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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

    Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

    Die Geschichte der Ausgrenzung, Enteignung, Vertreibung und schließlich Vernichtung der europäischen Juden kennt viele wichtige Daten und Ereignisse: Boykotte jüdischer Geschäfte ab 1933, Berufsverbote, die diskriminierenden Nürnberger Rassegesetze 1935 oder Gewalttaten wie die Reichspogromnacht 1938. Sie betrafen zunächst die deutschen Juden, ab 1938 auch die Juden Österreichs und des Sudetenlandes. Mit Kriegsbeginn vergrößerte sich jedoch sprunghaft die Gruppe derer, die von der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten betroffen war. Allein in Polen gerieten etwa 1,8 Millionen Juden unter deutsche Besatzung. Ab Herbst 1939 wurden dort hunderte Ghettos eingerichtet und bis Ende des Jahres fielen etwa 7000 polnische Juden deutscher Gewalt zum Opfer.

    Zu den wichtigen Daten zählt auch der 22. Juni 1941. Denn erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann die massenhafte und systematische Ermordung der Juden Europas, aus Terror wurde Genozid. Besonders auf den Gebieten der heutigen Ukraine und Belarus sowie der heutigen baltischen Staaten sowie Moldaus und Rumäniens ermordeten mobile Tötungskommandos innerhalb weniger Wochen und Monate Hunderttausende Juden. Hinter den vorrückenden Truppen drangen sie auch auf das Gebiet des heutigen Russlands vor, wo sie ebenfalls zahlreiche Massenmorde an Juden begingen. Insgesamt fanden auf den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion bis 1944 etwa 2,6 Millionen Juden den Tod.

    Erst ab Ende 1941 bzw. im Laufe des Jahres 1942 wurden im besetzten Polen jene Vernichtungslager errichtet, in die schließlich Millionen Juden aus Polen und ganz Europa deportiert und ermordet wurden und die bis heute zu den zentralen Erinnerungsorten des Holocaust zählen.

    Der russische Jurist und Publizist Lew Simkin hat unter anderem Monographien zu Friedrich Jeckeln, dem Vernichtungslager Sobibor und zur juristischen Aufarbeitung des Holocausts vorgelegt. In einem Kommentar für gazeta.ru geht er anhand der Aussagen der Täter der Frage nach, warum gerade der 22. Juni 1941 den Übergang zu unvorstellbaren Massakern an den Juden markiert.

     

    An dem Tag, als die deutsche Armee und in deren Gefolge die Mörderbrigaden der Einsatzgruppen die sowjetische Grenze überschritten, begann das, was mit dem griechischen Wort Holocaust (dt. „vollkommen verbrannt“) bezeichnet wird. Bis zu diesem Tag waren die Juden in Europa zwar verfolgt, aus ihren Häusern verjagt und ihres Besitzes beraubt worden, aber sie wurden nicht umgebracht, zumindest nicht in diesen Dimensionen.
    Die Phase des offenen Massenmordes begann in den besetzten Gebieten der Sowjetunion.

    „Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“

    Einer derjenigen, die von nun an in bisher ungekanntem Maße mordeten, war SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, der am 23. Juni 1941 seinen Dienst als Höherer SS- und Polizeiführer Russland-Süd antrat. Jeckeln wurde vor 75 Jahren von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt und gehängt. Die Unterlagen zu seinem Verfahren habe ich vor mir. Ich konnte sie im Zentralarchiv des FSB einsehen.

    „Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“, berichtet Jeckeln bei der Gerichtsverhandlung. „Mit Erlass der Nürnberger Gesetze wurde dieser Kampf rechtlich untermauert. Da hatte man noch nicht vor, die Juden umzubringen. Sie sollten aber ins Ausland umgesiedelt werden, insbesondere nach Palästina“.
    Es ist möglich, dass in den ersten Jahren des Dritten Reiches niemand in der NS-Bewegung, auch der „Führer“ nicht, eine feste Vorstellung hatte, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte.

    Nun gehört aber neben Mein Kampf auch der Brief an den Soldaten Gemlich zu den Quellen des Nationalsozialismus, geschrieben vom „Bildungsoffizier“ Adolf Hitler am 16. September 1919. Dort heißt es: „Das letzte Ziel [des Antisemitismus] muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Sein Weg zu diesem „letzten Ziel“ war allerdings ein recht langer.

    In den ersten Jahren hatte niemand in der NS-Bewegung eine feste Vorstellung davon, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte

    Es muss wohl kaum jemandem erklärt werden, dass sich hinter dem Euphemismus „Endlösung“ die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas verbarg. Allerdings weiß niemand, ob dieser Begriff von Beginn an eben diese Bedeutung hatte, und ob er im Dritten Reich jene große Verbreitung fand, die heute gemeinhin angenommen wird. In historischen Dokumenten begegnet man ihm nur äußerst selten.
    In den 1980er Jahren hatte der „Nazijäger“ Simon Wiesenthal Hitlers ehemaligen Minister Albert Speer gefragt, wann dieser das erste Mal diesen Begriff gehört hat. Speer antwortete, dass es erst nach dem Krieg gewesen sei – weder Hitler noch Himmler hätten ihn verwendet.

    Hatte es denn überhaupt einen Beschluss über die Vernichtung der Juden gegeben?
    Niemand hat jemals einen schriftlichen Befehl zur Ermordung jedes einzelnen Juden gesehen. Keiner der wichtigsten Helfer Hitlers hat in den Verhören nach dem Krieg einen solchen Befehl erwähnt. Einige Historiker gehen davon aus, dass es ihn nicht gegeben hat. Aber in welchem Sinne nicht gegeben? In schriftlicher Form? Oder hat es ihn überhaupt nicht gegeben?
    Der britische Holocaust-Forscher Martin Dean hat mir gegenüber argumentiert, es habe keine einheitliche „Endlösung“ gegeben, die Entscheidung sei schrittweise getroffen worden, zwischen Frühjahr 1941 und Sommer 1942, und sie sei schrittweise umgesetzt worden: Die Juden wurden in verschiedenen Phasen über die gesamte Dauer des Krieges ermordet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die „Endlösung“ anfänglich eine Andeutung Hitlers war, die von jenen verstanden wurde, an die sie gerichtet war. Schließlich waren sie alle – und Himmler an erster Stelle – moralisch bereit; alles Weitere hing allein von ihrer Initiative ab.

    Die Vernichtung aller sowjetischen Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion

    All dem könnte man soweit zustimmen, wäre da nicht Folgendes: Die Vernichtung der sowjetischen Juden, und zwar aller Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann praktisch sofort mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion. Dies wird allerdings für gewöhnlich damit erklärt, dass nach Hitlers Ansicht den sowjetischen Juden der Kommunismus eigen war, weswegen die Juden in der UdSSR als Kommunisten ermordet wurden. Dem war jedoch nicht ganz so – vielmehr keineswegs so.
    Allgemein wird angenommen, dass die sowjetischen Juden aufgrund des „Kommissarbefehls“ ermordet wurden, der am 6. Juni 1941 von Generalfeldmarschall Keitel unterzeichnet wurde und die Anweisung enthielt, „politische Kommissare […] nach durchgeführter Absonderung zu erledigen“. Doch von Juden ist in dem Befehl keine Rede. Diese tauchen erst in einer Weisung Reinhard Heydrichs auf, dem Leiter des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA), die er am  2. Juli 1941 bezüglich der Umsetzung des Kommissarbefehls an die Höheren SS und Polizeiführer richtete: „Zu exekutieren sind […] Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente [].“

    Zunächst versuchte Jeckeln auf dem Papier, seine Opfer unter diese Kategorien zu fassen. Und später wunderte sich niemand, dass sämtliche Juden zu den „Kommissaren“ gezählt wurden, auch Frauen und Kinder. Der erste Massenmord geschah im August 1941 in der Stadt Kamjanez-Podilsky, wo auf Befehl von Jeckeln im Laufe von drei Tagen 23.600 Menschen ermordet wurden. Allein, weil sie als Juden geboren worden waren. Das Massaker von Babyn Jar folgte einen Monat später.

    „Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.”

    Aus dem Verhör von Jeckeln:
    Frage: „Aus welchem Grund wurden Bürger jüdischer Nationalität umgebracht?”
    Antwort: „Laut Propaganda mussten die Juden erschossen werden, weil sie nicht produktiv arbeiten konnten und wie ein Parasit im deutschen Volkskörper lebten.“
    In seiner Antwort an den Staatsanwalt folgte Jeckeln somit Himmler, der Juden als „Parasiten“ bezeichnet hatte, die „zu vernichten sind“. 
    Doch, wie Stanislaw Lem in seinen Provokationen treffend schrieb: „Himmler hat […] gelogen, […] denn Parasiten vernichtet man nicht mit der Absicht, ihnen Qualen zuzufügen.” […] „Die nach Geschlechtern getrennten Juden wären in spätestens vierzig Jahren ausgestorben, wenn man dabei in Rechnung stellt, wie rasch die Ghettobevölkerung vor Hunger, Krankheiten und durch die infolge der Zwangsarbeit bedingte Entkräftung zusammenschmolz. […] – es sprachen also keine anderen Faktoren für die blutige Lösung außer dem Willen zum Mord.”

    Frage Staatsanwalt: „Sie waren natürlich in Bezug auf die Juden der gleichen Ansicht?”
    Antwort Jeckeln: „Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.” Hannah Arendt bezeichnete in ihrem 1945 erschienenen Artikel Organisierte Schuld die Deutschen als ein Volk, „in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, effektiv verwischt worden ist […].”
    Und trotzdem heuchelte Jeckeln, als er auf die Frage des Staatsanwalts antwortete. Er teilte nicht einfach nur diese kannibalischen „Ansicht“.

    Der Führer habe sich geäußert, die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen.

    Verteidigung (Anwalt Milowidow). Frage an den Zeugen Blaschek:
    „Als Jeckeln von den Plänen zur Vernichtung der Juden sprach, was meinen Sie als Zeuge – war das der persönliche Plan von Jeckeln oder Programm jener Partei, in der der Angeklagte Mitglied war?“
    Antwort: „Wir hatten kaum eine persönliche Meinung. Jeckeln war aber einer derjenigen, die Meinung machten. Unter diesen Meinungsmachern war es sehr schwer, eine eigene Meinung zu haben. Das betrifft nicht nur mich, sondern im Grunde das ganze deutsche Volk.“
    Milowidow: Ich habe keine weiteren Fragen.“

    Für mich bleibt aber noch die Frage: Gab es nun einen Beschluss zur Vernichtung der Juden oder nicht? Ich habe in den Archivunterlagen über SS-Gruppenführer Bruno Streckenbach, der zu Beginn des Krieges als Chef des Amtes I des Reichsicherheitshauptamtes einen der höchsten Posten in der SS-Hierarchie innehatte und der zum Ende des Krieges in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, einen neuen Beleg für die Existenz eines Beschlusses entdeckt. Anders als Jeckeln ist er nicht hingerichtet worden. Als ihm der Prozess gemacht wurde, galt bereits der Erlass des Präsidiums der Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. Mai 1947 „Über die Abschaffung der Todesstrafe“. Streckenbach kehrte 1955 zusammen mit den anderen deutschen Kriegsgefangenen wohlbehalten nach Deutschland zurück.

    In Streckenbachs Ausführungen, die er im Laufe der Vorermittlungen gemacht hat , habe ich folgende Passage gefunden: „Mit Beginn des Russlandfeldzugs erreichten die Maßnahmen gegen Juden ein neues Stadium. Es erging der Befehl zur breitangelegten Liqudierung der Juden. Mir ist nicht ganz klar, von wem die Initiative ausging. Einem Bericht von Heydrich zufolge hatte sich der Führer auf einer der Besprechungen dazu geäußert und erklärt, er habe die Absicht, die Judenfrage in Europa endgültig zu lösen, und die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen. Dieser Befehl wurde zwar geheim gehalten, war aber dennoch bald allseits bekannt und sorgte für große Aufregung, weil es viele gab, die damit nicht einverstanden waren“.

    Dass viele nicht einverstanden gewesen seien, ist ein rhetorisches Mittel der Übertreibung, das sich durch den Ort erklären lässt, an dem die Aussage niedergeschrieben wurde, nämlich im Gefängnis der Lubjanka. Alles Übrige entspricht wohl der Wahrheit. Bis zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, die allgemein mit der „Endlösung der Judenfrage“ verbunden ist, war es noch weit. Zu jener Zeit war aber bereits die erste Million der sechs Millionen Opfer des Holocaust ermordet worden.

     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

     

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  • Erinnerung an den Holocaust im heutigen Russland

    Erinnerung an den Holocaust im heutigen Russland

    „Die Russen haben mich gerettet und durchgebracht.“ So heißt es in einem Brief des Auschwitzgefangenen Otto Frank an seine Mutter in Basel. Er ist datiert auf den 23. Februar 1945, also weniger als einen Monat nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee. Frank konnte gerade wieder einen Stift in der Hand halten. Dass eben jener Otto Frank im Jahr 1947 das Tagebuch seiner Tochter Anne veröffentlichte, ist bekannt. Dass er selbst von sowjetischen Soldaten und Ärzten gerettet und behandelt wurde, hingegen weniger.

    Geschichten wie diese, die einen Bezug zwischen der Sowjetunion und dem Holocaust herstellen, blieben in der Sowjetunion und später auch in Russland lange unerzählt. Die UdSSR sah sich selbst als Hauptopfer der nationalsozialistischen Verbrechen, weswegen der Begriff Holocaust aus politischen Gründen nicht benutzt und der Mord an den europäischen Juden nicht öffentlich thematisiert wurde – obwohl zahlreiche Opfer des Holocausts sowjetische Staatsbürger waren. In Russland gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lange ebenfalls kein staatliches Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, sodass zivilgesellschaftliche Gedenkinitiativen einerseits und Holocaustleugner andererseits das Feld besetzten. Mittlerweile ist es russischen Politikern zwar ein Anliegen, die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der Juden zu betonen, doch weiterhin gibt es in Russland bis heute keinen Gedenktag an die Opfer des Holocausts, keinen eigenen Strafrechtsparagraphen für seine Leugnung und nur wenige Denkmäler für die auf dem Gebiet des heutigen Russlands ermordeten Juden. 

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde in der UdSSR der offizielle Standpunkt formuliert, alle Bewohner des Landes hätten – unabhängig von ihrer Nationalität – gleichermaßen unter den NS-Verbrechen gelitten. Schon im Februar 1944 war in der amtlichen Untersuchung des Massakers von Babyn Jar nur die Rede von der Ermordung „friedlicher Sowjetbürger“1. Vor dem Hintergrund des spätstalinistischen Antisemitismus und der anschließenden Verschlechterung der Beziehungen zu Israel kam es dann faktisch zum „Vergessen des Holocausts“. Darüber, dass der Genozid an den Juden eine besondere Stellung unter den NS-Gräueltaten einnimmt, wurde kaum gesprochen; das Wort Holocaust kam weder in der Propaganda noch in Schulbüchern oder in der Kunst vor.

    Erst während der Perestroika trat allmählich ein Wandel ein. Doch selbst 1992, im Gründungsjahr des Russischen Forschungs- und Bildungszentrums Holocaust, war dieser Begriff noch weitgehend unbekannt. Und es dauerte bis Mitte der 1990er Jahre, ehe das Gedenken an den nationalsozialistischen Genozid als Anliegen des russischen Staates – und nicht nur als eines der jüdischen Gemeinden – erörtert wurde. 

    Zugleich konnte man Russland noch zu Beginn der 2000er Jahre als internationale Hochburg der Holocaustleugnung bezeichnen. Zwar gehörte die sowjetische Politik eines staatlichen Antisemitismus der Vergangenheit an, doch man ging nicht konsequent gegen antisemitische Bestrebungen vor: Insbesondere Schriften westlicher Holocaustleugner konnten in Russland offen publiziert und verkauft werden.

    Erst 2003 tauchte der Begriff „Holocaust“ erstmals im staatlichen Rahmenplan für den Geschichtsunterricht an weiterführenden Schulen auf.2 Das führte dazu, dass in vielen Schulbüchern einzelne Aspekte der Shoah dargestellt wurden.3 Doch Bestandteil der Einheitlichen Staatlichen Abschlussprüfung ist das Thema erst seit 2011. 

    Widersprüchliche Erinnerungspolitik

    Dass so viel Zeit verging, bis der Holocaust Eingang in den schulischen Lehrplan fand, entspricht dem komplizierten Verhältnis der russischen Regierung und Gesellschaft zu dem Thema. Einerseits hebt die russische Führung in offiziellen Verlautbarungen immer wieder die Bedeutung des Gedenkens an dieses NS-Verbrechen hervor. So hat Wladimir Putin den Holocaust letztes Jahr nicht nur in seinem Artikel 75 Jahre Großer Sieg: Gemeinsame Verantwortung für Geschichte und Zukunft4 erwähnt, sondern auch in seiner Rede bei der Siegesparade 2020.5 Das zeigt, dass der Holocaust auf Staatsebene erstmals überhaupt als integraler Bestandteil des Großen Vaterländischen Krieges wahrgenommen wird.

    In diesen Reden werden jedoch immer wieder drei Thesen vorgebracht. Erstens wird der Holocaust zwar als schreckliches Verbrechen bezeichnet. Doch wird dabei darüber hinweggegangen, dass er sich nicht nur in Europa, sondern auch auf dem Territorium der UdSSR und des heutigen Russland abgespielt hat.6 Zweitens wird die Beteiligung baltischer und ukrainischer Kollaborateure an diesem Verbrechen benannt, während die russischen und belarussischen keine Erwähnung finden. Und drittens wird schließlich auf die entscheidende Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hingewiesen. 

    Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung

    Das Schweigen über den Holocaust auf dem Territorium Russlands ist offenkundig ein Erbe der sowjetischen Geschichtsschreibung, die die Vernichtung der sowjetischen Juden verschwieg. Die beiden anderen Thesen stehen hingegen im Zusammenhang mit der heutigen politischen Lage. Russlands Beziehungen zu vielen postsowjetischen Ländern gestalten sich äußerst schwierig. Dabei wird der Holocaust als Argument herangezogen, um die russische politische Position zu rechtfertigen. Darauf beruht auch das russische Vorgehen gegen die Heroisierung von NS-Erfüllungsgehilfen in den betreffenden Ländern, die dort mitunter vor allem als Kämpfer gegen die Sowjetunion gelten und entsprechend positioniert werden (etwa durch die Verleihung hoher staatlicher Auszeichnungen, Umbenennung von Straßen und Stadien, Errichtung von Denkmälern oder Kundgebungen von SS-Legionären). 

    Auch das Verhältnis Russlands zu den westlichen Ländern ist kompliziert. Russische Politiker und Medien heben daher immer wieder die Rolle der Roten Armee bei der Rettung der europäischen Juden hervor und bedienen zugleich die Vorstellung, diese werde in den USA und Europa totgeschwiegen. 

    Zugleich ist die UNO-Resolution zur Einführung eines internationalen Holocaust-Gedenktages in Russland bis heute nicht umgesetzt worden, obwohl es 2005 selbst zu den Initiatoren dieser Resolution gehörte.7 Auch wiederholte Appelle des Holocaust-Zentrums sowie jüdischer und Menschenrechtsorganisationen, die sich immer wieder einzeln und gemeinsam an die russischen Behörden wandten, konnten daran nichts ändern. Dabei war das neue Datum als Nationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust und die soldatischen Befreier der Nazi-Todeslager vorgeschlagen worden – sprich, in einer Formulierung, die mit dem offiziellen Diskurs über den Krieg sehr gut vereinbar gewesen wäre. Doch die letzte offizielle Antwort der russischen Präsidialverwaltung lautete, es gebe in Russland bereits einen Gedenktag, der alle mit einbeziehe: nämlich den 22. Juni, den Beginn des Großen Vaterländischen Krieges

    Vor diesem Hintergrund der widersprüchlichen Erinnerungspolitik ist es nicht allzu verwunderlich, dass die Leugnung des Holocaust in Russland, anders als in vielen europäischen Ländern, nicht strafrechtlich verfolgt wird.8 Sie steht vielmehr in einer Reihe mit der „Heroisierung“ von Kollaborateuren und der „Leugnung der Rolle der UdSSR beim Sieg über den Nationalsozialismus“. So leugnen denn auch einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und sogar Universitätsprofessoren offen den Holocaust. Der Versuch, den Permer Aktivisten Roman Juschkow wegen Rehabilitierung des Nationalsozialismus strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, endete mit seinem Freispruch durch die Geschworenen. Juschkow forderte daraufhin zynisch eine Entschädigung in Höhe von 6 Millionen Rubel – eine Anspielung auf die angeblich „erdichtete“ Zahl der Holocaust-Opfer.9

    Wladimir Matwejew, Professor an zwei Sankt Petersburger Universitäten, erklärte bei einem Vortrag vor Lehrern in der Region Leningrad am Vorabend des Internationalen Holocaust-Tages 2021 rundheraus, der Genozid an den Juden sei eine Erfindung. Den russischen Staatsorganen ist zugute zu halten, dass der Leugner in diesem Fall umgehend entlassen und vor Gericht gestellt wurde.10

    Museen, Wissenschaft, Bildung

    Das ambivalente Verhältnis zum Gedenken an den Holocaust zeigt sich auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. So wurde 1998 in Moskau das Museum für jüdisches Erbe und den Holocaust eröffnet, wobei auch der damalige russische Präsident Boris Jelzin anwesend war. Trotz der Bezeichnung wird dem Genozid an den Juden in der Ausstellung nur wenig Platz eingeräumt. Auch die Initiative des Holocaust-Zentrums, in Moskau ein eigenes staatliches „Holocaust-Genozid-Toleranz“-Museum einzurichten, wurde nicht umgesetzt. Allerdings entstand daraus zunächst eine kleine Dauerausstellung über den Holocaust im (2005 eröffneten) Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges, und später wurde in Moskau das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz gegründet. An den Veranstaltungen dieses Museums hat wiederholt der russische Präsident teilgenommen, was breiten Niederschlag in der Berichterstattung der russischen Medien fand. In den Geschichts- und Heimatmuseen der ehemals von NS-Deutschland besetzten Regionen kommt das Thema Holocaust bis auf wenige Ausnahmen hingegen nicht vor.

    Wladimir Putin bei einem Besuch des Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz in Moskau, 2019 / Foto © kremlin.ru
    Wladimir Putin bei einem Besuch des Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz in Moskau, 2019 / Foto © kremlin.ru

    Ein weiteres Beispiel ist die wissenschaftliche Erforschung des Holocaust. Einerseits konnten russische Wissenschaftler in den letzten Jahren Dokumente auswerten, die bis Anfang der 1990er Jahre unter Verschluss waren, und konnten so die Forschung erheblich voranbringen.11 Dank ihrer Arbeit entstand die Enzyklopädie Der Holocaust auf dem Territorium der Sowjetunion12 – ein Nachschlagewerk von über 1000 Seiten, an dem fast 100 Forscher mitgewirkt haben, darunter Vertreter von 15 russischen Universitäten.13 Andererseits findet diese Enzyklopädie in der akademischen Geschichtsschreibung immer noch selten Verwendung, und in allgemeinen Darstellungen zur Geschichte des NS-Besatzungsregimes wird dem Holocaust nicht der ihm zustehende Stellenwert eingeräumt. Auch in Schul- und Universitätslehrbüchern weist die Darstellung des Genozids nach wie vor erhebliche Lücken auf. 

    Bis heute ist die wissenschaftliche und pädagogische Literatur ganz überwiegend nicht bereit, anzuerkennen, dass der Holocaust als Versuch, ein ganzes Volk vollständig auszulöschen, ohne Beispiel ist. Die Juden werden unter den übrigen Opfern aufgeführt, in der Regel nach den slawischen Völkern. Nicht durchgesetzt hat sich in Russland auch die These von der Universalität des Holocausts, die im Westen für die Erforschung des Zweiten Weltkriegs und die Genozidforschung eine zentrale Rolle spielt. Dabei geht es um die Bedeutsamkeit der Erkenntnisse aus dieser Tragödie für die Auseinandersetzung mit anderen Genoziden der jüngeren Geschichte.14 

    „Friedliche Sowjetbürger“

    Die sowjetische Tradition, die Opfer des Holocaust unter die umgekommenen „friedlichen Bürger“ zu subsumieren, macht sich auch dort bemerkbar, wo der ermordeten Juden gedacht werden soll. Es gibt in Russland Hunderte von Stätten, an denen Massenexekutionen von Juden stattfanden. In den allermeisten Fällen befinden sich an diesen Orten keine Denk- und Mahnmäler, die auf die ethnische Zugehörigkeit der Opfer hinweisen. Das Bestreben, daran etwas zu ändern, geht von der russischen Zivilgesellschaft aus. 2009 wurde das Projekt Die Würde zurückgeben ins Leben gerufen. Dank dieser Initiative konnten mit Unterstützung der lokalen Behörden bereits rund 90 Mahnmale mit den Namen der Opfer sowie Gedenktafeln errichtet werden. So wurde 2011/2012 im Dorf Ljubawitschi in der Region Smolensk, das vor einigen Jahrhunderten ein bedeutendes Zentrum des Judentums war, ein eigenes Denkmal für die Opfer des Holocaust eingeweiht.

    Etwa zur gleichen Zeit, im November 2011, wurde jedoch auch erstmals in der Geschichte des heutigen Russlands eine bereits errichtete Gedenktafel mit einem Text zu den Opfern des Holocaust wieder demontiert. Dies geschah in Rostow am Don, am Ort des „russischen Babyn Jar“ – der größten Massenerschießung von Jüdinnen und Juden auf dem Territorium, das heute russisches Staatsgebiet ist. Die Tafel wurde auf Beschluss des Bürgermeisters angebracht und von dem ihm unterstellten Leiter des Kulturamts wieder entfernt. Auf der neuen Tafel war anstelle von Juden wieder die Rede von „friedlichen Sowjetbürgern“. Dieser Akt der „Entjudaisierung des Holocaust“15 führte zu Diskussionen in der Region und im Internet und sogar zu einem Gerichtsverfahren. 2014 wurde schließlich noch einmal eine neue Gedenktafel angebracht, auf der zwar die Juden genannt werden, nicht jedoch das Wort „Holocaust“.

    Holocaust oder „Genozid am sowjetischen Volk“

    Diese ablehnende Einstellung gegenüber dem Wort „Holocaust“ ist im jetzigen Russland jedoch eher die Ausnahme. Der Begriff ist nicht mehr tabu wie zu Sowjetzeiten; im Gegenteil wird reger Gebrauch von ihm gemacht. Paradoxerweise lässt seine Popularisierung sich sehr gut mit der Renaissance der sowjetischen Interpretation der Geschehnisse in Einklang bringen. Man muss das Wort „Holocaust“ dazu nur auf andere Tragödien ausweiten. 

    So veröffentlichte die Russische Militärhistorische Gesellschaft (RWIO) unter der Leitung des früheren Kulturministers Wladimir Medinski 2019 die Zusammenfassung eines Fachvortrags unter der Überschrift „In der RWIO wurde berichtet, wie die Nazis den slawischen Holocaust vorbereiteten“16. Formulierungen, die das Wort „Holocaust“ verwenden, sind keine Seltenheit. Sie können sich auf Ereignisse aus verschiedenen historischen Perioden beziehen und müssen nicht einmal im Zusammenhang mit dem Krieg stehen. Von dem Historiker Michail Mjagkow, dem wissenschaftlichen Direktor der RWIO, stammt die Aussage: „Faktisch waren die Sowjetbürger ebenso Opfer eines Genozids wie das jüdische Volk.“17

    Diese begriffliche Dehnung und Gleichsetzung aller in den besetzten Gebieten von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen mit den Opfern des Genozids wird auch durch Ermittlungen befördert, bei denen NS-Verbrechen 75 Jahre nach Kriegsende neu untersucht werden. 1942 fanden bei dem Dorf Shestjanaja Gorka in der Region Nowgorod Massenerschießungen statt. Die Opfer stammten aus der lokalen Bevölkerung und nur eine relativ kleine Anzahl von ihnen war jüdisch. Im Jahr 2019 leiteten die Ermittlungsbehörden eine Untersuchung dieses Falls ein. Das Geschehen selbst und die Hinrichtungsstätte waren bereits 1947 bei einem Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher festgehalten worden. Die Entscheidung des lokalen Gerichts am 27. Oktober 2020 stützte sich – erstmals bei einer Verhandlung über die Hinrichtung von Zivilisten – auf den Artikel über Genozid.18 Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, auf dessen Grundlage die Ermittlung- und Justizbehörden Russlands derzeit etwa zehn weitere Verfahren durchführen. Das Gericht bezeichnete die Verbrechen in der Urteilsbegründung als „Genozid an nationalen und ethnischen Gruppen, die die Bevölkerung der UdSSR, die Völker der Sowjetunion, repräsentieren“. Sie seien „Teil eines Plans“ gewesen, „mit dem NS-Deutschland sich der gesamten örtlichen Bevölkerung der Sowjetunion entledigen wollte“19

    Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft

    Die neuerliche Untersuchung war unter anderem dadurch motiviert, dass einige der Täter aus Lettland kamen (wobei diese allerdings zum Teil russischer Abstammung waren und der KGB die Namen der NS-Handlanger bereits vor 50 Jahren erfahren hatte). Viele der Medien, die diese Ereignisse als Genozid darstellten, thematisierten deshalb nicht die ethnische Identität der Opfer, sondern die der Täter.20 Die gleiche Tendenz zeigte sich in den russischen Medien, als Dokumente über Massenexekutionen veröffentlicht wurden, die 1941 in Südrussland stattfanden. Auch diese Ereignisse wurden als „Genozid“ bezeichnet und in den Berichten wurden ukrainische Täter erwähnt.21 Dabei waren die Erschießungen von der deutschen Geheimpolizei durchgeführt worden, und auf der Liste der Kollaborateure standen überwiegend russische Nachnamen.

    Solche Darstellungen bedienen natürlich die ideologische Konfrontation mit den postsowjetischen Ländern, und auch in Russland selbst entfalten sie eine Art mobilisierende Wirkung. Aber sie provozieren dabei zwangsläufig Erinnerungskriege, auch innerhalb der russischen Gesellschaft. 
    Wer den Begriff „Genozid am sowjetischen Volk“ bejaht, erkennt die 6 Millionen Opfer des Holocaust zwar an, setzt ihnen jedoch faktisch die „27 Millionen getöteten Bürger unseres Landes“ entgegen. Damit zählen dann die etwa 2,6 Millionen Juden, die während der deutschen Besatzung der Sowjetunion und in Kriegsgefangenenlagern ermordet wurden, nicht mehr als Opfer des Holocausts. Als Teil des „sowjetischen Volks“ werden sie zu ermordeten „friedlichen Sowjetbürgern“, wie in Vor-Perestroika-Zeiten. Das kaschiert, dass die Juden gezielt aufgrund ihrer „rassischen Eigenschaften“ vernichtet wurden. 

    Die Beispiellosigkeit des Holocaust

    Die Invasoren haben Millionen sowjetischer Menschen umgebracht – sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (so die Juden und auch die Roma), aber auch aus anderen Gründen – Widerstandskämpfer, Staats- und Parteifunktionäre, Geiseln, Kriegsgefangene. Die Opfer des Holocaust sind nicht die einzigen sowjetischen Menschen, die getötet wurden; sie stellen nicht einmal zahlenmäßig die Mehrheit. 

    Doch zum Holocaust gehört neben Massenmord und Hunger auch die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der Opfer. Gegen die Juden wurden besondere Zwangsmaßnahmen ergriffen, von denen die restliche sowjetische Bevölkerung nicht betroffen war: Die Feststellungung der ethnischen Zugehörigkeit, die Umsiedlung ins Ghetto, die Markierung mit besonderen Abzeichen, das Verbot, Kinder zu bekommen, besonders perfide Formen der Zwangsarbeit, das Verbot, religiöse Bräuche zu praktizieren und vieles mehr, was für die restliche Bevölkerung nicht galt.

    Historiker und Juristen müssen alle Hinweise auf Völkermord auf dem besetzten Territorium der Sowjetunion gemeinsam sorgfältig untersuchen. Dabei sind auch Tatsachen zu berücksichtigen, die sich kaum als „Genozid am sowjetischen Volk“ einstufen lassen. So wurden unter der Besatzung zahlreiche Kirchen eröffnet, kulturelle Einrichtungen, Institute und Gymnasien betrieben und mehr als 400 Zeitungen auf Russisch und in anderen Sprachen publiziert. Für die Juden gab es das alles nicht. Für sie war die vollständige Auslöschung vorgesehen.

     
     
    Zum Weiterlesen
    Altman, Ilja (2005): Shoah: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung, in: Osteuropa, 55, 2005, H.4/5/6, S.149-164
    Subotic, Jelena (2019): Yellow Star, Red Star: Holocaust Remembrance after Communism. Ithaca, New York
    Karlsson, Klas-Göran (2013): The Reception of the Holocaust in Russia: Silence, Conspiracy, and Glimpses of Light, in: Himka, John-Paul/Michlic, Joanna Beata (Hrsg.): Bringing the Dark Past to Light: The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe, S.  487-515
    Rebrova, Irina (2020): Re-Constructing Grassroots Holocaust Memory: The Case of the North Caucasus. Oldenbourg
    Winkler, Christina (2020): The Holocaust on Soviet Territory—Forgotten Story? Individual and Official Memorialization of the Holocaust in Rostov-on-Don, in: Brooks, Crispin/Feferman, Kiril (Hrsg.): Beyond the Pale: The Holocaust in the North Caucasus, S. 241-262
    Winkler, Christina (2015): Der russische Blick auf die Shoah, in: S:I.M.O.N. Shoah: Intervention. Methods, Documentation 2 (2), 25-37.
     

     


    1. Jewish Currents: Nurturing Holocaust Studies in the Former Soviet Union: An Interview with Ilya Altman ↩︎
    2. Der Rahmenplan wurde nicht offiziell eingeführt und blieb über zehn Jahre Gegenstand von Diskussionen zwischen Lehrern und Bildungsbehörden. Doch auf Grundlage dieses Dokuments wurden neue Lehrbücher für weiterführende Schulen zur Landesgeschichte und allgemeinen Geschichte sowie zur Gesellschaftskunde erarbeitet. ↩︎
    3. vgl. Tema Cholokosta v škol’nych učebnikach: posobie dlja učitelja. Moskau, Centr «Cholokost», 2010 ↩︎
    4. vgl. kremlin.ru: 75 let Velikoj Pobedy: obščaja otvetstvennost‘ pered istoriej i buduščim ↩︎
    5. vgl. kremlin.ru: Parad Pobedy na Krasnoj ploščadi ↩︎
    6. Als Ausnahme kann die 2020 anlässlich des 5. World Holocaust Forums in Jerusalem getätigte Aussage Wladimir Putins gelten, wonach es sich bei nicht weniger als 40 Prozent der Opfer des Holocausts um Staatsbürger der Sowjetunion gehandelt habe. Diese Zahl ist umstritten. ↩︎
    7. Mit einem solchen Vorschlag trat auch bereits 2002 General Vasilij Petrenko an die Regierung heran. Dieser hatte 1945 eine der Divisionen befehligt, die das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, vgl. Petrenko, V. J. (2000): Do i posle Osvencima. Moskau, Centr «Cholokost». 2002 erschien eine französische Ausgabe unter dem Titel: General Petrenko: Avant et après Auschwitz: suivi de Le Kremlin et l’Holocauste, 1933-2001 ↩︎
    8. Im Jahr 2000 erschien in der Reihe Russische Bibliothek des Holocausts die erste diesem Thema gewidmete Arbeit, vgl.: Al’tman, M. М. (2000): Otricanie Cholokosta v Rossii, Moskau, Centr «Cholokost» ↩︎
    9. vgl. Kalich, A. (2020): Permskoe delo ob otricanii Cholokosta: reakcija obščestva i SMI, in:Al’tman, I.A. /Verbnaja, V.V./Gileva, M.V./Tichankina, S.A. (Hrsg.): Voprosy protivodejstvija ksenofobii i ėtničeskoj neterpimosti na primere istorii Cholokosta i terrora: Metodičeskie rekomendacii dlja žurnalistov, Moskau, Centr «Cholokost», S. 51-59 ↩︎
    10. vgl. Komsomol’skaja Pravda: «Peterburgskogo professora, otricavšego cholokost, uvolili iz instituta» ↩︎
    11. vgl. etwa Krinko, E. F. /Kropačev, S. A. (2013): Otečestvennaja istoriografija Cholokosta o čislennosti ego žertv, in: Rossijskaja istorija, 2013, №4, S. 136-151 ↩︎
    12. Ėnciklopedija Cholokosta na territorii SSSR (Red. I.A. Al’tman): Moskau, ROSSPĖN und Centr «Cholokost», 2009 ↩︎
    13. In dem Band sind über 2000 Artikel zu jüdischen Siedlungen auf dem Gebiet der UdSSR in den Grenzen vom 22. Juni 1941 und über 300 thematische Artikel zum Holocaust an den sowjetischen Juden und zu Opfern und Tätern mit anderer Staatsangehörigkeit auf dem Territorium der UdSSR während des Holocausts versammelt. ↩︎
    14. So formulierte bereits einige Jahre vor dem Erscheinen ähnlicher Arbeiten im Westen der Philosoph und erste Präsident des Zentrums Holocaust, Mikhail Gefter, Gedanken zur Universalität des Holocaust: „Einen Genozid gegen ein einzelnes Volk gibt es nicht; Genozide richten sich immer gegen alle.” Bezeichnend ist auch der Titel des ersten Buches in der Reihe Russische Bibliothek des Holocausts: Das Echo des Holocausts und die jüdisch-russische Frage [M Ja. Gefter (1995): Ėcho Cholokosta i russkij evrejskij vopros, Moskau, Centr “Cholokost”]. ↩︎
    15. In der Forschung zu Erinnerungskultur finden sich einige Arbeiten zu diesem Phänomen, vgl. etwa Berger, R. J. (2012): The Holocaust, Religion and Politics of Collective Memory, New York, S. 163. Symbole dafür waren das Museum in Auschwitz bis Ende der 1980er Jahre und das Denkmal in Babyn Jar Mitte der 1970er Jahre. ↩︎
    16. vgl. Rossijskoe voenno istoričeskoe obščestvo: V RVIO rasskazali, kak nacisty gotovili slavjanskij cholokost ↩︎
    17. vgl. RIA Novosti: Michail Mjagkov: Zapad spustja 75 let zabyl uroki Njurnberga ↩︎
    18. Ugolovnyj kodeks Rossijskoj Federacii ot 13.06.1996 N 63-FZ (red. ot 05.04.2021, s izm. ot 08.04.2021): Stat’ja 357: Genocid ↩︎
    19. vgl. Russkij Dozor:„’Fakt, imejuščij juridičeskoe značenie’: sud priznal genocidom ubijstva sovetskich graždan nacistami v Žestjanoj Gorke” ↩︎
    20. vgl. etwa Krasnaja Wesna:SK RF ustanovil pričastnost‘ latyšskich karatelej k genocidu v SSSR ↩︎
    21. vgl. etwa: Žurnalistskaja Pravda: FSB rassekrečena informacija o genocide na juge SSSR ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

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  • Der Holocaust in der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten

    Der Holocaust in der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten

    Etwa sechs Millionen Juden fielen dem Holocaust zum Opfer, die überwiegende Mehrheit in Osteuropa. Rund drei Millionen von ihnen hatten zuvor in Polen gelebt und auch die deutschen Vernichtungslager, bis heute weltweites Symbol des nationalsozialistischen Völkermords, befanden sich auf polnischem Boden. Doch nicht nur das polnische Judentum wurde fast vollständig ausgelöscht: Auch auf dem Gebiet der Sowjetunion ermordeten deutsche Einheiten unter Mithilfe einheimischer Hilfskräfte Millionen Menschen. Nur wenige kamen in die Vernichtungslager in Polen, die Juden aus der Ukraine und dem Baltikum, aus Belarus, Russland und Moldawien wurden meist Opfer von Massenerschießungen. Obwohl etwa einem Drittel der sowjetischen Juden die Evakuierung gelungen war, gab es gerade in jenen Gebieten, die erst 1939/1940 von der Sowjetunion annektiert worden waren, kaum eine Chance auf Untertauchen und Überleben.

     

    Minsk 1941 (Farbfoto) / Foto © Bundesarchiv, N 1576 Bild-006/Herrmann, Ernst, CC-BY-SA 3.0
    Minsk 1941 (Farbfoto) / Foto © Bundesarchiv, N 1576 Bild-006/Herrmann, Ernst, CC-BY-SA 3.0

    Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten in der Sowjetunion etwa 2,8 Millionen Juden. Ihre Gemeindestrukturen und politischen Organisationen waren durch die sowjetische Herrschaft der vergangenen 20 Jahre zerschlagen worden. Ein vielseitiges jüdisches Leben wie im Zarenreich oder in den ersten Jahren der Sowjetunion existierte nicht mehr und Judentum wurde nun als Nationalität definiert. Mit den sowjetischen Annexionen Ostpolens (1939) sowie Bessarabiens und des Baltikums (1940) wuchs die jüdische Bevölkerung um etwa 1,6 Millionen Menschen, hinzu kamen etwa 200.000 Flüchtlinge aus den deutsch besetzten Gebieten.1 Somit hatten die Gruppen, die man gemeinhin als „sowjetische“ Juden bezeichnet, recht unterschiedliche soziale, politische und kulturelle Charakteristika.

    Die deutsche Invasion in der Sowjetunion 1941/42 erstreckte sich schließlich über Gebiete, in denen etwa 4,1 Millionen Juden lebten. Allerdings entging ein erheblicher Teil von ihnen der Besatzung. Denn während Ostpolen und Litauen innerhalb weniger Tage von der Wehrmacht überrannt wurden, blieb in den weiter östlich gelegenen Gebieten Zeit, um Teile der Bevölkerung zu evakuieren. Dies betraf vor allem Fachpersonal samt Familien, darunter auch zahlreiche Juden. Zudem wurde ein Teil der jüdischen Männer zur Roten Armee eingezogen. Allerdings hatten es die sowjetischen Stellen während der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts bis Juni 1941 unterlassen, die jüdische Bevölkerungsgruppe über die Verfolgungen unter deutscher Herrschaft zu unterrichten. Fast alle der etwa 2,5 bis 2,6 Millionen Juden, die in den westlichen Gebieten der Sowjetunion zurückgeblieben waren, fanden während der deutschen Besatzung den Tod.2

    Die Eskalation des Holocaust

    Mit dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann auch der systematische Mord an den Juden Europas. Zwar hatten Sicherheitspolizei und einzelne Einheiten der Wehrmacht bereits nach dem Krieg gegen Polen Massenerschießungen an Polen und Juden vorgenommen und zehntausende Juden waren dort in Lagern und Ghettos umgekommen. Doch für den Krieg gegen die Sowjetunion waren noch weit größere Verbrechen geplant. Bevölkerung und Kriegsgefangene sollten dort nicht nur völlig entrechtet werden – bestimmte Personengruppen sollten direkt ermordet werden. Dieser deutsche Vernichtungskrieg richtete sich nicht nur gegen alle Juden, sondern auch gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen mindestens 2,5 Millionen verhungerten oder erschossen wurden, Roma, Patienten psychiatrischer Anstalten, kommunistische Funktionäre und die Bevölkerung in den Partisanengebieten, wo Hunderttausende ihr Leben bei angeblichen „Vergeltungsaktionen“ verloren. Das genaue Ausmaß dieser Mordbefehle lässt sich heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Sicher ist jedoch, dass im Zuge des Kampfes gegen den vorgeblichen „jüdischen Bolschewismus“ Angehörige der sowjetischen Eliten in Kommunistischer Partei und Staatsapparat, insbesondere alle Juden unter ihnen, direkt nach dem Einmarsch getötet werden sollten, ebenso wie gefangene Politoffiziere und jüdische Soldaten der Roten Armee. Darüber hinaus war geplant, große Teile der Bevölkerung von der Nahrungsmittelversorgung abzuschneiden und verhungern zu lassen. Schließlich ergingen auch besondere Befehle gegen die jüdische Bevölkerung, insbesondere jüdische Männer im wehrfähigen Alter sollten ermordet werden.3

    Jüdische Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft, 1942 (Farbfoto) / Foto © PIXPAST.com
    Jüdische Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft, 1942 (Farbfoto) / Foto © PIXPAST.com

    Bereits wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion begannen deutsche Einheiten mit ihren Mordaktionen, so am 23. Juni 1941 im westukrainischen Sokal, dann am 24. Juni in der Stadt Garsden (Gargždai) im westlichen Litauen. Während der ersten Wochen des Krieges deklarierten die Besatzer diese Mordaktionen als Vergeltung für angebliche Vergehen von Juden, doch bald wurden kaum mehr solche Begründungen vorgeschoben. Die deutsche Polizei suchte nun systematisch nach den führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinden, etwa nach Akademikern und Verwaltungsbeamten. Diese wurden unter Vorwänden zur Meldung aufgerufen und anschließend erschossen. Darauf folgten junge jüdische Männer, die ebenfalls zu einem erheblichen Teil ermordet wurden.

    Mit dem schnellen Vormarsch der Wehrmacht im Juli/August 1941 drangen die Mordkommandos immer weiter nach Osten vor. Vereinzelt begannen sie nun, auch jüdische Frauen und Kinder zu erschießen, so zuerst in Mitau (Jelgava) in Lettland. Die neu installierte Zivilverwaltung in Litauen forderte sogar, Frauen und Kinder systematisch zu ermorden, da die Männer und damit oft die Ernährer der Familien bereits getötet worden waren. Den Übergang zu einer neuen Dimension der Massenmorde markiert das Massaker in Kamjanez-Podilskyj in der Ukraine, wo Ende August 1941 innerhalb von zwei Tagen 23.800 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden.

    Totaler Massenmord

    Spätestens an diesem Punkt wurde deutlich, dass alle Juden in den besetzten Gebieten ermordet werden sollten. Auch in Litauen löschten deutsche und litauische Kommandos im August/September 1941 ganze jüdische Gemeinden aus, lediglich in Wilna, Kaunas und Schaulen (Siauliai) sind Ghettos eingerichtet worden. Aber besonders weiter östlich, hinter der Front, begannen die deutschen SS- und Polizeikommandos unmittelbar nach der Eroberung von Städten damit, alle dort verbliebenen Juden binnen kurzer Zeit zu ermorden. Ihren Höhepunkt erreichten diese Verbrechen dann aber nach der Eroberung Kiews. In enger Absprache mit den Wehrmachtstellen organisierte die Einsatzgruppe C einen Aufruf an alle in Kiew verbliebenen Juden, sich am 29. September an einer Kreuzung im Westen der Stadt zu versammeln. Eine Augenzeugin schrieb in ihr Tagebuch: „Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. Viele führen ihr Hab und Gut auf Schubkarren mit sich, aber die meisten tragen Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich.“4 An diesem und dem folgenden Tag ermordete das Sonderkommando 4a zusammen mit einem Polizeibataillon und ukrainischen Helfern 33.771 Menschen im Babyn Jar-Park. Weitere solche Massaker folgten im Oktober in Dnjepropetrowsk und im Dezember in Charkiw.
     


    Jüdische Organisationen errichteten nach Zusammenbruch der Sowjetunion dieses Denkmal am Rande der Schluchten von Babyn Jar. / Foto © Martin Fejer/EST&OST/imago-images

    Zuletzt erreichten die deutschen Besatzer auch die Kerngebiete der Sowjetunion, also das Territorium der RSFSR. Auch dort richteten sie kaum Ghettos ein, sondern erschossen binnen weniger Tage alle Juden, die sie ergreifen konnten, insgesamt bis zu 200.000 Menschen. Der Mehrzahl der jüdischen Einwohner auf dem Gebiet des heutigen Russlands war jedoch vorher die Flucht ins Innere der Sowjetunion gelungen.5

    Im September/Oktober 1941 wandten die deutschen Funktionäre ihre Aufmerksamkeit wieder den westlichen Gebieten der Sowjetunion zu. Dort lebten die meisten Juden noch, weil die Mordkommandos oft schnell mit den Fronttruppen weitergezogen waren. Insbesondere in jenen ehemals ostpolnischen Gebieten, die 1939 von Stalin annektiert und der Belarussischen und der Ukrainischen SSR angegliedert worden waren, setzte nun eine zweite Welle von Massakern ein. Anders als noch im Sommer, als vor allem Männer erschossen wurden, ermordeten die Täter nun vor allem Kinder, alte Menschen und auch Frauen, weil man diese nicht als Arbeitskräfte einsetzen wollte. Auch die Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich diente als Vorwand, um die einheimischen Juden zu ermorden, so beim Rigaer Blutsonntag Ende November/Anfang Dezember 1941.

    Die Mehrzahl der Massenmorde fiel ins Jahr 1942. Vor allem im ehemaligen Ostpolen wurde zwischen Mai und November ein Ghetto nach dem anderen durch Massenerschießungen vernichtet. Dazu dienten auch die beiden Vernichtungsorte Bronnaja Gora und Maly Trostenez im heutigen Belarus. Nach der zweiten deutschen Offensive, die 1942 bis nach Stalingrad führte, gerieten auch die Juden im Nordkaukasus in eine tödliche Falle. Oft handelte es sich um Menschen, die aus anderen Gebieten geflüchtet oder evakuiert worden waren und nun im September/Oktober 1942 den Deutschen in die Hände fielen und sofort erschossen wurden. Lediglich in Ostgalizien, in Minsk, Riga und Litauen bestanden einige Ghettos bis ins Jahr 1943, dann wurden auch deren Insassen ermordet oder in Zwangsarbeitslager – vor allem in Estland – deportiert. Die letzten jüdischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen deportierte die SS dann 1944 nach Westen, wo sie im Strudel der Evakuierungen und „Todesmärsche“ wenig Chancen auf Überleben hatten.

    Verzeichnis der Orte, in denen in der besetzten Sowjetunion mehr als 500 Juden erschossen wurden / Karte © Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Stiftung Topographie des Terrors6

    Die Täter und ihre Helfer

    Es waren nicht allein die berüchtigten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die massenhaft mordeten. Zunehmend wurden auch reguläre Polizeibataillone der Ordnungspolizei eingesetzt. Als dritte Kraft aus dem SS- und Polizeiapparat traten zwei Brigaden der Waffen-SS zu den Tätern. Insbesondere die SS-Kavalleriebrigade, die im Raum zwischen Belarus und der Ukraine eingesetzt war, ermordete im Zuge vermeintlicher Partisanenbekämpfung Zehntausende jüdischer Menschen. Und auch die Wehrmacht unterstützte die Verbrechen nicht nur tatkräftig durch ihre Militärverwaltung und Logistik, einzelne Einheiten erschossen selbst Juden. Für die Ermordung von etwa 50.000 jüdischen Kriegsgefangenen war die Wehrmacht sogar überwiegend verantwortlich.7

    Lange ist übersehen worden, dass nicht nur die deutschen Angreifer, sondern auch ihre rumänischen Verbündeten einen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion führten. Schon unmittelbar nach ihrem Angriff Anfang Juli 1941 begannen rumänische Einheiten damit, Juden in Bessarabien und der nördlichen Bukowina zu ermorden, Regionen, die Stalin 1940 Rumänien abgenommen hatte. Bei ihren Verbrechen standen die rumänischen Täter den Deutschen in nichts nach. Nach der Besetzung der Großstadt Odessa im Oktober 1941 verübten sie sogar eines der größten Massaker des Holocaust, mindestens 25.000 Juden wurden in der Hafenstadt ermordet, wahrscheinlich noch erheblich mehr. Danach vertrieben die rumänischen Besatzer die überlebenden Juden Richtung Norden innerhalb ihres eigenen Besatzungsgebietes, wo sie zwischen Dezember 1941 und März 1942 deutschen, rumänischen und ukrainischen Einheiten zum Opfer fielen. Vermutlich fallen zehn Prozent aller Morde an Juden in der besetzten Sowjetunion in die Verantwortlichkeit rumänischer Stellen.8

    In den besetzten sowjetischen Gebieten, sowohl weiter westlich als auch in der Russischen Föderation, waren einheimische Helfer am Holocaust beteiligt. Daneben bemühten sich die Besatzer darum, in Zusammenarbeit mit antikommunistischen Untergrundgruppen Pogrome auszulösen. Dies gelang vor allem in der Westukraine, etwa in Lemberg, Tarnopol oder Zloczow sowie in Litauen. Nicht selten initiierten einheimische antisemitische Aktivisten diese Gewaltaktionen auf eigene Faust, die oft parallel zu den deutschen Massenerschießungen verliefen.9

    Kein Entkommen

    Für die Juden unter Besatzung war die Lage nahezu aussichtslos. Die stalinistische Staatsführung machte die deutschen Verbrechen an Juden zwar anfangs international bekannt, unternahm jedoch kaum etwas zur Rettung von Menschenleben. Vielmehr zeigte sie ab 1942 zusehends selbst antisemitische Züge.10 Wer 1941 nicht hatte fliehen können, war nun ungehemmter Gewalt ausgeliefert. Insbesondere in der Westukraine und im Baltikum sahen sich die Juden zudem mit einer antisemitisch eingestellten Bevölkerungsmehrheit konfrontiert. Nicht selten kamen Denunziationen von Nachbarn; einheimische Polizisten machten den Verfolgten das Leben schwer und verübten auf eigene Faust Gewaltakte. Antikommunistische Untergrundgruppen wie die Ukrainische Aufstandsarmee waren sogar mehrheitlich antisemitisch eingestellt und ermordeten oftmals versteckte Juden.11 Nur in größeren Städten war die Möglichkeit gegeben, in Verstecken oder mit falschen Papieren unterzutauchen. Die ersten kleinen jüdischen Widerstandsgruppen bildeten sich um die Jahreswende 1941/42, teilweise mit dem Ziel, Rache für die Verbrechen zu üben, in erster Linie aber, um Menschenleben zu retten. So beteiligten sie sich an Ghettorevolten und Fluchtversuchen. Eine Flucht war jedoch fast nur in Regionen mit Waldgebieten erfolgreich, da man hier zeitweise untertauchen und selbst einige „Familienlager“ bilden konnte. Außerdem operierten dort Partisanengruppen. Obwohl diese den Juden meist ambivalent gegenüberstanden, gelang doch einigen, meist jungen Männern die Aufnahme. Insgesamt überlebte jedoch nur ein Bruchteil der untergetauchten Juden den Krieg.

    Nach dem Holocaust

    Nach dem Ende des Krieges wurde der Holocaust in der Sowjetunion nur kurz thematisiert und verschwand dann als Thema aus der Öffentlichkeit. So wurde etwa die Arbeit am Schwarzbuch über die Vernichtung der Juden eingestellt und die Opfer des Holocaust wurden als „friedliche Sowjetbürger“ zu den Millionen zivilen Opfern des Großen Vaterländischen Krieges gezählt. Erst während der Perestroika fand das Thema in die Öffentlichkeit. In den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion, auf deren Territorium der Holocaust stattgefunden hat, wird bis heute unterschiedlich mit diesem Teil der Geschichte umgegangen. Insbesondere im Baltikum und in der Ukraine kollidiert die Erinnerung an den Judenmord in manchen Orten mit der Heroisierung antikommunistischer Kräfte, von denen einige aber selbst an den Verbrechen beteiligt waren. In Russland wird der Holocaust zwar inzwischen auf politischer Ebene stark in die nationale Geschichtserzählung integriert, auf lokaler Ebene treffen zivilgesellschaftliche Erinnerungsinitiativen jedoch mitunter auf Widerstände.

    Zum Weiterlesen

     
    dekoder-Serie: Der Krieg und seine Opfer – eine Doku über den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945
    Altman, Ilja (2008): Opfer des Hasses: Der Holocaust in der UdSSR 1941–1945, Gleichen/Zürich
    Arad, Yitzhak (2009): The Holocaust in the Soviet Union, Lincoln 
    Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte, Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universtät Freiburg: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I: Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, bearb. von Bert Hoppe, Hildrun Glass, München, 2012 und Band 8: Sowjetunion mit annektierten Gebieten II: Generalkommissariat Weißruthenien und Reichskommissariat Ukraine, bearb. von Bert Hoppe, Imke Hansen, Martin Holler, München, 2016

    1. Altshuler, Mordechai (1998): Soviet Jewry on the Edge of the Holocaust: A Social and Demographic Profile, Jerusalem ↩︎
    2. Pohl, Dieter (2012): Just How Many? On the Death Toll of Jewish Victims of Nazi Crimes, in: Kokh, A./Polian, P. (Hrsg.): Denial of the Denial, or the Battle of Auschwitz: The Demography and Geopolitics of the Holocaust, Boston, S. 129-148 ↩︎
    3. Browning, Christopher (2003): Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942, München, S. 360-428 ↩︎
    4. Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte, Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universtät Freiburg (2012): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I: Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, Band 7, München, S. 296 ↩︎
    5. Rebrova, Irina (2020): Re-Constructing Grassroots Holocaust Memory: The Case of the North Caucasus, Berlin, S. 341 ↩︎
    6. Karte aus der Ausstellung „Massenerschießungen: Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944“, wissenschaftliche Erarbeitung der Karte: Dr. Andrej Umansky, Dr. Alexander Kruglov. Erschießungsorte mit weniger als 500 Opfern sind auf der Karte nicht verzeichnet. ↩︎
    7. Pohl, Dieter (2008): Die Herrschaft der Wehrmacht: Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München, S. 243-282 ↩︎
    8. Ioanid, Radu (2000): The Holocaust in Romania: The Destruction of Jews and Gypsies Under the Antonescu Regime, 1940-1944, Chicago ↩︎
    9. Dean, Martin (2000): Collaboration in the Holocaust: Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941-44, London ↩︎
    10. Kostyrcenko, G. V. (2003): Tajnaja politika Stalina: Vlast‘ i antisemitizm, Moskva ↩︎
    11. McBride, Jared (2016): Peasants into Perpetrators: The OUN-UPA and the Ethnic Cleansing of Volhynia, 1943–1944, in: Slavic Review 75 (2016), S. 630-654 ↩︎

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