Analyse von Sozialen Netzwerken und Experteninterviews zurück.

    Eine vergleichbare Studie wurde kürzlich von der US-amerikanischen Firma Sparks & Honey publiziert. Die RANEPA-Forschungsgruppe Monitoring zeitgenössischer Folklore untersucht das Netzverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und führt Interviews bei Protestaktionen durch.

    Familie geht über die Karriere

    Von dem, was man bisher über die russische Jugend herausfinden konnte, hat einiges politische Relevanz: Gute sozialen Fähigkeiten (sie werden als sehr wichtig eingestuft), das Streben nach gemeinsamem Handeln und nach Anerkennung, der hohe Stellenwert moralischer Werte („Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“), das Streben nach Selbstausdruck und Selbstverwirklichung („man selbst sein“, „die richtige Wahl treffen“), das Fehlen eines Generationenkonfliktes – stattdessen warmherzige, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.

    Gleichzeitig stufen Eltern wie Kinder die gegenwärtigen Verhältnisse als chaotisch und unberechenbar ein. Sie glauben nicht an langfristige Planung.

    Bei den Kindern drückt sich das darin aus, dass sie keinen festen Job „auf Lebenszeit“ anstreben. Bei den Eltern im fehlenden Wunsch, sich aktiv an den Entscheidungen der Kinder zu beteiligen, denn „sie wissen ja selbst nicht, was der richtige Weg ist“.

    Sowohl für die Eltern, als auch für die Kinder ist die Familie das höchste Gut. Die Gründung einer Familie gilt als Erfolg im Leben, der über der Karriere oder dem Geldverdienen steht.

    Was können wir daraus schließen? Die fehlenden Spannungen zwischen den Generationen sind eine Besonderheit der neuen Zeit. Menschen, die heute um die 35 oder älter sind, haben weitaus häufiger ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern. Die meisten von ihnen sind derzeit oder schon länger mit ihren Eltern zerstritten.

    Die heutige Jugend geht für die Alten auf die Straße

    Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie. Eltern und Kinder teilen dieselben Wertvorstellungen, die sich grob unter dem Begriff „Gerechtigkeit“ zusammenfassen lassen (diese  russische Grundtugend bedeutet mal „Ehrlichkeit, mal „Gleichheit“ und mal „Bestrafung“).

    Jung und Alt stören sich an derselben Ungerechtigkeit, aber ihre Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Die Kinder werden eher aktiv, die Eltern bleiben eher passiv.

    Vom politischen Standpunkt betrachtet ist offensichtlich, was die jungen Menschen brauchen: eine Zukunftsvision, klare Perspektiven, Spielregeln, die sie als fair empfinden, und Aufstiegschancen.

    Nicht nur, dass sie diese im Augenblick nicht sehen. Es spricht nicht einmal jemand mit ihnen über diese Probleme. Sie hören ständig nur Debatten über Themen von gestern – die Sowjetzeit, die Vorsowjetzeit, die frühen 1990er, die frühe Putinära. Und über die vergleichsweisen Vorzüge von verschiedenen Toten – Stalin, Breshnew, Iwan der Schreckliche, Nikolaus II. Verständlicherweise steht das einem jungen Menschen bis zum Halse.

    Ziel der Fernsehpropaganda ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn

    Menschen unter 25 sind mit dem Internet aufgewachsen, sie leben im Internet. Es ist nicht so, dass sie überhaupt nicht fernsehen, aber sie sehen anders fern. Sie schauen sich einzelne Sendungen an, die sie auf Youtube finden. Zur Unterhaltung benutzen sie Youtube, zur Information und Kommunikation die Sozialen Netzwerke. Entsprechend geht die TV-Propaganda an ihnen vorbei. Und selbst, wenn sie das anhören, verstehen sie nicht, was man von ihnen will.

    Denn unsere ganze Propaganda ist auf den Sowjetmenschen zugeschnitten. Ihr Ziel ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn. Wenn jemand diese Areale nicht hat, weil sie ihm nicht schon bei Geburt eingepflanzt wurden, dann plätschert das alles an ihm vorbei. 

    „Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie.“ / Foto © Alexander Petrossjan/Kommersant
    „Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie.“ / Foto © Alexander Petrossjan/Kommersant

    Eine weitere unterschätzte Tugend, die die Kinder- und Elterngeneration verbindet, ist, was man in einem „gesunden“ politischen Regime Gesetzestreue nennen würde. Im politischen Regime des Rauchers dagegen ist genau das ein Protestinstrument: das Bemühen, Regeln einzuhalten, und der Wunsch, dass auch andere das tun.

    Die Vorgänge bei uns sind ein ‚legalistischer Protest‘ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption

    Denken Sie an die Proteste von 2011/2012. Weder damals noch bei den Ereignissen vom 26. März gingen die Menschen spontan auf die Straße. Es waren organisierte Kundgebungen mit bestimmten Anliegen. Mal waren sie genehmigt, mal nicht, aber immer gewaltfrei. Es waren keine Revolten – noch nicht einmal Proteste gegen die bestehende Ordnung als Ganzes, bei denen Parolen wie „Nieder mit …“ oder „Aristokraten an die Laterne“ skandiert worden wären. Sowas gibt es bei uns nicht (zumindest bisher nicht).

    Die Vorgänge bei uns sind ein „legalistischer Protest“ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption. Menschen fordern die Einhaltung der Gesetze und fühlen sich damit offensichtlich ausreichend im Recht, um das hohe Risiko, das ein Protest mit sich bringt, auf sich zu nehmen.

    Ein Gefühl der Verbundenheit

    Für Menschen unter 25 sind soziale Interaktion und ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen ausgesprochen wichtig. Ihre Generation hat jene für die Sowjetzeit typische Atomisierung überwunden. Dementsprechend hängt ihr weiteres politisches Handeln davon ab, ob sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlen und deren Unterstützung spüren (erinnern wir uns an die gewünschte „Anerkennung“) oder ob sie sich einsam und allein gelassen fühlen.

    Jeder Mensch hat Angst vor Ausgrenzung. Jungen Menschen ist es allerdings besonders wichtig, nicht zum Außenseiter zu werden. Wenn sie sich nicht als Minderheit und Outcasts empfinden, sondern als Teil eines Netzwerks, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie ihre sozialpolitische Aktivität fortsetzen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der jüngeren Generation Erfahrung in Freiwilligendiensten und ehrenamtlicher Tätigkeit mitbringt.

    In diesem Punkt besteht eine Ähnlichkeit zwischen der US-amerikanischen Gen Z und den jungen Russen. Außerdem ist eine moralisch relevante Gemeinschaftsaktivität das beste Mittel gegen Angst.

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  • Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

    Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

    Am 18. September 2016 fanden die Wahlen zur siebten (Legislaturperiode der) Staatsduma statt. Die Wahlbeteiligung in Höhe von 47,88 Prozent lag auf dem historisch niedrigsten Niveau. Das kann zum einen damit erklärt werden, dass die Wahl vorverlegt wurde und der Wahlkampf somit in die Sommerferien fiel. Zum anderen führte die Regierungspartei Einiges Russland schon am 22. Mai Primaries durch, die vielen Menschen einen erneuten Wahlgang überflüssig erscheinen ließen. Schließlich genießt die Duma ohnehin wenig Vertrauen in der Gesellschaft – und die niedrige Wahlbeteiligung war dafür lediglich eine weitere Bestätigung.

    Der Wechsel des politischen Schwergewichts Wjatscheslaw Wolodin von der Präsidialverwaltung in die Duma kann vor diesem Hintergrund als ein Versuch gesehen werden, das Parlament aufzuwerten. Nach seiner Wahl zum Vorsitzenden zeigt er sich bestrebt, der Duma mehr Unabhängigkeit von Regierung und Präsidialverwaltung zu verschaffen und das Vertrauen der Gesellschaft zurückzugewinnen.

     

    Figur 1: Vertrauenswerte, Quelle: Lewada-Zentrum

    Mandatsverteilung

    Wie von vielen erwartet, ging Einiges Russland als deutlicher Sieger aus der Dumawahl hervor. Obendrein bescherte der nach dem Grabenwahlsystem abgehaltene Urnengang der Machtpartei einen bisher unerreichten Erdrutschsieg. Sie bekam 54,19 Prozent der Stimmen nach der Listenwahl und 79,6 Prozent für Direktkandidaten in den Einerwahlkreisen1. Mit 343 von 450 Mandaten verfügt Einiges Russland (ER) wie schon in den Jahren 2007 bis 2011 nun auch in der siebten Legislaturperiode über eine verfassungsändernde Mehrheit. Im Vergleich zur vorherigen Amtszeit steigerte sie sich sogar um ganze 105 Sitze.

    Dementsprechend erlangten die Oppositionsparteien weniger Stimmen: die KPRF erhielt 42 Mandate (minus 50), die LDPR 39 (minus 17), Gerechtes Russland 23 (minus 41), Heimat, Bürgerplattform und ein Parteiloser jeweils ein Mandat. Die ONF – eine nationalpatriotische Dachorganisation, die Einiges Russland als Kaderreserve dient – brachte etwas über 80 Kandidaten ins Parlament, also weniger als ein Viertel der ER-Abgeordneten. In der vorherigen Legislaturperiode hatten sie mit ebenfalls rund 80 Aktivisten noch ein Drittel ausgemacht2

    Personelle Kontinuität

    Es gibt vergleichsweise wenig neue Gesichter in der neuen Duma: 222 Deputierte aus der jetzigen Duma waren schon in der sechsten Legislaturperiode im Parlament – so viele wie noch nie zuvor (in den vorangegangenen Amtszeiten waren dies jeweils 218, 217, 204, in der dritten Duma ab 1999 gar nur 162 Abgeordnete). Acht Urgesteine waren in allen Dumas seit 1994 vertreten. Die siebte ist somit die erfahrenste Unterkammer in der Geschichte des Parlaments. Allerdings erneuerte sich die Fraktion von Einiges Russland mit 60 Prozent oder 205 Abgeordneten durchschnittlich am stärksten, was dafür spricht, dass bei den Wahlen die Konkurrenz innerhalb der Machtpartei, und nicht zwischen den Parteien, bestimmend war. 

    Soziodemografisches Porträt

    Männlich, Anfang 50, studiert – so sieht der durchschnittliche Duma-Abgeordnete der siebten Legislaturperiode aus.

    Knapp 85 Prozent der 450 Abgeordneten sind männlich, im Vergleich zu den vorherigen Wahlperioden steigerte sich der Frauenanteil leicht. Das Durchschnittsalter beträgt 52 Jahre, damit ist die Duma etwas gealtert.

    80 Abgeordnete begannen ihre Berufskarriere als Arbeiter, 58 waren im Bildungsbereich tätig, 35 können den Silowiki zugerechnet werden. 33 Abgeordnete starteten ihre Laufbahn als Unternehmer: Deren Anteil sank im Vergleich zur vorherigen Amtsperiode um gut ein Drittel. Mit 26 Ingenieuren, 25 Ärzten, 24 Journalisten und 20 Sportlern (davon 12 Olympiasieger) steigerten vier Berufsgruppen ihre Präsenz in der Duma.

    443 Abgeordnete verfügen über einen Hochschulabschluss, in der dritten Duma ab 1999 waren dies nur 298. Mit 128 Deputierten überwiegen technische Ausbildungen deutlich, 107 verfügen über ein Diplom in den Wirtschaftswissenschaften, 95 in Jura, 70 in der Staatsverwaltung, 50 dürfen sich Pädagogen nennen, 35 Berufsmilitärs und 24 Ärzte schließen das Bildungsspektrum nach unten ab. 127 Abgeordnete tragen den Titel kandidat nauk (vergleichbar mit dem Doktortitel), 60 Volksvertreter habilitierten sich als doktor nauk.3

    Insgesamt 61 Abgeordnete sind Unternehmer. Basierend auf den offiziellen Einkommenserklärungen konnte RBC4errechnen, dass das Durchschnittseinkommen aller Parlamentarier im Jahr 2015 bei 16 Millionen Rubel [etwa 260.000 Euro – dek] lag. Ein Abgeordneter hatte laut der Untersuchung im Schnitt 11 Millionen Rubel [etwa 180.000 Euro – dek] auf dem Konto deponiert. Bemerkenswerterweise sind die Deputierten der siebten Legislaturperiode offiziell weniger vermögend als deren Vorgänger in der sechsten Amtszeit: Damals beliefen sich die Durchschnittswerte auf 30,3 Millionen Rubel [etwa 493.000 Euro – dek] Einkommen und 128,7 Millionen Rubel [etwa 2 Millionen Euro – dek] Ersparnisse.

    Die Unterschiede zwischen den Abgeordneten sind allerdings genauso enorm wie die zwischen deklariertem Einkommen und tatsächlichem Vermögen: Der Unternehmer und Milliardär Alexander Skorobogatko5 war mit 745 Millionen Rubel [etwa 12,1 Millionen Euro – dek] Jahreseinkommen lediglich auf Platz vier in der Duma-Rangliste. Mit einem geschätzten Vermögen von 2,3 Milliarden US-Dollar wird er von Forbes jedoch auf Platz 40 der reichsten Russen eingestuft. 

    Wolodins Legislative – „starke Abgeordnete, starke Duma“? 

    Wjatscheslaw Wolodin hatte noch in seiner Funktion als stellvertretender Leiter der Präsidialadministration für Einiges Russland Wahlkampf betrieben. Am 5. Oktober 2016 wurde er zum Vorsitzenden der neuen Duma gewählt. Damit löste er Sergej Naryschkin ab, der zum Direktor des Auslandsgeheimdienstes SWR ernannt wurde. Weitere wichtige Posten haben die zwei ersten stellvertretenden Duma-Vorsitzenden und die sechs einfachen stellvertretenden Vorsitzenden inne, bei denen – wie auch im Fall der 26 Ausschussvorsitzenden – die systemischen Oppositionsfraktionen mit einem Anteil von 50 Prozent „übervorteilt“ wurden. Dies soll ein besseres vorläufiges Zusammenspiel dieser Fraktionen bei der Gesetzgebung garantieren: Jeweils fünf Ausschüsse gingen an die KPRF und Gerechtes Russland, drei an die LDPR.

    Wolodin ist bekannt für seinen hierarchischen, bürokratisch-administrativen Führungsstil. Vieles spricht dafür, dass er diesen auch in der Duma beibehalten wird. So besetzte er vier von fünf Führungspositionen des Duma-Verwaltungsapparates6 neu, drei seiner ehemaligen Untergebenen wechselten im Oktober von der Staraja Ploschtschad in den Ochotny Rjad. Gleichzeitig schränkte Wolodin den Zugang für Präsidialverwaltungs-Mitarbeiter der Abteilung „Innenpolitik“ zum Dumagebäude ein. Insgesamt versucht er, seine Machtvertikale als Duma-Vorsitzender auszubauen, aber auch die Unabhängigkeit der Duma von Regierung und Präsidialverwaltung zu steigern.

    Zu diesem Zweck wurden einige formale Änderungen an der Geschäftsordnung der Duma7 vorgenommen: Weil in der Vergangenheit viele Abgeordnete durch häufige Abwesenheit auffielen, besteht bei den Plenarsitzungen nun Anwesenheitspflicht. Da einige Abgeordnete oftmals für ihre Kollegen votierten, sind nun Stimmübertragungen nicht mehr gestattet.


    Gleichzeitig zeigt sich Wolodin um Status und Professionalisierung bemüht: Abgeordneten sollen jetzt sieben anstatt fünf Mitarbeiter zugestanden werden, außerdem sollen Fraktionen zusätzliche Gelder für juristische Gesetzesentwurf-Expertisen erhalten. Einiges Russland führte darüber hinaus Expertenräte ein, die unter anderem allzu wirre Gesetzesentwürfe vor dem Einbringen sichten und filtern sollen, zudem wird die juristische Beratung aller Fraktionen im Duma-Apparat zentral koordiniert. 

    Ab 2017 soll die Staatsfinanzierung für Parteien von 110 auf 152 Rubel [etwa 2,50 Euro – dek] pro erhaltener Stimme angehoben werden, auch bekommen Abgeordnete wieder Zugang zu VIP-Sälen in Flughäfen und Migalki – Blaulichter – nicht unwichtige Statussymbole. Durch eine Änderung ihrer Geschäftsordnung soll die Regierung nun auch dazu verpflichtet werden, Vertreter mindestens im Rang eines Vizeministers in die Duma zu entsenden, wenn von der Regierung initiierte Gesetzesentwürfe in den Ausschüssen debattiert werden. 

    Mehr Einfluss?

    Bisher zielen Wolodins „Reformen“ darauf ab, die Duma weniger abhängig von der Präsidialverwaltung zu machen und gleichzeitig der Regierung – neben dem Präsidenten der wichtigste Initiator von Gesetzen – Einfluss abzuringen. Dies kann dazu beitragen, dass die siebte Duma mehr Eigengewicht in Relation zu den anderen Staatsorganen erlangt und beispielsweise Wirtschaftsinteressen von Regionen stärker berücksichtigt werden.

    Sollte die Duma wieder vermehrt zu einem „Ort für Diskussionen“ werden, dann jedoch zentral von oben moderiert. Bei Kerninteressen des Regimes wie Sicherheits-, Verteidigungs-, Außen- und Rechtsschutzpolitik wird wohl weiterhin schnell und mit überwältigenden Mehrheiten eine einheitliche Front8 demonstriert. Es bleibt also fraglich, ob der eingeschlagene Kurs zu höheren Vertrauenswerten seitens der Gesellschaft beitragen wird.


    1. Hinsichtlich der Wahlergebnisse wurden begründete und überzeugende Hinweise auf Fälschungen vorgebracht, wonach Einiges Russland gegenüber den anderen Parteien bevorteilt und die Wahlbeteiligung nach oben korrigiert wurde. Zudem fanden die Wahlen ebenfalls auf der völkerrechtswidrig annektierten Krim statt, diese sechs Abgeordneten wurden darauf von den USA und Kanada mit Sanktionen belegt. Die Angaben in der Gnose beziehen sich auf die offiziellen Ergebnisse der Zentralen Wahlkommission. ↩︎
    2. vgl. Chaisty, Paul (2013): The Impact of Party Primaries and the All-Russian Popular Front on the Composition of United Russia’s Majority in the Sixth Duma, in: Russian Analytical Digest No. 127, S. 8-12 ↩︎
    3. Eine gute soziodemografische Übersicht bietet traditionell Kommersant, der seit 2000 biografische Angaben aller Abgeordneten sammelt und aufbereitet. ↩︎
    4. Über die Aussagekraft dieser Daten mag diskutiert werden, dennoch ist der Vergleich über Zeit und zwischen den Fraktionen durchaus von Interesse, siehe RBC: Issledovanie RBK: čem bogaty deputaty novoj Gosdumy ↩︎
    5. Alexander Skorobogatko, gab inzwischen sein Mandat auf: vermutlich weil die Zeit- und Arbeitsbelastung zu groß wurde, um gleichzeitig noch die eigenen Geschäfte managen zu können. ↩︎
    6. Gosudarstvennaja Duma: Rukovodstvo Apparata Gosudarstvennoj Dumy ↩︎
    7. Gosudarstvennaja Duma: Reglament Gosudarstvennoj Dumy ↩︎
    8. Intersection: Volodin’s Duma ↩︎


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Um den Fall Uljukajew ist es leiser geworden. Der ehemalige Wirtschaftsminister steht unter Hausarrest, seit er vor drei Monaten öffentlichkeitswirksam festgenommen und innerhalb weniger Stunden seines Amtes enthoben wurde – weil er zwei Millionen Dollar erpresst haben soll. Seitdem wartet er auf ein Gerichtsverfahren.

    Was offiziell als Korruptionsfall behandelt wird, könnte – so wird spekuliert – ein verdeckter Kampf um Posten oder gar eine offene persönliche Rechnung sein. Fest steht: Uljukajew ist nur einer von vielen Staatsbeamten und Politikern, seien es Gouverneure, Bürgermeister oder Berater, die in den vergangenen Jahren von Strafverfolgungsbehörden ins Visier genommen wurden – allerdings ist er der erste Minister, der wegen Korruptionsvorwürfen seinen Posten räumen musste.

    Die beiden Journalisten Dimitri Filonow und Anastasia Jakorewa nahmen diesen bisher prominentesten Fall zum Anlass, um für das liberale Webmagazin Republic nach bewährten Mustern zu suchen, wenn es um das Ausschalten von Amts- und Würdenträgern geht.

    Witali Teslenko, Gesundheitsminister des Gebietes Tscheljabinsk, saß einfach so mit Freunden in der Banja: bei Wodka, Gurken und Tomaten, Schinkenknackern und dick geschnittenem Schwarzbrot – wobei sie sich durchaus ein erlesenes Bankett hätten leisten können. Die Mitarbeiter des FSB, die die Banja stürmten, fanden dort 12 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 200.000 Euro – dek]: „Provisionen“, die Teslenko erhalten hatte. In der Folge legte man dem Minister den Erhalt von insgesamt 69 Millionen Rubel [umgerechnet 1 Million Euro – dek] Schmiergeldern über einen Zeitraum von wenigen Jahren zur Last und verurteilte ihn zu sieben Jahren Strafkolonie.

    Das ist nur eine kleine Episode im Kampf gegen die Korruption in Russland. Der Höhepunkt war die Festnahme des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew, der angeblich mit zwei Millionen US-Dollar aus dem Büro von Rosneft herausspaziert ist. Das war das erste Mal in der Geschichte Russlands, dass ein amtierender Minister verhaftet wurde.

    Wartet seit November 2016 auf sein Gerichtsverfahren – Alexej Uljukajew / Foto © kremlin.ru
    Wartet seit November 2016 auf sein Gerichtsverfahren – Alexej Uljukajew / Foto © kremlin.ru

    Im April 2016 hat Generalstaatsanwalt Tschaika erklärt, im Jahr zuvor seien gegen 958 Tschinowniki Ermittlungen wegen Korruption aufgenommen worden. Wenn jemand in den Knast gebracht wird, könnte das als glatter Sieg von Polizei und Justiz betrachtet werden, doch ist Korruption in Russland auch schlicht die bequemste Art, einen missliebigen Tschinownik „aus dem Rennen zu nehmen“. In der Wirtschaft ist es immer schlimmer, der Kampf ums Geld wird immer erbitterter.

    Niemand zählt mit

    Nowosibirsk, Wladiwostok, Syktywkar, Birobidshan, Perm, Smolensk. Gouverneure, Bürgermeister, Minister, ihre Stellvertreter – den von Republic zusammengetragenen Daten zufolge werden in Russland im Schnitt monatlich drei hohe Tschinowniki auf Grund von Anti-Korruptions-Paragraphen festgenommen.
    Eine offizielle Statistik fehlt, und so hat nun Republic selbst Informationen über Verfahren gegen höhere Tschinowniki gesammelt. Insgesamt wurde seit 2010 in den Medien von rund 120 Festnahmen berichtet: von Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern und deren Stellvertretern (Verfahren gegen Tschinowniki niederen Ranges gelangten nicht in die Stichprobe).

    In diesen sechs Jahren fiel der Spitzenwert mit 30 Festnahmen auf das Jahr 2013, das Jahr nach den Präsidentschaftswahlen. 2014 ging die Zahl der verhafteten Tschinowniki drastisch zurück. 2015 (in dem 34 hohe Tschinowniki festgenommen wurden) und 2016 (rund 30 Fälle) wurden allerdings die früheren Werte wieder erreicht. Um Bestechung geht es nur in einem Drittel der Verfahren: Oft werden die Tschinowniki des Betrugs oder der Überschreitung von Amtsbefugnissen beschuldigt, seltener der Unterschlagung, Veruntreuung oder der Bildung einer kriminellen Vereinigung.

    „Für kriminelles Handeln wird niemand einfach so eingebuchtet, da muss es schon einen politischen Willen geben“, sagt ein auf derartige Fälle spezialisierter Anwalt.

    Wie werden die Fälle bearbeitet?

    Am 17. März 2014 hat Wladimir Putin zwei Dekrete unterzeichnet: Durch den einen wurde die Krim an Russland angeschlossen, mit dem anderen enthob er Wassili Jurtschenko, den Gouverneur der Oblast Nowosibirsk, seines Amtes. Er war der erste Gouverneur, den Putin mit der Formulierung „aufgrund von Vertrauensverlust“ entließ.

    Nach Jurtschenkos Darstellung steht hinter seiner Abberufung eine Aktion ihm nicht wohlgesonnener Leute. Ihnen soll er in die Quere gekommen sein. Jurtschenko stammte aus dem Team des vorherigen Gouverneurs. Nachdem er seinen Posten angetreten hatte, soll Jurtschenko bald seine eigenen Leute auf Schlüsselposten gehievt haben. Aber als einer der wichtigsten Gründe für die Unzufriedenheit im Umkreis von Jurtschenko gilt sein Bestreben, einen örtlichen Tscherkison aufzulösen: den großen Kleidermarkt Gusinoborodski, zu dem Waren aus China gelangten und dann in ganz Sibirien vertrieben wurden. Es heißt, schon die Versuche, diesen Markt Anfang der 2000er Jahre zu reformieren, seien der Grund für die Ermordung der beiden Nowosibirsker Vizebürgermeister Igor Beljakow und Waleri Marjassow gewesen. 
    Gegen Jurtschenko wurde (wegen des Verkaufs eines Grundstücks in Nowosibirsk zu Niedrigpreisen) bereits im Sommer 2013 ein Strafverfahren eingeleitet – das derzeit bei Gericht verhandelt wird. Im Juli 2016 wurde gegen Jurtschenkos Frau Natalja ein Verfahren eingeleitet. 

    Wessen Interessen hat Jurtschenko beeinträchtigt? Der Gesprächspartner von Republic schweigt, dann holt er das Telefon heraus und gibt den Namen eines ehemaligen Tschinowniks aus der Präsidialadministration ein.

    Seit 2009 aufgelöst – der Tscherkisowoer Markt im östlichen Moskau / Foto © Egor Sofronov/flickr
    Seit 2009 aufgelöst – der Tscherkisowoer Markt im östlichen Moskau / Foto © Egor Sofronov/flickr

    Die Entscheidung zur Abberufung eines Gouverneurs oder eines föderalen Ministers kann nur einer treffen: der Präsident. Wie mehrere Gesprächspartner erklären, mit denen Republic sprechen konnte, besteht die Kunst allein darin, ihn zu einem solchen Schritt zu bewegen. Hierzu braucht es Strafverfahren und unwiderlegbare Beweise. „Dossiers mit kompromittierenden Unterlagen gibt es über jeden. Wann diese eingesetzt werden, ist nur eine Frage der Zeit“, erklärt einer der Gesprächspartner von Republic.

    Wer ins Visier kommt, der wird abgehört

    Der Moment kann dann eintreten, wenn in einem Gebiet, das in die Zuständigkeit eines Bürgermeisters oder Gouverneurs fällt, zu starke Proteststimmungen herrschen oder Wahlen verloren gehen. So hatte zum Beispiel der Föderale Antimonopol-Dienst (FAS) 2015 den Bürgermeister von Wladiwostok Igor Puschkarjow verdächtigt, dessen Verwandte würden an Verträgen mit der Stadt verdienen. Festgenommen wurde Puschkarjow jedoch erst 2016, vor dem Hintergrund des Skandals, als er die Wahlkommissionen umsiedelte: „Nach personellen Veränderungen in den territorialen Wahlkommissionen von Wladiwostok, die nun nicht mehr der Kontrolle des Bürgermeisters unterstanden, hatte der Bürgermeister zur Strafe ,ein wenig nachgeholfen‘, so dass die Pachtverträge für die Räumlichkeiten der Kommissionen gekündigt wurden“, sagt Ella Pamfilowa, die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission in einem Interview.

    Interesse an einer Abberufung könnte ein Unternehmer oder ein anderer Tschinownik haben, und manchmal treffen sich die Interessen gleich mehrerer Parteien. Lautet das Kommando schließlich, einen Tschinownik zu entfernen, wird er abgehört. Das kann lange dauern. So meinen etwa die Anwälte des ehemaligen Gouverneurs von Sachalin, Alexander Choroschawin, er sei mindestens ein Jahr lang abgehört worden. Der Anwalt des Wladiwostoker Bürgermeisters Igor Puschkarjow gab an, sein Mandant sei über mehrere Jahre abgehört worden. Wie RBK berichtete, war auch Alexej Uljukajew mindestens ein Jahr lang auf dem Radar. Laut Vedomosti betraf das nicht nur den Minister, sondern auch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Arkadi Dworkowitsch und den Assistenten des Präsidenten, Andrej Beloussow.

    Abhören ist eine unbedingte Maßnahme bei praktisch jedem dieser Vorgänge. Eine Abhörgenehmigung ist per Gericht zu erwirken, doch das ist reine Routine; eine Verweigerung erfolgt äußerst selten. Dem Richter die unbedingte Notwendigkeit von Gesprächsaufzeichnungen eines Tschinowniks plausibel zu machen, ist einfach: Gleich mehrere Anwälte, in deren Verfahren Abhörunterlagen verwendet werden, berichteten davon, dass in den Anträgen folgender Standardsatz auftaucht: „Es besteht der Verdacht, dass Dienstvollmachten überschritten wurden.“ Die Gerichte haben 2015 insgesamt 845.600 Abhörgenehmigungen erteilt. Selbstredend werden nicht nur die Worte des Verdächtigen aufgezeichnet, sondern auch die seiner Gesprächspartner. Das erweitert den Kreis der Leute, deren Gespräche in FSB-Hände gelangen. Und aus ihren Worten können sich neue Strafverfahren ergeben.

    Ein ehemaliger Ermittler sagt im Gespräch mit Republic, manchmal sei es möglich, auch ohne Genehmigung des Gerichts abzuhören, was jedoch niemand zugeben würde. Sobald ein Verdächtiger etwas Wertvolles sagt, laufen die Fahnder los, um die Genehmigung einzuholen. „Manchmal streuen sie ein Gerücht und schauen, wie die Abgehörten reagieren. So kann man jemanden bei der Rückgabe von Bestechungsgeldern ertappen, sollte er zu nervös geworden sein“, erklärt ein ehemaliger Ermittler. Beispielsweise wurde 2013 im Restaurant Genazwale auf dem Alten Arbat in Moskau Wjatscheslaw Denissow festgenommen, ein Oberst des Innenministeriums, der wohl einem Geschäftsmann 835.000 Rubel zurückgab.

    Gleichzeitig wird durch das Abhören ein Kreis von Personen umrissen, von denen man Aussagen über die betreffende Person erhalten kann. So kam es aufgrund von Aussagen des Bürgermeisters von Iwanowo, der der Bestechlichkeit verdächtigt wurde, zu einem Verfahren gegen Dimitri Kulikow, den Vizegouverneur des Gebiets Iwanowo.

    Gegen den ehemaligen Gouverneur von Sachalin Alexander Choroschawin hatte der an Krebs erkrankte und in Untersuchungshaft sitzende Geschäftsmann Nikolaj Kern ausgesagt. Anschließend wurde Kern entlassen und blieb unter Hausarrest; er starb einige Monate später. „Es ist klar, dass er ausgesagt hat, um in Freiheit zu sterben“, sagt Iwan Mironow, der Anwalt der Familie Choroschawin.

    Ein ehemaliger Ermittler erklärt, absolut jedes Strafverfahren bringe das Recht mit sich, Hausdurchsuchungen und andere Ermittlungsmaßnahmen vorzunehmen – und so können auch für andere Strafverfahren Beweise gesammelt werden.

    Beim Schach gibt es klare Regeln, hier nicht

    Müssen die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden das Vorgehen gegen einen Tschinownik von oben absegnen lassen? Formal ist der FSB nicht verpflichtet, die Präsidialadministration über die Aufnahme operativer Fahndungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Allerdings sagen die Tschinowniki, mit denen Republic gesprochen hat, dass man im Kreml selbstverständlich von allen Fällen wisse. Man ging davon aus, dass die großen Korruptionsfälle früher von Sergej Iwanow als Chef der Präsidialadministration betreut wurden. Allerdings wurde Iwanow im August 2016 abgesetzt. Über Untersuchungen gegen Gouverneure wusste man auch in der Verwaltung Innenpolitik der Präsidialadministration Bescheid, wo Wjatscheslaw Wolodin das Sagen hatte.

    Ein standardisiertes Schema, wie man eine Genehmigung für die Untersuchung eines Gouverneurs oder Angehörigen des Sicherheitsapparats erhält, gibt es nicht. Das läuft immer individuell. Es gewinnt derjenige, der einen direkten Zugang zum Präsidenten hat und sein Dossier mit kompromittierenden Materialien auf dessen Schreibtisch weiter oben platzieren kann. Zugang zu Putin haben übrigens nicht nur Tschinowniki der Präsidialadministration, sondern unter anderem auch die Chefs der Staatskorporation Rostech (Sergej Tschemesow) und von Rosneft (Igor Setschin). „Das ist wie beim Schach“, erklärt einer der Gesprächspartner. Beim Schach gebe es allerdings klare Regeln, hier nicht, korrigiert ihn ein anderer.

     

     

     


    * Stand 11/2016. Quelle: Republic

    Dass bei Uljukajews Festnahme der FSB die Hauptrolle spielte, sei Standard, erklären eine Reihe ehemaliger Ermittler gegenüber Republic. Die Erstbearbeitung übernehmen immer die operativen Fahnder von FSB und Innenministerium. Später dann, wenn das Material für ein Strafverfahren gesammelt wird, kommen die Ermittler hinzu. Ein Gesprächspartner erklärt Republic, die Ermittler seien laut Gesetz unabhängig und befugt, den Mitarbeitern des FSB Anweisungen zu geben. Es gebe allerdings Ausnahmen, beispielsweise die Sechser, die 6. Gruppe der internen Sicherheitsabteilung des FSB. Sie wird auch „Spezialeinheit Setschin“ genannt, weil die Gruppe auf Initiative Igor Setschins gegründet wurde, als dieser noch Vize-Chef der Präsidialadministration war.

    Die interne Sicherheitsabteilung kontrolliert die Mitarbeiter des FSB, und die Sechser kontrollieren die Kontrolleure.

    „Sie kommen einfach und sagen dir, was zu tun ist. Das ist der Inbegriff von Macht. Sie sind fast niemandem untergeordnet. Ihr Ding ist die Exklusivität, und Vollstreckung ihr besonderer Fetisch“, sagt einer der Gesprächspartner zu Republic. Wenn die 6. Gruppe dabei ist, geht es seinen Worten zufolge entweder um eine sehr wichtige Person oder um einen sehr großen Auftrag.

    Die Sechser stehen hinter fast allen aufsehenerregenden Korruptionsfällen der letzten Zeit: Ihre Mitarbeiter haben sich sowohl Choroschawin und Gaiser vorgenommen, wie auch den Gouverneur des Gebietes Kirow Nikita Belych.

    Bei der Festnahme von Uljukajew hatte Oleg Feoktistow, der für Sicherheit zuständige Vizepräsident von Rosneft, den Mitarbeitern der Sondereinheit geholfen. Feoktistow war im September 2016 zu dem Ölkonzern gekommen, als der Vorgang Uljukajew bereits lief und der Minister mindestens seit dem Sommer abgehört wurde.

    Zuvor war Feoktistow stellvertretender Leiter der internen Sicherheitsabteilung des FSB gewesen. Er war für Belych zuständig und für den aufsehenerregenden Fall um Denis Sugrobow und Boris Kolesnikow, ihres Zeichens die Leiter der Hauptverwaltung wirtschaftliche Sicherheit und Korruptionsbekämpfung des Innenministeriums. Wie die New York Times schrieb, war Feoktistow als Anwärter für den Leitungsposten gehandelt worden, verlor aber den apparatsinternen Kampf und gelangte zu den abkommandierten Mitarbeitern des FSB.

    Stand vor Gericht: Alexander Choroschawin / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Stand vor Gericht: Alexander Choroschawin / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was geschieht nach der Festnahme des Verdächtigen? Der Ermittler eröffnet ein Verfahren, und das Gericht entscheidet über eine Inhaftierung.

    Die Festnahme selbst ist eine recht langweilige Angelegenheit. Tschinowniki  können an ihrem Arbeitsplatz festgenommen werden (wie im Fall Gaiser und Choroschawin), im Restaurant bei einer angeblichen Geldübergabe (wie bei Belych) oder sogar in der Banja (wie im Fall Teslenko). Die Ermittler nehmen dann über mehrere Stunden Protokolle auf, schreiben Aussagen nieder und durchsuchen die Räumlichkeiten.

    Es gibt aber auch Ausnahmen. So erfolgte die Festnahme des Bürgermeisters von Machatschkala, Said Amirow, unter Einsatz von Sondereinheiten, Hubschraubern und Militärfahrzeugen, die die Zufahrtswege zum Haus blockierten. Allerdings sticht der Fall Amirow auch in anderer Hinsicht heraus: Den meisten Bürgermeistern und Gouverneuren werden Wirtschaftsstraftaten zur Last gelegt, während Amirow des Mordes und enger Verbindungen zu örtlichen Straftätern verdächtigt wird.

    Die Festnahme wird zur Show

    Eine Festnahme zur Show zu machen, war bis vor kurzem das Privileg von Wladimir Markin als Pressesprecher des Ermittlungskomitees. „Im Zuge der Durchsuchungen sind 800 wertvolle Juwelier-Erzeugnisse sichergestellt worden. Sehen Sie, dieses scheinbar einfache Schreibgerät. In Wirklichkeit hat der Stift einen Wert von 36 Millionen Rubel [knapp 600.000 Euro]. Können Sie sich das vorstellen?“, berichtete Markin verzückt in der Fernsehsendung Vesti über die Durchsuchung bei Choroschawin. Mehrere Anwälte beklagten gegenüber Republic, bei Markin würden Informationen über Fundstücke im Fernsehen schon auftauchen, bevor sie im Strafverfahren aufgenommen seien.

    Choroschawin gab später in einem Interview zu, dass es einen goldenen Stift mit Brillanten gab, doch habe der rund 1,3 Millionen Rubel [rund 21.000 Euro] gekostet. „Die werden von der Firma Montblanc in Serie hergestellt. Ich bin nicht der einzige Tschinownik, der so einen hat. Ich habe ihn selbst gekauft. Ich war schon immer wohlhabend“, sagte Choroschawin dem Moskowski Komsomolez. In den Meldungen über Gaiser kursierte dann statt eines Stifts eine Kollektion teurer Uhren.

    Zur Festnahme Uljukajews sind offiziell keine Details nach außen gedrungen. Gesprächspartner von Republic nehmen an, das könne daran liegen, dass Markin zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt gewesen sei.

    Treffpunkt Kreml-Zentrale

    Die Kreml-Zentrale ist ein gesonderter Block für hochrangige Häftlinge im Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenstille. Die Haftbedingungen sind hier strenger, aber komfortabler. Es gibt Zweierzellen mit Fernseher und Kühlschrank, einige sogar mit Dusche. Allerdings wird es in der Kreml-Zentrale langsam eng vor lauter prominenten Insassen. So sitzt Choroschawin, der ehemalige Gouverneur von Sachalin, in einer Zelle mit dem ehemaligen Bürgermeister von Wladiwostok, Igor Puschkarjow. Ein Gesprächspartner erzählt Republic, Choroschawin habe bei einer der Fahrten ins Gericht mit General Sugrobow in einem Gefangenentransport gesessen.

    „Wenn jemand in Untersuchungshaft sitzt, ist es für die Ermittler einfacher, Druck auf ihn auszuüben. Und für Anwälte ist es schwieriger, Kontakt mit dem Mandanten zu halten“, meint Darja Konstantinowa, Anwältin des stellvertretenden Regierungschefs des Gebiets Iwanowo, Dimitri Kulikow. Ihr Mandant hatte Glück: Kulikow wurde fast umgehend unter Hausarrest gestellt und später gegen Kaution ganz entlassen. Einer der Anwälte meint, so etwas sei in Moskau praktisch unmöglich; man müsse sich darauf einstellen, dass die Entscheidung des Richters zugunsten der Anklage und nicht zugunsten der Mandanten getroffen werde.

    Einer der spektakulärsten Fälle war der von Boris Kolesnikow / Foto © kresy24.pl
    Einer der spektakulärsten Fälle war der von Boris Kolesnikow / Foto © kresy24.pl

    Wjatscheslaw Leontjew, Anwalt von Wjatscheslaw Gaiser, berichtet, im Verfahren gegen seinen Mandanten habe der Richter den Haftbeschluss aufgrund eines standardmäßig formulierten FSB-Berichts gefällt: „Angehörige und Vermögen im Ausland sind vorhanden; es besteht Fluchtgefahr und die Möglichkeit, dass auf Zeugen Druck ausgeübt wird; es gibt Verbindungen zur kriminellen Strukturen.”

    Leontjew meint (wie auch andere Anwälte, mit denen Republic gesprochen hat), in den Gerichtsverfahren sei keine Parteiengleichheit gegeben. Für eine Haftverlängerung muss der Ermittler die im Bericht genannten Gründe und Fakten bestätigen. Diese Anforderung ist vom Obersten Gericht festgelegt. Praktisch aber verlängere der Richter die Haft lediglich aufgrund der Worte des Ermittlers und ohne, dass dieser irgendwelche Beweise beigebracht hätte, erklärt der Jurist. Ein weiteres Druckmittel ist das Verbot, Angehörige zu sehen. Dem erwähnten Gaiser wird dies bereits seit 14 Monaten verweigert.

    „Vielleicht sind die Beschuldigten bei diesen aufsehenerregenden Verfahren gute Menschen, vielleicht aber auch schlechte. Dazu müssen Beweise vorgelegt und es muss fair verhandelt werden“, meint der Anwalt Andrej Griwzow. Die Anwälte schreiben Beschwerden, berichten von Verstößen gegen die Verfahrensvorschriften, gehen vergeblich in Berufung.

    „Das Problem bei den aufsehenerregenden Fällen ist, dass sie all das Perverse dieses Systems zu Tage fördern“, sagt Gaisers Anwalt Leontjew. Keiner der großen Prozesse garantiere, dass das System nicht umgehend an gleicher Stelle reproduziert wird. Die Korruptionsbekämpfung in Russland gleicht einem landesweiten Wettkampf um einen Platz an der Sonne, bei dem jeder mit jedem abrechnet.
     

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