дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Großer Vaterländischer Krieg

    Großer Vaterländischer Krieg

    Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

    „Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945 war der gerechte Befreiungskrieg des sowjetischen Volkes für die Freiheit und Unabhängigkeit der sozialistischen Heimat gegen das faschistische Deutschland und seine Verbündeten, der wichtigste und entscheidende Teil des Zweiten Weltkriegs 1939–1945.“ So definierte im Jahr 1985 eine einschlägige Moskauer Enzyklopädie.1 Diese in der Sowjetunion und einigen Nachfolgestaaten übliche Bezeichnung entspricht chronologisch und geographisch in etwa den deutschen Begriffen Krieg an der Ostfront oder Russlandfeldzug. Selbst für sich allein genommen war dieser Abschnitt des Zweiten Weltkriegs einer der blutigsten Kriege der Weltgeschichte.

    Ein Sieg unter vielen

    Der Begriff ist an die Bezeichung für Napoleons gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 angelehnt, der in Russland als Vaterländischer Krieg bekannt ist. Gemeint ist ein Verteidigungskrieg auf eigenem Boden, auch wenn dieser in eine Gegenoffensive außerhalb der Staatsgrenzen übergeht. Bereits der Erste Weltkrieg wurde manchmal als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet.

    Nachdem die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die Parallelen zum Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu 1812, schnell aufgegriffen. Bereits am nächsten Tag druckte die „Prawda“ einen Artikel des Parteiideologen Jemeljan Jaroslawskij mit dem Titel „Der Große Vaterländische Krieg“. Auch Stalin griff die Bezeichnung in seiner ersten öffentlichen Kriegsansprache am 3. Juli 1941 auf.

    Obwohl der internationale Charakter aller drei Kriege stets betont wurde, markierte der Begriff des Vaterländischen Krieges eine Wende von einer sozialistischen Interpretation hin zu einer Besinnung auf die Geschichte Russlands vor der Oktoberrevolution. Militärische Ruhmestaten aus dem Mittelalter und der Zarenzeit wurden in der Propaganda ebenso betont wie die führende Rolle des russischen Volkes. Dennoch dauerte es Monate, bis der Ausdruck Vaterländischer Krieg zum Standardbegriff wurde – und erst gegen Ende des Kriegs war das zusätzliche Attribut Großer nicht mehr wegzudenken.

    Die Chronologie des Kriegs und seine Bedeutung im Verhältnis zu anderen militärischen und politischen Ereignissen waren auch nach 1945 nicht sofort in Stein gemeißelt. Der 3. September 1945 als Tag des Sieges über Japan stand noch 1947 im staatlichen Festkalender und in Denkmalsentwürfen aus der Bevölkerung gleichberechtigt neben dem 9. Mai.2 Als vaterländische Kriege konnten der Bürgerkrieg von 1917–1921, die sowjetisch-japanische Schlacht am Chasansee von 1938 und sogar der sowjetisch-finnische Krieg von 1939/40 gelten.3

    Bis zur Mitte der 1960er Jahre galt der Sieg von 1945 als eine Errungenschaft des Sozialismus unter vielen. Seine Bedeutung für das historische und politische Selbstverständnis des Landes stieg jedoch kontinuierlich, nicht zuletzt auf Druck aus der Armee, den neuen Veteranenverbänden und von Verantwortlichen aus den Westgebieten der UdSSR, wo die zentrale Rolle des Kriegs bereits etabliert war.

    Siegeskult und Geschichtsklitterung

    Nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 bemühte sich die neue Staatsspitze, den bereits bestehenden Kult des Großen Vaterländischen Kriegs (GVK, russ. WОW, Welikaja Otetschestwennaja Woina) zu vereinheitlichen und im ganzen Land zu etablieren. Die rückwärtsgewandte Sicht auf den Krieg als das – neben der Oktoberrevolution – wichtigste Ereignis in Russlands Geschichte überschattete zunehmend die zukunftsorientierten Versprechungen des Sozialismus. Die 1418 Tage vom 22. Juni 1941 bis zum 9. Mai 1945 wurden zum endgültigen chronologischen Rahmen; die geheimen Teile der deutsch-sowjetischen Abkommen von 1939 und die Besetzung von Teilen Osteuropas durch die Sowjetunion 1939/40 blieben aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart.

    Fundament des historischen Selbstverständnisses

    Nach einer Phase kontroverser Diskussionen um Interpretationen und Chronologie des Krieges während der Perestroika stieg die Bedeutung des Kults um den GVK seit Mitte der 1990er Jahre wieder kontinuierlich. Durch den Zusammenbruch des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds blieb der Stolz auf den Sieg von 1945 als einziger historischer Affekt übrig, der nationalen Zusammenhalt versprach. Mit Unterstützung aus der Staatsführung, oft jedoch auf Initiative der Enkelgeneration, wurde er in den 2000ern endgültig zum Fundament des historischen Selbstverständnisses in Russland und Belarus.

    In den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem ferneren Ausland sind es vor allem russischsprachige Einwohner, für deren Geschichts- und Selbstverständnis der GVK ein wichtiger Bezugspunkt ist. Inzwischen werden mehr kulturelle Artefakte (Filme, Bücher, Denkmäler usw.) zu 1941–1945 produziert als zu spätsowjetischen Zeiten. In Russland ist der Tag des Sieges am 9. Mai der mit Abstand wichtigste Nationalfeiertag.

    Ereignisse der jüngsten Geschichte werden zunehmend als Neuauflage des GVK gesehen, so – durch beide Seiten – der seit 2014 andauernde Ukrainekrieg. Gerade in der Ukraine hat der Konflikt jedoch auch zu Neuinterpretationen geführt. Neben dem weiterhin bestehenden Kult um den Großen Vaterländischen Krieg werden die Ereignisse ab 1941 dort, wie schon zuvor im Baltikum, zunehmend als Teil des Zweiten Weltkriegs von 1939–1945 gesehen und das eigene Land als Opfer zweier Diktaturen dargestellt.


    1. Sovenciklopedija (1985): Velikaja Otečestvennaja vojna, 1941-1945, Moskau, S. 7 ↩︎
    2. zu einem solchen Projekt siehe: Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 41-49 ↩︎
    3. Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 27-32 ↩︎

    Weitere Themen

    Tag des Sieges

    Krim

    Park des Sieges

    Poklonnaja-Hügel

    Der Krieg und seine Opfer

    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Genrich Jagoda

  • Park des Sieges

    Park des Sieges

    Der Park des Sieges ist eine Gedenkstätte im Westen Moskaus. Auf dem weiträumigen Gelände befinden sich zahlreiche Statuen und Denkmäler, ein Museum sowie weitere Sehenswürdigkeiten, die an den Großen Vaterländischen Krieg erinnern. Die Parkalage hat sich nicht nur zu einem zentralen Gedächtnisort für die Feierlichkeiten am 9. Mai entwickelt, sondern ist auch als Touristenattraktion und Erholungspark bei den Moskauern sehr beliebt.

    Der Park des Sieges befindet sich auf dem Poklonnaja-Hügel in Moskau. Ursprünglich als Gedächtnisort für den Sieg im Vaterländischen Krieg gegen Napoleon geplant, wurde die Anlage ab Mitte der 1980er Jahre in einen architektonischen Gedächtniskomplex umgestaltet und am 9. Mai 1995 anlässlisch des 50. Jubiläums des Siegs über den Hitler-Faschismus eröffnet.

    Heute befinden sich auf dem Gelände, das schon durch seine schiere Größe von 135 Hektar beeindruckt (entspricht etwa 190 Fussballfeldern), zahlreiche Sehenswürdigkeiten. Besonders augenfällig ist der 141,8 Meter hohe Obelisk mit der Siegesgöttin Nike, der an die 1418 Kriegstage erinnert. Zwei Reihen von Soldatenstatuen, die verletzte und gefallene Kämpfer darstellen, symbolisieren das unvorstellbare Leid der sowjetischen Kriegsopfer.

    Der Platz besitzt zudem zahlreiche sakrale Anleihen: Aus der Luft betrachtet ist er der Form eines Kirchenschiffes nachempfunden, optisch ähnelt der Siegespark einer Tempelanlage. Das Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges erinnert äußerlich an die Kolonnaden des Petersplatzes in Rom. Auf dem Gelände befinden sich zudem drei Gotteshäuser – eine orthodoxe Kirche, eine Moschee und eine Synagoge – die die Multikonfessionalität der sowjetischen Armee betonen. 2014 wurde ein neues Denkmal zur Ehrung der russischen Soldaten im Ersten Weltkrieg errichtet.

    Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges im Siegespark auf dem Poklonnaja-Hügel - Foto © Guenni88 unter CC BY 3.0
    Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges im Siegespark auf dem Poklonnaja-Hügel – Foto © Guenni88 unter CC BY 3.0

    Im Rahmen des „Kults des Großen Vaterländischen Kriegs“ (Nina Tumarkin1) ist der Park inzwischen ein zentraler Ort für die Feierlichkeiten anlässlich des Tags des Sieges am 9. Mai. Hier gedenkt man der Opfer und ehrt die Kriegsveteranen. Darüber hinaus hat sich der Ort zu einer touristischen Sehenswürdigkeit entwickelt und ist auch bei den Moskauern sehr beliebt, die hier im Winter Skifahren und im Sommer Spazierengehen oder Radfahren. Bei Hochzeitsgesellschaften ist der Siegespark ein beliebtes Motiv für Fotoshootings.


    1. Tumarkin, Nina (1994): The Living and the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York ↩︎

    Weitere Themen

    Tag des Sieges

    St. Georgs-Band

    Poklonnaja-Hügel

  • Tag des Sieges

    Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

    Anders als in Westeuropa galt in der Sowjetunion der 9. und nicht der 8. Mai als Tag des Kriegsendes. Als die Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft trat, war in Moskau bereits der nächste Tag angebrochen. Der 9. Mai war in der UdSSR zunächst – genau wie der 3. September, Tag des Kriegsendes im Fernen Osten – ein arbeitsfreier Tag. Nachdem Stalin ihn im Dezember 1947 wieder zum Arbeitstag gemacht hatte, wurde der Tag des Sieges staatlicherseits mit weniger Aufwand gefeiert. Dennoch fanden weiterhin offizielle Veranstaltungen mit Reden, Salutschüssen und Denkmalseinweihungen sowie Volksfeste statt, vor allem aber Familienfeiern und Wiedersehenstreffen von Kriegsveteranen.

    „Kult des Großen Vaterländischen Kriegs“

    Auch in einigen anderen Ländern des Ostblocks, etwa in Polen, wurde der 9. Mai als Tag des Sieges gefeiert. Seit 1965 unter Breshnew wieder zum arbeitsfreien Tag erklärt, wurde der Tag des Sieges schnell zu einem der wichtigsten Festtage der Sowjetunion und zum Mittelpunkt eines „Kults des Großen Vaterländischen Kriegs“ (Nina Tumarkin1), der die Bevölkerung über die gemeinsame Kriegserfahrung stärker an die neue Staatsführung binden und zum sowjetischen Patriotismus erziehen sollte. Vor allem in Jubiläumsjahren diente er in Form von Militärparaden und Veranstaltungen mit ausländischen Staatsoberhäuptern auch der Selbstdarstellung der UdSSR auf der internationalen Bühne.


    Mit dem Wegfall der meisten anderen sowjetischen Feiertage ist der 9. Mai in Russland inzwischen neben dem Neujahrstag das wichtigste Fest des Jahres. Obwohl auch die Opfer der Alliierten und der anderen Sowjetvölker in das Gedenken eingeschlossen werden, liegt die Betonung inzwischen immer mehr auf dem Sieg über Hitlerdeutschland als Schlüsselereignis der russischen Geschichte. Dafür steht auch das 2005 eingeführte St.-Georgs-Band, das die Symbolik des ehemaligen St.-Georgs-Ordens aufgreift. Dieser Sieg wird dabei zunehmend als das herausragende Geschehen in einer langen Reihe militärischer Heldentaten dargestellt und spielt als solches eine tragende Rolle im offiziellen Narrativ des Feiertags. Verstärkt wird der 9. Mai inzwischen auch zum Anlass für Konflikte um den russischen Einfluss und die Rolle der russischsprachigen Minderheiten in den Nachbarstaaten. In der Ukraine stehen seit 2015 der 8. und der 9. Mai gleichberechtigt als Gedenktage nebeneinander.

    Das Unsterbliche Regiment


    Gleichzeitig haben sich in den letzten Jahren länderübergreifende Gedenkinitiativen entwickelt. Die bekannteste unter ihnen ist das im Jahr 2012 von liberalen Tomsker Journalisten initiierte Unsterbliche Regiment. Dabei marschieren Tausende mit Porträts von Kriegsteilnehmern aus der eigenen Familie durch Stadtzentren oder Ehrenmale. Die Aktion hat sich inzwischen bis nach Israel, Deutschland, Norwegen und in die USA ausgeweitet. Generell haben Auswanderer aus der ehemaligen UdSSR die Festtraditionen des 9. Mai in viele andere Länder weitergetragen. Auch in Deutschland wird dieser Tag inzwischen breit zelebriert – am 9. Mai 2015 kamen zum Beispiel über 40.000 Menschen zu einem Volksfest am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park zusammen.

    Besucher zum 70. Jahrestag des Tages des Sieges am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin - Foto © KleinerEisbär2015 unter CC BY 4.0
    Besucher zum 70. Jahrestag des Tages des Sieges am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin – Foto © KleinerEisbär2015 unter CC BY 4.0

    1. Tumarkin, Nina (1994): The Living and the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York ↩︎

    Weitere Themen

    Krim nasch

    Park des Sieges

    Poklonnaja-Hügel

    Der Krieg und seine Opfer

    Weißes Band

    Großer Vaterländischer Krieg

    Russlands Jugend und der Zweite Weltkrieg