дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „I can almost hear the birds”

    „I can almost hear the birds”

    Zehntausende Menschen wurden bis November 1943 in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter vor allem Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus mitteleuropäischen Städten wie Wien. Auschwitz, Bergen-Belsen oder Treblinka sind fester Bestandteil der Erinnerungskultur rund um die mörderische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das kleine Dorf Maly Trostenez nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk mit seinem Wald Blagowschtschina ist als NS-Vernichtungsstätte weniger bekannt. Der belarussische Fotograf Maxim Sarychau hat sich auf den Weg gemacht, um Maly Trostenez im kollektiven Bewusstsein zu verankern. In seinen Bildern für das Projekt I can almost hear the birds visualisiert er die Auswirkungen und Spuren des Massenmordes, indem er Vergangenes und Gegenwärtiges verbindet.  

    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    dekoder: Wie entstand die Idee zu dem Projekt I can almost hear the birds

    Maxim Sarychau: Alles begann mit der Idee, eine Reportagen-Serie zu Maly Trostenez zu machen, die wir 2017 gemeinsam mit der österreichischen Journalistin Simone Brunner im Rahmen des Stipendiums Reporters in der the Field verwirklicht haben. Wir brachten eine Reihe von Beiträgen in deutschsprachigen Publikationen in Österreich und Deutschland heraus. Das Thema hat mich mit seiner historischen und politischen Vielschichtigkeit nicht mehr losgelassen, ich wusste, dass ich weiter daran arbeiten und ein Kunstprojekt dazu machen will, das von den Ereignissen in Maly Trostenez in der Sprache zeitgenössischer Fotografie erzählt. 

    Wann und wie sind Sie persönlich auf die Geschichte von Maly Trostenez gestoßen?  

    Zu meiner Schulzeit haben wir nichts über Maly Trostenez gelernt. In Geschichte nahmen wir den Holocaust nur flüchtig durch, im Kontext des Zweiten Weltkriegs, wobei der Fokus immer auf den Opfern der sowjetischen Bevölkerung lag: die verbrannten Dörfer, der heldenhafte Kampf der Partisanen, der sowjetischen Armee und so weiter. Die Todeslager waren irgendwo „weit weg“ in Europa, und ich hatte keine Ahnung, dass einer dieser schrecklichen Orte mitten in Minsk liegt, meiner Heimatstadt. 

    Als ich 2015 Maly Trostenez zum ersten Mal mit einer Exkursion besuchte, war ich erschüttert von dem Kontrast, den ich dort sah und hörte. In den 70 Jahren, in denen sich Stadt und Natur weiterentwickelt hatten, waren sämtliche Spuren dessen, was hier geschehen war, verschwunden. Die Führung erinnerte an eine Pfadfinderwanderung: Man zeigte uns die schöne Natur- und Stadtlandschaft und erzählte gleichzeitig von den grausamen Methoden des Massenmords. Das Verborgene und Unsichtbare der Geschichte, wo doch jeder Stein von ihr erzählen sollte, wurde zu einem der Konzepte und Themen meines Projekts. 

    Für das Projekt haben Sie Verwandte von Todesopfern in Maly Trostenez getroffen. Wie haben die auf Ihr Projekt reagiert? 

    Von den Angehörigen der Opfer habe ich nicht direkt Feedback zur Ausstellung selbst, da sie nur an zwei Orten gezeigt wurde: im Lettischen Museum für Fotografie in Riga (2020) und in einer gekürzten Version in der digitalen KX- Galerie in Brest (2021). Aber während der Arbeit am Projekt habe ich mit einigen Angehörigen gesprochen, und sie waren alle interessiert daran, die Geschichten ihrer Verwandten, die in Maly Trostenez umgekommen sind, zu erzählen und waren sehr offen, wofür ich sehr dankbar bin. Die jetzige Ausstellung ist die finale Form des Projekts. Sie ist relativ umfangreich, und wenn man den Rezensionen glauben darf, bringt sie die Idee gut rüber. Im Moment habe ich keine Kraft, nach Räumen oder Institutionen zu suchen, die sie noch zeigen könnten, aber ich hoffe, dass sich mit der Zeit etwas ergibt. 

    Was hat es mit dem Titel auf sich: I can almost hear the birds

    2017 besuchte ich das Waldstück Blagowschtschina, den Ort mit den meisten Erschießungsplätzen und Gräbern. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag. Ich stand mitten in einem Märchenwald, umgeben von Pflanzen und Vogelgezwitscher. Und wieder war ich erschüttert von der Diskrepanz zwischen der Schönheit der Umgebung, der Ruhe des Ortes und dem, was hier 1942/43 geschehen ist. Als ich dann das Reisetagebuch von Vienna Duff las, die in Maly Trostenez ihre damals 22-jährige Großtante Adele Steiner verloren hat, fiel mir sofort ein Satz ins Auge, weil er so genau wiedergab, was ich an diesem Ort gefühlt hatte: „I can almost hear the birds, feel the gentle sunshine and breeze and sense the presence of the tall, straight pine trees as I write these words.“ 

    Welche ästhetischen Überlegungen leiteten Sie bei der Visualisierung?  

    Vom Konzept her habe ich hier mit der Unsichtbarkeit gearbeitet, die sich aufdrängt, von welcher Seite auch immer man auf die Vernichtungsstätte Trostenez schaut. Angefangen bei den naturgegebenen Vorgängen – der Natur und der Zeit, der Transformation der europäischen Städte, in denen die Opfer vor der Deportation gelebt haben, bis hin zu den verdeckten Mechanismen der Spezialoperation der Nazis und der Manipulation des historischen Gedenkens an diesem Ort. 

    Wir reagieren alle unterschiedlich stark auf fremdes Leid, das ist normal. Ich fühle mich zum Beispiel nicht bereit, nach Auschwitz zu fahren, um etwas zu begreifen oder zu erspüren. Das könnte eine traumatische Erfahrung sein. Bei diesem Projekt versuche ich, in der Sprache der Kunst über den Holocaust zu sprechen, ohne unmittelbar Bilder von Gewalt zu zeigen oder zu verwenden, sondern indem ich dem Zuschauer aus sicherer Distanz einen Raum für Reflexion und Anteilnahme anbiete. Anstatt zu rekonstruieren oder zu erklären, was in Maly Trostenez geschehen ist, versuche ich mich durch das Mittel der Dokumentarfotografie dem Geschehen anzunähern. Ich sammele visuelle Artefakte und Motive auf verschiedenen Ländern, Epochen, Institutionen und Archiven, die ich dem Publikum präsentiere. Damit möchte ich Fantasie und Einfühlungsvermögen anregen und eine neue Erfahrung ermöglichen. Ich gebe Hilfestellung und lade ein, einen eigenen Weg zu gehen bei dem Versuch, ins Dickicht von Blagowschtschina zu blicken. 

     

    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Yael Kurzbauer im Wald von Blagowschtschina. Sie verlor ihre Urgroßmutter Sofie Tauber (47) und all deren Kinder: Ruth (14), Joseph (13), Erich (11) und Sonia (10), Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

    Legende zum Bild: Kreuzung 

    1. Die Straße zum Erschießungsplatz  

    2. Erschießungsplatz 

    3. Die Stelle, an der das Auto mit den Gefangenen anhielt. 

    4. Aufenthaltsorte der Strafeinheiten 

    5. Die Stelle, wo Albert Saukitens jeden Morgen Stellung bezog. Saukitens war ein lettischer Kollaborateur, der an den Massenerschießungen beteiligt war.  

     

    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau
    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Eingang des Wohnhauses Wollzeile 9 in Wien, eine der so genannten „Sammelwohnungen”, in denen mehrere Familien gezwungen wurden, zusammen auf sehr engem Raum zu leben. Diese Wohnungen entstanden im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Juden im Rahmen der antijüdischen Wohnungsgesetze in Wien. Als 1941 die Deportationen begannen, waren sie für viele Juden vor der Deportation oft die letzte offizielle Adresse. 
    In diesem Haus wohnten mindestens elf Personen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22).   „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22). „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau
    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Susanne Scholl (71) verlor ihre Großeltern mütterlicherseits in Maly Trostenez: Rudolf Werner (59) und Emilie Werner (59), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnung am Petersplatz 9 in Wien, eine weitere der so genannten „Sammelwohnungen”, wo mehrere jüdische Familien gezwungen wurden, auf sehr engem Raum zusammenzuleben. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Blumenfeld (49), Käthe Trepler (38), Helene Weiss (49), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Ein Lichtstrahl aus der Eingangstür des Wohnhauses in der Wollzeile 9 in Wien, einer „Sammelwohnung”. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Fotografie: Maxim Sarychau 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Veröffentlicht am 27.01.2025 

    Weitere Themen

    Holocaust und Erinnern in der Sowjetunion und Russland

    IM HEIM DES KRIEGES

    Feuerdörfer

  • Debattenschau № 84: Holocaust-Gedenken an russischen Schulen

    Debattenschau № 84: Holocaust-Gedenken an russischen Schulen

    In ganz Russland wird rund um den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar eine „Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust“ veranstaltet. Der 27. Januar 1945 ist für Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion zudem ein symbolisches Datum: Es war die Rote Armee, die an diesem Tag das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit hat. Im Vorfeld dieses Jahrestages war in Russland nun eine Debatte um das Gedenken an den Schulen im Land hochgekocht.  

    1. Was genau wird diskutiert?

      Den Schulen kommt in Russland für die Gedenkwoche an den Holocaust eine gewichtige Rolle zu. Unterstrichen wurde das bisher dadurch, dass es einen vom russischen Bildungsministerium festgelegten Termin im offiziellen Bildungskalender gegeben hat – als Ausgangspunkt für Schulprojekte und Veranstaltungen zum Holocaust. Tatsächlich ist es so, dass viele Lehrerinnen und Lehrer sich stark nach solchen Vorgaben aus dem Ministerium, also „von oben“, richten. Doch dieser Termin sollte zum aktuellen Schuljahr wegfallen – was unter Vertretern der jüdischen Gemeinde, Historikern und Bürgerrechtlern Empörung ausgelöst hat. Erst einen Tag vor dem weltweiten Gedenktag hat das russische Bildungsministerium seinen Beschluss revidiert und das Datum kurzfristig wieder aufgenommen.
      Gut möglich, dass die Debatte dies mitbefördert hat. Angestoßen wurde sie Ende des Jahres auf der Internationalen Konferenz zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus Die Zukunft schützen in Moskau.

    2. Warum ist das so wichtig?

      Man muss sich vergegenwärtigen, welche Bedeutung der Gedenkwoche in Russland zukommt: Sie wird seit mittlerweile acht Jahren mit zahlreichen Veranstaltungen, Lesungen, Filmvorführungen und Gesprächsrunden begangen und gibt dem Holocaust in der Erinnerungsarbeit einzigartigen Raum. Nicht nur mit Blick auf das weltweite Gedenken, sondern weil die Opfer auch millionenfach in den von Nazis besetzten Gebieten der früheren Sowjetunion systematisch ermordet wurden, also auch auf dem Gebiet des heutigen Russlands. Gerade Schulen spielen in der landesweiten Gedenkwoche und in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust eine wichtige Rolle – deshalb hat das Thema so hohe Wellen geschlagen. Auch der Menschenrechtsrat hatte sich eingeschaltet und an Präsident Wladimir Putin appelliert.
      Zu Sowjetzeiten war der Holocaust nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert, da die sowjetische Führung Opfer zu „friedlichen Sowjetbürgern“ und „antifaschistischen Widerstandskämpfern“ nivellierte; den Holocaust also aussparte.
      Zugleich ist der 27. Januar für Russland im Kontext des Zweiten Weltkriegs aus einem weiteren Grund ein zentrales Datum: An diesem Tag gelang 1944 nach rund 28 Monaten die Befreiung Leningrads aus der Blockade.
      In Russland gab es in den vergangenen zehn Jahren eine weit größere Offenheit für die differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Holocaust. Unterschiedliche Akteure haben das in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gefördert, darunter jüdische Organisationen, Gemeinden sowie das Zentrum Holocaust, das die traditionelle Gedenkwoche mitorganisiert. Als Motor gelten ebenso zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, darunter Hobbyhistoriker oder Geschichtslehrer, die dafür sorgen, die Verbrechen regional aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken. 

    3. Und nun?

      Präsident Putin hat auf die Kritik reagiert und gesagt, es sei „offensichtlich“, dass an die Gräueltaten der Nazis an der jüdischen Bevölkerung erinnert werden müsse: „(…) das sollten wir natürlich im Gesamtbild der Verbrechen, die die Nazis in der Welt und in unserem Land begangen haben, nicht vergessen.

      Putin hatte dahingehend keine konkrete Zusage gemacht; kurz vor dem Internationalen Gedenktag ließ das russische Bildungsministerium allerdings mitteilen, dass der Tag wieder in den Bildungskalender aufgenommen wird. 

    dekoder zeichnet die Debatte nach, die es rund um den Wegfall des Termins gegeben hat. Historiker und Vertreter der jüdischen Gemeinde fragen sich: Ist der Wegfall des Datums im Bildungskalender Ausdruck eines großpolitischen Shifts in der Erinnerungs- und Geschichtspolitik? Oder kann man an einen „technischen Fehler“ glauben, wie vom Bildungsministerium zwischenzeitlich mitgeteilt? Wie steht es damit um das Gedenken an den Holocaust in russischen Schulen? Und welche Folgen kann das für das Wissen zum Holocaust bei den Schülerinnen und Schülern haben?

    Kehren wir nicht zum alten Ideologem zurück?

    Ilja Altman, Historiker und Mit-Gründer des Zentrums Holocaust, ging in einem Gastbeitrag in der Nesawissimaja Gaseta der Frage nach, was das für den Umgang mit dem Holocaust insgesamt heißen könnte:

    [bilingbox]Warum wurde also der 27. Januar aus dem Bildungskalender gestrichen? Als wir im Juni davon erfuhren, wandten wir uns an Bildungsminister Sergej Krawzow. Ein paar Monate lang versicherten die Mitarbeiter dem Zentrum Holocaust, dass es sich um einen technischen Fehler handle. Im September fragten wir wieder beim Bildungsministerium nach – mit der Bitte um eine offizielle Antwort. Die erfolgte im Oktober. In dem Schreiben hieß es, es gebe in unserem Land bereits einen Gedenktag am 22. Juni, und ein neues Datum sei hinzugekommen: der 19. April zum Gedenken des Genozids am sowjetischen Volk. Nach Ansicht des Ministeriums genüge das, um aller Opfer des Nationalsozialismus gebührend zu gedenken. 
    Eine solche Interpretation der nationalsozialistischen Politik in den besetzten sowjetischen Gebieten verdient eine eigene Diskussion. In Russland bildete sich in den vergangenen zwei Jahren eine Tendenz heraus, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – in den Nürnberger Prozessen so qualifiziert – als „Genozid am sowjetischen Volk“ zu bezeichnen. Die Verwendung dieses Begriffs nach dem Prinzip der Staatsbürgerschaft der Opfer anstelle ihrer ethnischen Zugehörigkeit höhlt unserer Meinung nach seinen Gehalt komplett aus.

    Schulbehörden erhielten im Frühling dieses Jahres [gemeint ist 2021 – dek.] didaktische Empfehlungen für einheitliche Stundenentwürfe zum 19. April. Es ist kein Zufall, dass es darin hieß, den Genozid am sowjetischen Volk hätten die Nazis und ihre Gehilfen an der friedlichen Bevölkerung ungeachtet ihrer Nationalität und ethnischen Zugehörigkeit vollzogen. Kehren wir damit nicht zu dem Ideologem zurück, dass nicht Juden, sondern „friedliche sowjetische Staatsbürger“ in Babyn Jar und in den zahllosen anderen Gräben auf den besetzten Gebieten ermordet wurden?~~~Так почему же дату 27 января изъяли из календаря? Узнав об этом в июне, мы обратились к министру просвещения Сергею Кравцову. В течение нескольких месяцев сотрудники Минпроса убеждали центр «Холокост», что это техническая ошибка. В сентябре мы повторно обратились в Министерство просвещения с просьбой дать официальный ответ. Он последовал в октябре. В письме сообщалось, что в нашей стране есть День памяти 22 июня и появилась новая дата – 19 апреля, День памяти геноцида советского народа. По мнению министерства, этого достаточно для того, чтобы почтить память всех жертв нацизма.

    Подобная трактовка нацистской политики на оккупированной территории СССР заслуживает отдельной дискуссии. В России в последние два года активизировалась тенденция называть воинские преступления и преступления против человечности – именно так они были квалифицированы Нюрнбергским трибуналом – «геноцидом советского народа». Трактовка этого термина по принципу гражданства, а не этнической принадлежности жертв, на наш взгляд, полностью выхолащивает его содержание.

    Не случайно в методических рекомендациях, которые получили органы образования весной этого года по проведению единых уроков 19 апреля, говорилось о том, что геноцид советского народа нацисты и их пособники проводили независимо от национальной и этнической принадлежности мирных жителей. Не возвращаемся ли мы к идеологеме, что не евреи, а «мирные советские граждане» были казнены в Бабьем Яру и бесчисленных ярах на всей оккупированной территории?[/bilingbox]

    erschienen am 05.12.2021, Original

    Es findet sich alles in den Geschichtsstunden

    Auf ein formelles Gesuch des Menschenrechtsrates, den Gedenktag als Termin in den Bildungskalender wieder aufzunehmen, äußerte sich das russische Bildungsministerium bei RIA Nowosti noch vor wenigen Wochen ohne eine Zu- oder Absage. Stattdessen wurde auf bestehende Lehrpläne verwiesen:

    [bilingbox]‚Der Große Vaterländische Krieg, die Helden und Verteidiger des Vaterlandes, die von der Nazi-Armee begangenen Verbrechen gegen die Menschheit, der Generalplan Ost, die Nazi-Politik des Genodzids und Holocausts, Raub und Vernichtung von Kulturgütern durch die faschistischen Invasoren – all das durchzieht das Curriculum, wie sich sowohl an den Unterrichtsvorlagen zeigt, als auch an den konkreten Geschichtsstunden, wie sie an den Schulen im ganzen Land stattfinden. Darunter fallen auch Unterrichtseinheiten des allrussischen Curriculums sowie Aktionen und Veranstaltungen‘, heißt es in einer Presseerklärung.

    Mit dem Beschluss des Bildungsministeriums der Russischen Föderation vom 23. Oktober 2020 wurde das Konzept für den Unterricht „Russische Geschichte“ in den allgemeinen Bildungseinrichtungen der Russischen Föderation genehmigt, heißt es weiter in der Erklärung.

    Das Konzept folgt konsequent einem historisch-kulturellen Standard und enthält Ergänzungen, die das Wesen des NS-Besatzungsregimes in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Mechanismen der Nazi-Propaganda, die ethnischen Säuberungen in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Tragödie der sowjetischen Kriegsgefangenen, den Massenmord an Kriegsgefangenen, die medizinischen Experimente an Gefangenen in den NS-Konzentrationslagern und Ghettos sowie die Verschleppung sowjetischer Menschen nach Deutschland widerspiegeln, betont der Pressedienst.~~~"Великая Отечественная война, герои и защитники отечества, преступления против человечества, учиненные нацисткой армией, план "Ост", нацистская политика геноцида и холокоста, разграбление и уничтожение культурных ценностей фашистскими захватчиками – все эти вещи проходят сквозь школьную программу, что отражено как примерными программами, так и реальными уроками истории, проводимыми в школах по всей стране, включая серии всероссийских уроков, акций и мероприятий", – отмечается в сообщении пресс-службы.

    Решением Коллегии Минпросвещения РФ от 23 октября 2020 года одобрена Концепция преподавания учебного курса "История России" в образовательных организациях Российской Федерации, реализующих основные общеобразовательные программы, говорится в сообщение.

    В Историко-культурный стандарт, являющийся составной частью Концепции, внесены дополнения, отражающие сущность нацистского оккупационного режима на захваченных территориях СССР, характер нацистской пропаганды, этнические чистки на оккупированной территории СССР, трагедию советских военнопленных, массовое уничтожение военнопленных, медицинские эксперименты над заключенными нацистских концентрационных лагерей и гетто и угон советских людей в Германию, подчеркивает пресс-служба.[/bilingbox]

    erschienen am 01.12.2021, Original

    Auf das Gedenken gespuckt 

    Alla Gerber ist Vorsitzende der Stiftung Holocaust in Russland und seit Jahrzehnten in der Erinnerungsarbeit zum Holocaust aktiv. Auf den Wegfall des Termins reagierte sie empört:

    [bilingbox]Damit wird auf das Gedenken an sechs Millionen Leben gespuckt, die die Nazis ausgelöscht haben, und ebenso auf die Befreier des Konzentrationslagers. Der 27. Januar ist ein international anerkanntes Datum, an dem man der Opfer des Holocaust und der Helden des Widerstands gedenkt, der Tag der Befreiung von Auschwitz. ~~~«Это плевок в память о 6 миллионах жизней, загубленных нацистами, о тех, кто освобождал концлагеря. 27 января – международно-признанная дата, день памяти жертв Холокоста и героев сопротивления, дата освобождения концлагеря Аушвиц.»[/bilingbox]

    erschienen am 03.12.2021, Original

    Und was kommt dabei heraus? Tapetenkleister?

    Juri Kanner, Vorsitzender des Russischen Jüdischen Kongresses, meinte, dass Schülerinnen und Schüler dadurch weniger über den Holocaust lernen. Bisher bot der Gedenktag für Schulen, Lehrerinnen und Lehrer den Anlass, am Gedenktag ausgerichtet spezielle Unterrichtseinheiten anzubieten. Kanner äußerte die Befürchtung, dass dies nun – andersrum – sogar eher ausgespart werden könnte:

    [bilingbox]Das Streichen dieses Datums aus dem Bildungskalender entzieht Lehrern die normative Grundlage für ihren Unterricht zur Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust, die in Russland seit 2015 alljährlich begangen wird, dieses Jahr in 75 Regionen. Entsprechende Schulstunden können jetzt jederzeit vom Direktor verboten oder – wenn er erst im Nachhinein davon erfährt – mit Disziplinarmaßnahmen bestraft werden. 

    Und was kommt dabei heraus? Tapetenkleister?

    Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? Das ist kein Scherz, sondern der Titel eines Films, der mit Unterstützung des Russischen Jüdischen Kongresses gedreht wurde. Erstmals wurde er 2013 beim 35. Internationalen Filmfestival in Moskau gezeigt. Der Film hatte eine enorme Wirkung und zog eine lebhafte Debatte nach sich. Worum ging es in dem Film? Die Schwestern Xenia und Jewgenia Karatygin aus der Oblast Wladimir hatten an der Fernsehshow Besumno krassiwyje des Senders Mus-TV teilgenommen und auf die Quizfrage Was ist der Holocaust? geantwortet, das sei ein Tapetenkleister. Die Originalsequenz mit dieser Antwort wurde zum Youtube-Hit. Der Regisseur Mumin Schakirow machte die beiden ausfindig und fuhr mit ihnen nach Auschwitz. Er filmte ihre Reaktionen auf das, was sie dort sahen. Der Film war sehr erfolgreich, sowohl in Russland als auch international. Am 22. Juni 2016 wurde Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? auf NTW gezeigt.   

    Ich hoffe, dass es in Russland heute weniger Leute gibt, denen der Holocaust unbekannt ist. Das ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft.~~~Исключение даты из образовательного календаря лишает нормативной базы учителей, проводящих в школах уроки во время «Недели памяти жертв Холокоста», которая с 2015 года проходит в России ежегодно, и в этом году охватила 75 регионов. Любой директор школы теперь может запретить такой урок или — узнав о нем постфактум — наложить на учителя дисциплинарное взыскание.

    И что мы получим? Клей для обоев?

    ‘Холокост — клей для обоев?’ — это не шутка, а название снятого при поддержке РЕК фильма, премьера которого прошла в 2013 году на 35-м Московском международном кинофестивале. Фильм произвел ошеломляющий эффект и вызвал волну обсуждений. Напомню сюжет. Сестры Ксения и Евгения Каратыгины из Владимирской области, участвуя в программе «Безумно красивые» на канале «Муз-ТВ», на вопрос викторины «Что такое Холокост?» ответили, что это клей для обоев. Фрагмент с этим оригинальным ответом попал в топ youtube, а кинорежиссер Мумин Шакиров разыскал сестер и отвез девушек в Освенцим. Снял их реакцию на то, что они увидели, как пережили. Фильм имел большой успех и в России, и за границей. 22 июня 2016 года фильм «Холокост — клей доя обоев» был показан на НТВ.

    Надеюсь, сейчас в России все меньше людей, которые не знакомы с историей Холокоста, и это результат многолетней совместной работы государства и гражданского общества.[/bilingbox]

    erschienen am 08.12.2021, Original

    Das vornehme Schweigen aus dem Ministerium

    Der Historiker Artjom Rudinzki setzte sich damit auseinander, warum der Holocaust zu Sowjetzeiten im Kriegsgedenken keinen Platz fand – und wundert sich über das russische Bildungsministerium heute:

    [bilingbox]… [Der Menschenrechtsrat – dek] empfahl dem Bildungsministerium, diesen Gedenktag wieder in den Bildungskalender aufzunehmen. 
    Die Beamten [dort – dek] hüllten sich bezüglich ihrer Gründe in vornehmes Schweigen. Anstelle einer deutlichen Antwort lehnten sie das Gesuch formell bürokratisch mit einem Schreiben ab. Die Kernaussage: Der Lehrplan enthalte bereits alles, was notwendig sei, und im Bildungskalender befänden sich auch ohne Holocaust genügend Jahrestage. 

    In der Sowjetzeit war alles klar: Der Holocaust wurde aufgrund des staatlichen Antisemitismus, des Bruchs mit Israel und des Kampfs gegen den Zionismus (den man für einen Handlanger des amerikanischen Imperialismus hielt – oder umgekehrt) verschwiegen. Über die massenhafte Vernichtung der Juden sprach man nicht, und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. 
    Die Besatzer haben bestialisch gewütet und das gesamte sowjetische Volk niedergemetzelt. Doch in erster Linie traf es die Juden. Die hatten überhaupt keine Chance. Ghettos und Vernichtungslager wurden speziell für sie errichtet. Das zu erwähnen, passte aber nicht in das starre Schema der sowjetischen „Geschichtspolitik“. Eine unpassende Klammer.

    Gott behüte, dass wir dorthin zurückkehren.

    Der Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ist der 27. Januar 1945, der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Er war Symbol und Meilenstein unserer Befreiungsmission in Europa. Und es gibt keinen Grund, ihn aus dem Gedächtnis zu streichen.~~~И предложил Минпросвету восстановить в школьных программах этот день памяти. Чиновники о причинах своего решения скромно умолчали. Вместо внятного ответа, если выражаться бюрократическим новоязом, «отписались». Смысл такой: в школьной программе все, что надо, отражено, а в календаре образовательных событий и воспитательной работы хватает дат и без Холокоста.

    В советские времена все было ясно. Холокост замалчивали из-за государственного антисемитизма, разрыва отношений с Израилем, борьбы с сионизмом, который считался подручным американского империализма (или наоборот). О массовом уничтожении евреев не говорили, а если говорили, то сквозь зубы. Оккупанты зверствовали страшно, и осуществляли геноцид всего советского народа. Но евреи были приоритетом. У них вообще не было шанса. Гетто и лагеря уничтожения создавали специально для них. Упоминание об этом не влезало в прокрустово ложе советской «исторической политики». Не та скрепа.
    Не дай бог к этому вернуться.

    Международный день Холокоста – это 27 января 1945 года, день освобождения Освенцима Красной армией. Это знаковое событие, один из символов нашей освободительной миссии в Европе. И нечего вычеркивать его из памяти.[/bilingbox]

    erschienen am 03.12.2021, Original

    Zusammenstellung: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Ruth Altenhofer, Friederike Meltendorf

    Diese Debattenschau wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

    Weitere Themen

    „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    Die deutsche Erinnerung an den Holocaust in der Sowjetunion und im Baltikum

    Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    „Es geht darum, den Gegner möglichst schmerzhaft zu treffen“

  • Das „Babyn Jar Russlands“

    Das „Babyn Jar Russlands“

    In Rostow am Don ist der größte NS-Tatort des Holocaust auf dem Gebiet des heutigen Russlands. Ungefähr 20.000 Jüdinnen und Juden sind dort am 11./12. August 1942 an der Smijowskaja Balka (dt. Schlangenschlucht) ermordet worden. Was in Deutschland wenig bekannt ist: Der Holocaust begann in Osteuropa, auf den von Deutschen besetzten Gebieten der Sowjetunion. Meist wurden die Jüdinnen und Juden, Männer, Frauen, Kinder, erschossen und in Massengräbern verscharrt. 

    In Russland allerdings spielt der Holocaust in der offiziellen Erinnerungspolitik eine untergeordnete Rolle. Jüdinnen und Juden werden als Opfer der systematischen NS-Vernichtungspolitik meist ausgeblendet. Das drückt sich häufig in dem schon zu Sowjetzeiten ideologisch überformten Begriff der „friedlichen Bevölkerung“ aus, der auf zahlreichen Erinnerungstafeln zum Gedenken an die Toten zu finden ist. Unter der Präsidentschaft Wladimir Putins ist der Sieg über Hitlerdeutschland zudem massiv staatsideologisch instrumentalisiert worden. Eine differenzierte Erinnerungsarbeit, auch in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, steht daher immer auf einer fragilen Basis.
    Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung jedoch hat – Hürden und Widersprüchen zum Trotz – vor allem durch das unermüdliche Engagement zivilgesellschaftlicher Kräfte seit einigen Jahren vielfach Beachtung finden können. Das sagt Historikerin Christina Winkler, die intensiv zur Geschichte des Holocaust in Rostow am Don geforscht und eine Ausstellung dazu gemacht hat.
    Für Christina Winkler steht Rostow exemplarisch für viele besetzte Städte in den damaligen Sowjetrepubliken, in denen die Nationalsozialisten grauenhafte Verbrechen verübt haben. Im Interview spricht sie über die Massenerschießung von Rostow, den Wert von Lokalhistorikern bei der Aufarbeitung von NS-Gräueltaten in Russland und darüber, wie in Rostow mit dem Gedenken umgegangen wird. dekoder veröffentlicht dazu einzelne Bilder ihrer Ausstellung.

    dekoder: Rostow am Don war von den Nationalsozialisten zwei Mal besetzt: im Winter 1941 für acht Tage und ab Sommer 1942 mehr als ein halbes Jahr. Wie sind die Nazis gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen? 

    Christina Winkler: In den wenigen Tagen der ersten Besatzung gingen sie sehr brutal gegen die Zivilbevölkerung vor. In dieser Zeit gab es die ersten Morde an den Jüdinnen und Juden, mit bereits rund tausend Opfern. In der zweiten Besatzung begannen die Deutschen in großem Maßstab und systematisch gegen die jüdische Bevölkerung Rostows vorzugehen. Die Stadt hatten sie ab dem 24. Juli 1942 in ihrer Gewalt. Schon ab August wurden Appelle in der Stadt ausgehängt, in denen die jüdische Bevölkerung dazu aufgefordert wurde, sich registrieren zu lassen. Außerdem nicht-jüdische Familienmitglieder, Ehemänner und -frauen sowie Kinder.

    Aus Zeitdokumenten der Deutschen ist bekannt, dass sich nach dem ersten Aufruf schnell etwa 2000 Personen registriert hatten. Wenige Tage später gab es einen zweiten, in dem es hieß, dass die Juden sich am 11. August an verschiedenen Sammelpunkten in der Stadt einzufinden hätten, um dann angeblich – so lautete der Vorwand – umgesiedelt zu werden. Ihnen wurde versprochen, sie würden an einem anderen Ort leben und arbeiten können. Es war das Vorgehen, wie es auch aus Babyn Jar und von den Deportationen zum Vernichtungsort Maly Trostenez bekannt ist.
    Diesem zweiten Aufruf sind sehr viele Leute gefolgt. Das ist aus Zeugenaussagen bekannt, die in russischen Archiven in den Akten der sowjetischen Sonderkommission zu finden sind. In den Aufrufen, die wie Plakate in der Stadt aushingen, wurde gesagt, man solle Wertgegenstände und Kleidung für wenige Tage und die Schlüssel zu den Wohnungen mitbringen. An den insgesamt sechs vorgegebenen Sammelpunkten warteten Angehörige des Sonderkommandos 10a, die SS, aber auch Kollaborateure. Sie sorgten dafür, dass die Menschen mit bereitstehenden Lkw weggebracht wurden. Aus den Augenzeugenberichten ist auch bekannt, dass einige zu Fuß gehen mussten. 

    Es war das dritte Jahr des Zweiten Weltkrieges, an anderen Orten der Sowjetunion hat es bereits Gräuel an der jüdischen Bevölkerung gegeben, darunter in Babyn Jar. Hat sich das nicht herumgesprochen? Gab es kein Misstrauen gegen die Besatzer?

    Es gab tatsächlich verschiedene Gerüchte von Gräueltaten gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Das trugen unter anderem Flüchtlinge aus Polen und der Ukraine weiter, die sich in Rostow aufhielten. Allerdings hatten die Deutschen zu der damaligen Zeit einen positiven Ruf. Zum Teil ging dieser auf den russischen Bürgerkrieg zurück, als deutsche Truppen zwischenzeitlich Regionen im Westen Russlands besetzt hielten, darunter auch die Stadt Rostow. Viele Rostower waren es durch die Sowjetmacht zudem gewohnt, Anordnungen der Obrigkeiten einfach zu erfüllen. So schenkten die meisten dieser Menschen den Gerüchten keinen Glauben. Trotzdem sind nicht alle zu den Sammelpunkten gegangen. Es gibt auch Berichte, dass sich Juden nach Bekanntwerden dieser angeblichen Umsiedlungsaktion das Leben nahmen. Sie hatten also geahnt, was sie tatsächlich erwartet. Alle anderen wurden von den Sammelpunkten direkt zu einer Schlucht – der Smijowskaja Balka – nordwestlich des Stadtzentrums gebracht. Die meisten wurden erschossen, ein Teil von ihnen wurde in Gaswagen1 erstickt. Ein dafür abgestelltes Sonderkommando hatte auf die Ankommenden bereits gewartet. 

    Als Verbrechensort des Holocaust ist Rostow in Deutschland kein Begriff, auch andere Vernichtungsorte auf dem früheren Gebiet der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten sind es kaum. Wie kommt das? 

    Bis die Wissensvermittlung in den Schulen anfängt, dauert es natürlich immer seine Zeit: Das Thema muss in den Hochschulen mit validen Erkenntnissen beforscht worden sein, um es an Lehrer vermitteln zu können, die es wiederum in den Schulunterricht einbringen können. Zwar wird das Thema seit den 1980er Jahren schon deutlich besser wahrgenommen, doch das reicht noch nicht. Woher soll es kommen, wenn noch wenig Forschung vorliegt? Zur Realgeschichte des Holocaust auf dem früheren sowjetischen Gebiet gibt es noch viele weiße Flecken. Dadurch berichten auch die Medien viel weniger darüber. Bisher liegt Forschung zwar auf Deutsch, Englisch und Russisch vor, allerdings sind das schwerpunktmäßig militärhistorische Arbeiten, sodass dieses Thema noch nicht ins deutsche Bewusstsein vorgedrungen ist. Patrick Desbois’ Der vergessene Holocaust von 2009 hat hier aber immerhin viel in der Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit bewirkt.
    Teil des Problems ist vielleicht auch ein grundsätzliches Wegschauen vom Leid im Osten. Vielleicht, weil die Opferzahl von 27 Millionen Menschen unter der sowjetischen Bevölkerung so gigantisch ist, bringt sie eine gewisse Abneigung mit sich, sich diesem Leid zuzuwenden. Das ist eine persönliche Vermutung. Defacto habe ich von westlichen Historikern nur ganz wenige Studien gefunden, die sich mit der deutschen Besatzung in Russland insgesamt beschäftigt haben. Als ich 2010 mit meiner Arbeit begonnen hatte, waren die Studien, die es zu Rostow selbst gab, in der Regel von russischen Historikern, meist Lokalhistorikern, die nur in Originalsprache vorlagen. Die Arbeit von Andrej Angrick2 zur Einsatzgruppe D bildete hier eine Ausnahme. Mittlerweile gibt es ein paar mehr Arbeiten zu dieser Region.  

    Wie ist das Wissen um die Massenerschießung an der jüdischen Bevölkerung Rostows in Russland?

    Es ist nicht so, dass jeder in Russland erzählen könnte, was in Rostow passiert ist.
    Doch seit gut zehn Jahren hat sich durchaus viel getan. Der Holocaust auf russischem Gebiet ist mehr ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Das hat damit zu tun, dass es inzwischen mehr öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen gibt, darunter die jährliche „Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust“, die vor allem für die Schulen eine wichtige Bedeutung hat. Das befördern Institutionen wie das Zentrum Holocaust, das seit 30 Jahren nichts anderes macht als Forschung zu übernehmen, Tatorte zu identifizieren und Erinnerungsarbeit zu leisten. Gemeinsam mit dem Russischen Jüdischen Kongress werden an den Orten von Massenerschießungen auch Denkmäler aufgestellt. Das ist eine gigantische Arbeit, die mich eigentlich am meisten beeindruckt. Diese Aufarbeitung geschieht unter sehr intensiver Beteiligung der Bevölkerung, darunter von Lokalhistorikern und Lehrern, die sich mit ihren Schülern mit der Geschichte ihrer Heimatstadt beschäftigen. Ich glaube, die Massenerschießung an der Smijowskaja Balka von Rostow bezeichnet heute nicht nur ein Fachpublikum als das „Babyn Jar Russlands“. 
    Dazu, dass es in Russland bekannter geworden ist, dürfte auch ein Eklat um die Gedenktafel in Rostow beigetragen haben, der landesweit Aufsehen erregte.

    Können Sie den Hintergrund für diesen Streit um das Denkmal in Rostow kurz erläutern?

    An der Smijowskaja Balka steht seit dem 30. Jahrestag im Jahr 1975 ein Denkmal, vor dem wiederum im Jahr 2004 eine Gedenktafel angebracht wurde. Auf dieser wurde in Bezug auf die Opfer explizit vom Holocaust gesprochen. Dazu muss man wissen, dass es dort bis dahin keinerlei Erläuterung gegeben hatte. Sieben Jahre später, im November 2011, wurde diese Tafel in einer Nacht- und Nebelaktion – wie sich herausstellte im Auftrag der städtischen Kulturverwaltung von Rostow – entfernt und ausgetauscht. Auf der neuen Tafel wurde auf die Formel aus Sowjetzeiten zurückgegriffen, dass dort „friedliche Bürger“, unterschiedlicher ethnischer Herkunft umgekommen seien. Die jüdische Gemeinde in Rostow klagte dagegen erfolglos. Später gab es einen Kompromiss. Der sieht so aus, dass die jüdischen Opfer auf der Tafel explizit erwähnt werden, der Begriff Holocaust allerdings ausgespart bleibt.

    Für die Aufarbeitung des Holocaust sprachen Sie von der aktiven Rolle ganz anderer Akteure als dem Staat. Neben den jüdischen Gemeinden erwähnten Sie Lokalhistoriker. Warum?

    Weil sie in vielen Orten für die Erinnerungsarbeit bedeutend sind. In Rostow zum Beispiel gibt es einen Lokalhistoriker, der auch an der Universität Dozent war. Er hatte sich bereits in den 1990er Jahren mit der Geschichte seiner Heimatstadt und dem Holocaust beschäftigt. Es gibt auch einen Lokalhistoriker aus Arsgir in der Region Stawropol, Anatolij Karnauch. Er hat nicht nur die Leidensgeschichte der jüdischen Bevölkerung minutiös recherchiert und aufgearbeitet, sondern sogar die Namen von Opfern ausfindig gemacht. Das ist ein Anliegen, das besonders schwer zu erfüllen ist. Das, was diese Menschen leisten, ist eine ganz starke zivilgesellschaftliche Initiative. Teilweise handelt es sich dabei – wie es auf Russisch oft genannt wird – um „Enthusiasten“. Das wird solchen Menschen aber gar nicht gerecht, weil es eine Lebensarbeit ist, die zum Beispiel dieser Mann in Arsgir übernommen hat. Vom Russischen Jüdischen Kongress wurde er dafür geehrt.

    In Rostow gab es weitere Opfergruppen unter nationalsozialistischer Besetzung. Wer waren die Opfer, wer die Täter?

    Was die Täter angeht: Es gab die SS, verschiedene SS-Sonderkommandos, aber auch Wehrmachtsoldaten waren zum Beispiel bei der Absicherung von Tatorten beteiligt. Zudem gab es einheimische Helfer, die verraten, denunziert und ausgeliefert haben. Bei den weiteren Opfergruppen haben wir allein mehr als 50.000 Rostower, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurden. Diejenigen, die nach dem Krieg von dort zurückkehrten, hatten es ebenfalls schwer, weil sie dafür in ihrer Heimat oft ausgegrenzt und verfolgt wurden. 
    Weiterhin gab es mehrere tausend Kriegsgefangene in einem Lager in Rostow. Sie sind durch die katastrophalen Zustände umgekommen oder erschossen worden. Die mehr als 70 Patienten der Städtischen Psychiatrischen Klinik wurden allesamt in Gaswagen erstickt. Die Not war auch für die Zivilbevölkerung wahnsinnig groß: Man muss sich vorstellen, das Rostow bereits im Sommer 1941 stark bombardiert und massiv zerstört worden war. Viele Menschen wurden im Bombenhagel getötet. Die Überlebenden litten vor allem Hunger. Das berichteten mir Zeitzeugen, die den Besatzungsalltag als Kinder noch miterleben mussten. Die Massenerschießung an den Juden in Rostow macht die Stadt zum größten NS-Tatort des Holocaust auf dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation. 
    Es ist eine schreckliche Bilanz, die man ziehen muss. Rostow steht dabei exemplarisch für die vielen besetzten Städte in den damaligen Sowjetrepubliken – wo das Fazit gleichsam grauenhaft zu nennen ist.


    Die Ausstellung unter dem Titel Die Vergessenen war erstmals zum 75. Jahrestag der Massenerschießung der Jüdinnen und Juden in Rostow zu sehen. Christina Winkler hat sie recherchiert, ausgearbeitet und kuratiert. Partner waren das Stanley Burton Centre for Holocaust and Genocide Studies, das Zentrum Holocaust in Russland und das Museum Karlshorst. Es gibt eine deutsch-englische Fassung mit Metallständen sowie einer Medienstation, die bisher in verschiedenen Städten in Großbritannien und Deutschland zu sehen war, darunter in Glasgow (Rostows Partnerstadt), Berlin und Gera sowie in der Gedenkstätte Dachau.
    Eine weitere, russischsprachige Fassung ist auf leichteren Rollup-Ständen gestaltet und wird in Südrussland bis heute gern in Schulen gezeigt.

    Einwohner Rostows beim Ausheben von Schützengräben im Zentrum der Stadt / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
    Im Zuge der Kämpfe um Rostow zerstörtes Haus in einem Vorort der Stadt (1943) / Foto © Staatliches Russisches Film und Foto Archiv
    Einwohner transportieren Sarg ihres von den Deutschen erschossenen Verwandten (1943) / Foto © GARO

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Zerstörtes Gebäude des ehemaligen Kinos „Burewestnik“ / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
    Links: Der zweite Aufruf der SS an die jüdische Bevölkerung, mit dem sie aufgefordert worden war, am 11. August 1942 zu den Sammelpunkten in der Stadt zu kommen. / Dokument aus dem Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO / Rechts: Eine Gedenktafel erinnert an einen der Sammelpunkte von damals / Foto © Christina Winkler
    Das als „Lazarett 192“ bezeichnete Lager für sowjetische Kriegsgefangene / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO

    Leichen ermordeter sowjetischer Soldaten auf dem Gelände des „Lazarett 192“ (1943) / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
    Das Denkmal in Rostow an der Smijowskaja Balka / Foto © Kurt Blank

    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Mandy Ganske-Zapf
    Veröffentlicht am 27. Dezember 2021

    Die Bildauswahl zeigt dekoder mit freundlicher Genehmigung der Archive in Rostow und Moskau und mit großem Dank an Christina Winkler und Kurt Blank.


    1.Dabei handelte es sich um umgebaute Lkw, in die Dutzende Menschen gepfercht wurden, um sie dann durch das Einleiten von Auspuffgasen zu ersticken. 
    2.Gemeint ist die Publikation „Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943“. 

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

    Weitere Themen

    Der Krieg und seine Opfer

    Großer Vaterländischer Krieg

    „Weißt du, da war Krieg“

    Wann endet der Sieges-Wahn?

    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    Russlands Jugend und der Zweite Weltkrieg

  • Maly Trostenez

    Maly Trostenez

    „Zweimal wöchentlich trafen die Züge aus dem Reich ein, aus Polen1, der Tschechoslowakei, Österreich […]: dienstags und freitags, und zwar – um kein Aufsehen zu erregen – stets in der Früh zwischen vier und fünf Uhr.“ Das schrieb Paul Kohl in den 1980er Jahren über Maly Trostenez, der größten Vernichtungsstätte der Nationalsozialisten, die es in den besetzten Gebieten der Sowjetunion gegeben hat. Kohl war einer der ersten westdeutschen Journalisten, der Jahrzehnte später nach Belarus fuhr – um die Überlebenden zu befragen und darüber zu berichten. Bis zum Ende des Kalten Krieges blieb dieser Schreckensort dennoch eine Leerstelle, in der Sowjetunion und noch mehr in Westeuropa. 

    Maly Trostenez (belarus. Maly Traszjanez) ist eigentlich der Name eines Dorfes etwa 15 Kilometer südöstlich von Minsk, bezeichnet aber im historischen Kontext drei Tatorte nationalsozialistischen Mordens in der Umgebung der belarusischen Hauptstadt. Zehntausende Menschen wurden in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt. Systematisch ermordet wurden Jüdinnen und Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus Mitteleuropa, jene Deportierten, die in den Zügen eintrafen, an die Paul Kohls Zeilen erinnern. Wie überall sonst in Osteuropa – sieht man von den Vernichtungslagern, die es im besetzten Polen gab, ab – dominierten hier die massenhaften Erschießungen: die Shoah als „Holocaust by Bullets“. Weitere Massaker wurden in Maly Trostenez an zivilen Geiseln, Insassinnen und Insassen der Minsker Gefängnisse, darunter Untergrundkämpfer, Partisanen- und Widerstandsverdächtige, und an erkrankten Häftlingen verübt.   
    Seit einigen Jahren nimmt Maly Trostenez Charakterzüge eines gesamteuropäischen Gedenkorts an, wenngleich dieser Prozess noch nicht allen Opfergruppen gerecht wird.

    Schon wenige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juli 1941 in Minsk entstanden erste Lager und Haftstätten in der Stadt, darunter das Minsker Ghetto für rund 80.000 belarusische Jüdinnen und Juden.2 Der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung begann kurz darauf an verschiedenen Orten in der Umgebung, so auch im Minsker Vorort Tutschinka (belarus. Tutschynka). Ab Mai 1942 nutzten die deutschen Besatzer dann eine schwer einsehbare Lichtung in dem Waldstück Blagowschtschina (belarus. Blahauschtschyna). Der Wald befand sich ganz in der Nähe des Dorfes Maly Trostenez unweit von Minsk; der sandige Boden dort galt der SS als geeignet für das Anlegen von Massengräbern. 

    Diese abgelegene Mordstätte, die schließlich bis November 1943 zu einem zentralen Erschießungsort wurde, entstand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Beginn der Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Mitteleuropa nach Minsk. Erst transportierten die Deutschen ihre Opfer von dort aus mit Lastwagen nach Maly Trostenez, um sie nach Ankunft im Wald von Blagowschtschina zu töten.3 Dann wurde ein stillgelegtes Bahngleis in der Nähe ausgebaut und die Deportationszüge rollten unmittelbar zum Vernichtungsort. Maly Trostenez wurde zur größten NS-Vernichtungsstätte auf sowjetischem Boden, und damit zu einem zentralen Tatort der sogenannten „Endlösung der europäischen Judenfrage“. 

    Die Eskalation des Mordens in Minsk 

    Schon im November 1941 waren die ersten rund 7000 Jüdinnen und Juden aus dem „Deutschen Reich“ ins Minsker Ghetto gebracht worden. Damit eskalierte die organisierte Gewalt und der systematische Mord an den belarusischen Jüdinnen und Juden in dem abgeriegelten Stadtviertel: Um in den Häusern des Ghettos, die – wie die ganze Stadt – kriegszerstört waren, Platz für die Deportierten zu schaffen, ermordeten Polizeieinheiten mehr als 11.500 Ghetto-Insassen, darunter Frauen, Kinder und Greise. Zwischen dem 7. und dem 20. November wurden sie nach Tutschinka verschleppt und getötet.4 Diese Morde gehörten zu den größten Vernichtungsaktionen im Jahr 1941 im von Deutschen besetzten Belarus und markierten den Übergang zur Ermordung aller Juden im größten belarusischen Ghetto. 

    Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eröffnete dem „Dritten Reich“ die Möglichkeit, die physische Vernichtung der europäischen Juden in den Osten des Kontinents zu verlagern, erst in die Ghettos von Litzmannstadt, Riga oder Minsk, dann in die Vernichtungslager, die auf dem besetzten Gebiet in Polen errichtet wurden. Minsk entwickelte sich dabei zu einer Endstation in Richtung Osten, nachdem im Winter 1941/42 der „Blitzkrieg“ an der Ostfront gescheitert war. Kurz nach der Wannsee-Konferenz 1942 besuchten die Holocaust-Planer Adolf Eichmann, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich Minsk und ebneten den Weg für die weiteren Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Mitteleuropa in das „Reichskommissariat Ostland“ – womit das systematische Morden am Vernichtungsort Maly Trostenez begann. 

    Eines der neuen Mahnmale, die  seit 2010 geschaffen wurden – Pforte der Erinnerung, eingeweiht am 22. Juni 2015, am Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion / Foto © Aschroet / Public Domain
    Eines der neuen Mahnmale, die seit 2010 geschaffen wurden – Pforte der Erinnerung, eingeweiht am 22. Juni 2015, am Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion / Foto © Aschroet / Public Domain

    Zwangsarbeit am Vernichtungsort

    Im Wald von Blagowschtschina töteten die Deutschen und ihre Helfershelfer belarusische Jüdinnen und Juden aus dem Minsker Ghetto sowie die Deportierten aus Mitteleuropa durch Massenerschießungen – oder im „Gaswagen“: Dabei handelte es sich um umgebaute Lkw, in die bis zu 60 Menschen gepfercht wurden, um sie dann durch das Einleiten von Auspuffgasen zu ersticken5. Nach den Novemberdeportationen trafen 16 weitere Züge ein, darunter Sammeltransporte aus Wien, Theresienstadt, Köln sowie Berlin beziehungsweise Königsberg6. Auch Minsker Gefängnisinsassen beziehungsweise zivile Geiseln wurden auf diese Weise im Wald von Blagowschtschina ermordet. 

    Der gesamte Trostenez-Komplex lag in der Hand des „Kommandeurs der Sicherheitspolizei“ (KdS) in Minsk, der zentralen Dienststelle der deutschen Besatzungsherrschaft im besetzten Belarus. Sie war dem „Reichssicherheitshauptamt“ (RSHA) in Berlin unterstellt. Um die eigenen Leute mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu versorgen, errichtete der KdS auf dem nahegelegenen Gelände einer ehemaligen Kolchose parallel zu den Mordaktionen ein Zwangsarbeitslager. Ihre Arbeitskräfte rekrutierten die Deutschen vor allem aus den Reihen der eintreffenden mitteleuropäischen Juden. Facharbeiter wie Schlosser, Tischler und Schmied mussten in den Werkstätten arbeiten. Wer krank wurde, fiel bei regelmäßigen Inspektionen der Selektion zum Opfer und wurde ermordet. Die Zahl der Menschen, die in dem Lager interniert waren, lag zeitweise bei bis zu 900. Volksdeutsche, lettische und ukrainische Hilfstruppen bewachten das Lager.7

    Insassen hatten im Zwangsarbeitslager auch die Aufgabe, persönliche Gegenstände der Ermordeten von Blagowschtschina zu sortieren und zu verwalten.8 Sie mussten nach Wertsachen in den Koffern der Deportierten suchen, denen vorgetäuscht worden war, es handle sich um eine „Umsiedlung nach Osten“. Die Opfer brachten jeder bis zu 50 Kilogramm Gepäck zu ihrer eigenen Hinrichtung mit.9 

     

    Teil des Gedenkortes an den ehemaligen Erschießungsstätten der Gedenkanlage Blagowschtschina: Nachgeformte Umrisse der früheren Massengräber / Foto  © Homoatrox – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

    Das Sonderkommando 1005-Mitte 

    Als im Herbst 1943 die letzten noch im Minsker Ghetto verbliebenen Jüdinnen und Juden, mehrere Tausend Menschen, getötet wurden, befand sich die Rote Armee bereits auf dem Vormarsch und die Täter fürchteten eine Entdeckung ihrer Verbrechen. Das Sonderkommando 1005, das in den gesamten besetzten Gebieten systematisch die Spuren der Massenmorde verwischen sollte, traf daher bald vor Ort ein: Die größten Massengräber wurden geöffnet und Zwangsarbeiter mussten die verwesenden Leichen mit Eisenhaken bergen, auf Scheiterhaufen stapeln und verbrennen. Die Asche wurde auf der Suche nach Zahngold gesiebt und dann weitläufig im Boden verteilt.10 Die zu dieser furchtbaren Arbeit eingesetzten Gefangenen wurden im Anschluss ebenfalls ermordet. 

    So unternahmen die Täter von Maly Trostenez alles, um die Spuren der Massenmorde zu vertuschen, das hieß auch, die sterblichen Überreste der Opfer zu vernichten. Daher kennen wir bis heute nur wenige Namen und es gibt nur ungenaue Angaben über die Zahl der Opfer. Im Sommer 1944 untersuchte eine sowjetische Kommission den Tatort und schätzte, dass etwa 206.500 Menschen in Maly Trostenez ermordet worden seien. Bis heute lassen sich auf Grundlage der Täterakten rund 60.000 Morde rekonstruieren.11

    Das Morden in Maly Trostenez setzten die Deutschen noch bis 1944 fort: Mit Hilfe von Kollaborateuren – lettische, ukrainische, später auch belarusische Hilfskräfte – wurden tausende, womöglich gar zehntausende Männer und Frauen aus Minsker Haftanstalten erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter Untergrundkämpfer, Partisanen-, Widerstandsverdächtige und einfach erkrankte Häftlinge. Während in Blagowschtschina die Exhumierungen liefen, wurden die Leichen der weiteren Opfer unweit des Zwangsarbeitslagers im Waldstück Schaschkowka (belarus. Schaschkouka) direkt verbrannt. Der KdS hatte dort eine provisorische Verbrennungsgrube ausheben lassen, die als Ersatz für Blagowschtschina diente. Das Verbrennen sollte neue Massengräber – und damit neue Spuren – vermeiden. 

    Noch kurz vor Eintreffen der Roten Armee wurden die letzten großen Massaker von Maly Trostenez verübt, als innerhalb von zwei Tagen, am 29. und 30. Juni 1944, mehr als 100 verbliebene Lager- sowie einige Tausend Gefängnisinsassen aus Minsk in einer Scheune auf dem Lagergelände erschossen und verbrannt wurden. Als die Rote Armee das Lager befreite, fand sie nur noch Überreste der Verbrannten, Trümmer des Lagers, die geöffneten Massengräber von Blagowschtschina und Asche in der Grube von Schaschkowka.

    Paul Kohl: „Auschwitz von Belorußland“

    Bis in die 1990er Jahre gab es bei Maly Trostenez drei Mahnmale aus den 1960er Jahren: in Schaschkowka sowie in den Dörfern Maly und Bolschoi Trostenez (belarus. Wjaliki Traszjanez).12 Gesichertes Wissen aber über den Massenmord vor den Toren von Minsk war kaum vorhanden. Erst spät ließ die Auseinandersetzung mit Maly Trostenez durch Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit die Erkenntnis wachsen, dass die bisherige Erinnerung an die Opfer der hier verübten NS-Verbrechen nicht gerecht wurde. 

    Aufschrift auf dem Mahnmal in Bolschoi Trostenez aus den 1960er Jahren: „Hier, in der Nähe des Dorfes Trostenez folterten, erschossen und verbrannten die deutsch- faschistischen Eroberer von 1941 bis 1944 201.500 Menschen: Zivilisten, Partisanen und sowjetische Kriegsgefangene.“ / Foto © Aliaksandr Dalhouski

    Im Waldstück von Blagowschtschina gab es lange Zeit keinen einzigen Hinweis auf den eigentlichen Tatort. Maly Trostenez, das der Journalist Paul Kohl in seiner Reportage für ein deutschsprachiges Publikum als „Auschwitz von Belorußland“ bezeichnete, lag im Schatten einer sowjetischen Gedenkkultur und -politik, die auf Heldenerzählungen ausgerichtet war. Wie sehr Maly Trostenez von untergeordneter Bedeutung war, unterstreicht auch die Tatsache, dass  die Minsker Stadtverwaltung bei Blagowschtschina bereits im Jahr 1958 eine städtische Mülldeponie anlegen ließ.

    Die Gedenkkultur konzentrierte sich zugleich auf den Großen Vaterländischen Krieg, das Heldentum der Rotarmisten und der NS-Widerstandskämpfer. Gedenkzeremonien fanden daher vornehmlich auf dem Ruhmeshügel bei Minsk oder auf dem Siegesplatz in der Stadt statt. Seit 1969 diente zudem die Gedenkstätte Chatyn der Erinnerung an belarusische Zivilisten, die bei der deutschen „Bandenbekämpfung“ ermordet worden waren. Jüdische Opfer blieben dabei unsichtbar und wurden unter den Begriff „friedliche Sowjetbürger“ subsumiert. Der Holocaust blieb ausgespart. 

    Der „Wald der Namen“ – Die „Pforte der Erinnerung“ – Der „Weg des Todes“

    Seit den 1990er Jahren hat sich das Gedenken gewandelt: Das Erinnern an die jüdischen Opfer ist inzwischen ein wichtiges Thema geworden und ganz unterschiedliche Initiativen stehen für eine vielfältigere Erinnerungskultur. Dabei bringen sich nicht zuletzt Akteure aus Österreich ein, denn der Wald von Blagowschtschina zählt zusammen mit Auschwitz-Birkenau zu den Orten, an denen die meisten österreichischen Jüdinnen und Juden ermordet wurden; rund 10.000 von ihnen fanden in Maly Trostenez den Tod. 

    Die Wiener Bürgerinitiative IM-MER13 pflegt bereits seit dem Jahr 2010 ein Gedenken, bei dem die Namen der Opfer auf Blättern gedruckt und im Wald von Blagowschtschina angebracht werden. Einen Gedenkstein mit knapp eintausend eingravierten Vornamen – das „Massiv der Namen“ – hat die österreichische Regierung im Jahr 2018 errichten lassen. Auch die belarusische Zivilgesellschaft ist zu einem wichtigen Motor für eine breiter gefächerte Gedenkkultur geworden: Nachdem Anfang der 1990er Jahre ein reger Diskurs zu den Nazi-Gräueln eingesetzt hatte, sammelte eine Initiative unter Vorsitz eines belarusischen Abgeordneten mit Wahlkreis bei Maly Trostenez Dokumente und Materialien. Als erstes Zeichen eines neuen Erinnerns wurde in Blagowschtschina im Jahr 2002 ein Gedenkstein eingeweiht, auf dem die Toten des Minsker Ghettos sowie die deportierten Juden zum ersten Mal als Opfer explizit mitgenannt wurden.

    Blumengestecke am Gedenkstein von Blagowschtschina, der im Jahr 2002 auf Initiative belarusischer Bürger aufgestellt worden war / Foto © Aliaksandr Dalhouski
    Blumengestecke am Gedenkstein von Blagowschtschina, der im Jahr 2002 auf Initiative belarusischer Bürger aufgestellt worden war / Foto © Aliaksandr Dalhouski


    Seit die belarusische Staatsführung Anfang der 2010er Jahre die Weichen für eine groß angelegte Umgestaltung des Gedenk- und Erinnerungsortes gestellt hat, sind weitere Gedenkanlagen geschaffen worden: Die „Pforte der Erinnerung“ auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeitslagers, der staatliche Gedenkfriedhof Blagowschtschina und der „Weg des Todes“ des Architekten Leonid Lewin, der den Weg der Opfer zur Mordstätte im Wald nachzeichnet. Zahlreiche Gäste aus Politik und Zivilgesellschaft kamen zur Einweihung nach Minsk, auch aus Deutschland, Österreich, Polen und Tschechien. Frank-Walter Steinmeier reiste als erster deutscher Bundespräsident überhaupt nach Belarus, um an dieser Gedenkzeremonie teilzunehmen.

    Wer waren die belarusischen Opfer? 

    Obschon die geplante Gedenkanlage an der einstigen Mordgrube von Schaschkowka noch nicht gebaut ist, zeigt sich bereits, dass die sich abzeichnende Transformation hin zu einem gesamteuropäischen Erinnerungsort mit dem Gedenken aus der Sowjetzeit überformt bleibt: Der Begriff Holocaust auf den Informationstafeln vor Ort fehlt weiterhin, und noch immer werden Jüdinnen und Juden in der weiten Kategorie der „friedlichen Bürger“ unsichtbar gemacht. Ein kritisch-reflektierendes Gesamtkonzept, das auch die Aufarbeitung dieser sich überlagernden Schichten der Erinnerung, der Deutung und der Überformung sowohl der Tat-, als auch der Gedenkorte umfasst, steht noch aus. Ebenso eine Antwort darauf, wie sich neue Hierarchien der Sichtbarkeit zwischen den namentlich benannten jüdischen Opfern aus Mitteleuropa einerseits und den unbekannten jüdischen, wie auch nicht-jüdischen Opfern aus Belarus andererseits im Gedenken vermeiden lassen. 

     

    Zum Weiterlesen
    Kohl, Paul (1990): „Ich wundere mich, dass ich noch lebe“, Gütersloh
    Kohl, Paul (2003): Das Vernichtungslager Trostenez: Augenzeugenberichte und Dokumente, IBB Dortmund
    IBB Dortmund/IBB Minsk/Stiftung Denkmal fur die ermordeten Juden Europas (Hrsg.): Vernichtungsort Malyj Trostenez: Geschichte und Erinnerung, Ausstellungskatalog, Berlin 2016
    Schölnberger, Pia (Hrsg., 2020): Das Massiv der Namen: Ein Denkmal für die österreichischen Opfer der Shoa in Maly Trostinec, Wien
    Angrick, Andrei (2018): „Aktion 1005“ – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942-1945: Eine „geheime Reichssache“ im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, Göttingen
    Rentrop, Petra (2011): Tatorte der „Endlösung“, Berlin
    Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde, Hamburg  
    Die Seiten der digitalisierten Ausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ einer belarusisch-deutschen Historiker-Kooperation. In dem seit 2014 laufenden Projekt arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien gemeinsam die Geschichte des Vernichtungsortes auf. (bisher auf Belarusisch, in Kürze auch auf Englisch)

     

     


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


     

    1. Gemeint sind bei Paul Kohl die Züge aus dem „Deutschen Reich“, aus Deutschland, Österreich und dem Protektorat Böhmen und Mähren. ↩︎
    2. Das Minsker Ghetto wurde am 19. Juli 1941 durch die deutsche Militärverwaltung eingerichtet und im September 1941 der Zivilverwaltung unterstellt. Daneben wurde zeitgleich das Stammlager für sowjetische Kriegsgefangene (Stalag) 352 von der deutschen Wehrmacht angelegt und über die gesamte Besatzungszeit verwaltet. ↩︎
    3. Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde, Hamburg, S. 694 ↩︎
    4. vgl. Gerlach, S. 625 ↩︎
    5. ebd. ↩︎
    6. Rentrop, Petra (2009): Maly Trostenez, in: Benz, Wolfgang/ Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9, München, S. 573 – 587 ↩︎
    7. Rentrop, Petra (2011): Tatorte der „Endlösung“, Berlin, S. 219 ↩︎
    8. vgl. Rentrop (2009): Maly Trostinez, S. 580 ↩︎
    9. Kohl, Paul (1990): „Ich wundere mich, dass ich noch lebe“, Gütersloh ↩︎
    10. vgl. Angrick, Andrei (2018): „Aktion 1005“ – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942-1945: Eine „geheime Reichssache“ im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, Göttingen 2018, Bd. 1, S. 563-582 ↩︎
    11. vgl. Gerlach, S. 770; vgl. Rentrop (2011): Tatorte der „Endlösung“, S. 227 ↩︎
    12. Mit der Vernichtungsstätte hatte dieser Ort nichts zu tun, doch war er für Besucherinnen und Besucher besser zu erreichen und so wurde hier ein Obelisk als Mahnmal errichtet, was gerade für Unkundige in Bezug auf die tatsächlichen Ereignisse irreführend war. ↩︎
    13. IM-MER. Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern ↩︎
    14. Cumaraǔ, Jaǔhen (1995): Zvarot da hramadzjan, Vjarchoǔnaha Saveta, urada, hramadskich arganizacyj [Aufruf an Bürger, den Obersten Sowjet, die Regierung und zivilgesellschaftliche Organisationen], in: ders.: Peršy mikrafon [Mikrofon eins]. Minsk: GMF „Trascjanec“ 1995, S. 3–4 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

    Weitere Themen

    Der Holocaust in der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten

    Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

    Jüdisches Leben in Belarus bis 1917

    Die Brester Festung

    Die Massenerschießungen von Katyn

  • Die deutsche Erinnerung an den Holocaust in der Sowjetunion und im Baltikum

    Die deutsche Erinnerung an den Holocaust in der Sowjetunion und im Baltikum

    Die deutsche Erinnerung an den Holocaust ist von dem Topos Auschwitz geprägt. Die Gleisanlagen des Vernichtungslagers stehen für die Ermordung des europäischen Judentums. Unter den Millionen von Besucher:innen, die jährlich die Gedenkstätte und das Museum Auschwitz-Birkenau besuchen, sind auch zahlreiche Personen und Gruppen aus Deutschland. Dieses Interesse steht im krassen Kontrast zum Erinnern an die Vernichtungsorte auf baltischem oder ehemals sowjetischem Boden. Jene unzähligen Schluchten und Wälder, heute vor allem in Litauen, der Ukraine, Belarus und im Westen Russlands gelegen – sie sind in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten. Doch warum ist das so?

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Im Vergleich zu der Ermordung vorwiegend polnischer sowie west- und südosteuropäischer Jüdinnen und Juden in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern ist die Auslöschung der sowjetischen und baltischen Jüdinnen und Juden in der deutschen Erinnerung weniger präsent. Doch auch der Erinnerungsort Auschwitz und die Erinnerung an den Holocaust insgesamt haben ihre Geschichte.1

    Erinnerung an den Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg

    Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust war in Deutschland nach dem Krieg keineswegs sofort Teil der politischen Kultur. Vielmehr konnten viele Nationalsozialisten ihre Karrieren im Nachkriegsdeutschland fortsetzen und auch gesellschaftlich fand lange keine Ächtung der deutschen Verbrechen statt. In der DDR wurde zwar eine erhebliche Zahl deutscher Verbrechen auf sowjetischem Boden vor Gericht geahndet, in ihrem Selbstverständnis als antifaschistischer Staat sah sich die DDR aber nicht als Nachfolgerin des NS-Regimes. Obwohl auch auf Grund ihrer biographischen Prägung politische Eliten in der DDR eher bereit waren, den verbrecherischen Charakter des deutschen Kriegs im Osten anzuerkennen, so ließen die offiziellen Geschichtsnarrative nach dem Krieg kaum Raum für die Schoah. In der Bundesrepublik war es erst die beginnende juristische Aufarbeitung der NS-Zeit in den späten 1950er und 1960er Jahren, die eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema forcierte. Zu den wichtigsten Verfahren zählten dabei der aufsehenerregende Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem (1961) sowie die Frankfurter Auschwitzprozesse in den folgenden Jahren.

    Das öffentliche Interesse ebbte allerdings in den 1970er Jahre wieder ab. Erst durch die Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss am Ende des Jahrzehnts gelangte das Thema wieder in das öffentliche Bewusstsein. Weitere entscheidende Weichen für den heutigen deutschen Umgang mit dem Holocaust wurden in den 1980er Jahren gestellt. So bezeichnete Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 das Kriegsende erstmals als Befreiung statt als Niederlage und gedachte unterschiedlicher Opfergruppen. Und im sogenannten Historikerstreit, der 1986 und 1987 im deutschen Feuilleton ausgetragen wurde, setzten sich diejenigen durch, die den Holocaust als Fundament des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses begriffen. 

    Die Politik zog in gewisser Weise nach: Seit 1996 ist der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. An diesem Tag befreite die Rote Armee im Jahr 1945 das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, insofern ist auch die Wahl dieses Tages ein Zeichen dafür, dass der Bezug zu dem Ort Auschwitz den Fluchtpunkt der deutschen Erinnerung bildet. Dies manifestiert sich auch in der erinnnerungspolitischen Formel „Nie wieder Auschwitz“.

    Dass Auschwitz selbst nicht in Vergessenheit geriet, war zuerst dem Einsatz ehemaliger polnischer Häftlinge zu verdanken. 1947 entstand auf ihre Initiative hin ein Museum. Auch wenn es zunächst im Einklang mit der kommunistischen Ideologie vor allem als Ort des polnischen Widerstands konzeptualisiert war, wurde es in den 1960er Jahren durch eine Reihe von „nationalen Ausstellungen“ – kuratiert von den Ländern, aus denen die Opfer stammten – internationalisiert. Für die Gestaltung der deutschen Ausstellung, die bis heute zu besichtigen ist, war die DDR verantwortlich. 1968 konnte schließlich eine erste Ausstellung gezeigt werden, die die Ermordung der Jüdinnen und Juden in den Mittelpunkt stellte.

    Keine Orte

    Ein mit dem Topos „Auschwitz“ vergleichbares Symbol für die Vernichtung der sowjetischen Jüdinnen und Juden fehlt bis heute. Am bekanntesten2 ist noch das Massaker von Babyn Jar, das Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD gemeinsam mit der Wehrmacht, deutschen Polizisten und ihren ukrainischen Helfern am 29. und 30. September 1941 in der Nähe der gerade eingenommenen Stadt Kiew durchführten. Sie erschossen innerhalb von zwei Tagen mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden. Es war das größte Einzelmassaker während der Schoah und steht nicht zuletzt für die zentrale Rolle der Wehrmacht bei den deutschen Verbrechen auf sowjetischem Boden. 

    Zahlreiche ähnliche Orte, etwa Drobizki Jar oder das IX Fortas, sind in Deutschland kaum bekannt, und dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen wurden die Opfer des Holocaust auf dem Gebiet der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten oftmals nicht in Gaskammern geschickt, sondern direkt nach der Einnahme einer Stadt oder eines Dorfes von den Deutschen und ihren Helfer:innen erschossen. Lager wie Maly Trostenez in Belarus gab es zwar auch, aber nicht in dem Ausmaß wie im besetzten Polen. Unzählige dieser häufig an den Rändern von (Klein-)Städten gelegenen Tatorte sind zu einem nicht unerheblichen Teil tatsächlich physisch verschwunden, überwuchert von Wäldern und Gräsern. Zudem erhielt schon Anfang 1942 der SS-Standartenführer Paul Blobel den Befehl, vor allem in Polen und in der Ukraine die Spuren der deutschen Verbrechen zu beseitigen.

    Zwar gelang dies in vielen Fällen nicht. Aber die Erinnerung an das, was dort während des Zweiten Weltkriegs geschehen war, wurde an diesen Orten nach 1945 – anders als in Auschwitz – vom sowjetischen Staat kaum am Leben erhalten. Zwar entstanden in der Sowjetunion monumentale Denkmäler, die an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg erinnerten und den Heldenmut der sowjetischen Bevölkerung feierten, aber diese Form der Erinnerung ließ wenig Raum für die Erfahrungen derjenigen, die den Deutschen und ihren Helfer:innen ausgeliefert waren und keine Möglichkeit hatten zu kämpfen.

    Keine Stimmen

    Im Falle von Auschwitz gab es Überlebende aus ganz Europa, die über ihre Erfahrungen schreiben und sprechen konnten und deren Stimmen allmählich in die Öffentlichkeit drangen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der italienische Schriftsteller Primo Levi, dessen Werk Ist das ein Mensch? 1958 in Deutschland erschien. Zudem traten einige deutschsprachige Überlebende regelmäßig öffentlich als Zeitzeug:innen auf. Doch für das sowjetische Judentum fehlten diese Stimmen. Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass die Ermordung der baltischen und sowjetischen Jüdinnen und Juden bis heute in Deutschland weniger präsent ist.

    Die Stimmen fehlten zum einen, weil so wenige überlebt hatten. Zum anderen spielte in diesem Zusammenhang aber auch die sowjetische Marginalisierung jüdischer Narrative eine Rolle. Diese lässt sich teilweise auf den Antisemitismus in der Sowjetunion zurückführen. Vor allem aber fügte sich die Spezifik der jüdischen Erfahrung nicht in die Erzählung von den sowjetischen Völkern ein, die alle gleichermaßen unter den deutschen Faschist:innen gelitten hätten. Beobachtungen wie in Wassili Grossmans 1943 erschienener Reportage Ukraine ohne Juden hätten nach dem Krieg nicht mehr erscheinen können.

    In dem Text, den Grossman als Kriegsberichterstatter während des Vormarschs der Roten Armee gen Westen verfasste, wird literarisch eindrucksvoll der Kontrast zwischen der ukrainischen und der jüdischen Erfahrung herausgearbeitet. Das ukrainische Volk hatte unter der deutschen Besatzung unzählige Opfer zu beklagen: „In keiner ukrainischen Stadt, in keinem Dorf, gibt es ein Haus, wo nicht Worte der Entrüstung über die Deutschen zu hören wären, wo während dieser zwei Jahre keine Tränen vergossen worden wären, wo der deutsche Faschismus nicht verflucht würde, kein Haus ohne Witwen und Waisen.“

    Doch anders als im Falle der jüdischen Bevölkerung, gab es unter den Ukrainer:innen Überlebende, die ihre Geschichten erzählen konnten. Die Einzigartigkeit des Verbrechens an den Jüdinnen und Juden lag darin, dass sie ausgelöscht worden waren und zwar „allein deshalb, weil sie Juden waren. […] Es gibt in der Ukraine Dörfer“, so Grossman weiter, „in denen man keine Klagen hört und keine ausgeweinten Augen sieht, wo Stille und Ruhe herrschen.“ Und wie ganze Dörfer schwiegen, so schwiegen auch die Juden der Ukraine. „Es gibt keine Juden in der Ukraine. […] Ein Volk wurde meuchlerisch ermordet […].“3

    Unter den Vorzeichen des Kalten Kriegs hatten es die sowjetisch-jüdischen Überlebenden und ihre Nachfahren zudem schwer, bis in die westliche Öffentlichkeit vorzudringen. Auch Grossmans Jahrhundertroman Leben und Schicksal, in dem er eindrucksvoll die Ermordung der sowjetischen jüdischen Bevölkerung schildert, konnte erst 1984 – über abenteuerliche Wege und nachdem es in der Sowjetunion der Zensur zum Opfer gefallen war – in Deutschland erscheinen.4

    Kein Interesse

    Und selbst den wenigen Stimmen, die es gab, schenkten die Deutschen wenig Beachtung. So etwa im Falle der Künstlerin Dina Pronitschewa, die als eine der ganz wenigen das Massaker von Babyn Jar überlebt hatte. Sie wurde im Rahmen des so genannten Callsen-Prozesses, in welchem sich eine Reihe von SS-Männern für ihre Beteiligung an den Morden am Stadtrand Kiews vor einem bundesdeutschen Gericht in Darmstadt verantworten mussten, als Zeugin gehört. Sie schilderte ihre grauenhaften Erfahrungen am 29. April 1968, aber die deutsche Öffentlichkeit nahm kaum Notiz davon. Lediglich das lokale Darmstädter Echo berichtete ausführlich.5 Auch später in Deutschland erschienene Zeugnisse, etwa das erinnerte Tagebuch von Mascha Rolnikaite über das Ghetto in Vilnius, sind bis heute in Deutschland nahezu unbekannt.

    Damit ist ein weiterer Grund für das Schattendasein der Ermordung des sowjetischen Judentums in der bundesdeutschen Erinnerungskultur genannt: die Verdrängung der eigenen Taten. Der Krieg gegen die Sowjetunion, der von Beginn an einer anderen Logik folgte als die Kriegsführung im Westen, figurierte nach Kriegsende vor allem als „Russlandfeldzug“. Der Anti-Bolschewismus der Nationalsozialisten überlebte in abgewandelter Form eines bundesrepublikanischen Anti-Kommunismus im Kontext der Westintegration. Obwohl die Wehrmacht den erbarmungslosen Vernichtungskrieg von Beginn an mitgetragen hatte, sahen sich die meisten der Soldaten nicht als Täter.  Stattdessen stand der „Mythos Stalingrad“ im Zentrum der Erinnerung an den Krieg im Osten.6 Dieser Mythos stellte das eigene deutsche Leid in den Mittelpunkt, personifiziert durch die von der eigenen Führung verratenen Soldaten im Kessel der Wolgastadt. Damit wurden die anderen Dimensionen des Kriegs überdeckt, über die die Täter auch in den Familien in der Regel schwiegen.7 Wie beharrlich sich die Vorstellung der vermeintlich sauberen Wehrmacht in der deutschen Gedenkkultur hielt, zeigten die Proteste und hochemotionalen Reaktionen auf die Wehrmachtausstellungen (1995–1999, 2001–2004) des Hamburger Instituts für Sozialforschung, welche die tragende Rolle der deutschen Streitkräfte bei einer Vielzahl von Verbrechen – darunter auch dem Holocaust – im östlichen Europa dokumentierten.8

    In gewisser Weise war die erinnerungskulturelle Reduktion der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden auf den Ort Auschwitz die gesellschaftlich bequemere. Der Täter:innenkreis konnte auf diese Weise auf die mörderischen Absichten einer überschaubaren Zahl von SS-Leuten reduziert werden, die den anonymen Massenmord in Lagern perfektionierten. Die Wehrmachtausstellungen zeigten dagegen den engen Nexus zwischen Vernichtungskrieg und Schoah, unter anderem in der Sowjetunion. Sie zwangen die breitere Öffentlichkeit zu einer Auseinandersetzung, zu der jedoch vor allem rechte und konservative Kreise selbst in den 1990er und frühen 2000er Jahren nicht bereit waren und deren erinnerungspolitische Konsequenzen sie ablehnten.

    Die Erinnerung an den Krieg gegen die Sowjetunion ist in Deutschland immer noch im Wandel. Anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine in der Presse viel beachtete Rede. Darin wies er auf die ungeheuren Dimensionen des deutschen Vernichtungskriegs im Osten hin und mahnte zugleich an, dass viele seiner Schauplätze bis heute in Deutschland noch viel zu unbekannt seien. Dabei erinnerte er auch an die Erschießung der jüdischen Bevölkerung auf dem von Deutschland besetzten Gebiet der Sowjetunion.9Es bleibt zu hoffen, dass in den kommenden Jahren das gesellschaftliche Wissen um die Schoah jenseits von Auschwitz und den anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern weiter zunehmen wird. 


    1. Hansen, Imke (2015): „Nie wieder Auschwitz!“: die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945 – 1955, Göttingen ↩︎
    2. Die relative Bekanntheit von Babyn Jar speist sich aus unterschiedlichen Quellen. Zum einen wurde das Massaker in der zweiten Folge der amerikanischen TV-Serie Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiß dargestellt, die im Januar 1979 in Deutschland von den dritten Programmen der ARD ausgestrahlt wurde. Zum anderen hat aber auch vor einigen Jahren die Autorin Katja Petrowskaja das Verbrechen in Deutschland bekannter gemacht. In ihrer Erzählung Vielleicht Ester, für die sie 2014 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, verarbeitete sie das Schicksal ihrer in Babyn Jar ermordeten Urgroßmutter. ↩︎
    3. vgl. Grossman, Wassili (2010): Ukraine ohne Juden, aus dem Russischen übertragen und eingeleitet von Jürgen Zarusky, in: Hürter, Johannes/Zarusky, Jürgen (Hrsg.): Besatzung, Kollaboration, Holocaust: Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Mit einer Reportage von Wassili Grossman, München, S. 189-200, hier S. 196-197, 199 ↩︎
    4. Größeres Aufsehen erregte in den deutschen Feuilletons dann die vollständige Fassung, die erst 2007 aufgelegt wurde. ↩︎
    5. In der Grube den Fangschüssen entkommen: Erste russische Zeugin berichtet im Kommando-Prozeß über das Massaker bei Kiew, Darmstädter Echo, 30. April 1968, S. 8. Abgedruckt in Osteuropa 71, 1-2 (2021), S. 59-61. Erst in diesem Jahr wurde ihre Aussage vollständig in deutscher Übersetzung gedruckt., vgl. Aussage der Zeugin Dina Proničeva, Kiew, in: Osteuropa 71, 1-2 (2021), S. 47-57. Zur Geschichte ihrer Zeugenaussage siehe: Berkhoff, Karel C. (2021): Aussage in der Heimat der Täter: Dina Proničeva im Callsen-Prozess, in: Osteuropa 71, 1-2 (2021), S. 41-46 ↩︎
    6. Morina, Christina (2011): Legacies of Stalingrad: Remembering the Eastern Front in Germany since 1945, Cambridge ↩︎
    7. Wette, Wolfram (Hrsg, 2012): Stalingrad: Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt a. Main ↩︎
    8. Hartmann, Christian/Hürter, Johannes/Jureit, Ulrike (Hrsg., 2005): Verbrechen der Wehrmacht: Bilanz einer Debatte, München ↩︎
    9. Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 18. Juni 2021 in Berlin ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

    Weitere Themen

    Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann