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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Infografik: Fremdenfeindlichkeit nimmt zu

    Infografik: Fremdenfeindlichkeit nimmt zu

    „Wohnung für eine russische Familie zu vermieten, Kaukasier unerwünscht“ – solche diskriminierenden Annoncen kennt laut Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland. Mehr als ein Drittel der Befragten steht solchen Anzeigen positiv gegenüber, insgesamt wollen zwei Drittel der Gesellschaft den Zuzug anderer Ethnien nach Russland einschränken (bei Lewada als „Ethnophobie-Level“ erfasst).1

    Quelle: Lewada

    Obwohl Xenophobie in den letzten Jahren weitgehend aus den Massenmedien verschwand, ist sie seit 2017 wieder rapide gestiegen. Warum ist das so?

    Als im August 2018 die denkmalgeschützte hölzerne Mariä-Himmelfahrts-Kirche in der kleinen karelischen Stadt Kondopoga abbrannte, fühlten sich viele Menschen in Russland an 2006 erinnert. Damals kam Kondopoga zum ersten Mal in die Schlagzeilen: wegen massiver fremdenfeindlicher Pogrome. Da in der Folgezeit russlandweit dutzende andere Städte von Pogromen erfasst wurden, sahen viele Nationalismusforscher in Kondopoga die Initialzündung für fremdenfeindliche Übergriffe.

    Die Wirtschaft florierte 2006, Wirtschaftsvertreter forderten weiteren Zuzug von Gastarbeitern. Zeitweise lebten schätzungsweise bis zu sieben Millionen von ihnen in Russland, sie erwirtschafteten rund sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts.2 Die meisten von ihnen kamen auch damals aus dem Kaukasus und Mittelasien nach Russland. Hier wurden sie zur Zielscheibe medialer Stigmatisierung, nationalistische Stimmen wie Alexander Dugin hetzten öffentlichkeitswirksam gegen „Überfremdung“ und forderten ein „Russland für Russen“.

    Diesem Slogan stand 2005 mehr als die Hälfte der Gesellschaft positiv gegenüber3, und „Nichtrusse“ war bei einem guten Drittel der Befragten das am negativsten konnotierte Wort.4

    Diese Zahlen waren umso frappierender, als frühere wissenschaftliche Studien Russland zur Mitte der 1990er Jahre noch als das Land in Europa darstellten, das am wenigsten fremdenfeindlich ist.5 Doch laut offiziellen Zahlen sind rund 20 Prozent der russländischen Gesellschaft keine ethnischen Russen. So ist es denkbar, dass bei einer repräsentativen Umfrage unter ethnischen Russen allein die Ergebnisse entsprechend höher ausfallen dürften.

    Ethnophobie – biologistische Grundlage?

    Die russische Nationalismusforschung bezeichnet diese Fremdenfeindlichkeit als Ethnophobie, weil der ermittelte Ressentiment-Grad beispielsweise gegenüber den Tataren oder Baschkiren weitaus geringer sei als gegenüber den ebenso muslimischen Usbeken, Kirgisen oder Tschetschenen. So könne man etwa nicht von Islamophobie sprechen, erklärt beispielsweise Waleri Solowei – ein Nationalismusforscher, der selbst ethno-nationalistische Standpunkte vertritt. Außerdem seien Tataren und Baschkiren laut Solowei den ethnischen Russen phänotypisch ähnlicher, sodass Ethnophobie in Russland eine biologistische Grundlage habe.6

    Diese weitverbreitete Ethnophobie schlug sich 2006 in Kondopoga nieder. Auf die landesweiten Pogrome, die mitunter auch von kremlnahen Massenmedien als ein Zeichen der „Erhebung des russischen Geistes“ gedeutet wurden, reagierten die Machthaber opportun(istisch): Sie fingen an, die Notwendigkeit der „Gewährleistung von Vorteilen für die verwurzelte Bevölkerung“ herauszustreichen.7 Das Kreml-Programm der Russländischen Staatsnation indes erachteten sie zunehmend als gescheitert. 

    Russländer: Staatsnation statt ethnische Nation

    Schon lange zuvor wurde der Begriff Russländer (russ. „Rossijanin“) oft synonym zu Russe (russ. „Russki“) verwendet. Angestoßen durch Boris Jelzin sollte Russländer in den 1990er Jahren zum neuen Bürgerbegriff avancieren. 
    Mit der Einführung sollte ein Bedeutungswandel von einem ethnisch-konnotierten Nationalitäten- zu einem Staatsbürgerbegriff angestoßen werden. Ein großer Teil der russischsprachigen Sozialwissenschaft sah darin den Übergang vom deutschen zum französischen Modell: Das ehemals deutsche Verständnis der Nation, das als ethnisch konnotiert gilt, sollte zu dem französischen Verständnis der État-nation (Staatsnation) übergehen, das alle Bürger Frankreichs – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft – zu Franzosen vereint. 
    Es war die Grundidee der Jelzin-Regierung, damit eine neue „Staatsidee“ zu definieren und alle Ethnien in einer Staatsnation zusammenzubringen. Auch Putin setzte diese Idee weitgehend fort, bis Kondopoga. 

    „Es reicht, den Kaukasus zu füttern“

    Verschiedene oppositionelle Kräfte kritisierten Putin damals wegen des Jelzinschen Russländer-Programms. Auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte lautstark „Es reicht, den Kaukasus zu füttern“ und begrüßte die sogenannten Russischen Märsche, auf denen rechtsextreme Parolen und „Tod dem Regime“ skandiert wurde.8 Die in Umfragen ermittelten völkisch-nationalistischen Stimmungen in der Gesellschaft waren zu stark, um sie zu ignorieren, also nahmen die Machthaber sukzessiv und versatzstückweise ethno-nationalistische Forderungen in ihr rhetorisches Programm auf und neutralisierten sie damit zum Teil.

    So verlangten Rechtsextreme die verfassungsmäßige Anerkennung von Russen als einziger „staatskonstituierender Ethnie“,9 auch der LDPR-Vorsitzende Wladimir Shirinowski unterstützte diese Forderung. Obwohl dieses Ansinnen auch 2018 nicht in der Verfassung steht, wurde es von Putin bereits einige Male als erfüllt dargestellt, zum ersten Mal ausdrücklich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2012. Damals definierte er in einem programmatischen Text das russische Volk als „staatskonstituierend“ und schrieb:  „Die große Mission der Russen lautet: Die Zivilisation vereinen und verbinden. Über Sprache, Kultur und nach Fjodor Dostojewski über ,weltumfassende Aufgeschlossenheit‘ werden russische Armenier, russische Aserbaidschaner, russische Deutsche, russische Tataren verbunden.“10 

    Mit solchen Aussagen markierte Putin für viele Nationalismusforscher den Übergang vom anvisierten Modell der russländischen Staatsnation zu der sogenannten national-imperialen Position.11 

    Weniger Hetze in den Medien

    Parallel zu dieser Entwicklung gab es in staatsnahen Medien seit Kondopoga immer weniger Hetze gegen Arbeitsmigranten, und 2012/13 konstatierte Lewada ein Ausbleiben von ethnophoben Inhalten in russischen Massenmedien.12 Vermutlich weil die Meinungsforscher sehr oft „einfach die Abendnachrichten nehmen und am nächsten Morgen die Menschen befragen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“, kam es 2014 zu einem rapiden Abfall der Ethnophobie-Werte. 

    Einige russische Soziologen liefern eine andere (beziehungsweise ergänzende) Erklärung: Das von den staatsnahen Medien forcierte Feindbild Westen diene zum einen dazu, von innenpolitischen Problemen abzulenken und stelle zum anderen automatisch das empfundene Bild der „Überfremdung“ in den Schatten. Hintergrund sei das Prinzip des sogenannten konstituierenden Anderen: Eine „kollektive Identität“ formiere sich durch Distinktion, Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen. Mit dem Umschwenken auf eine antiwestliche Linie fand also eine Art Ersatz-Distinktion statt, so die Erklärung.13

    Der Westen als Ersatz-Feindbild

    In der Ethnophobie-Infografik ist dieses Phänomen zweimal sichtbar: 2014 sind die antiwestlichen Stimmungen parallel zur Einführung westlicher Sanktionen hoch geschnellt, und das Ethnophobie-Niveau ist ebenso rapide gefallen. Im Sommer 2018 sind die antiwestlichen Stimmungen dagegen gesunken, während die ethnophoben anstiegen. Mit wissenschaftlichen Mitteln ist ein solcher Mechanismus der Ersatz-Distinktion allerdings nicht nachvollziehbar: Weder ist der Begriff „kollektive Identität“ eingrenzbar, noch kann man erklären, warum diese (vermeintliche) Identität zwangsläufig durch Distinktion gebildet werden muss. 

    Schließlich liefern einige russische Soziologen eine Erklärung für den Wiederanstieg der Werte im Jahr 2018: Ethnophobe Stimmungen wachsen dann, wenn Menschen mit ihrer wirtschaftlichen Situation unzufrieden sind und/oder mit einschneidenden sozialen Reformen konfrontiert werden. Da das Realeinkommen in Russland nun seit vier Jahren in Folge sinkt und weil die anberaumte Rentenreform gravierende Einschnitte im Alltagsleben vieler Russen ahnen lässt, würden die Existenzängste auf andere projiziert.14

    Text: Anton Himmelspach
    erschienen am 18.09.2018


    1.vgl. levada.ru: Monitoring Ksenofobskich Nastroenij 
    2.vgl. demoscope.ru 2013: Trud migrantov obespečivaet 7–8 % VVP Rossii 
    3.Lewada (2018): Obščestvennoe mnenie 2017, S. 174 
    4.vor „Kapitalismus“ (31,2 %), „Revolution“ (30 %), „Kommunismus“ (26,1 %) und „Westen“ (24,7 %), vgl. Byzov, Leontij (2005): Rossijskoe obščestvo v poiskach neokonservativnogo sinteza, in: Vostočnoevropejskie issledovanija, 2005, № 2, S. 121, zitiert nach: Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), S. 276f. 
    5.vgl. Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), 269f. 
    6.vgl. Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), 274f. 
    7.vgl. Pain, Ėmil’ (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’naja stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007, S. 3, S. 38-59, S. 54 
    8.vgl. Pain, Ėmil’ (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’naja stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007, S. 3, S. 38-59, S. 50 
    9.vgl. hierzu die Ausführungen von Alexander Below, Anführer der Bewegung gegen illegale Immigration: Belov, Aleksandr (2006): Imperskij marš russkogo buduščego 
    10.Nezavisimaja Gazeta: Vladimir Putin: Rossija: nacional’nyj vopros 
    11.Manche Nationalismusforscher sahen in dieser Position eine sowjetische Provenienz. Das Modell der Nation war dort zwar im Grunde etatistisch (Staatsnation), hatte aber zugleich einen starken ethnokratischen Anstrich: Alle sowjetischen Ethnien galten darin als „Brüder-Völker“, der russischen Ethnie stand allerdings faktisch stets zumindest die Rolle des primus inter pares zu, vgl. Kaspė, Svjatoslav (2012): Političeskaja teologija i NATION-BUILDING: obščie položenie, rossijskij slučaj, S. 71; Malinovna, Ol’ga (2011): Tema prošlogo v ritorike presidentov Rossii, in: Pro et Contra, maj–avgust 2011, S. 106-122, S.108; Pain, Ėmil (2015): Imperskij Nacionalizm, in: Obščestvennye nauki i sovremennost’, № 2, S. 54-71 
    12.levada.ru: Ksenofobija v 2017 godu 
    13.snob.ru: Analitiki zafiksirovali rost ksenofobii v Rossii 
    14.vgl. levada.ru: Monitoring Ksenofobskich Nastroenij  

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  • Infografik: Das Wahlwunder von Primorje

    Infografik: Das Wahlwunder von Primorje

    Fast wäre Andrej Ischtschenko Gouverneur geworden. Gouverneur des Primorski Krai mit der Hauptstadt Wladiwostok im Fernen Osten Russlands. Nachdem am Einheitlichen Wahltag am 9. September keiner der Kandidaten dort eine absolute Mehrheit erzielen konnte, kam es am Sonntag zur Stichwahl zwischen Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei und dem Interims-Amtsinhaber Andrej Tarassenko von Einiges Russland. Während der Auszählung sah es die meiste Zeit gut aus für den Kommunisten – doch dann änderte sich das Ergebnis schlagartig.

    Ein Kommunist als Gouverneur – das wäre im gegenwärtigen Russland eine Sensation gewesen. Von den über 80 Föderationssubjekten werden die allermeisten von Mitgliedern der Machtpartei Einiges Russland geführt, nur zwei Gouverneure sind dagegen von der KPRF. 

    Nun sah es lange so aus, als würde mit Andrej Ischtschenko ein dritter dazu kommen. Als 95 Prozent aller Protokolle aus den Wahllokalen ausgewertet waren, führte Ischtschenko noch mit fast 6 Prozentpunkten Abstand gegenüber seinem Kontrahenten Tarassenko (51,6 Prozent zu 45,8 Prozent). Medienberichten zufolge gab es später über eine Stunde lang keine Aktualisierungen mehr auf der Seite der Zentralen Wahlkommission

    Bei einem Auszählungsstand von 99 Prozent aller Protokolle sah das Ergebnis jedoch ganz anders aus: Plötzlich lag Interims-Amtsinhaber Tarassenko vorn. Im vorläufigen Endergebnis wird dessen Stimmanteil mit 49,55 Prozent angegeben, der von Ischtschenko mit 48,06 Prozent. Das bedeutet, dass die neuen bzw. geänderten Ergebnisse aus nur einer Handvoll Wahllokalen den plötzlichen Sprung im Gesamtergebnis verursacht haben. Welche das sind, lässt sich in unserer Karte mit der entsprechen Filterauswahl nachvollziehen:

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Die Auswahl „Neue Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren Protokolle um 6:41 Uhr Moskauer Zeit erstmals in der Gesamtrechnung berücksichtigt wurden. „Geänderte Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren bereits berücksichtigte Protokolle noch nachträglich umgeschrieben wurden. Dargestellt sind 1310 von 1537 Wahllokalen – für die fehlenden lagen keine Koordinaten vor. Quelle: ZIK

    Die KPRF spricht von Wahlfälschungen, ihr Kandidat Ischtschenko hat auf seiner Facebook-Seite zum Protest aufgerufen und einen Hungerstreik verkündet. Auch Wahlanalysten äußern Zweifel an einem regelkonformen Zustandekommen eines solch abrupten Wechsels in den Ergebnissen. So schreibt etwa Alexander Kirejew auf seinem Blog: „Genau so sieht es aus, wenn Wahlergebnisse nachträglich umgeschrieben werden.“ 

    Der Physiker Sergej Schpilkin, der auch schon Unregelmäßigkeiten etwa bei der Dumawahl 2016 oder der diesjährigen Präsidentschaftswahl publik gemacht hatte, weist auf Besonderheiten in der Stimmverteilung hin. Diese werden erkenntlich, wenn man die Ergebnisse aus den Wahllokalen nach deren Wahlbeteiligung sortiert und in einem sogenannten Histogramm darstellt:

     

    Quelle: ZIK

    Die Glockenkurve um die Spitze bei etwa 30 Prozent Wahlbeteiligung markiert für Schpilkin den Bereich, der am ehesten einer Gaußschen Normalverteilung gleicht, was Schpilkin als Indiz für eine weitgehend ehrliche Auszählung wertet. Dort hat tatsächlich der Kandidat der KPRF mehr Stimmen geholt. 

    Der Kandidat von Einiges Russland dagegen hat deutlich mehr Stimmen in den Wahllokalen mit überdurchschnittlich hoher Wahlbeteiligung geholt. Der berühmte „Zackenbart“, die Ausreißer bei bestimmten Wahlbeteiligungs-Werten am rechten Ende der Skala (oft bei runden Zahlen wie 80 oder 95 Prozent), die eine deutliche Abweichung von einer Normalverteilungskurve darstellen, deuten für Schpilkin auf erfundene Ergebnisse hin.

    Ella Pamfilowa, Chefin der Zentralen Wahlkommission, erklärte, dass man erst allen Beschwerden nachgehen wolle, bevor das amtliche Ergebnis der Gouverneurswahl im Primorski Krai verkündet wird. Dabei schloss sie auch eine Annullierung der Wahl nicht aus. 

    Update: Am 20. September hat die Wahlkommission des Primorski Krai die Ergebnisse der Stichwahl vom 16. September für ungültig erklärt. Eine Wiederholung der Wahl fand am 16. Dezember statt. Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei blieb die Zulassung zur Wahl verwehrt. Eine Reihe von Wahlbeobachtern sprach in diesem Zusammenhang von einem Verstoß gegen das Wahlrecht. Außerdem gab es zahlreiche Hinweise auf Wahlfälschungen. Laut offiziellem Wahlergebnis gewann Oleg Koshemjako, der neue Kandidat von Einiges Russland, mit rund 62 Prozent der Stimmen.

    Text und Datenvisualisierung: Daniel Marcus
    erschienen am 17.09.2018 (Aktualisierung: 17.01.2019)

    Diese Infografik wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

    Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt.1 Viele russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Sergej Medwedew zum Beispiel behauptet, dass Putins Politik dann im Einklang mit Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes stünde, wenn der Präsident gegen Normen verstößt2 – sei es bei systematischen Repressionen, die verfassungswidrig sind, oder bei der Angliederung der Krim, die das Völkerrecht verletzt. Andere Wissenschaftler betonen gar, dass Putins grundsätzliches Politikverständnis aus Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung bestünde. 

    Die Schmittsche Unterscheidung von Freund und Feind beschäftigt auch das unabhängige Lewada-Institut. Seit 2006 ermittelt es in jährlichen (außer 2008) Meinungsumfragen, wie die russische Gesellschaft das Verhältnis verschiedener Staaten zu Russland einschätzt:3 Welche fünf Länder sind Russland am freundlichsten gesinnt, welche am feindlichsten?


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Meinungsumfragen funktionieren in Russland nach einem besonderen Prinzip, meint der Soziologe Grigori Judin. Die Meinungsforscher nehmen sehr oft „einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“. 
    Diese Umfrage macht es besonders deutlich, denn die Antworten sind nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml, die wiederum auch die Fernsehnachrichten bestimmt, aus denen die meisten Menschen in Russland wiederum ihre Informationen beziehen. 
    Was sind dann solche Meinungsumfragen überhaupt wert? Zumindest zeigen sie den Trend, was schon für sich interessant sein kann. Außerdem spiegeln sie in Umkehrung der These von Judin auch die Abendnachrichten. In diesem Sinne sind Meinungsumfragen indirekte Mediendiskursanalysen. Schließlich zeigen sie auch, wie die (geäußerte) öffentliche Meinung in Russland gemacht wird. Im konkreten Fall heißt das, dass der Kreml Feindbilder forciert und damit die (geäußerte) Resonanz in der Gesellschaft erzeugt. Der Topos wird schon seit einigen Jahren von russischen Staatsmedien verbreitet: Russland sei von Russophoben umzingelt, die danach trachten, das Land genauso in die Knie zu zwingen wie in den 1990er Jahren. Auch im Inneren der belagerten Festung Russland gebe es feindlich gesinnte Menschen, die sogenannten ausländischen Agenten, also Agenten des eigentlichen Belagerers der Festung. 
    Viele Wissenschaftler meinen, dass die Konstruktion dieser Feindbilder von innenpolitischen Problemen ablenken soll und durch „Gefahren“ den sogenannten konstituierenden Anderen schaffe, der eine einende Kraft stiftet und so das Volk hinter dem Präsidenten versammelt.4 Feindbilder sind demnach also Legitimationsstrategien.

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten. Quelle: Lewada-Zentrum

    Russlands wichtigster Referenzpunkt

    Dieser Zusammenhang wird vor allem bei der Frage „Wie stehen Sie zu den USA?“ deutlich. Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab in dieser Meinungsumfrage mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.

    In letzterer bedeutet es auch, dass die USA seit 2013 zu den am feindlichsten gesinnten Staaten stets an erster Stelle stehen – 2018 glauben es 78 Prozent der Befragten. Bis zur Mitte der 1990er Jahre sahen das aber nur rund sieben Prozent so.5 Viele Wissenschaftler erklären den krassen Umschwung auch mit der jahrelangen antiamerikanischen Propaganda, die – angefangen mit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz6 – letztendlich in der Formel belagerte Festung gipfelte.7

    „Handlanger“

    Im feindlich gesinnten Fahrwasser der USA, so der Tenor von Staatsmedien, schwimme auch die Ukraine. Schon 2009 war das Land in der Umfrage nur wenige Prozentpunkte von den USA entfernt. Die Daten für 2008 fehlen, es ist aber wahrscheinlich, dass die Ukraine schon damals – und nicht erst 2009 – den Sprung von 23 auf 41 Prozent machte (der Wert bei den USA stieg entsprechend von 35 auf 45 Prozent). Der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko galt für die russischen Staatsmedien nämlich schon 2008 als ein Handlanger der USA. 2010 wurde Juschtschenko abgewählt, und da der neue Präsident Viktor Janukowitsch kremlnah war, wurde die Ukraine auch nicht mehr als feindlich gesinnt wahrgenommen: Der Wert fiel auf 13 Prozent.
    2013 lag er gar bei elf Prozent, doch vor dem Hintergrund des Euromaidans, der Krim-Angliederung und des Krieges im Osten der Ukraine kletterte er in der Folgezeit kontinuierlich auf 49 Prozent im Jahr 2018.

    Ähnlich verhielt es sich mit Georgien: Auch dort galt der Präsident (Micheil Saakaschwili) für die Staatsmedien Russlands als ein Handlanger der USA. 2008 entfesselte er zudem den Georgienkrieg, und 2009 besetzte Georgien die Spitzenposition im Ranking der feindlich gesinnten Staaten.

    Interessant ist auch die Entwicklung bei den baltischen Ländern: Abgesehen von besagten Ereignissen 2008 und 2009, waren sie bis 2011 stets in der Top-Fünf der feindlich gesinnten Staaten. Vor allem Estland sticht 2007 hervor – damals ging es um die Demontage eines Denkmals des sowjetischen Soldaten in Tallinn, was scharfe Kritik aus dem Kreml und eine entsprechende Kampagne in den staatlich-gelenkten Medien provozierte. Interessanterweise halbierte sich im Folgejahr der Wert bei Estland, auch Litauen und Lettland wurden in der Folgezeit immer weniger als feindlich gesinnt wahrgenommen.

    Sonderfall Türkei

    Von gestern auf heute zum Feind, morgen zurück – nach diesem Schema verlief 2016 die ermittelte Haltung zur Türkei. Von einem Prozent stieg der Wert auf 29, bevor er im Folgejahr auf acht Prozent fiel. Hintergrund war der türkische Abschuss eines russischen Kampfjets an der Grenze zu Syrien im November 2015. Ende Juni 2016 äußerte Erdogan in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss, kurz darauf gab es ein Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Danach waren die Beziehungen wieder so gut, dass manche Beobachter sich an Orwells 1984 erinnerten, wo Ozeanien abwechselnd mit Eurasien oder mit Ostasien Freund-Feind spielte.

    Sanktionen

    Einen steilen Ausschlag in der Statistik gab es 2018 für Großbritannien: Der Wert schnellte von 15 im Jahr 2017 auf 38 Prozent. Auslöser war der Fall Skripal. 27 Staaten entschlossen sich zu einem Schulterschluss mit Großbritannien und wiesen über 140 russische Diplomaten aus. Die russischen Machthaber protestierten, und die staatlich-gelenkten Medien ätzten in einer massiven Kampagne gegen Theresa May.
     
    Schon seit der Angliederung der Krim wettern sie gegen Angela Merkel. 2013 stand Deutschland noch mit 14 Prozent auf dem vierten Rang der freundlich gesinnten Länder, 2017 teilte es sich mit Litauen und Lettland aber schon den dritten Platz im Ranking der feindlich gesinnten. Da sich der Wert bei Frankreich nach 2014 nur minimal veränderte, liegt der Referenzschluss nahe, dass Merkel im Kreml als Motor der Einführung und turnusmäßiger Verlängerungen der EU-Sanktionen gegen Russland gilt. Deswegen wurde in russischen Staatsmedien gegen die Bundesregierung, weniger gegen Frankreich gehetzt.

    Freundlich gesinnte Staaten

    Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“, soll der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mal gesagt haben. Die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die er bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz Anfang 2017 in Richtung Russland losließ, deuteten einen Umschwung in der traditionellen Freundschaft an. Obwohl Belarus seit 2006 mit 34 bis 55 Prozent immer das Freunde-Ranking anführt, müsste der Beziehungsstatus wohl dennoch auf „es ist kompliziert“ geändert werden. So wird in jüngster Zeit in Belarus ein Verbot des St. Georgs-Bandes diskutiert – solche Initiativen bewerteten russische Staatsmedien aber als Affront gegen Russland. Außerdem gilt Lukaschenko für viele Beobachter ohnehin als zunehmend unberechenbar8, seine ständigen Volten und Pendelbewegungen könnten durchaus irgendwann in einer Westbindung münden. 

    Eine solche ist bei dem zweitplatzierten „freundlich gesinnten“ China in nächster Zeit nicht zu erwarten. Doch ließe sich der Beziehungsstatus von Russland und China eher als Zweckfreundschaft beschreiben. Bis zur Angliederung der Krim pendelte China nämlich bei etwa 20 Prozent, 2014 verdoppelte sich der Wert, auch 2018 steht er bei 40 Prozent.

    Damit überholte China die traditionelle Nummer zwei – Kasachstan. Der kasachische Präsident Nasarbajew war schon 1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1990 übernahm er nahtlos die Präsidentschaft. Russland verbindet mit Kasachstan nicht nur die längste Landgrenze, sondern auch die Nachbarschaft in Ranglisten der Pressefreiheit9 oder Bürger- und Freiheitsrechte.10

    Neu in der Top-Fünf der am freundlichsten gesinnten Länder ist seit 2016 Syrien. Zuvor unter „ferner liefen“, schnellte das Land auf den vierten Rang, 2018 zählen rund 21 Prozent der Befragten Syrien zu einem freundlich gesinnten Land.

    Wirksamkeit der belagerten Festung

    Diese Meinungsumfrage untermauert die Eingangsthese von Grigori Judin: Die öffentliche Meinung wird durch Fernsehnachrichten gelenkt, in denen der Kreml Feindbilder forciert. Da die öffentliche Meinung aber nur ein Produkt dieser Umfrage ist, bleibt es infrage gestellt, ob die Technologie des „konstituierenden Anderen“ tatsächlich zu einer wirksamen Legitimationsstrategie taugt. Die wirkliche Meinung der Menschеn in Russland bleibt nämlich ungewiss. Ebenfalls unbeantwortet bleibt also auch die Frage, ob es dem Kreml im Ergebnis gelingt, durch Feindbilder von den massiven innenpolitischen Problemen abzulenken. Und so liegt es für manche Politikwissenschaftler auf der Hand, dass die Legitimationsstrategie belagerte Festung eigentlich einer Ohnmacht gleiche.11 Ähnliches lässt sich übrigens auch von Carl Schmitts Freund-Feind-Schema behaupten.

    Grafik: Daniel Marcus
    Text: Anton Himmelspach
    Stand: Juli 2018


    1.vgl. Schmitt, Carl (1996): Der Begriff des Politischen, S. 26
    2.Forbes: Slovo suverena: počemu dlja ponimanija Putina nužen nemeckij filosof
    3.levada.ru: "Druz'ja" i "wragi" Rossii
    4.vgl. Pain, Emil (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’nogo stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007/3, S. 38-59
    5.polit.ru: Otnošenie k SŠA v Rossii i porblema antiamerikanizma
    6.vgl. rbc.ru: Ego Fulton: k desjatiletiju mjunchenskoj reči Vlamidira Putina
    7.vgl. republic.ru: Pjat’ mifov ob Amerike, tiražiruemych v Rossii und the-village.ru: Sociolog Lev Gudkov – ob effektivnosti propagandy v Rossii
    8.vgl. The New York Times (2014): As Crisis Saps Economy, Belarus Replaces Premier
    9.vgl. Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2018
    10.vgl. Freedom House: Freedom in the World 2018. Table of Country Scores
    11.vgl. Newtimes.ru: Lilija Ševcova: „Vopros liš’ v tom, soglasjatsja li ėlita i narod bezropotno vernut’sja v voennoe vremja, kuda ich stalkivaet vals’“

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Infografik: Die Wahl im Ausland

    Infografik: Die Wahl im Ausland

    Kurz nach der Präsidentschaftswahl am 18. März vermeldeten russische Medien diese Erfolgszahlen: Die Wahlbeteiligung im Ausland habe 98 Prozent betragen, rund 85 Prozent der Stimmen gingen an Putin. dekoder hat sich diese Zahlen genauer angeschaut und in einer Infografik abgebildet.

    Tatsächlich erklärt sich die hohe Wahlbeteiligung dadurch, dass sie im Verhältnis zu den Wählerlisten errechnet wurde – und nicht im Verhältnis zur Zahl der tatsächlich wahlberechtigten Russen im jeweiligen Ausland. Auf die Wählerliste gelangt jeder russische Bürger, der sich im Ausland zum Gang an die Wahlurne gemeldet hat – entweder schriftlich vorab oder mündlich am Tag der Wahl.

    So registrierten sich in Deutschland 33.860 Bürger mit russischem Pass für die Wahl – letzten Endes wählten davon 33.830, und 81,3 Prozent davon Putin. Insgesamt leben aber rund 500.000 wahlberechtigte Bürger mit russischem Pass beziehungsweise mit Doppelpass in Deutschland. Insofern liegt die tatsächliche Wahlbeteiligung extrem niedrig – bei etwa sechs bis sieben Prozent.

    Die große Mehrheit der Bürger mit russischem Pass in Deutschland hat also gar nicht gewählt.



    Im Drop-Down-Menü können Sie mit der Maus oder den Pfeiltasten die Wahlergebnisse der einzelnen Länder durchgehen / Quelle: ZIK (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Die meisten Stimmabgaben im Ausland gab es in der Republik Moldau, wo 80.013 Wähler ihre Stimmen abgaben. In Transnistrien bilden Russen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe. Putin erreichte dort sein bestes Ergebnis im Ausland und erhielt 95,5 Prozent der Wählerstimmen.

    In den Niederlanden etwa gingen insgesamt nur 2025 Personen an die Wahlurnen – mit 24,3 Prozent der Stimmen erreichte dabei Xenia Sobtschak, die Kandidatin gegen alle, ihr bestes Wahlergebnis im Ausland. Auch in Großbritannien, wo 3963 Leute wählten, machten 23,3, Prozent ihr Kreuzchen bei Sobtschak – während Putin dort mit 51,9 Prozent vergleichsweise schlecht abschnitt.

    Text: Tamina Kutscher
    Datenvisualisierung: Daniel Marcus

    erschienen am 22.03.2018

    Diese Infografik wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Infografik: Wahl 2018

    70/70 – das, so munkelte man bereits Monate vor der Wahl, sei die Zielvorgabe aus der russischen Präsidialadministration gewesen: 70 Prozent für den Amtsinhaber bei 70 Prozent Wahlbeteiligung. Und so kam es (fast) auch: Nach dem offiziellen Ergebnis wurde Wladimir Putin für weitere sechs Jahre im Amt bestätigt (s. auch unsere Debattenschau zum Thema). Wir haben uns die Zahlen genauer angeschaut und in drei interaktiven Infografiken aufbereitet.

    Offizielles Ergebnis 

    Mit einem vorläufigen Stimmenanteil von rund 77 Prozent konnte Putin sein bislang bestes Ergebnis aus dem Jahr 2004 überbieten, rund 56 Millionen Menschen stimmten diesmal für ihn: 

     


    Quelle: ZIK (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Unterschiede in der Wahlbeteiligung

    Bei der Dumawahl 2016 gab es je nach Region große Unterschiede in der Wahlbeteiligung, was vielfach als Indiz für Wahlfälschungen gewertet wurde. Die endgültigen Zahlen für 2018 stehen zwar noch nicht fest, der Wahlanalytiker Sergej Schpilkin sieht aber bei manchen Regionen eine ähnliche Tendenz, wenngleich in einem offensichtlich kleineren Ausmaß.  

     


    * Um die offiziellen Wahldaten vollständig abzubilden, sind auf der Karte auch die Krim und Sewastopol verzeichnet, die Russland seit 2014 als eigene Föderationssubjekte betrachtet. Gemäß dem Völkerrecht gehören diese Gebiete jedoch zur Ukraine. Mehr dazu in unserer Gnose: Krim-Annexion / Quelle: ZIK, Sergej Schpilkin (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Die Wahlbeteiligung beträgt nach vorläufigen Angaben (Stand: 19. März, 14:45 Uhr Moskauer Zeit) rund 67,5 Prozent. Damit ist sie höher als bei der Präsidentschaftswahl 2012, allerdings etwas niedriger als 2008. Die 70 Prozent-Vorgabe ist fast erfüllt – doch was sagen diese Zahlen aus? 

    Die Stimmverteilung gleicht diesmal mehr einer Gaußschen Glockenkurve (Normalverteilung) als bei der Dumawahl 2016, auch der berüchtigte Zacken-Bart fällt diesmal insgesamt kleiner aus. Für den Physiker Sergej Schpilkin bleiben nach vorläufigen Berechnungen rund 10 Millionen Stimmen verdächtig, insgesamt verortet er die Anzahl der Wahlfälschungen bei dieser Präsidentschaftswahl aber zwischen der Anzahl der Fälschungen bei den Wahlen 2004 und 2012. Das Wahlprozedere selbst verlief also dem erstem Anschein nach mit weniger Manipulationen als 2012. 

    Das gilt allerdings nicht für das Prozedere vor der Wahl: Die Zulassung zur Kandidatur wurde erschwert, kandidiert haben vor allem Systemoppositionelle. Es war also eine Wahl ohne wirkliche politische Konkurrenz. 

    Zwar vermeldeten Wahlbeobachter vereinzelt das Auffüllen von Wahlurnen, einige Beobachter durften Wahllokale sogar nicht betreten. Einen großen Anteil der Manipulationen machte aber nach vorläufigen Schätzungen die sogenannte Administrative Ressource aus: So wurden vermehrt Gruppen von Bjudshetniki gesichtet, die offensichtlich dazu angehalten wurden, an der Wahl teilzunehmen. Eine gesetzliche Wahlpflicht gibt es in Russland nicht, vielfach wird jetzt aber von einer Wählernötigung gesprochen.

    Die Staatsführung strebte eine hohe Wahlbeteiligung an, dazu wurde im ganzen Land wochenlang getrommelt. Angesichts einer derart massiven Mobilisierungskampagne, sei die Wahlbeteiligung allerdings doch recht dürftig, meint beispielsweise der Politologe Gleb Pawlowski in einem Interview mit dem unabhängigen Fernsehsender Doshd

    Während in Moskau und Sankt Petersburg rund 60 beziehungsweise 64 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne gingen, weisen etwa die Republiken des Nordkaukasus eine Wahlbeteiligung von über 90 Prozent auf – unter anderem in diesen Regionen konnte Putin auch die höchsten Stimmerfolge für sich erzielen.

    Keine Normalverteilung

    Der Physiker Sergej Schpilkin hat sich diese regionalen Unterschiede noch ein wenig genauer angeschaut und mit mathematischer Methode untersucht. Dazu hat er die Ergebnisse aller Wahlbezirke nach Wahlbeteiligung sortiert und in ein sogenanntes Histogramm eingetragen (s. Infografik oben).

    Dabei fällt auf, dass Putin – anders als seine Konkurrenten – überdurchschnittlich viele Stimmen vor allem dort geholt hat, wo die Wahlbeteiligung am oberen Ende der Skala lag. Bei Putin gleicht die Stimmverteilung keiner Gaußschen Glockenkurve (Normalverteilung), sondern einem Zacken-Bart. Schpilkin sieht darin ein starkes Indiz für Wahlfälschung.

    Um das Ausmaß der Anomalie einzuschätzen, hat Schpilkin die Stimmen aller Gegenkandidaten, die eher nach einer Normalverteilung aussehen, addiert und auf ein Vergleichsniveau skaliert (gestrichelte Linie), sodass sich die Spitzenwerte mit denen von Putin decken. Die Differenz zwischen Putins Ergebnis und der Vergleichskurve (grüner Bereich) markiert für Schpilkin den Anteil der verdächtigen Stimmen, etwa 10 Millionen Stimmen von rund 73 Millionen gezählten. Diese könnten durch Wahlmanipulationen zustande gekommen sein.

    Derartige Befunde sind für Wahlen in Russland keine Überraschung: Bei den Bolotnaja-Protesten nach der Dumawahl 2011 forderten Demonstranten auf ihren Plakaten „Gebt uns Gauß zurück!“, und auch bei der Dumawahl 2016 wurden ähnliche Unregelmäßigkeiten festgestellt. Die Novaya Gazeta hatte dazu damals Sergej Schpilkin nach seiner Methodik befragt.

    Text: Anton Himmelspach
    Datenvisualisierung: Daniel Marcus

    erschienen am 19.03.2018

    Diese Infografik wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Hier stirbt die Demokratie!

    Hier stirbt die Demokratie!

    Auf dieses Ereignis hatte die russische Gesellschaft fast ein ganzes Jahr gewartet, seit der Abdankung von Nikolaus II. im März 1917: Am 5. Januar (18. Januar) 1918 trat im Taurischen Palais in Petrograd die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Bis dahin hatte die Regierung, die im Zuge der Februarrevolution an die Macht gekommen war, sich als „provisorische“ bezeichnet. Die damaligen Regierungsmitglieder waren nämlich der Ansicht, dass über die Regierungs- und Verfassungsform in Russland erst noch ein Organ entscheiden soll, das durch eine allgemeine, freie und geheime Wahl bestimmt wird – die Verfassunggebende Versammlung.

    Die meist schwierigen Vorbereitungen dafür liefen über das Revolutionsjahr hinaus und auch der Oktoberumsturz der Bolschewiki stoppte sie nicht.

    Inwiefern die Wahlen Ende 1917 schließlich ihren demokratischen Ansprüchen entsprachen, darüber streiten Historiker immer noch. Tatsache ist aber: Die Bolschewiki, die seit Ende Oktober an der Macht waren, bekamen nur circa 22 Prozent der Stimmen und standen am 5. Januar im Taurischen Palais als Opposition da. Für Lenin war dies ein Rückschlag. Die Demonstrationen, die den Start der Versammlung unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen. Und schon am kommenden Tag unterschrieb Lenin ein Dekret zur Auflösung der Versammlung. Der russische Parlamentarismus war Geschichte.


    Quelle: Altrichter, Helmut (2017): Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Padeborn, S. 237-238

    Maxim Gorki, schon damals ein landesweit bekannter Schriftsteller, leitete zu der Zeit die parteiunabhängige, aber sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung Nowaja Shisn. Dort vergleicht er in seinem Artikel 9. Januar – 5. Januar die Niederschlagung der Arbeiterdemonstrationen mit dem Blutsonntag vom 9. Januar 1905 – und sagt das Ende der demokratischen Entwicklung in Russland voraus.

    Am 9. Januar 1905, als eingeschüchterte, geknechtete Soldaten auf Befehl des Zaren in eine Menge unbewaffneter, friedlicher Arbeiter schossen, liefen gebildete, kritisch denkende Arbeiter auf sie zu und schrien den Soldaten – unfreiwilligen Mördern – direkt ins Gesicht:

    „Was macht ihr Verfluchten? Wen bringt ihr da um? Das sind doch eure Brüder, sie sind unbewaffnet, sie haben nichts Böses im Sinn. Sie gehen zum Zaren, um ihn auf ihre Not aufmerksam zu machen. Sie fordern nicht einmal, sondern bitten, ohne Drohung, arglos und ergeben! Kommt zur Vernunft, was macht ihr nur, ihr Idioten!“ 

    Man sollte meinen, diese einfachen, klaren Worte, ausgelöst durch Kummer und Schmerz über unschuldig getötete Arbeiter, hätten Zugang zum Herzen des „sanftmütigen“ russischen Mannes im grauen Soldatenrock finden müssen.

    Doch der sanftmütige einfache Mann hat die besorgten Leute entweder mit dem Gewehrkolben geprügelt oder mit dem Bajonett auf sie eingestochen, oder er brüllte, zitternd vor Hass:
    „Auseinander, wir schießen!“

    Sie wichen nicht aus, und da schoss er gezielt, streckte Dutzende, ja Hunderte Leichen aufs Pflaster nieder.

    Der Großteil der Soldaten des Zaren antwortete auf die Vorwürfe und Anpfiffe niedergeschlagen und fügsam:
    „Befehl von oben. Wir wissen nichts – uns wurde befohlen …“

    Und wie Maschinen schossen sie in die Menschenmengen. Ungern vielleicht, widerwillig, aber sie schossen.

    Am 5. Januar 1917 demonstrierte eine unbewaffnete Sankt Petersburger Demokratie – Arbeiter, Hausangestellte – friedlich für die Verfassunggebende Versammlung.   

    Die besten russischen Leute hatten fast hundert Jahre lang von der Idee der Verfassunggebenden Versammlung gelebt – eines politischen Organs, das der gesamten russischen Demokratie Gelegenheit gegeben hätte, ihren Willen frei zu äußern. Im Kampf für diese Idee starben in Gefängnissen, in Verbannung und Zwangsarbeitslagern, an Galgen und durch die Kugeln der Soldaten tausende Intellektuelle und zigtausende Arbeiter und Bauern. Auf dem Opfertisch dieser heiligen Idee wurden Ströme von Blut vergossen – und die „Volkskommissare“ befahlen, die Demokratie zu erschießen, die für diese Idee demonstrierte. 
    Ich möchte daran erinnern, dass viele dieser „Volkskommissare“ selbst ihre gesamte politische Tätigkeit hindurch den Arbeitermassen die Notwendigkeit eingebläut hatten, für die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung zu kämpfen. 
    Die Prawda [dt. „Wahrheit“ – dek] lügt, wenn sie schreibt, die Demonstration am 5. Januar sei von der Bourgeoisie organisiert worden, von Bankiers und dergleichen, und zum Taurischen Palais seien vor allem Angehörige der Bourgeoisie und Kaledin-Anhänger marschiert.        
    Die Prawda lügt – sie weiß nur zu gut, dass für die Bourgeoisie die Eröffnung einer Verfassunggebenden Versammlung kein Grund zur Freude wäre, dass sie inmitten von 246 Sozialisten einer Partei und 140 Bolschewiki nichts zu suchen hätte. 
    Die Prawda weiß, dass an der Demonstration Arbeiter des Obuchow-Werks, der Munitionsfabrik und anderer Betriebe teilnahmen, dass unter den roten Bannern der Sozialdemokratischen Partei Russlands Arbeiter aus dem Wassileostrowski Rajon, dem Wyborgski und anderen Rajons zum Taurischen Palais zogen.

    Und genau diese Arbeiter wurden erschossen. Und wie viel die Prawda auch lügen mag, diese schändliche Tatsache wird sie nicht verbergen können.

    Die Bourgeoisie hat sich vielleicht gefreut, als sie sah, wie Soldaten und Rote Garden den Arbeitern die Revolutionsbanner aus der Hand rissen, darauf herumtrampelten und sie verbrannten. Möglicherweise freute jedoch auch dieser willkommene Anblick nicht alle „Bourgeoisen“, denn es gibt ja auch unter ihnen ehrliche Leute, die ihr Volk und ihr Land aufrichtig lieben.

    Einer von ihnen war Andrej Iwanowitsch Schingarjow, der von irgendwelchen Bestien heimtückisch ermordet wurde.

    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen
    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen

    Also, am 5. Januar schossen sie auf Arbeiter von Petrograd, auf unbewaffnete. Sie schossen ohne Vorwarnung, schossen aus dem Hinterhalt, durch Zaunritzen, feige, wie richtige Mörder.

    Und genau wie am 9. Januar 1905 fragten Menschen, die Gewissen und Verstand nicht verloren hatten, die Schießenden:
    „Was macht ihr Idioten? Das sind doch eure Leute? Seht doch – überall rote Fahnen, und kein einziges Plakat, das sich gegen die Arbeiterklasse wendet, kein einziger feindseliger Ruf gegen euch!“

    Und genau wie die Soldaten des Zaren antworteten auch diese Auftragsmörder: 
    „Befehl! Uns wurde befohlen zu schießen.“
    Und genau wie am 9. Januar 1905 staunte der Biedermann, dem alles egal ist und der bei der Tragik des Lebens immer nur Zuschauer bleibt:
    „Klasse, sie sperren sie ein!“ 
    Und überlegte hellsichtig:
    „Bald werden sie sich gegenseitig erschlagen!“

    Ja, bald. Unter den Arbeitern kursieren Gerüchte, dass die Rote Garde des Telegrafieunternehmens Ericsson auf Arbeiter im Rajon Lessnoi geschossen hätten und Arbeiter von Ericsson wiederum von der Roten Garde irgendeiner anderen Fabrik beschossen worden seien.

    Solche Gerüchte gibt es viele. Vielleicht sind sie nicht wahr, doch das hindert sie nicht daran, die Masse der Arbeiter auf ganz bestimmte Weise psychologisch zu beeinflussen.

    Ich frage die „Volks“-Komissare, in deren Reihen sich doch anständige und vernünftige Leute finden müssen:

    Ob ihnen klar ist, dass sie, sobald sie ihren eigenen Leuten die Schlinge um den Hals legen, unvermeidlich die gesamte russische Demokratie erdrosseln, alle Errungenschaften der Revolution zunichte machen?

    Ob sie das verstehen? Oder ob sie denken: Entweder wir sind an der Macht, oder es sollen doch alle und alles zugrunde gehen?

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Stalin: eine aufgezwungene Liebe

    Stalin: eine aufgezwungene Liebe

    Wie ist das zu erklären: Das renommierte Lewada-Institut hatte im vergangenen Jahr nach der herausragendsten Persönlichkeit Russlands gefragt. 38 Prozent der Befragten nannten Stalin, damit landete der einstige Diktator auf Platz 1, vor Puschkin und Putin.

    Die Politologin Ekaterina Schulmann geht auf Inliberty diesen Zahlen nach und damit der Frage: Warum ist Stalin so beliebt? Und sie stellt die Gegenfrage: Ist er das überhaupt?

     

    Schon seit 2002 gibt es in einer Stadt in Dagestan eine Straße namens Stalin-Prospekt. Sie erhielt diesen Namen auf Initiative des Bürgermeisters – und nicht etwa, weil die Bürger gedroht hätten, andernfalls das Rathaus in Brand zu setzen.

    Wenn man die Aktionen, Maßnahmen und Bekundungen anschaut, die sich als Anzeichen einer schleichenden Re-Stalinisierung oder einer Rehabilitierung Stalins deuten lassen, dann zeigt sich: Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine private Initiativen. So werden die Stalin-Denkmäler, die in letzter Zeit auftauchen und deren Anzahl tatsächlich wächst, meist unter der Ägide des jeweiligen KPRF-Ortsverbands errichtet.

    Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine privaten Initiativen

    Im Jahr 2009, in einer anderen politischen Epoche unter Präsident Medwedew, wurden bei der Restaurierung der Moskauer Metrostation Kurskaja folgende Worte der sowjetischen Hymne wiederhergestellt: „Uns erzog Stalin – zu Treue zum Volk“. Das rief Empörung hervor, wobei die Behörden argumentierten, dass das der historischen Wahrheit entspreche, dass lediglich in ursprünglicher Form wiederhergestellt werde, was hier einst gewesen sei.

    Die Moskauer Metro ist seither bekanntlich zu einem mächtigen Instrument der prosowjetischen und stalinistischen Propaganda geworden: Züge mit Stalinportraits oder Aktionen wie solche im Rahmen des Geschichtsfestivals Zeiten und Epochen 2017. Dabei ist klar, dass all das nicht von unten, aus dem Volk, kommt, sondern von der Metro-Administration und dem politischen Management der Stadt Moskau und der Russischen Föderation.

    2015 wurde in einem Holzhäuschen im Dorf Choroschewo ein Stalin-Museum errichtet, unter der Ägide des Kulturministeriums und mit persönlicher Billigung des Kulturministers.

    In den Jahren 2014, 2015 und 2016 gab es in Moskau Kunstausstellungen mit Stalinportraits und Bildern aus der Stalinzeit, die die bolschewistischen Führer verherrlichten. Diese Kulturschätze wurden nicht etwa auf Verlangen des Kunstpublikums oder der Museumsmitarbeiter in der Tretjakow-Galerie gezeigt. Natürlich gibt es durchaus Menschen – und es ist wichtig sich darüber im Klaren zu sein – die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen oder sogar bereit sind, für die Wiedererrichtung eines Stalindenkmals zu spenden.

    Natürlich gibt es durchaus Menschen, die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen

    Worin besteht denn die Funktion der Staatspropaganda? Indem sie von einer hierarchisch höheren Position aus agiert, etabliert sie von oben eine Norm. Sie sagt dem Publikum, was richtig, was akzeptabel und was überhaupt möglich ist. Sie schafft den Kontext, der den Leuten klarmacht: dass es ungefährlich, wenn nicht gar lobenswert ist, mit einem Stalin-Plakat herumzulaufen. Dass die zahlreichen Schriften zu seiner Rehabilitierung, die in den Buchhandlungen aller russischen Städte ausliegen, nicht als extremistisch eingestuft werden. Dass all das normal ist, dass es nicht strafbar, sondern womöglich unterstützenswert ist.

    Wenn es im Fernsehen und von staatlicher Seite heißt, man solle „niemanden dämonisieren und beide Seiten sehen, den Krieg haben wir ja schließlich gewonnen“, dann ist das ein Signal: Sowohl die, die tatsächlich positive Gefühle damit verbinden als auch die, die bisher keine Gefühle hatten, werden jetzt plötzlich welche haben; die, die bisher keine Meinung hatten, haben jetzt plötzlich eine, denn man hat ihnen gesagt, dass das normal und sogar gut ist.

    Konformismus ist der psychologische Normalfall – das mag man betrüblich finden, dennoch ist es wahr. Es liegt in der Natur des Menschen, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen und seine Meinung der landläufigen Meinung anzupassen. Deshalb tragen diejenigen, die im Namen des Staates, der allgemein Mächtigen sprechen, besondere Verantwortung. Das Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle, nicht als Nachrichtenmedium wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht. So und nicht anders nehmen die Menschen es wahr.

    Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht

    2008 wurde der TV-Wettbewerb Russlands Name durchgeführt: Es ging um die hundert bedeutendsten Russen. Die Idee ging auf den BBC-Wettbewerb Hundred Greatest Britons zurück, doch sie wurde auf landestypische Weise umgesetzt. Die Fernsehzuschauer sollten die hundert bedeutendsten historischen Gestalten wählen. Von denen sollte dann am Schluss ein Sieger übrigbleiben. Damals wurde keine Mühe gescheut und hartnäckig der Eindruck erzeugt, beim Zuschauervotum habe „eigentlich“ Stalin gewonnen. Da das jedoch unerhört gewesen wäre, habe der Erste Kanal am Ergebnis herumgeschraubt und Alexander Newski zum Sieger gemacht.

    Wie ist die Abstimmung damals wohl wirklich gelaufen? Wir haben seither an Erfahrung und Wissen gewonnen und können uns ungefähr vorstellen, wie eine sogenannte Willensbekundung des Volkes vonstatten geht, vor allem im Fernsehen. Doch hier ist das Modell vielleicht erstmals in dieser Deutlichkeit zu beobachten: „Sie wollen ihren Stalin, aber wir, die Machthaber, gehen vorerst noch nicht darauf ein. Wir versuchen noch, sie irgendwie zu besänftigen.“

     

    Blicken wir der Wahrheit ins Auge: Wir haben es hier mit Staatspropaganda zu tun. Der Staat drängt uns eine bestimmte Vorstellung davon auf, was normal und akzeptabel, was gut und rühmlich, was groß und überragend ist. Diese Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen.

    Wie lassen sich diese Bedürfnisse beschreiben, die die reale Basis von Stalins Popularität darstellen?

    Bestimmte Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen

    Diese Frage wurde mir erstmals bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gestellt: „Wie kann es sein, dass Stalin im Volk beliebt ist?“

    Wenn man direkt mit dieser Frage konfrontiert wird, beginnt man dieses ganz grundsätzliche Bedürfnis nach einer bestimmten Art von Gerechtigkeit zu verstehen: nach diesem paradoxen, anti-elitären Stalin. Den haben diejenigen im Sinn, die sagen: „Stalin hätte es euch schon gezeigt.“

    Stalin als Geißel der Nomenklatura, als derjenige, der sich mit den Reichen und Mächtigen anlegt und für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber. Vielen, die so reden, geht es um die Berufung auf ein strenges Gesetz, strikte Ordnung und Gleichheit, um eine Art ursprünglicher apostolischer Einfachheit.

    Aus Gesprächen mit Taxifahrern zu zitieren, gehört sich vielleicht nicht als Wissenschaftlerin. Aber auch ich habe mir schon anhören müssen, dass Stalin nur einen Mantel und ein Paar Stiefel hatte, während die jetzigen Machthaber in Saus und Braus leben und sich alles mögliche leisten. Dieses anti-elitäre Bedürfnis spielt hier ganz offenbar eine Rolle. Aber allein die Vorstellung, dass es überhaupt möglich, normal und ungefährlich ist, sich auf ihn als Instanz zu berufen, ist durch die staatliche Propagandamaschine gegeben.

    Stalin als derjenige, der für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber

    Anhand von Daten können wir überprüfen, inwieweit die jahrzehntelange Arbeit dieser Propagandamaschine erfolgreich war. Eine ganz einfache Frage des Lewada-Zentrums lautet: „Wie ist Ihre persönliche Einstellung zu Stalin?“ Wenn wir uns die Entwicklung der Antworten von 2001 bis 2015 ansehen, gibt es keine Anzeichen für radikale Veränderungen. Man kann nicht sagen, dass der Respekt, die Bewunderung und die Sympathie für Stalin stark zugenommen hätten.

     

     

     


    Quelle 1: Lewada-Zentrum / Quelle 2: Lewada-Zentrum. Falls die Infografiken nicht laden sollten, bitte hier aktualisieren.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Zurückgegangen sind Abneigung und Feindseligkeit. Gleichzeitig ist die Anzahl derer, die Stalin gleichgültig gegenüberstehen, stark angestiegen. Das erklärt sich durch das Fortschreiten der Zeit. Stalin ist als historische Gestalt schon sehr stark mythologisiert. Wenn es in einer Wendung, die uns zu Ohren kommt, heißt „Die Großväter haben gekämpft“, so müssen wir uns klarmachen, dass von der Generation der heute 30- bis 40-Jährigen kein einziger Großvater gekämpft hat. Ihre Großväter und Großmütter waren im Krieg Kinder. Für die jetzt tätige Bevölkerung liegt der Krieg sehr, sehr weit in der Vergangenheit. Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich in den Pantheon entrückt wie andere historische Persönlichkeiten, zum Beispiel Napoleon, bei dessen Namen man eher an eine Torte als an den französischen Kaiser denkt, oder Hitler, der als lustiges Bild-Mem im sozialen Netzwerk VKontakte herumspukt.

     

    Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich entrückt wie etwa Napoleon, bei dessen Namen man eher an die Torte als an den französischen Kaiser denkt

    Man mag das richtig finden oder nicht, es ist jedenfalls unvermeidlich. Die lebendige historische Erinnerung verschwindet nach und nach. Was bleibt, ist ein symbolisches Feld. Wir sehen also: Es ist schlichtweg nicht wahr, dass das ganze Volk Stalin liebt und dass das Bedürfnis, ihn zu bewundern und zu idealisieren, immer größer wird.

    Wie schätzt die Jugend diese historische Ära ein, die für sie so weit zurückliegt? Bei einer Erhebung im Jahr 2015 wurden russische und amerikanische Studenten gefragt, auf welche historischen Ereignisse in der Geschichte ihres Landes man stolz sein könne und welcher man sich schämen müsse.

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

    Die russischen Studenten nannten als wichtigsten Grund zum Stolz den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und als wichtigsten Grund zur Scham die Repressionen unter Stalin. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung unweigerlich auf halbem Weg scheitern muss, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird. Dennoch können wir feststellen, dass der moralische Kompass der jungen Leute im Großen und Ganzen gut funktioniert.

     

    Jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung muss unweigerlich auf halbem Weg scheitern, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird

     

    Schauen wir uns die Frage an, in welcher historischen Epoche das Leben in Russland am besten war.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

     

    Da sind die Ergebnisse wirklich interessant. Auffällig ist, dass nach 2014 erheblich weniger Leute in ihrer Antwort die Zeit vor der Revolution 1917 nennen. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber der Krim-Konsens hat verblüffenderweise dazu geführt, dass die gute alte Zarenzeit – die dobeszarja, wie es jetzt heißt – an Beliebtheit verloren hat. Die Stalinära wird kaum genannt, und es ist hier auch keine Veränderung festzustellen. Stalin zu verehren ist eine Sache, aber in dieser Epoche leben möchte man lieber nicht.

     

    Die Breshnew-Zeit wird als eher behaglich und ruhig angesehen, aber ihre Beliebtheit nimmt ab. Die Perestroika mag niemand, ebenso wenig die Jelzin-Zeit. Viele wissen nicht, was sie antworten sollen. Und da der zeitliche Abstand zwischen 1994 und 2017 ziemlich groß ist, finden die Leute, dass die Jetztzeit bei dieser kärglichen Auswahl doch eigentlich gar nicht so schlecht aussieht.

    Wie verhält sich die Einstellung zu Stalin und zur Stalinära – beides darf, wie wir gesehen haben, nicht gleichgesetzt werden – zu den allgemeinen sozialpolitischen Ansichten der Menschen? Aufschluss darüber geben Daten aus der Studie Protoparteiliche Gruppierungen in der russischen Gesellschaft in den 2000er und 2010er Jahren. Der Autor der Studie ist Kirill Rogow. Es handelt sich um eine zusammenfassende Auswertung von Meinungsumfragen, die das Lewada-Zentrum seit 18 Jahren durchführt.

    Besonders eng mit der Figur Stalins verbunden ist hier die Frage: „Brauchen wir jemanden, der mit harter Hand regiert?“

     

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

    Auch hier ist nach 2014 eine sehr seltsame Veränderung zu beobachten, für die es noch keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Vielleicht werden wir in fünf oder sieben Jahren sagen, dass sich das Jahr 2014 in Russland ganz anders auf die öffentliche Meinung ausgewirkt hat, als es uns im Fernsehen erzählt wurde. Nach 2014 sagten plötzlich immer mehr Leute, keinesfalls solle die ganze Macht einer einzelnen Person überlassen werden.

    Auch bei der Frage danach, welche Rechte den Russen am wichtigsten sind, ist in den letzten Jahren der rätselhafte, kontraintuitive „Post-Krim“-Effekt zu beobachten. Nach 2014 schätzten die Bürger das Recht auf Information und die Freiheit des Wortes drastisch höher ein. In Bezug auf das Eigentumsrecht dagegen zeigten sie sich etwas ernüchtert.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

     

    Aus diesem Diagramm lässt sich beim besten Willen nicht schließen, dass das Volk sich Autoritarismus wünscht und von einer harten Hand träumt.

    Der Gesellschaft wird ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen

    Der Gesellschaft wird also ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen. Was ist der Grund dafür? Warum muss man den Leuten sagen, sie würden von der Wiedereinführung der Todesstrafe träumen, obwohl sie das gar nicht tun?
    Warum erzählt man ihnen, sie seien ein Volk, das am liebsten Stalin wieder zum Leben erwecken würde und sich über Massenrepressionen freue?

    Das Regime befindet sich in einer ziemlich vertrackten Lage: Es will Macht und Ressourcen in den eigenen Händen konzentrieren und an der Macht bleiben. Dabei ist es keine vollwertige Autokratie, es verfügt über keinen entwickelten Repressionsmechanismus, über keine herrschende Ideologie, die es den Leuten aufzwingen kann. Es will sich aber auch nicht den Verfahren demokratischer Machtwechsel unterwerfen.

    Also hält es sich durch ein ganzes Arsenal an ziemlich raffinierten Instrumenten an der Macht. Zum großen Teil sind dies verschiedene Simulationsmodelle und -schemata, die zur Propaganda gehören. Einerseits werden demokratische Institutionen und Prozesse simuliert, wie zum Beispiel Wahlen, ein Mehrparteiensystem oder Medienvielfalt. Und bei all ihrer äußerlichen Vielfalt, sagen die Medien, ein- und dasselbe. Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition.

    Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition

    Andererseits müssen Sie als Machthaber die rhetorischen Instrumente der Autokratie simulieren – also, salopp gesagt, sich im öffentlichen Raum furchterregender geben als Sie sind. Dabei sollten Sie sich nicht als schrecklicher Diktator oder blutrünstiger Tyrann präsentieren, sondern, im Gegenteil, als zivilisierte und zurückhaltende Kraft, die ein rohes Volk mit autoritären Neigungen regiert, das sie immerzu bändigen und dessen Blutrünstigkeit sie dauernd beschwichtigen muss.

    Also müssen Sie ambivalente Botschaften aussenden, à la „Wir sollten Stalin nicht dämonisieren, sondern die Sache besser von verschiedenen Seiten betrachten“. Sie müssen den Eindruck erwecken, dass Sie dem ständigen Druck der Gesellschaft, die Archaisierung, Verschärfung, Feuer und Blut fordert, zugleich nachgeben und widerstehen, und dass es nur Ihrem Widerstand zu verdanken ist, wenn hierzulande noch nicht alle an Laternenmasten aufgeknüpft worden sind. Dabei sind Sie selbst der mächtigste Akteur und haben diesen Wunsch überhaupt erst erzeugt.

    Wozu ist es nötig, dem eigenen Volk einen so schlimmen Ruf anzuhängen? Um zu rechtfertigen, dass Sie permanent seine politischen Rechte einschränken, besonders das Wahlrecht. Wenn die Leute rohe, blutdürstige Barbaren sind, kann man ihnen natürlich nicht erlauben, bei den Wahlen ihre Regierung tatsächlich selbst zu wählen. Mal heißt es, sie würden dann einen „Hitler“ wählen, ein nationalistisches Schreckgespenst, dann wieder, sie würden einen „Stalin“ wählen – ein links-etatistisches Schreckgespenst. Beides wird als Argument benutzt, um das Selbstbestimmungsrecht der Bürger einzuschränken. Genau dafür braucht es die hohen Beliebtheitswerte Stalins.

    Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint. Aber das entspricht längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität.

    Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint

    Unsere Gesellschaft ist komplex, vielschichtig und heterogen. Beim Versuch, eine öffentliche Meinung zu ermitteln, eine gemeinsame Wertebasis der Bewohner Russlands, ergibt sich etwa folgendes Bild: Die russische Gesellschaft teilt die gewöhnlich als „europäisch“ bezeichneten Werte. Sie ist individualistisch, konsumorientiert, in vieler Hinsicht atomisiert, kaum religiös und vorwiegend säkular geprägt. Ihre Toleranz gegenüber staatlicher Gewalt ist recht niedrig – wiederum anders als gemeinhin gesagt wird.

    Die Werte der russischen Gesellschaft werden von Forschern in der Regel als „europäisch, aber schwach“ charakterisiert. Die Russen sind im Großen und Ganzen konformistisch und eher passiv und ihre Bereitschaft, die eigene Meinung zu äußern, ist nicht sehr ausgeprägt. Aber sie sind auch nicht aggressiv oder blutrünstig, und sie streben die Einführung eines autoritären Regimes in Russland weder an noch träumen sie davon.

     

    Um eine solche Gesellschaft mit undemokratischen Mitteln zu regieren, muss man sie natürlich falsch darstellen. Man muss ihnen das Stalinfähnchen in die Köpfe hämmern, um dann mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu sagen: „Schaut euch doch an, was das für welche sind.“

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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