дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Nawalny, Proteste – und wie geht’s weiter?!

    Nawalny, Proteste – und wie geht’s weiter?!

    Die landesweiten Proteste nach Nawalnys Rückkehr waren die größten in Russland seit 2011/12. Nachdem Sicherheitskräfte hart durchgegriffen hatten – laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info gab es mehr als 10.000 Festnahmen –, erklärte Nawalnys Stab nach dem Gerichtsurteil gegen den Oppositionspolitiker, die Proteste nun aussetzen zu wollen. In staatsnahen Medien wurden die Demonstrationen als „Kinder-Kreuzzug“ diskreditiert.

    Vergangenes Wochenende machten wieder Bilder die Runde in den Sozialen Medien, versehen mit dem Hashtag Liebe ist stärker als Angst. Statt zur Demo waren die Menschen zum Flashmob aufgerufen worden: Sie sollten abends für eine Viertelstunde raus vors Haus, ihre Handytaschenlampe anschalten oder eine Kerze anzünden. Auch wenn es am Abend selbst nur 19 Festnahmen gab – im Vorfeld waren zahlreiche Büros von Nawalnys Team durchsucht worden, einzelne Medien wurden angehalten, Berichte über die Aktion zu löschen. Die im Ausland ansässigen russischen Medien Meduza und Spektr gerieten ebenfalls ins Visier der Medienaufsichtsbehörde: Meduza musste einen Bericht über staatliche Reaktionen löschen, Spektr wurde aufgrund des Verweises auf die Aktion blockiert, weil es angeblich zu „Massenveranstaltungen“ aufrief, die „die bestehende Ordnung verletzen“ würden. Am heutigen Dienstag geht eine Verleumdungsklage gegen Nawalny in die nächste Runde vor Gericht. 

    Was machen all die Ereignisse der vergangenen Wochen mit der Stimmung im Land selbst? Wie viele Menschen stehen hinter Nawalny, wie viele hinter Putin? Und welche Aussichten gibt es, dass der Protest nach der angekündigten Pause weitergeht? 
    Lewada-Soziologe Denis Wolkow beantwortet diese Fragen auf Forbes anhand aktueller Umfrageergebnisse des Meinungsforschungsinstituts.

    In ganz Russland folgten die Menschen am Wochenende dem Aufruf zum Flashmob zur Unterstützung Alexej Nawalnys, wie hier in Jekaterinburg / Foto © Schtab Nawalnogo, Jekaterinburg
    In ganz Russland folgten die Menschen am Wochenende dem Aufruf zum Flashmob zur Unterstützung Alexej Nawalnys, wie hier in Jekaterinburg / Foto © Schtab Nawalnogo, Jekaterinburg

    Ohne jeden Zweifel ist Alexej Nawalny zur Hauptfigur des politischen Saisonauftakts geworden. Seine Rückkehr nach Russland, seine Verhaftung, die Veröffentlichung seines neuen Enthüllungsfilms im Internet, die rasche Gerichtsverhandlung und Verurteilung, der neue Prozess wegen Verleumdung eines Kriegsveteranen – das alles sorgt dafür, dass der Politiker seit einem Monat ständig Thema ist, sowohl im In- als auch im Ausland.
    Doch wie haben sich die Ereignisse auf die öffentliche Meinung in Russland insgesamt ausgewirkt, und was könnte uns in Zukunft erwarten? Dazu gibt es neue Umfragewerte.

    Gemäßigt empört

    Beginnen wir mit dem Film über den Palast. In drei Wochen wurde das Video über 100 Millionen Mal angeschaut – beispiellos für diese Art von Material. Die Umfragen bestätigen ein starkes Interesse an der Untersuchung, obwohl sie von etwas niedrigeren Zuschauerzahlen in Russland ausgehen: So haben 70 Prozent der Russen zumindest etwas von dem Film gehört. Wobei nur etwa ein Viertel der Befragten angab, den Film gesehen zu haben. Mit anderen Worten: Die Zahl der Zuschauer in Russland beläuft sich nach vorsichtigen Schätzungen auf etwa 30 bis 35 Millionen.

    Bei allen exorbitanten Zuschauerzahlen sind die Reaktionen auf den Film zurückhaltend. Nur knapp ein Fünftel der Befragten zeigte sich empört über die im Film geschilderten Tatbestände der Korruption – deren Einstellung zu Putin hat sich dementsprechend verschlechtert. Insgesamt überwiegen in der Gesellschaft jedoch Distanziertheit, der Unwille, sich mit den Details der Untersuchung zu beschäftigen, sowie die Bereitschaft, Putin zu rechtfertigen. Die Menschen sagen Dinge wie: „Und was ist daran neu?“, „Putins Palast – ja, und?“, „Der Präsident muss schließlich gut leben!“, „Nach 20 Jahren kann er sich das doch ruhig gönnen“ und sogar „Das ist doch bescheiden – sehen Sie sich mal die Gemächer von ganz normalen Staatsbeamten an!“.

    Viele ältere Befragte halten derartige Untersuchungen gar für eine Provokation aus dem Westen, einen Versuch, das Land zu destabilisieren. Viele werfen Nawalny vor, sozialen Unfrieden zu schüren. Diese in der russischen Gesellschaft weit verbreiteten Ansichten lassen sich nur schwer ins Wanken bringen. Ein, zwei Untersuchungen – selbst so effektvolle wie Nawalnys Filme – reichen da nicht aus.

    Immun gegenüber Enthüllungen

    Es darf daher nicht verwundern, dass es in der russischen Gesellschaft in den letzten Monaten keine großen Verschiebungen weder zugunsten Alexej Nawalnys noch zugunsten Putins gegeben hat. Die Zahl derjenigen, die Nawalnys Tätigkeit befürworten, liegt seit September vergangenen Jahres unverändert bei 20 Prozent. Demgegenüber ist unter dem Einfluss der jüngsten Ereignisse die Zahl seiner Gegner sogar leicht angestiegen – auf 56 Prozent (hier schlagen vor allem diejenigen zu Buche, die sich früher nicht für Nawalny interessierten). Etwas gestiegen ist das Vertrauen in Nawalny als Politiker, doch das wirkt eher so, als hätte er in den Augen seiner Sympathisanten ein neues Image: Sie sehen in Nawalny zunehmend eine Alternative zu Putin. Auf ein breiteres Publikum scheint sich diese Vorstellung allerdings nicht zu erstrecken.

    Auch die Einstellung zum Präsidenten hat sich nicht wesentlich verändert. Seine Zustimmungswerte sind seit Ende 2020 um einen Prozentpunkt gesunken (seit vergangenen September um fünf) und liegen heute bei rund 64 Prozent. Das Vertrauen in den Präsidenten ist innerhalb von drei Monaten um drei Prozentpunkte gesunken (auf 29 Prozent; gestellt wurde eine offene Frage, bei der die Befragten Politiker nennen sollten, denen sie vertrauen). Obwohl die Gründe für diese Veränderungen nur schwer eindeutig zu beurteilen sind, klingt das mehr nach den Auswirkungen der zweiten Welle von Corona-Verboten als nach einer Reaktion auf Nawalnys Untersuchung.

    Also bestätigt der Film die schlimmsten Befürchtungen derjenigen, die sowieso schon von den Machthabern enttäuscht sind – vor allem junge Leute, Internet-Nutzer und Follower von Telegram-Kanälen. Diejenigen, die die Regierung unterstützen, sind gewissermaßen immun gegen solche Enthüllungen.

    Man sollte anmerken, dass selbst in den sozialen Gruppen, die dem Regime am kritischsten gegenüberstehen, die Zahl der Loyalisten immer noch hoch bleibt (bis zur Hälfte der Befragten) – bei weitem nicht alle Kritiker des Regimes sind auch Befürworter Nawalnys. Der Anteil seiner Unterstützer bewegt sich in diesen Gruppen normalerweise zwischen einem Drittel und einem Viertel der Befragten.

    Proteste als „Aufstand der Kinder“ … 

    Kommen wir zu den Protesten. Die werden überwiegend negativ bewertet. Damit unterscheiden sich die jüngsten Ereignisse deutlich von den Protesten in Chabarowsk und sogar von denen in Moskau 2019. Damals war die Bevölkerung eher bereit, mit den Protestierenden zu sympathisieren. Wie sich unschwer erraten lässt, herrscht die negative Einstellung vor allem unter Vertretern der älteren Generation, Fernsehzuschauern und Unterstützern des Regimes vor.

    Der größte Vorwurf gegen die Organisatoren scheint darin zu bestehen, dass sie Jugendliche, Schüler und Kinder auf die Straße gelockt hätten. Charakteristisch ist folgendes Bild, das einer unserer Befragten äußerte: „Das ist ein Kreuzzug der Kinder“, die am Ende alle „in die Sklaverei verkauft“ würden. Dabei spielt es keine Rolle, dass dieser Eindruck den Fakten nicht standhält: Untersuchungen zeigen, dass die Hauptmasse der Demonstranten Menschen zwischen 25 und 35 Jahren waren – keineswegs Kinder. Das Bild des „Schülerprotests“ hat sich tief in die Köpfe eines großen Teils der Bevölkerung eingebrannt, und es wird schwer werden, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

    … und Nawalny als „Verführer der jungen Generation“ 

    Das Problem mit den Januar-Protesten ist also gar nicht, ob sie nach der Pause, die Nawalnys Stab ausgerufen hat, weitergehen. Es ist gut möglich, dass sie in irgendeiner Form weitergehen. Das Problem ist, dass die aktuellen Proteste beim Großteil der russischen Gesellschaft keinen Rückhalt finden. Das bedeutet wiederum, dass es schwierig wird, die Teilnehmerzahl zu steigern. Die Machthaber haben einen Nerv getroffen, indem sie die Proteste als einen Aufstand der Kinder und Nawalny als Verführer der jungen Generation zeichneten: die Überzeugung des überwiegenden Teils der älteren Bevölkerung, dass „wir unsere Jugend verlieren“ und dass wir diesen Prozess so schnell wie möglich unterbinden müssen, auch mit harten Mitteln.

    Ein weiterer Faktor, der ein Zunehmen der Proteststimmung hemmen könnte, ist die angelaufene Massenimpfung, die schrittweise Aufhebung der Quarantäne-Beschränkungen und die Rückkehr zum normalen Leben. Erinnern wir uns daran, dass im vergangenen Jahr schon die kurze Atempause zwischen der ersten und der zweiten Welle den Russen ein gewisses Maß an Optimismus einflößte und sie die Situation deutlich positiver einschätzen ließ.

    Nawalny versus Trägheit

    Das alles schmälert natürlich nicht die Verdienste von Alexej Nawalny und seinem Team. Die Umfragen zeigen, dass er heute der prominenteste Oppositionspolitiker ist. Er gehört längst zu den zehn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, denen die Russen am meisten vertrauen. Aber es bedurfte jahrelanger mühevoller Arbeit und ständiger Medienpräsenz, um dieses Vertrauen zu gewinnen. Ein Verschwinden aus den Nachrichten könnte ihn schnell in Vergessenheit geraten lassen. Die Frage ist, ob die politische Maschine, die Nawalny über die Jahre aufgebaut hat, auch ohne ihn funktionsfähig ist.

    Zudem wird die Wahrnehmung Nawalnys unter anderem auch von Faktoren beeinflusst, die nur geringfügig von seinen Bemühungen abhängen: vom Verhältnis von Internet- zu Fernsehpublikum, von den sinkenden Ratings der Machthaber, die vor allem auf ihrem eigenen Unvermögen beruhen, den Wohlstand der Bürger zu mehren, und anderen ureigenen Fehlern. Die Anstrengungen Nawalnys und seiner Mitstreiter prallen immer wieder auf die Toleranz der russischen Gesellschaft gegenüber Korruption, die Akzeptanz der staatlichen Gewalt, auf den Generationenkonflikt, auf die erlernte Hilflosigkeit, die in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet ist, sowie auf das Gefühl der Alternativlosigkeit der aktuellen Ordnung der Dinge. 

    Das Beispiel Nawalny zeigt, dass jeder, der in Russland etwas grundlegend verändern will, nicht nur gegen das Regime ankämpfen muss, sondern auch gegen eine ungeheure Trägheit in der Gesellschaft.

    Weitere Themen

    „Eine Revolution wird es nicht geben, aber …”

    „Das war vorhersehbar und dumm“

    „Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“

    Corona-Politik: Eine einzige Misere

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    „Die Menschen wollen Veränderung“

  • „Liquidierung“ von Abweichlern?

    „Liquidierung“ von Abweichlern?

    Der Begriff soziale Distanz ist heute in aller Munde. In den Sozialwissenschaften beschreibt er unter anderem den Abstand zwischen sozialen Gruppen: zwischen Ethnien zum Beispiel, Milieus oder sexuellen Orientierungen.

    In einem ähnlichen Sinn verwendet auch das Lewada-Zentrum den Distanz-Begriff: In einer langjährigen Studie untersucht das unabhängige Meinungs­forschungs­institut unter anderem, was die Gesellschaft über die Menschen denkt, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Schon in vergangenen Jahren haben einzelne Stimmen diese Untersuchungsreihe kritisiert, die Ausgabe vom April 2020 provozierte aber einen regelrechten Eklat, mit massiven Vorwürfen aus dem liberalen Lager.

    Während sogar einzelne Mitarbeiter des Umfrageinstituts Kritik an der Studie äußern, bricht der russische Poet Dimitri Kusmin eine Lanze für Lewada. Auf Colta argumentiert der bekannte Akteur der LGBT-Bewegung gegen die „nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum“.

    Sie denken wahrscheinlich, ich will das unabhängige russische Umfrageinstitut Lewada gegenüber dem Kreml verteidigen. Der hatte der Zeitung Vedomosti offenbar verboten, weiterhin Umfragen dieses Instituts zu veröffentlichen.

    Aber nein, zu dem Thema habe ich nichts beizutragen. Stattdessen verfolge ich mit Interesse die nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum aus einer Ecke, die allem Anschein nach dem Kreml ideologisch exakt entgegensteht. Es handelt sich um eine progressiv eingestellte Öffentlichkeit, die buchstäblich dasselbe Problem mit dem Lewada-Zentrum hat wie die Präsidialverwaltung: Dass die Soziologen das Volk so zeigen, wie diese Öffentlichkeit es nicht sehen will.

    Es geht um eine kürzlich durchgeführte Umfrage. In dieser sollten sich die Befragten dazu äußern, ob sie Menschen, die in irgendeiner Weise anders sind, nicht gerne ausrotten oder in die Verbannung schicken würden – wobei unter „anders“ alles Mögliche zusammengefasst war: von Sektenanhängern über Homosexuelle bis hin zu Feministinnen.


    „Das Schlimmste dabei ist, dass mit solchen Untersuchungen die öffentliche Meinung nicht nur erfasst, sondern auch geformt wird“, schreibt der Aktivist Karen Schainjan auf Facebook. Der Soziologe Wardan Barsegjan stimmt ein: „Terroristen und Pädophile werden da leichtfertig mit ganz normalen Menschen wie Feministinnen, Schwulen, Menschen mit HIV und Obdachlosen in eine Reihe gestellt.“

    Die Öffentlichkeit kritisiert nun einerseits, dass bereits die Fragestellung Homosexuelle und Terroristen unter einem Label vereint – als „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“. Andererseits würden die in den Antwortoptionen vorgeschlagenen radikalen Maßnahmen die Befragten dazu provozieren, eben diese Maßnahmen zu wählen. 


    Diese Überlegung ist ein hübsches Beispiel für das abstruse Selbstverständnis der Intelligenzija: Würden wir dem Volk nicht einflüstern, dass es den Wunsch haben könnte, jemanden zu strangulieren, der ihnen nicht gefällt, würde es da nie von selbst drauf kommen.

    Umfrageergebnisse widerlegen alle Vorwürfe

    Man sollte meinen, dass die jüdischen Pogrome zu Zeiten des Russischen Reichs ausreichen sollten, die glühenden Vertreter dieser Theorie etwas herunterzukühlen. Doch viel entscheidender ist die Tatsache, dass bei genauer Betrachtung die Umfrageergebnisse die vorgebrachten Vorwürfe sofort widerlegen.

    Erstens: Bei weitem nicht alle „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“, lösen bei den Befragten den Wunsch nach radikalen Maßnahmen aus. Obdachlose und HIV-Infizierte wollten beispielsweise nur zwei Prozent der Befragten gerne „liquidieren“, was nur knapp über dem Bereich einer normalen Messunsicherheit von eineinhalb Prozent liegt. Das Nebeneinander von Obdachlosen und Terroristen in ein- und derselben Frage führt also nicht dazu, dass die Menschen eher bereit sind, Obdachlose zu erschießen.

    Während 15 Prozent angeben, Drogenabhängige „liquidieren“ zu wollen, sind es bei Alkoholikern nur fünf Prozent. Es liegt nahe, diesen Umstand darauf zurückzuführen, dass Alkoholismus für die meisten Befragten ein „bekanntes Übel“ ist, mit dem sie schon lange und alltäglich zu tun haben, während Drogenabhängigkeit etwas ist, das sie nur aus dem Fernsehen kennen. Es fällt deshalb leichter, diesem Übel die vollständige Liquidation zu wünschen als dem dauerblauen Onkel Wassja von nebenan.

    Terroristen und Extremisten dürften wohl die wenigsten Befragten zu ihrem Bekanntenkreis zählen; aber auch was Vorhandensein von Feministinnen unter persönlichen Bekannten angeht, regen sich leise Zweifel. Und zu Schwulen und Lesben existiert eine Statistik, die ebenfalls vom Lewada-Zentrum stammt: In einer Umfrage von 2019 glaubten 89 Prozent der Befragten, weder Schwule noch Lesben persönlich zu kennen.


    Zweitens liegt bei dieser Frage eine statistische Tendenz vor: Das Lewada-Zentrum führt diese Umfrage bereits seit 1989 durch. In diesem mich persönlich betreffenden Abschnitt über Schwule und Lesben ist Folgendes wichtig: In der ersten Umfrage von 1989 ist die negative Einstellung [Schwulen und Lesben] gegenüber auf ihrem historischen Maximum. Ein historisches Minimum zeigt die Umfrage von 1999. Danach gibt es einen Rollback, bis sich das Bild zum Jahr 2008 hin insgesamt stabilisiert: Die Zahlen von 2008 und 2020 unterscheiden sich nur minimal, eine leichte Verschlechterung sehen wir jeweils 2012 und 2015 (am deutlichsten ausgeprägt war die Tendenz zur Menschenfeindlichkeit im Jahr 2015, was [der Politikwissenschaftler] Iwan Preobrashenski zurecht auf die Welle aggressiver Propaganda im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zurückführt).

    Was sagt uns das? Vor allem: dass eine negative Formulierung eine Umfrage nicht daran hindert, eine positive Tendenz aufzuzeigen, wenn es eine gibt. Bedeutsam ist außerdem, dass die signifikante Verbesserung der Einstellung zu Schwulen und Lesben in die liberale Zeit unter Jelzin fällt und mit dem Beginn der Putinschen Stabilität im Jahr 2000 endet – und nicht etwa mit dem Aufkommen der Propaganda gegen Homosexuelle 2012 und 2013, deren Auswirkung den Umfragewerten zufolge kurzfristig minimal war und langfristig bei Null liegt.

    Positive Tendenz – trotz negativer Formulierung

    Natürlich müssen wir alle besser arbeiten, auch die Soziologen. Die Meinung von Aktivisten und Vertretern der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen, auch bei der Formulierung von Fragen, ist keine schlechte Idee – aber kein Selbstzweck. 2019 wurde eine Umfrage zur Einstellung gegenüber Schwulen und Lesben durchgeführt, und zwar unter Mitwirkung einer der führenden russischen LGBT-Organisationen, der Gruppe „Wychod“ [„Coming out“]. Was meinen Sie, was dabei herauskam? Negativ äußerten sich immer noch die etwa gleichen 56 Prozent der Befragten. Nur, dass die liberal gesinnten Journalisten nicht darauf abzielten, sondern lieber titelten: „47 Prozent der Russen sprechen sich für die Gleichberechtigung der LGBT-Gemeinschaft aus“ – eine perfekte Täuschung. Die Frage lautete, ob Schwule und Lesben „die gleichen Rechte wie andere Bürger“ haben sollen. (Es ist natürlich lobenswert, dass 47 Prozent dafür waren, aber hier fehlte die nächste Frage: „Dürfen Schwule und Lesben als Lehrer arbeiten?“ Erst damit hätte man ein Bild davon bekommen, welche „gleichen Rechte“ die Befragten im Sinn haben.)

    Stockholm-Syndrom der russischen Gesellschaft

    Was sagt uns dieses ganze Zahlen-Kaleidoskop? Das, was wir auch ohne die Zahlen bereits wissen: Die Konzentration des Hasses ist in Putins Russland extrem hoch. Dieses Regime ist quasi auf Hass erbaut. Gegen wen er sich richtet, ist dabei fast nebensächlich: In der Umfrage von 2015 waren unter den Personen mit „abweichendem Verhalten“ auch Punks und Goths aufgeführt – welche Punks im Jahre 2015, fragt man sich? Die muss man doch in den Archiven suchen! Aber der Hass hat ein gutes Gedächtnis: Elf Prozent der Befragten wollten sogar die Punks „liquidieren“ („isolieren“ wollten sie weitere 19 Prozent).

    Ständig daran zu denken, dass die Aggression der stabile emotionale Hintergrund der Gesellschaft ist, in der man lebt, das ist psychologisch schwer. Wenn man die Menschen daran erinnert, legen sie allmählich Elemente des Stockholm-Syndroms an den Tag: Schuld sind dann nicht mehr die, die hassen oder den Hass als Administrative Ressource benutzen, sondern diejenigen, die dafür sorgen, dass wir den Hass nicht vergessen.

    Weitere Themen

    „Das fehlte noch, die Schwulen schützen“

    „So eine Hetzjagd auf Schwule gab es noch nie“

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    LGBTQ

    Video #14: Erste Homoehe in Russland registriert

    Video #17: Schwuler in Pflege

    Infografik: Fremdenfeindlichkeit nimmt zu

    Infografik: Nationalstolz und Identität

  • Tiefer Riss in Zahlen

    Tiefer Riss in Zahlen

    „Werden Sie bei der Volksabstimmung für oder gegen die Verfassungsänderung stimmen?“, so hatten die Lewada-Soziologen 1624 Personen gefragt. Am 27. März veröffentlichte das unabhängige Meinungsforschungsinstitut die Ergebnisse seiner Umfrage zur geplanten Verfassungsänderung. Diese sieht unter anderem eine Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins vor, so dass dieser bei der nächsten Präsidentschaftswahl wieder kandidieren kann.

    Die Umfrageergebnisse zeigen, wie gespalten die Gesellschaft in dieser Frage ist. Für viele Sozialwissenschaftler und Polittechnologen waren die Zahlen überraschend. Bisher hatte Putin in Umfragen immer noch auf relativ breite Unterstützung zählen können. Während der rasanten Ausbreitung des Coronavirus in Russland werden solche Zahlen zu einem wichtigen Gradmesser: für die Volksabstimmung selbst, die viele eher für eine „kosmetische“ Maßnahme halten, aber auch für die Bewertung des Seuchenmanagements durch den Kreml. 

    Wie hängt die Operation Amtszeitverlängerung mit dem Coronavirus zusammen? Warum kamen die Umfrageergebnisse erst zweieinhalb Wochen, nachdem die Duma einer Annullierung der Amtszeiten zugestimmt hatte? Und was bedeuten die Ergebnisse überhaupt? The New Times teilt einen vieldiskutierten Facebook-Kommentar des Soziologen Grigori Judin. 


    *Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen?
    Zweieinhalb Wochen brauchte es, bis wir endlich diese Zahlen über die Reaktion der Bürger auf die unbefristete Präsidentschaft Putins bekommen haben. Und sie bestätigen genau das, was ich gesagt habe: Das Land ist in dieser politischen Schlüsselfrage gespalten. 

    1. In diesen Zahlen steckt noch viel mehr Interessantes. Doch erst einmal nur ein wichtiger Punkt: Es gibt nicht nur eine Spaltung in halb-halb. Es finden sich darin vielmehr alle Voraussetzungen für einen handfesten Gesellschaftskonflikt. Denn die Spaltung erstreckt sich entlang der Grenzen sozialer Gruppen: Die hypothetische „Partei der Veränderungen“ ist jünger, die „Partei der Angst“ ist älter (mit der Unterscheidung zwischen Moskau und Provinz wäre ich nicht allzu voreilig: Diese Effekte lassen sich leicht mit unterschiedlichen Ausschöpfungsquoten erklären). Ich bin fast überzeugt davon, dass diese zwei Parteien sich in der Mediennutzung unterscheiden. Insgesamt bildet sich in Russland gerade eine breite Schicht heraus (knapp die Hälfte der Einwohner), die eine progressive Politik fordert. Sie ist bislang überhaupt nicht repräsentiert.


    *Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen? (Anteil nach Altersgruppen)

    2. Die Antworten auf die Schlüsselfrage sind sehr ungewöhnlich verteilt: Eine sehr deutliche Position (kategorisch ablehnend gegenüber einer unbefristeten Präsidentschaft) vertreten bedeutend mehr Befragte als eine „eher ablehnende“ Position. Das heißt, dass sich unter den Gegnern der Wahlmonarchie ein großer Kern gebildet hat, der nicht willens ist, über dieses Thema zu verhandeln. Es bedeutet auch, dass für einen erheblichen Teil der russischen Bürger die Annullierung der Amtszeiten eine wirklich wichtige Frage ist.

    3. Die Kremlmanager verfügen schon seit zweieinhalb Wochen über Zahlen. Sie hatten sogar noch weitaus mehr Daten. Deswegen müssen alle Handlungen der letzten Zeit als Handlungen unter Berücksichtigung dieser Zahlen gewertet werden – die Verschiebung der Abstimmung und die neue Besteuerung inbegriffen. Das, was als Maßnahmen im Kampf gegen das Virus verlautbart wurde, ist in vielerlei Hinsicht ein Versuch, ein sehr viel ernsteres politisches Problem zu lösen.

    4. Dieser Artikel [auf Vedomostidek] enthält sehr wichtige und richtige Kommentare von den Soziologen Lew Gudkow und Dimitri Badowski. Badowski sagt geradeheraus, dass die beiden Hauptmöglichkeiten, das Problem der Spaltung zu lösen, darin bestehen, 1) die Gegner einer lebenslangen Präsidentschaft einfach dazu zu bringen, ihre Position nicht zu äußern, 2) die lebenslange Präsidentschaft hinter anderen Verfassungsänderungen zu verbergen. Mit anderen Worten: Putins Schritt verursacht zu viel Gegenfeuer – er hat zu viele Gegner, und man kann mit ihnen nur fertig werden, wenn man sie nicht zu Wort kommen lässt. 

    Ich stimme Badowski nur in dem einen Punkt nicht zu, dass die Spaltung stark von der Qualität des Seuchenmanagements abhängen wird. Es geht um die viel grundlegendere Frage nach der Konservierung des Landes (Putin ist das Symbol dieser Konservierung) und ob man mit der absoluten, unbegrenzten Macht einverstanden ist.

    5. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es zweieinhalb Wochen keine Zahlen gab – und zwar gab es sie vor allem gerade deshalb nicht, weil sie die Spaltung zeigen. Gäbe es keine Spaltung, hätten Sie diese Zahlen schon längst gesehen. 
    Der Umfragesektor in Russland ist so beschaffen, dass der Gesellschaft Informationen über wirklich wichtige öffentliche Themen möglicherweise genau in dem Moment nicht zugänglich sind, in dem es darauf ankommt.


    *Welche Gefühle hatten Sie, als die Staatsduma die Verfassungsänderung hinsichtlich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten annahm?

    Weitere Themen

    Der Moskauer, den es nicht gibt

    Verfassungsstreich im Eiltempo

    Das russische Gesundheitssystem

    Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

    Das System Putin

    Russland – coronaresistent?

  • Gerechtigkeit statt harte Hand

    Gerechtigkeit statt harte Hand

    66 Prozent der Menschen in Russland äußern ihre Zustimmung für die Tätigkeit des Präsidenten. Gleichzeitig meinen nur sechs Prozent, dass die Staatsmacht gerecht ist. Wie geht das zusammen? Viele russische Beobachter haben schon versucht, diesen Widerspruch aufzulösen. Etwa unter Verweis auf die häufig als alternativlos empfundenen Herrschaftsverhältnisse, die zudem in Russland ja nie anders gewesen seien. Vor allem vor dem Hintergrund von sinkenden Zustimmungswerten für Putin liefern Soziologen nun Antworten auf das scheinbar widersprüchliche Phänomen. 

    Manche von ihnen, wie etwa Grigori Golossow, halten angesichts des steigenden Rufs nach Veränderung sogar eine Perestroika 2.0 für möglich. Andere sind da vorsichtiger. Wie Wladimir Petuchow – einer der Gründerväter der modernen russischen Soziologie. Auf Vedomosti analysiert der Wissenschaftler die aktuellen Zahlen – und widerspricht dabei dem häufigen Eindruck, „dass im Land viel passiert, aber sich kaum etwas ändert“.

    In den letzten Jahren, besonders 2017 und 2018, gab es einige signifikante Verschiebungen – in der öffentlichen Meinung und in den Erwartungen der russischen Bürger. Das zeigen Forschungsergebnisse der RAN (Rossijskaja Akademija Nauk, dt. Russische Akademie der Wissenschaften). Am auffälligsten ist dabei das Bröckeln des paternalistischen Konsens. Dieser hat  sich, verglichen mit dem Krim-Konsens, als wesentlich beständiger erwiesen, war er auch weniger klar ausgedrückt. Sein Kern ist schnell zusammengefasst: Loyalität zur Regierung im Tausch dafür, dass sie sich aus dem Privatleben der Bürger heraushält und eine grundlegende soziale Absicherung bietet – wenn auch nicht für alle, so doch für den Großteil der Bürger. 

    Dieser Konsens fußte auf einer mehr als ein Jahrzehnt andauernden Phase des wirtschaftlichen Wachstums, die mit wenigen Unterbrechungen bis 2014 andauerte. Sie ermöglichte es den Menschen, sich um ihre privaten Angelegenheiten zu kümmern und die Lösung gesellschaftspolitischer Fragen der Regierung zu überlassen. Ob die Regierung etwas tat oder nicht, stieß dabei kaum auf Interesse. In diesen Jahren galt Stabilität als das höchste Gut. Daher gab es auch keine Forderungen nach Veränderung – weder wirtschaftlich noch politisch.

    Fundamentaler Richtungswechsel

    Doch schon die nächste Krise, gefolgt von einer wirtschaftlichen Depression, veränderte die Zukunftspläne vieler Russen oder machte sie sogar zunichte. Schließlich erkannten die meisten, dass ein Festhalten am Status Quo angesichts der wirtschaftlichen Depression und des Verfalls sozialer Einrichtungen die Stagnation und die Krisenerscheinungen nur befördert, was wiederum zu einer weiteren Verschlechterung der ohnehin schon schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage eines jeden Einzelnen führt. Hinzu kommt, dass die Regierung selbst in letzter Zeit recht eindeutige Botschaften an die Bürger sendet: Der paternalistische Konsens der Nullerjahre habe sich erschöpft, und nun sei es an ihnen, sich selbst und ihre Familien zu versorgen. 

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Daraus erklärt sich der fundamentale Richtungswechsel in der öffentlichen Meinung und den Erwartungen: Zwischen 2012 und 2016 wuchs der Anteil der Russen, die finden, das Land brauche grundlegende Veränderungen sowie politische und wirtschaftliche Reformen, von 28 auf 56 Prozent. Er hat sich also verdoppelt. Gleichzeitig sank die Zahl der Befürworter des Status Quo von 72 auf 44 Prozent. 

    Weder radikal noch revolutionär

    Da die moderne russische Gesellschaft sehr heterogen und fragmentiert und die gegenwärtige Polit- und Wirtschaftselite alles andere als eine glühende Anhängerin des Wandels ist, unterbreitet sie dem Volk auch keine realistischen Zukunftsstrategien. Darum trägt die Forderung nach Veränderung einen amorphen und meist wenig zielgerichteten Charakter. Es handelt sich wohl eher um eine Ansammlung von Wünschen: Dringliche soziale Probleme sollen gelöst und verschiedenste Formen der Ungleichbehandlung aufgehoben werden. Solche Forderungen sind weder radikal noch von revolutionärem Pathos durchdrungen. Die Zahl der Befragten, die sich für Veränderungen aussprachen, gleichzeitig aber fanden, das Land brauche einen allmählichen, vorsichtigen Wandel, ist doppelt so hoch wie die Zahl jener Menschen, die sich schnelle und tiefgreifende Veränderungen wünschen (60 zu 30 Prozent).

    Umfragen belegen außerdem, dass viele Russen, weil sie keine klaren Richtlinien für die Zukunft sehen und wegen dieser Ungewissheit besorgt sind, nichts dagegen hätten, zum vergleichsweise ruhigen Zustand der Nullerjahre zurückzukehren, als das Erdöl teuer war, die Löhne stiegen und Russland deutlich weniger Feinde hatte als heute. Im Bewusstsein eines Großteils der Gesellschaft verdrängt die Nostalgie nach Putins ersten zwei Amtszeiten allmählich sogar jene nach dem goldenen Zeitalter der Stagnation unter Breshnew.   

    Der Unterschied zur Zeit der Perestroika

    Darin unterscheidet sich die Situation von der vor 30 Jahren, als in unserer Gesellschaft das letzte Mal heftige Forderungen nach Veränderung aufkamen. Damals war vor allem in der Anfangsphase die Regierung mit Michail Gorbatschow an der Spitze die treibende Kraft. Erst später gaben aktivistisch orientierte Gruppen und Kreise diesen Veränderungen eine neue Ausrichtung und Agenda
    Aber es gibt noch einen wichtigen Unterschied: Gerade im Vergleich zur Jelzin-Zeit machen sich die heutigen Russen weniger Hoffnungen und Illusionen in Bezug auf den Staat. Forderten unsere Mitbürger in den 1990er Jahren buchstäblich den Staat zurück, der sie ihrem Schicksal überlassen hatte, so lässt sich in den letzten Jahren ein entgegengesetzter Trend beobachten: Der Staat verblasst zunehmend als zentrales Element, um gute Lebensumstände für alle zu erreichen. Denn immer mehr Menschen zweifeln daran, dass der Staat alltägliche, routinemäßige, nicht auf einen schnellen propagandistischen Effekt zielende Aufgaben lösen könnte, die zu einer Erhöhung der Lebensqualität führen. 
    So erscheint den Russen ein vom Präsidenten angekündigter Durchbruch im Bereich der Technik und Wissenschaft in den nächsten zehn Jahren realistischer als beispielsweise eine Sanierung der Straßen im selben Zeitraum, erst recht, wenn es um die russische Provinz geht.   

    Selbstverantwortung statt Sozialstaat

    Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass zahlreiche Gruppen und Schichten aufgetaucht sind, die den Sozialstaat für unnötig erklären oder schlicht seine Effektivität anzweifeln. Außerdem sprechen sie sich für mehr individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung aus. 
    Der Anteil der Russen, die angeben, sich ohne staatliche Unterstützung versorgen zu können, wächst langsam, aber beständig: 2015 waren es 44 Prozent der Befragten, heute sind es schon fast 50 Prozent. Unter den heute 18- bis 30-Jährigen sind es sogar 62 Prozent. In dieser Alterskohorte geben nur 38 Prozent an, dass sie und ihre Familien ohne staatliche Unterstützung nicht überleben könnten.

    Gleichzeitig sind diese „selbstverantwortlichen Russen“ im Großen und Ganzen regierungsloyal. Die Zustimmung für Präsident Putin unter ihnen ist ähnlich hoch wie unter denjenigen Menschen, die eine staatliche Unterstützung für sich und ihre Familie für notwendig erachten. Aber das ist nicht ungewöhnlich, denn Selbstverantwortung muss keineswegs in Opposition zum Staat stehen. 

    Sollten die Interessen des Staates Vorrang vor den Rechten des Individuums haben?

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Bemerkenswert ist allerdings, dass viele von ihnen die Interessen des Staates nicht über die Interessen der Bürger stellen. Nur 29 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass „die Interessen des Staates Vorrang vor den Rechten des Individuums haben sollen“. 36 Prozent verneinen diese Aussage und ein relativ großer Anteil (35 Prozent) zeigt sich unentschieden. Besonders oft verneinen Bewohner von Megastädten die Aussage (42 Prozent, gegenüber 26 Prozent Zustimmung). Insgesamt verneinen sie Befragte aus nahezu allen Gruppen und Bevölkerungsschichten (mit Ausnahme der über 60-Jährigen). 

    Die „harte Hand“ verliert an Anziehungskraft

    Auch die ehemals populäre Idee der sogenannten harten Hand, die dann angeblich für Ordnung im Land sorgt, verliert ihre Anziehungskraft. Auf die Frage „Welche Ideen entsprechen am ehesten Ihren Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft für Russland?“ gab es folgende Antworten (Platz 1 bis 5): soziale Gerechtigkeit (59 Prozent); Demokratie, Menschenrechte, Recht auf freie Selbstentfaltung (37 Prozent); Russlands Wiedererlangung des Status einer führenden Weltmacht (32 Prozent); Rückkehr zu nationalen Traditionen und moralischen Werten (27 Prozent), starke, durchgreifende Regierung, die Ordnung gewährleistet (26 Prozent). „Maskuliner Herrschaftsstil“ rangiert als Idee also nicht nur hinter der Idee der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch um fast zehn Prozentpunkte hinter der Idee der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechts auf freie Selbstentfaltung.

    Welche Ideen entsprechen am ehesten Ihren Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft für Russland?

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Anders gesagt: Im Land für Ordnung zu sorgen ist eine Losung von Gestern oder sogar von Vorgestern. Die heutigen Russen beschäftigen ganz andere Probleme, die sich auf administrativem Weg nicht lösen lassen. Allen voran ist es die Situation im sozialen Bereich, die unsere Mitbürger heute sogar für besorgniserregender erachten als mögliche materielle Einbußen. Deswegen verlangen die Russen von der Regierung keine Härte, sondern vor allem Effektivität. Und die Achtung des Gesetzes durch alle Menschen – auch durch die Machthaber. Wobei die Gleichheit vor dem Gesetz für die Russen gleichbedeutend ist mit Gerechtigkeit und Demokratie.

    Weitere Themen

    Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Umzingelt von Freunden?

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    „Die Menschen wollen Veränderung“

    Stört die Rente den WM-Frieden?

  • Infografik: Nationalstolz und Identität

    Infografik: Nationalstolz und Identität

    Regelmäßig führt das renommierte Lewada-Zentrum repräsentative Umfragen durch, in denen es – unter anderem – im weitesten Sinne um kollektive Identitäten (und ihre Definitionen) geht. Auch 2017 und zuletzt im November und Dezember 2018 wurden 1600 Personen in Interviews zu Hause befragt.

    Die Ergebnisse der vergangenen Jahre hat dekoder in Infografiken aufbereitet, detaillierte Informationen und Hintergründe zum Phänomen gibt es in den Russland-Analysen Nr. 365: Lusine Grigoryan und Vladimir Ponizovskiy analysieren die Entwicklung der nationalen Identität anhand der Einstellungen der Russen Immigranten gegenüber; Elizaveta Gaufman untersucht den modernen Nationalismus in sozialen Netzwerken in Russland.



    Quelle: Lewada (2017)


    Quelle: Lewada (2017)

    Was assoziieren Sie in erster Linie mit Ihrem Volk?


    Quelle: Lewada (2018)

    Welche Ereignisse in der russischen Geschichte rufen bei Ihnen Stolz hervor?


    Quelle: Lewada (2018)

    Passend dazu:

    Wofür schämen und grämen Sie sich, wenn Sie an die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert denken?


    Quelle: Lewada (2018)

    Passend dazu:

    • Russische Wirtschaftskrise 2015/16
    • Zerfall der UdSSR
    • Der große Terror
    • Perestroika


    Quelle: Lewada (2018)


    Quelle: Lewada (2018)


    Quelle: Lewada (2018)

    Diese Publikation ist entstanden im Rahmen des Projektes „Wissenstransfer hoch zwei – Russlandstudien“, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und dekoder mit finanzieller Unterstützung der VolkswagenStiftung durchgeführt wird.

    Weitere Themen

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Raumfahrtprogramm der UdSSR

    Video #16: Loblied auf Stalin

    Infografik: Wahl 2018

    Russland und Europa

    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

  • Wir sind dann mal weg …

    Wir sind dann mal weg …

    Wie viele Russen das Land verlassen, wohin und weshalb sie gehen. Das Onlinemedium Projekt hat verschiedene Zahlen aufbereitet und verglichen.

    Im Oktober 2018 hat Wladimir Putin ein neues Konzept zur Migrationspolitik unterzeichnet. Es gilt als Versuch, Landsleute aus dem Ausland zur Rückkehr nach Russland zu bewegen. Gründe, besorgt zu sein, hat die Regierung sehr wohl: Das Jahr 2017 ist in der Statistik durch einen drastischen Anstieg der Auswandererzahl gekennzeichnet: 377.000 Personen, die das Land verlassen haben, hat das russische Amt für Statistik Rosstat in diesem Jahr verzeichnet. In dem Zeitraum vergleichbarer Messwerte [2012 bis 2017] ist das ein Rekordwert. Gegenüber 2012 hat sich die Zahl der Ausgewanderten fast verdoppelt.

    Anmerkung von dekoder: Die russische Statistikbehörde Rosstat modifizierte in den vergangenen Jahren mehrmals die Methodik bei der Erfassung von Migrantenzahlen, zuletzt 2011. Damals entschied Rosstat, auch Arbeitsmigranten in die Statistik aufzunehmen. Diese kommen vor allem aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland. Streng genommen handelt es sich bei dieser Gruppe nicht um Emigranten, sondern um sogenannte Gastarbeiter, die in ihre Heimatländer zurückkehren.

    Gestiegen ist nicht nur die Gesamtzahl der Emigranten [inklusive der Arbeitsmigranten, die von der offiziellen Statistik ebenfalls erfasst werden. Streng genommen sind diese aber keine Emigranten, sie kehren lediglich in ihre Heimatländer zurück – dek]. Auch die Zahl derjenigen, die das Land in Richtung fernes Ausland verlassen haben, ist angestiegen. 
    Bezogen auf russische Staatsangehörige ist die Situation die gleiche. 2017 sind fast doppelt so viele russische Staatsangehörige ausgewandert wie noch 2012. Allein im Laufe der dritten Amtszeit von Präsident Putin sind 1,7 Millionen aus Russland fortgezogen, das sind zunächst einmal nur die Berechnungen von Rosstat.



    Quelle: Rosstat (1, 2) / zitiert nach Projekt

    Ein Vergleich mit Statistiken anderer Länder über zugezogene Menschen aus Russland zeigt aber: Die Angaben von Rosstat sind um ein Vielfaches zu niedrig. Aktuelle Daten (zuletzt zu 2017) sind nur für einige Länder verfügbar. Sie besagen Folgendes: Das Ministerium für Heimatschutz der Vereinigten Staaten zählte sechs Mal mehr zugezogene Russen als Rosstat. Am stärksten weichen die Angaben von Rosstat von den Daten aus Tschechien und Ungarn ab, sie liegen dort beim Zwölf- beziehungsweise Vierzehnfachen. Insgesamt ergibt sich, dass in 24 Ländern der OECD, aus denen für 2016 Angaben zu Ankommenden aus Russland vorliegen, sechsmal mehr Menschen Russland verlassen haben, als bei Rosstat angegeben sind.
    Bei der russischen Statistikbehörde werden die Unstimmigkeiten eingeräumt; nicht alle Emigranten würden registriert: „Viele lassen sich nicht von den Meldelisten streichen und fallen dadurch nicht in die Kategorie Emigranten. Diese Menschen sind in Russland gemeldet, leben aber in Wirklichkeit in anderen Ländern.“

    Differenz: Rosstat vs. Statistikbehörden der jeweiligen Länder (2016)

    Quelle: Rosstat / OECD / Eurostat etc. / zitiert nach Projekt

    Der Begriff „Russische Welt“ [Russki Mir] hat sich unter Putin zu einem politischen Statement gewandelt: In den Reden des Präsidenten und seiner Umgebung – besonders bei Patriarch Kirill – ist der Begriff oft zu hören. Eben diese Russische Welt, deren Eindringen man in vielen Ländern fürchtet, könnte eine ganz andere Bedeutung bekommen: Unsere Studie zeigt, wie groß weltweit die Zahl derer ist, die sich als [ethnische] Russen oder als Bürger Russlands wahrnehmen.
    Russland lag bei der Zahl der „Verluste“ 2017 weltweit auf Rang drei: Über die Welt verstreut leben 10,6 Millionen Menschen, die Russland verlassen haben. Das sind sieben Prozent der Bevölkerung Russlands im Jahr 2017 und vier Prozent aller Emigranten weltweit.

    Top-10 der Herkunftsländer von Migranten weltweit

    Quelle: UN (2017) / zitiert nach Projekt

    Laut Rosstat hat die Einwohnerzahl Russlands im Jahr 2018 zum ersten Mal seit 2008 abgenommen. Sie beträgt mit der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Krim 146.793.700 Menschen. Laut UN gibt es derzeit mehr als 250 Millionen Migranten weltweit. 



    Quelle: UN / zitiert nach Projekt

    Der Anstieg der Migrantenzahlen ist ein globaler Trend. Die Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten in den meisten Ländern zu einer drastischen Zunahme der Auswandererzahlen geführt.

    Die Russische Welt ist sehr viel größer, als sich berechnen ließe. Diejenigen, die sich den ethnischen Russen zurechnen, aber nicht mehr die Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation besitzen, tauchen in den Statistiken nicht auf. Auch jene Nachkommen von Emigranten, die sich durch die Sprache eine nationale Identität bewahrt haben, gelangen nicht in die Statistiken. Es gibt weltweit sehr viel mehr Russen (im weiteren Sinne), als sich durch die Emigrationsstatistiken nachvollziehen lässt. Ihre Gesamtzahl ist nicht bekannt, Zahlen gibt es nur für einige Länder. 
    Im Jahr 2017 haben beispielsweise in den USA 2,6 Millionen Menschen eine russische Herkunft angegeben. Als Herkunft gilt hier die ethnische Zugehörigkeit einer Person, ihre Wurzeln, ihr Geburtsort oder der ihrer Vorfahren. Die Anzahl solcher Personen ist in den letzten Jahren rückläufig: 2010 hatte sie noch 2,9 Millionen betragen. Eine entgegengesetzte Tendenz ist hinsichtlich des Gebrauchs des Russischen zu beobachten. Wenn 2010 noch 854.000 Menschen Russisch als die Sprache angaben, die zu Hause gesprochen wird, waren es 2017 bereits 936.000. 2018 landete das Russische in den USA auf Platz neun der zu Hause gesprochenen Sprachen.

    Russische Migranten in Deutschland

    Ein weiteres Land, das bei Russen begehrt ist, ist Deutschland. Hier wird keine Statistik darüber geführt, wie viele Menschen sich als aus Russland stammend wahrnehmen. Berechnungen ergeben aber, dass es in Deutschland unter den 19 Millionen Menschen ausländischer Herkunft 1,4 Millionen mit Wurzeln in Russland gibt. Das bedeutet, dass diese Menschen selbst oder ihre Vorfahren aus Russland nach Deutschland gekommen sind. Dazu zählen Menschen, die entweder als Ausländer in Deutschland leben, oder solche, die bereits die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben.
    Was die Sprache betrifft, so wird in Deutschland in 14 Prozent aller Haushalte, in denen die Hauptsprache nicht Deutsch ist, Russisch gesprochen. Nach Berechnungen von Projekt sprechen im Schnitt 1,1 Millionen Menschen in Deutschland vorwiegend Russisch zu Hause. Nach dem Türkischen liegt das Russische bei den nichtdeutschen Sprachen, die in Deutschland zu Hause gesprochen werden, auf dem zweiten Platz.

    Gründe für die Emigration

    2016 hat das Lewada-Zentrum eine Umfrage zu den Gründen durchgeführt, die die Menschen an Emigration denken lassen. Die meisten nannten bessere Lebens- und Alltagsbedingungen im Ausland und klagten über die instabile Wirtschaftslage in Russland. Die übrigen wollten ihren Kindern eine anständige und hoffnungsvolle Zukunft sichern oder Russland wegen fehlenden Schutzes vor Behördenwillkür verlassen. Ein nicht geringer Anteil der Befragten begründete den Auswanderungswunsch mit der Möglichkeit, im Ausland eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten. Weitere Gründe waren die Geschäftsbedingungen für Unternehmen in Russland, die politischen Zustände und fehlende Möglichkeiten für beruflichen Aufstieg.

    Warum kommen die Menschen auf die Idee, aus Russland zu emigrieren?


    Anteil der Respondenten, die angegeben haben, über eine Emigration nachgedacht zu haben. Quelle: Lewada (2016) / zitiert nach Projekt

    Die stärkste Tendenz zur Emigration haben laut Rosstat in Russland junge Menschen. Die meisten Emigranten sind zwischen 20 und 34 Jahre alt. Dabei bevorzugen die Jüngeren die Länder des fernen Auslands als Ziel, dorthin zieht es Menschen zwischen 20 und 24. In die Länder der GUS gehen meist jene, die über 30 sind.

    Auswanderer russischer Staatsangehöriger nach Altersklassen


    Quelle: Rosstat (2015, 2016, 2017) / zitiert nach Projekt

    Schaut man sich in den Rosstat-Statistiken die russischen Staatsangehörigen an, ist die Situation eine andere. Die meisten Auswanderer sind zwischen 25 und 34. Die Hälfte jener, die aus Russland ins ferne Ausland fortziehen, hatte noch keine Familie gegründet und war niemals verheiratet gewesen. Das erhöht die Chancen, in einem anderen Land Wurzeln zu schlagen.

    Auch der Brain Drain nimmt an Fahrt auf: 2017 hatten 22 Prozent der Emigranten, zu denen Rosstat Bildungsdaten vorliegen, eine abgeschlossene höhere Bildung, unter anderem auch akademische Grade. Die Zahl der Emigranten mit Hochschulbildung wächst mit jedem Jahr, von 17 Prozent 2012 auf heute 22 Prozent. Vor der Änderung der Methodik, mit der Emigranten durch Rosstat registriert werden, war ein ähnlicher Anstieg zu beobachten gewesen – von 28 Prozent 2008 auf 34 Prozent 2011. 

    Die meisten Arbeitsmigranten aus Ländern der GUS haben keine höhere Bildung, und das führte im Weiteren in den Statistiken zu einem sinkenden Anteil der Emigranten mit höherer Bildung.

    Im Jahr 2017 sind Russen mit Hochschulbildung meist nach Deutschland, in die USA, nach Israel und in die Volksrepublik China gegangen. Diese Länder des fernen Auslands hatten auch im vergangenen Jahrzehnt in Bezug auf russische Einwanderer mit höherer Bildung an der Spitze gelegen: Auf dem ersten Platz lag Deutschland, dann die USA, Israel, China und Kanada.



    Quelle: Rosstat / zitiert nach Projekt

    Nicht nur Menschen mit höherer Bildung emigrieren aus Russland, sondern auch solche mit viel Geld. Den Daten der Studie Global Wealth Migration Review 2018 der Consultingfirma New World Wealth zufolge liegt Russland bei der Zahl der Dollarmillionäre, die das Land 2017 verlassen haben, an sechster Stelle. Diesen Angaben zufolge sind rund 3000 Millionäre aus Russland fortgezogen, vor allem in die USA, nach Zypern, Großbritannien, Portugal und in die Länder der Karibik. Und diese Zahl umfasst nur jene, die das Land tatsächlich hinter sich gelassen haben. In der Studie sind dies Personen, die sich über ein halbes Jahr im Ankunftsland aufgehalten haben.

    Es entfliehen nicht nur jene dem Land, denen es gut geht: Auch Asylanträge, die wegen Problemen in der Heimat gestellt werden, sind eine Erscheinungsform von Emigration. Die Demografin Julia Florinskaja erläutert, dass aufgrund der politischen Situation derzeit unter den Asylsuchenden vermehrt Oppositionelle zu finden sind, die strafrechtlich verfolgt werden, sowie Menschen mit „nicht traditioneller“ sexueller Orientierung. Insgesamt sind 2017 in den 28 Ländern der EU rund 12.700 Asylanträge von russischen Staatsangehörigen eingegangen. Was die Zahl der gestellten Anträge angeht, liegt Deutschland an der Spitze, gefolgt von Frankreich, Polen, Österreich und Finnland.

    Russen suchen nicht nur in Europa Asyl: Weitere 2700 Anträge wurden 2017 in den USA gestellt. Während die Gesamtzahlen für die EU-Staaten seit 2014 zurückgehen, stellen in den USA Jahr für Jahr mehr Russen einen Asylantrag. 2000 waren es noch 856, 2014 wurde dann die Tausendermarke überschritten und bis 2016 hatte sich die Zahl noch einmal verdoppelt.  

    Top-10 der EU-Länder, in denen Menschen aus Russland 2017 Asyl beantragt haben


    Quelle: Eurostat (2017) / zitiert nach Projekt

    Weitere Themen

    Aus der Filmfabrik

    Entlaufene Zukunft

    Journalisten in der Provinzfalle

    Karriere in Uniform

    Die unbemerkten Flüchtlinge

    Stabilisierung

  • Warum der Rubel schwach bleibt

    Warum der Rubel schwach bleibt

    Üblicherweise rollt der Rubel nur in eine Richtung – dem Ölpreis nach: Steigt dieser, dann gewinnt auch der Rubel gegenüber dem US-Dollar an Wert und umgekehrt. Seit über einem halben Jahr ist diese Gesetzmäßigkeit gestört: Unabhängig vom derzeit relativ hohen Ölpreis bleibt der Rubelkurs unten. Warum ist das so?


    Quelle: wallstreet-online / OFX

    Die meisten Experten erklären das Phänomen mit äußeren Faktoren: Die Sanktionen würden dem Rubel zusetzen, außerdem sei die russische Währung Geisel einer globalen Entwicklung, die derzeit die Kurse von vielen Schwellenländern runterzieht. Während die meisten dieser Länder aber Stützungsmaßnahmen ergreifen, tut weder die russische Politik noch die Zentralbank etwas.  
    Heißt das, dass der Rubelkurs für den Kreml keine Rolle spielt? Im Gegenteil, meint Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew: Das Ziel bestehe allerdings nicht in der Stabilisierung, sondern in einer kontrollierten Senkung. 
    Da man diese These so sonst noch nirgends gehört hat, haben wir uns entschieden, den Text, der auf Riddle erschienen ist, hier in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen.

    Warum nimmt die russische Regierung Kurs auf Schwächung des Rubels? Drei entscheidende Gründe, sortiert nach Wichtigkeit:

    Autarkie ist Trumpf

    Erstens: Alles deutet darauf hin, dass die russische Regierung heute auf wirtschaftliche Autarkie setzt. Erfolge bei den Importsubstitutionen sind quasi zum Effektivitätskriterium geworden. Ohne Zweifel fördert die gezielte Abwertung des Rubels diese Art der Wirtschaftsentwicklung. Experten, die darauf hinweisen, dass diese Maßnahme nur eine geringe Wirkung auf die Förderung der russischen Exporte habe, liegen völlig richtig: Der Anteil der industriellen Endprodukte am Export ist gering. 

    Gleichzeitig sichert die stetige Verteuerung der Importe den russischen Produzenten ihre Dominanz auf dem inländischen Markt, und die Wirtschaftsindikatoren bleiben dadurch stabil. Ein Land, dessen Wirtschaft sich in vollem Umfang auf Ausgabenerhöhungen stützt, macht eine Korrektur durch Währungsabwertung zur periodischen Notwendigkeit. Je sanfter und kalkulierter diese Anpassung ausfällt, desto geringer ist die Schockwirkung für Produzenten und Bevölkerung. 

    Sanfte Kursabwertung erzeugt Gefühl von Wachstum

    Ohne schrittweise Abwertung der nationalen Währung kann in der russischen Wirtschaft kein Gefühl von Wachstum aufkommen, ungeachtet dessen, dass eine solche Abwertung keine zusätzlichen Exporteinnahmen bringt. Für einen solchen Doping-Effekt müsste das Abwertungstempo gesichert über den Inflationsindikatoren liegen, da ansonsten der Effekt schlichtweg verpufft. Es sei darauf hingewiesen, dass dies nur unter Bedingungen einer eingeschränkten oder gar stagnierenden Endnachfrage möglich ist. Darin findet sich auch die Antwort auf die Frage, warum sich die russische Regierung gegenüber einer Nachfragestimulation apathisch verhält, obwohl in den letzten zehn Jahren eine solche Maßnahme in den meisten Industriestaaten die Antwort auf die Wirtschaftskrise war.

    Währungsabwertung füllt sehr wirksam die Staatskasse 

    Zweitens: Der Kreml hat einen noch wichtigeren Grund, eine Rubelschwäche anzustreben. Der russische Haushalt weist nämlich vor allem folgende Besonderheit auf: seine große Abhängigkeit von Import- und Exportzöllen sowie von Steuern auf die Gewinnung von Bodenschätzen. Was haben denn die Einfuhrzölle für Autos und der Steuersatz auf Erdölgewinnung miteinander zu tun? Beiden ist gemeinsam, dass sie in Euro (Importzölle) oder in Dollar (die Förderabgabe, die an den Erdölpreis auf dem Weltmarkt gebunden ist oder Exportzölle) errechnet werden. So erhält die Regierung im Grunde genommen einen Teil der Erträge in Fremdwährungen, erklärt aber den Rubel zum alleinigen Zahlungsmittel im Land. 2017 beispielsweise beliefen sich diese Abgaben an den Staatshaushalt insgesamt auf 5,97 Billionen Rubel [etwa 77 Mrd. Euro – dek] bei einem durchschnittlichen Kurs von 58,35 Rubel pro Dollar. 2018 betrug der durchschnittliche Kurs der ersten acht Monate bereits 62,66 Rubel pro Dollar. Bei unverändertem Import- und Exportvolumen vermehrten sich dadurch die Einnahmen der Staatskasse um nicht weniger als 400 Milliarden Rubel [etwa 5 Mrd. Euro – dek]. Auf das ganze Jahr wird mit über 900 Milliarden [etwa 11 Mrd. Euro – dek] gerechnet. 

    Über den rückläufigen Erdölpreis kann lange diskutiert werden. Jüngst aber überstieg der Barrel-Preis in Rubel, und gerade das ist wichtig für den Haushalt, die 5000er-Marke. Im Mai 2008 – und das waren historische Höchststände – lag er bei nur bei 3600 Rubel pro Barrel. Ich möchte hinzufügen: All diese Einnahmeposten werden ausschließlich dem Staatshaushalt gutgeschrieben, aus dem die für den Kreml so hohen Sozialausgaben finanziert werden (in Rubel, selbstverständlich). Diese, wie auch die Renten und Sozialhilfen, sind nicht an den Dollarkurs, sondern an die offizielle Inflation gekoppelt. Anders ausgedrückt ist die Währungsabwertung ein sehr wirksames und wenig konfliktreiches Instrument, um die Staatskasse zu füllen.

    Psychologischer Gewinn, wenn Volkseinkommen nominal hoch

    Drittens hat die Abwertung der nationalen Währung eine extrem wichtige psychologische Funktion. Nehmen wir die berühmte Rentenerhöhung von 1000 Rubel [etwa 13 Euro – dek] – das bedeutet für die kommenden Jahre ein jährliches Wachstum von 7 Prozent (wenn wir von der heutigen durchschnittlichen Monatsrente von 14.000 Rubel [etwa 180 Euro – dek] ausgehen), wobei dieses Wachstum bei steigendem Nominalbetrag abflaut. Die Einkommen der russischen Bevölkerung gerechnet in Dollar (er dient für den internationalen Vergleich sowie als Berechnungsgrundlage für die reale Konsumnachfrage der Bürger) – haben von Anfang 2017 bis August 2018 um 8,5 Prozent abgenommen, und diese Entwicklung denkt gar nicht daran zu stoppen. 

     

     

    Der Big-Mac-Index vergleicht die Kaufkraft von verschiedenen Währungen anhand der Preise (in US-Dollar) für einen Big Mac. Demnach ist der Rubel stark unterbewertet. 

     

    Jedoch ermöglicht die Abwertung des Rubels der Regierung, von wachsenden Nominalinvestitionen in Rubel zu berichten, von einem höheren Volkseinkommen und steigenden Renten. De facto plündert sie dabei Haushaltsposten aus, die bei einer stagnierenden Wirtschaft den korruptionsintensivsten Spielraum bieten. 

    Propaganda schlägt Vorteile aus Entdollarisierung der Wirtschaft

    Wenn in den ersten zwei Amtszeiten von Putin beteuert wurde, Portugal werde rasant eingeholt, das BIP und die Einkommen würden in Dollar berechnet wachsen, so geriet diese Ankündigung in den letzten Jahren völlig in Vergessenheit. Die Propaganda schlägt alle möglichen Vorteile aus einer völlig illusorischen Entdollarisierung der Wirtschaft. Was leider nur sichtbar ist, wenn man von unten nach oben schaut und nicht von oben nach unten. 

    Meiner Meinung nach besteht heute kein Zweifel darüber, dass eine fortschreitende Abwertung die ideale „symmetrische Antwort“ ist auf die westlichen Sanktionen, die Verschlechterung des Investitionsklimas und den unausweichlichen Rückgang des Lebensstandards der Bevölkerung. Sie garantiert „Stabilität“ im Inneren, lässt nicht zu, dass alle russischen Produkte zu Ladenhütern werden, erlaubt höhere Einnahmen im Haushalt, der bei einem Vor-Krim-Kurs von 32,50 Rubel pro Dollar nun mit nicht weniger als 2 Billionen Rubel [etwa 25 Mrd. Euro – dek] defizitär wäre. Und beruhigt die Bürger, die sich bereits über die wenigen Rubel Einkommenssteigerung freuen, in einem Land, das sich schrittweise von der Außenwelt abkapselt. 

    Das alles bedeutet, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um einen Kursanstieg zu verhindern, selbst wenn unsere „geopolitischen Feinde“ morgen alle gegen Moskau verhängten Sanktionen aufheben würden.

     

    Weitere Themen

    Umzingelt von Freunden?

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Die Honigdachs-Doktrin

    Stört die Rente den WM-Frieden?

    Was haben die Sanktionen bewegt?

    Symbolischer Wohlstand