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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    „Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst“ und schon stürzte am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion das ganze Land in einen kollektiven Schock. Völlig unvorbereitet stemmte sich die UdSSR gegen die deutsche Übermacht, die auf ihrem Vormarsch Tod und Verwüstung hinterließ. Die genauen Opferzahlen sind nicht ermittelbar, nicht zuletzt deshalb, weil sie seit dem Kriegsende ständig zum Politikum gemacht werden: So sprechen neueste Schätzungen aus Russland von rund 42 Millionen sowjetischen Opfern des von Deutschland ausgelösten Großen Vaterländischen Krieges.
    Ein Politikum ist die Kriegsgeschichte selbst: Der Kreml monopolisiere die Geschichtsdeutung, so die Kritik zahlreicher Sozialwissenschaftler. Tatsächlich können abweichende Interpretationen seit 2014 sogar strafrechtlich geahndet werden – als sogenannter „Ausdruck von Respektlosigkeit“.  

    In einer Zeit, in der das abweichende Erfahrungsgedächtnis zusehends einer staatlich-verordneten Erinnerungskultur weicht, werden die Stimmen der Zeitzeugen umso wertvoller. Zu den gewichtigsten gehört Daniil Granin. Mit 22 Jahren kam er an die Front, jung, beherzt und naiv. Schnell eignete er sich eine Kriegslogik an. Nach dem Krieg verarbeitete er seine Erlebnisse in zahlreichen Publikationen, die zum Teil auch ins Deutsche übersetzt wurden.

    Im Interview mit der Novaya Gazeta reflektiert und hinterfragt der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller nochmal das Vergangene sowie den heutigen Umgang damit. Und widerlegt vortrefflich das Klischee, dass „Zeitzeugen die größten Feinde des Historikers“ seien.

    „Die Erinnerung war viele Jahre lang unerträglich.“ – Daniil Granin / Foto © Jelena Lukjanowa/Novaya Gazeta
    „Die Erinnerung war viele Jahre lang unerträglich.“ – Daniil Granin / Foto © Jelena Lukjanowa/Novaya Gazeta

    Daniil Granin: In den ersten Jahren nach dem Sieg verbot uns die Zensur zu erzählen, wie wir 1941 in den Krieg gezogen sind und gekämpft haben. Und auch wir selber erzählten lieber vom späteren Vormarsch. Wie wir in Berlin einmarschierten. Aber wie es am Anfang war, welche kolossalen Verluste wir erlitten hatten, den Rückzug angetreten hatten, getürmt waren, Stadt um Stadt ausgeliefert hatten – darüber wollten wir nicht sprechen. 

    Das war die tragischste Zeit – der Anfang des Krieges. Als unser Militärtransport im Juli 1941 an die Front fuhr, sangen alle Lieder. Wir waren glücklich, dass wir ins Volksheer gekommen waren. Ich war vom Wehrdienst freigestellt worden und arbeitete in einem Konstruktionsbüro für Panzer. Meine Aufnahme ins Volksheer hatte ich nur mit Mühe durchgesetzt. Ich dachte: Wie kann das sein? Es ist Krieg! Und ich soll nicht teilnehmen?! Das ist ein unbeschreibliches Gefühl …

    Im Nachhinein kommt es einem irgendwie einfältig vor, dumm.

    Novaya Gazeta: War das der Glaube an sich selbst oder an das Land?

    Es war die allgemeine Stimmung, aber auch meine persönliche Überzeugung, dass wir bald siegreich zurückkehren würden. Wir hatten keine Ahnung vom Krieg. 

    Da war auch noch ein anderes Gefühl. Das hat uns in den ersten Kriegsmonaten zu schaffen gemacht: Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst und mit ihm angestoßen. Hatte Deutschland „unseren Freund“ genannt. Wir zogen in den Krieg, ohne mit Zorn gerüstet zu sein. In uns wuchs ein Gefühl von Befremden und Kränkung: Wie konnte das sein? Sie hatten uns ohne jegliche Vorwarnung angegriffen.

    Nicht nur unsere Politiker waren den Deutschen auf den Leim gegangen, betrogen worden und in die Falle getappt, sondern auch wir: Wir waren im Wortsinn und moralisch unbewaffnet losgezogen.

    Wir hatten keine Ahnung vom Krieg

    Als der erste deutsche Pilot bei uns in Gefangenschaft geraten war, sprach der mit uns von oben herab, wie mit einer niederen Rasse, mit der Überlegenheit eines Ariers und Militärs. Er kündigte an: „Ihr seid dem Tode geweiht.“
    Wir bemühten uns, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Thälmann, Karl Liebknecht, „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Das war ja überall präsent, in allen Zeitungen. Es dauerte tatsächlich ein paar Monate, bis wir genug Hass und Zorn beisammen hatten. Bis wir jedenfalls die freundschaftlichen Gefühle und Gesinnungen losgeworden waren.

    Woher nahmen Sie den Hass?

    Von den deutschen Soldaten. Die hinterließen nach ihren Angriffen niedergebrannte Dörfer, zerstörte Städte, Galgen. Aber die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

    Dieser Krieg war ja nicht dazu da, irgendwelche Gebiete zu erobern. Nein. Sie drangen Richtung Moskau vor, um Russland zu zerstören. Leningrad zu vernichten. Hitler sagte wörtlich: „dem Erdboden gleichzumachen“.

    Die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

    Im ersten Kriegsjahr war vieles völlig unbegreiflich. Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Ich bekam kein Gewehr. Es wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt. Aber wo waren unsere Waffen? Wo unsere Flugzeuge? Warum bombardierten uns die Deutschen, und wir hatten überhaupt nichts zur Verteidigung auf unserem Frontabschnitt, zum Beispiel Jagdflugzeuge?

    Völlig unerwartet trat plötzlich offen zu Tage, wie wenig unsere Armee auf den Krieg vorbereitet war. Es gab nicht mal topografische Karten. Das war entmutigend. Es hatte doch dauernd Militärparaden gegeben. Ständig hatten wir Heldenlieder über Woroschilow und Budjonny gesungen: „Keiner kann ihn uns nehmen, den zurückgelegten Weg, Rote Division, voran, voran, voran …

    Die Enttäuschung darüber, dass wir nicht kampfbereit waren, wuchs. Auch darüber, dass die Deutschen Stalin um den Finger gewickelt hatten. Sie hatten alles vorbereitet, wir nichts. Wir rannten vor ihnen weg. Das ist ein demütigendes Gefühl. Ein panisches Gefühl.

    Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Also wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt

    Es gibt eine Seite des Krieges, die sich erst Jahre später erschließt, und die den Historikern kaum zugänglich ist. Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten. Auch was konkrete Ereignisse angeht, ist da nicht viel. Aber diese Seite trägt zum Begreifen eines Wunders bei:

    Es ist die Geschichte der Brüderlichkeit unter Soldaten. Wie sich die Stimmung der Soldaten veränderte. Es ist wie ein EKG, das über vier Jahre abgeleitet wird und das sich dauernd ändert: zuerst Prahlerei, dann Hoffnung, dann Enttäuschung, Verzweiflung, ein Gefühl der Katastrophe. Dann – irgendeine Erfahrung und wieder ein Bruch: Dir wird klar, dass man doch auch einen Deutschen töten kann. Dieses EKG lässt sich sehr schwer aufzeichnen, aber genau das hat den Krieg beeinflusst und letztlich entschieden.         

    Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war.

    Eine sehr große Rolle spielte für uns, dass die Deutschen es nicht schafften, Moskau einzunehmen, in Moskau einzumarschieren, sondern im September 1941 bereits bei Leningrad Halt machten. Außerdem machten sie dort nicht nur Halt, sondern waren gezwungen, den Rückzug anzutreten. Das war der erste spürbare Erfolg, und der markierte einen psychologischen Umschwung.

    Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war

    Kriegsgeschichte ist nicht nur Geschichte der Schlachten und Verluste, sondern auch die Geschichte darüber, wie sich die Psychologie der Soldaten veränderte. Dieser Teil der Kriegsgeschichte ist nur dürftig abgebildet, sie ist den Historikern nicht zugänglich, es sind nur Erinnerungen von Soldaten und Generälen.

    Niemand konnte voraussagen, dass der Krieg vier Jahre dauern würde – weder die Kriegsherren, noch die Offiziere, noch die einfachen Soldaten. Hätte man mir während meiner Bemühungen um die Aufnahme in die Armee gesagt: „Du kommst, wenn du denn überlebst, in vier Jahren zurück“, hätte ich das nicht geglaubt oder mich nicht als Freiwilliger gemeldet.

    In der Literatur der Nachkriegszeit davon zu erzählen, genierte man sich. Auch die Zensur hielt diese Enttäuschung unter Verschluss. Dieser Teil der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wurde fast nicht ans Licht gebracht. Darüber durfte nicht gesprochen werden.

    Dass die Zensur viele Jahre lang nicht erlaubte, die Wahrheit zu sagen, dass sie unrühmliche Momente vertuschte – unsere Niederlagen, den Mangel an Waffen – war es richtig, den Patriotismus der Menschen auf diese Art zu steigern? Wer die wahren Umstände nicht kannte, hielt Stalin wahrscheinlich nach wie vor für einen genialen Feldherren.

    Das ist eine schwierige Frage. Zum Beispiel die Heldentat der Panfilowzy … Jetzt weiß ich, dass sie aufgebauscht wurde, doch damals war das hilfreich. Da gab es auch die Losung: „Mit der Brust werfen wir uns dem Feind entgegen“. Mit der Brust wirfst du dich gar niemandem entgegen. Aber ich weiß noch, dass sie halfen, sowohl die Panfilowzy genauso wie Matrossow belebten den Kampfgeist.

    Es gab auch gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte: Wie real war das, wie viel Prozent Wahrheit steckten drin? Solche Dinge waren im Krieg von großer Bedeutung. Deswegen ist die Einstellung dazu äußerst komplex.

    Es gab gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte

    Es gab auch Momente, in denen uns sofort klar war: Das ist reinste Propaganda.

    Stalin hielt gleich zu Beginn des Krieges, 1941, eine Rede und sprach davon, wie viele Millionen Deutsche wir vernichtet, getötet hätten. Er nannte eine so hohe Zahl, dass wir uns fragten: Warum stehen sie dann noch vor uns?!  

    Was, wenn man Ihnen die ganze Wahrheit gesagt hätte, dass wir nicht vorbereitet waren, keine Waffen hatten, dass die Mittel, die Kraft nicht ausreichen würde?

    Das wäre sehr schwer gewesen. Was konnten uns die Kommissare schon sagen? Nicht nur die Hoffnung musste genährt werden, auch der Glaube an weitere Erfolge, und die fehlten die ganze Zeit. Monat um Monat erlebten wir Rückzug, Panik.

    Mein Krieg überlagerte sich noch mit der Tragödie der Blockade. An der Leningrader Front hatten wir zusätzlich das Leid der Zivilbevölkerung vor Augen. An anderen Fronten war das weniger spürbar. Schlimm war es natürlich auch, aber Leningrad bekam es am heftigsten ab.

    Stimmt es, dass die Isaakskathedrale und einige andere Petersburger Denkmäler und Gebäude während des Krieges für die Stadtbewohner Symbole waren, die ihnen Kraft gaben?

    Ja, das stimmt. Wir sahen durch Feldstecher Brände in der Stadt, Rauchsäulen, die nach den Bombardements der Faschisten aufstiegen, und uns zerriss es das Herz. Weil da nicht nur eine Stadt brannte, da brannte der Stolz Russlands. Die Stadt, die man mit Peter dem Großen verband, mit den Dekabristen, mit Puschkin, Lermontow, Gogol, Dostojewski … Sie alle waren an der Verteidigung Leningrads beteiligt.

    War die Stadt Leningrad in diesem Krieg wichtiger als Moskau?

    Für Hitler noch früher als für uns. Er sah die Wurzeln des Bolschewismus in Leningrad und machte es im Plan Barbarossa zum wichtigsten Angriffsziel. Der Führer sah das so: Sobald Leningrad erobert ist, fällt der Widerstand.

    Es gab in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges zwei bedeutende Brennpunkte des Widerstands: Stalingrad und Leningrad. Stalingrad war militärischer Widerstand, Leningrad – mentaler: das Durchhaltevermögen sowohl der Armee als auch der Bevölkerung.

    Damals wussten wir das nicht, aber nach dem Krieg wurde bekannt, dass Leningrad die Soldaten an anderen Fronten des Landes beflügelt hatte. Zu begreifen, dass die Menschen bis zum Tod standhaft blieben, trotz des Hungers, den sie überspielten, trotz Entbehrungen und Verlusten. 900 Tage! Keine andere Stadt hat in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs einer so langen Einkesselung standgehalten! Solche Dinge halfen natürlich.

    Kürzlich wurden neue Verlustzahlen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg genannt – 41.979.000 Menschen. Was denken Sie darüber?

    Diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor. Hatten zumindest bisher Angst.

    Begonnen hat die Zählung mit sieben Millionen und stieg dann bis 42. Schrittweise. Jahrzehnt um Jahrzehnt. Eine Zahl unter Stalin, bei Chruschtschow die nächste, bei Breshnew die dritte, bei Jelzin die vierte. Jeder neue Regierungschef hat mal mehr, mal weniger hinzugefügt. Und plötzlich steht diese entsetzliche Zahl vor uns. Aber auch das ist nicht alles.

    42 Millionen Tote – diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor

    Was sind 42 Millionen? Das ist keine Zahl. Für die, die am Leben geblieben sind, ist es Einsamkeit. Ich habe niemanden, mit dem ich den Tag des Sieges feiern kann. Von meinen Freunden aus Schul- und Studentenzeit, von meinen Kriegskameraden ist mir keiner geblieben. Nicht nur kraft der Natur, sondern auch, weil sie im Krieg umgekommen sind. Damit ist ein Teil meiner Jugend gefallen, meines Lebens, er ist zusammen mit ihnen verschwunden.

    Es gab einen Umstand, der uns alle sehr traf. Stalin hat niemals (vielleicht irgendwann mal in privaten Gesprächen) einen Trinkspruch zum Gedenken der Todesopfer ausgebracht. Er wusste doch, dass das nicht nur sieben Millionen waren. Und beim Empfang nach dem Sieg hat er nichts über sie gesagt. Sie mit keinem Wort erwähnt. Kein Glas auf sie erhoben. Das ist unverzeihlich.  

    Was ist für Sie heute am schmerzhaftesten, wenn Sie an den Krieg denken?

    Man hat uns den Sieg geraubt. Ich habe mich einmal mit Helmut Schmidt unterhalten. Ich fragte ihn: „Warum habt ihr den Krieg verloren?“ Er antwortete sofort (er hatte eine durchdachte Antwort parat, er ist ein guter Politiker, ein professioneller Historiker, hat selbst gekämpft, hat alles gesehen, weiß alles): „Weil die USA in den Krieg eingetreten sind“.

    Dabei ist Amerika ganz spät eingetreten.

    Man hat uns den Sieg geraubt. Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenhafter, als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf

    Ich konnte nicht verstehen, woher diese Version stammte. Und dann wurde mir klar: Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenvoller als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf. Und jetzt ist das im Westen überall durchgedrungen, bis hinein in den Geschichtsunterricht. Das ist ungerecht, anstandslos. Die Menschheit ist uns für diesen Sieg verpflichtet, für die Zerschlagung des Faschismus.

    Aber es stellt sich noch eine Frage: „Warum haben wir gewonnen?“ Für mich ist auch da vieles unklar.

    Einmal wurde ich gebeten, mit Schülern über den Krieg zu sprechen. Plötzlich steht ein etwa achtjähriges Mädchen auf und fragt: „Daniil Alexandrowitsch, wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Da verstand ich, dass sie diesen Krieg heute völlig anders sehen. Dass es auch diese Seite des Krieges gibt, wo gefragt wird: „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Nicht Deutsche, nicht Feinde, sondern Menschen. Verstehst du? Wie viele Menschen haben Sie getötet? Ich antwortete: „Ich habe Feinde getötet.“

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  • Kino #6: Letjat Shurawli

    Kino #6: Letjat Shurawli

    Im Februar 1956 verurteilte Nikita Chruschtschow in einer Geheimsitzung auf dem XX. Parteitag Stalins Herrschaft als eine Zeit des Massenterrors und der Geschichtsfälschung. Der damit eingeleitete Entstalinisierungsprozess wurde weltweit in der metaphorischen Umschreibung Tauwetter bekannt und führte zu radikalen Korrekturen im erstarrten Darstellungskanon. Das kollektive Schicksal, dem sich das Individuum fügte – ein wichtiges Merkmal des sowjetischen Films seit den 1920er Jahren – wurde durch Einzelschicksale verdrängt. Filmhelden bekamen zum ersten Mal das Recht auf eigene Erfahrungen, die sich mit der kollektiven nicht zwingend deckten. Ihre Intimisierung kam im Schwarzweiß eines dokumentarischen Realismus daher, der unmerklich das Objektive durch das Subjektive austauschte.

    Initialisiert hat diesen Prozess der bekannteste Film des Tauwetters, Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen, 1957) von Michail Kalatosow, der 1958 in Cannes die Goldene Palme gewann – ein Jahr vor Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour, in dem es um eine ähnliche private Aneignung der großen Geschichte ging.1

    Hier finden Sie den Film beim Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Im Gegensatz zum Kanon der sowjetischen Kriegsfilme erscheint in Die Kraniche ziehen statt der gewohnten treuen Kriegsbraut eine untreue – ein keineswegs heroisches Mädchen. Die 18-jährige Veronika liebt den Ingenieur Boris, der sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger meldet. In einer Bombennacht gibt sie sich dessen Cousin, dem Pianisten Mark, hin und heiratet ihn, ohne zu wissen, dass Boris an der Front gefallen ist. Ihre Verzweiflung über diesen Entschluss, den sie als Verrat an ihrer Liebe, ja an sich selbst auffasst, treibt sie fast in den Selbstmord. Sie verlässt Mark, arbeitet in einem Lazarett und hofft, jeder Vernunft zum Trotz, dass Boris zurückkehrt. Als im Mai 1945 die ersten Züge mit Frontheimkehrern eintreffen, geht sie, weiß gekleidet wie eine Braut, zum Belarussischen Bahnhof, bleibt jedoch in der jubelnden Menge allein.

    Die verunsicherten Kritiker

    Kalatosow verfilmte ein Erfolgsstück von Viktor Rosow (Wetschno Shiwije, dt. Die ewig Lebenden), das während des Krieges geschrieben und 1956 am neuen Moskauer Theater Sowremennik (dt. Zeitgenosse) uraufgeführt wurde. Seine Sprengkraft allerdings zeigte das Sujet erst im Film.

    Die Darstellung der jungen Tatjana Samoilowa und die starke visuelle Sprache des Films stoßen die hier erwartete Geschichte von Schuld und Reue um: Veronika lebt ihr Leben und nicht das der erwarteten Norm, sie trifft ihre eigene Wahl und wird von den Filmautoren dafür nicht verdammt, sondern poetisiert.

    Die einheimische Kritik war zwar von dem Film begeistert, wusste jedoch lange Zeit nicht, wie sie die Heldin interpretieren sollte. Die Fachzeitschrift Iskusstwo kino empfahl den Film als Werk „über die Liebe zum Volk und die Treue zu ihm“ und hoffte, dass er den „Sinn für zivile Heldentaten eröffnen werde“.2 Dem Drehbuchautor Rosow wurden dramaturgische Fehler vorgeworfen, da die Verhaltensweise der Heldin der Logik widerspreche; der jungen Veronika wurde ein Weg „in das große Leben“ der Gemeinschaft gewünscht.3

    Untreue Braut statt opferbereites Mädchen

    Möglicherweise konnten die damaligen Kritiker und Zuschauer einen Bruch nicht verarbeiten: Die Ambivalenz, die von der Figur der Veronika ausging, wich ab von den angebotenen Typisierungen: untreue Braut, nicht opferbereites Mädchen. Die Rätselhaftigkeit ihrer Individualität stand in krassem Gegensatz zu klar konzipierten Menschen, die auf jede komplizierte Frage eine einfache Antwort wussten. Veronika dagegen blieb sich selbst ein Rätsel. Sie gibt im Film weder die untreue Braut noch die gefallene Frau, weder ein Opfer des Krieges noch eines der Umstände, sondern eine Liebende, deren Glaube an ihr Gefühl stärker ist als der an die Realität.

    Das Geheimnisvolle ihrer Individualität wurde durch metaphysische Bande betont, die die Parallelmontage und die Dramaturgie zwischen den Liebenden etablierten: In dem Augenblick, da Veronika sich Mark hingibt, trifft eine zufällige Kugel Boris. In dem Moment, da Veronika sich unter den Zug werfen will, zwingt das Schicksal sie, ein Kind zu retten, das obendrein Boris heißt. Die Dramaturgie des metaphy­sischen Zufalls widersetzte sich den üblichen Motivierungen.4

    Kalatosow baute auf bewusste Wiederholungen und Variationen der Schlüsselszenen, also auf poetische und nicht prosaische Verbindungen. Dreimal kommt die Szene auf der Treppe vor, auf der Veronika und Boris sich nicht voneinander lösen konnten. Später stürzt Veronika im zerbombten Haus dieselbe Treppe empor, um die Tür nicht in ihre Wohnung, sondern in den Abgrund aufzustoßen. In seinem Todestraum läuft Boris dieselbe Treppe hoch, um Veronika oben im Brautkleid zu treffen.

    Zweimal begegnet Veronikas Blick dem Zug der Kraniche am Himmel. Ihr Blick von oben wiederholt sich in der Szene des Abschieds, der die Liebenden trennt, und am Ende, als die Menschenmasse die verlorene Veronika in sich aufnimmt.

    Die Emanzipation der Gefühle, die Loslösung des Persönlichen vom Allgemeinen, spürten auch die deutschen Kritiker in Ost und West, die den Film zum „indivi­duellsten“ aller Kriegsfilme erklärten.5

    Juni 1941 – als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfällt, bricht für Veronika eine Welt zusammen. Sie muss ihren Liebsten in den Krieg ziehen lassen / Fotos © Mosfilm
    Juni 1941 – als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfällt, bricht für Veronika eine Welt zusammen. Sie muss ihren Liebsten in den Krieg ziehen lassen / Fotos © Mosfilm

    Das Individuelle und das Kollektive

    Die Subjektivierung der Erfahrung wurde durch die Individualisierung der filmischen Perspektive unterstützt. Der Kameramann Sergej Urussewski setzte eine entfesselte Handkamera ein, die im ununterbrochenen „Mitlauf“ die Bewegung der Heldin suggerierte, er fand ausgefallene Blickwinkel, die Veronikas Perspektive vermitteln sollten. Dieses subjektivierte Bild wurde außerdem durch den Ton verstärkt, der sich aus der Überlagerung von Geräuschen, Dialogfetzen und Musik zusammensetzte.

    So ließen ausdrucksstarke Einstellungskompositionen, die die Raumverhältnisse deformieren, sowie das expressionistische, kontrastreiche Licht- und Schattenspiel Veronikas psychische Schocks erahnen. Die bei der Bombardierung zerstörte Wohnung wurde durch die Zerstörung der Bildkomposition wiedergegeben, das schwindende Bewusstsein des sterbenden Boris‘ über von unten aufgenommene, sich im Kreis drehende, mehrfach belichtete Baumkronen.

    Auch die Massenszenen bekommen dank der bevorzugten Weitwinkelobjektive mit ihren Tiefenschärfen eine neue Dimension: Der virtuos langanhaltende Einsatz der Handkamera ohne Schnitte verlagerte die Montage in die Einstellung und schuf den eigenartigen nervösen Rhythmus des Films.

    Das Gesicht der Samoilowa zeichnet Urussewski wie eine Schwarzweißgrafik mit Licht (und Schatten) – jenseits kommerzieller Fotogenität und Erotik.

    Der unvermittelte Wechsel von der subjektiven zur objektiven Perspektive, von Nahaufnahmen zu Totalen von ganz oben herab, ergänzt die verwirrte Sicht der Veronika um den totalen Blick auf ihre kleine Figur – mitten im Chaos schwerer Lastwagen oder in der Menge auf dem Bahnhof.

    Diese raffinierten visuellen Verunsicherungen betonen die Verzweiflung der Heldin, wobei die aufgepeitschte Emotionalität des Films mitunter an Kitsch grenzte.

    Das Weibliche und das Männliche

    Die subjektive Sicht, das expressionistische Licht sowie der synkopische Schnitt­rhythmus waren Veronika gegeben und weiblich kodiert, Boris‘ Geschichte dagegen in das Schicksal der Gemeinschaft eingeschrieben und mit neutralen Totalen verknüpft. Wegen dieser Gemeinschaft war er bereit, sein Leben zu opfern. Doch im Augenblick seines Todes und ihres Selbstmordversuchs wird diese Teilung aufgehoben.

    Den Film treibt ein starkes, nicht realisiertes Verlangen voran. Die Liebesszene zwischen Veronika und Mark in einer Bombennacht wurde gewöhnlich als Vergewaltigung oder Sündenfall interpretiert. Doch Kalatosow hatte hier nichts anderes als das klassische Motiv der Verbindung von Eros und Tanatos, Liebe und Tod benutzt. Die Szene variierte das Thema der leidenschaftlichen unerfüllten Liebe, das die Beziehung von Boris und Veronika bestimmte, der Braut des Toten, die einmal der Hypnose eines Lebenden erliegt.

    Expressionismus und Neorealismus

    Die Kraniche ziehen wurde innerhalb von nur sechs Monaten abgedreht, ein Rekord für die damalige Zeit. Im Film alternierten betont expressive und ruhige neorea­listische Szenen. Auf die Alltagsszene im Lazarett folgte der Selbstmordver­such, gedreht und geschnitten wie im Stummfilm. Der ausein­ander­gebrochene Raum mit der umgestürzten Horizontlinie wurde aus extrem kurzen, losen Fragmenten zusammengesetzt. Die Reißschwenks lösten die Formen auf. Kalatosow verband diese verschiedenen Stile frei miteinander, und obwohl die neorealistischen Szenen – der Dialoge wegen – längere Einstellungen erforderten, war die Gesamtlänge der expressiven und naturalistischen Episoden im Film ausgeglichen.

    Dieser Film wurde über Nacht zu einem Ereignis, das sich durch nichts angekündigt hatte.6 Auch keiner der späteren Filme von Regisseur Kalatosow oder Kameramann Urussewski erreichte jemals wieder die Kraft der Kraniche, Tatjana Samoilowa spielte nie wieder eine Rolle so suggestiv wie die der Veronika, obwohl sie mehrere internationale Angebote bekam,7 in denen sie ihre Unwiederholbarkeit reproduzieren sollte.

    Text: Oksana Bulgakowa
    Veröffentlicht am 09.06.2017


    1.Resnais war nach Hiroshima gereist, um einen Dokumentarfilm über den Atombombenabwurf zu drehen; der daraus entstandene Spielfilm erzählte das private Drama einer jungen Französin und ihrer Liebe zu einem deutschen Soldaten, dessen Tod am 2. August 1945 sie als ihr Hiroshima erlebte.
    2.in: Iskusstwo kino (1957), Nr. 2, S. 10 und S. 61
    3.Turowskaja M. (1957): Da i net, in: Iskusstwo kino, Nr. 12, S. 18
    4.So in dem damals gerade im Ausland veröffentlichten Roman Doktor Shiwago von Boris Pasternak, der 1957 im Mosfilmstudio (ungelesen) diskutiert wurde.
    5.Bulgakowa O./Hochmuth D. ( Hrsg.) (1992): Der Krieg gegen die Sowjetunion: Katalog des Filmprogramms zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin, S. 61-71
    6.Kalatosow hatte zwar schon 1930 mit dem poetischen, auf die visuelle Ausdruckskraft bauenden Film  Das Salz Swanetiens debütiert, doch drehte er noch 1950 einen typischen Film des Kalten Krieges, Die Verschwörung der Verdammten, und einen genauso plakativen Film über Enthusiasten, die Neuland bezwangen (Der erste Zug, 1955). 1943 bis 1945 verbrachte er in den USA, zunächst in New York, dann in Hollywood, um für die zweite Front zu werben, und hat sich dabei von den affektiven Melodramen Hollywoods beeinflussen lassen. Urussewski war dagegen für seine ungewöhnliche Ausdrucksfähigkeit schon seit Der letzte Schuss (1956) bekannt, hatte jedoch zuvor ebenfalls ausgesprochen konventionelle Filme gedreht(Drei Menschen und Die Kubankosaken), die an Ölgemälde naturalistischer Milieumalerei erinnerten.
    7.Sie nahm u. a. Angebote an aus Ungarn (Alba Regia, 1961; Regie: Mihàly Szemes) sowie Italien (Italiano, brava gente, 1965; Regie: Guiseppe de Santis).

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  • St. Georgs-Band

    St. Georgs-Band

    Gibt man auf Yandex-Bildersuche den russischen Begriff Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) ein, dann werden nur rund 20 der ersten 100 Ergebnisse kein St. Georgs-Band enthalten. Erdacht 2005 zum 60. Jubiläum des Sieges über Hitlerdeutschland, avancierte das schwarz-orange gestreifte Bändchen innerhalb weniger Jahre zum zentralen Symbol des „Kults um den Großen Vaterländischen Krieg“.

    Benannt wurde es nach St. Georg – einem der wichtigsten orthodoxen Heiligen und bekanntesten Held der russischen Mythenwelt. So schmückt sein Bildnis beispielsweise das Wappen Moskaus, aber auch der stilisierte Drachentöter auf dem Staatswappen Russlands wird oft mit St. Georg verbunden. Nicht zuletzt deshalb kritisierten einige Beobachter schon 2010 die Kreml-Nähe des Symbols.

    Wohin man zu den jährlichen Feierlichkeiten am Tag des Sieges am 9. Mai auch blickt, das schwarz-orange gestreifte St. Georgs-Band ist omnipräsent. Wie kein anderes Symbol verkörpert es für die russische Öffentlichkeit den Sieg über den Nationalsozialismus.

    Entstehung des Symbols

    Das St. Georgs-Band geht zurück auf den Russischen Orden des Heiligen Georg, der 1769 als höchste militärische Auszeichnung von der deutschstämmigen Zarin Katharina der Großen eingeführt wurde. Benannt nach dem Heiligen Georg, der in Russland als Großmärtyrer verehrt wird, symbolisieren die Farben Feuer und Asche. Diese Metaphern sollten den besonderen Mut und die Tapferkeit der handverlesenen Ordensträger ausdrücken.

    Wurde die Auszeichnung nach der Oktoberrevolution zunächst abgeschafft, erkannte Stalin die enorme patriotische Wirkung des St. Georgs-Bandes und verlieh es nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges postum allen Veteranen.

    Wiedergeburt und Popularisierung

    Danach verlor es zunächst wieder an Bedeutung, bis im Jahr 2005 die regierungstreue Jugendorganisation Studentische Gemeinschaft (Studentscheskaja Obschtschina) sowie einige Firmen in einer Aktion der Nachrichtenagentur RIA Nowosti zahlreiche Bänder in Moskau verteilten.1 Diese Initiative trug dazu bei, dass das St. Georgs-Band inzwischen Einzug in die Populärkultur gehalten hat: In den ersten sechs Jahren nach der Einführung wurden nach Angabe der Studentischen Gemeinschaft mehr als 50 Millionen Bänder verteilt.

    So werden sie an Jacken, Taschen, Autoantennen und -spiegeln angebracht, um der Kriegsopfer und Veteranen zu gedenken und den Stolz über den Sieg gegen den Faschismus auszudrücken. Im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten sieht man auch häufig patriotische Autoschriftzüge wie „Spasibo dedu sa pobedu“ (dt. „Danke Opa für den Sieg“)2 oder „Na Berlin“ (dt. „Nach Berlin“).

    Wahrnehmungen des neuen Symbols

    Alsbald regte sich Kritik gegen eine solche Bändchen-Schwemme: Das mittlerweile abgeschaltete Portal za-lentu.ru geißelte schon 2011 den „Kitsch“ und die „Dekadenz“ bei der „profanisierten“ Verwendung des „heiligen Symbols“ Russlands. Die regierungstreue Jugendorganisation Wolontjory Pobedy (dt. Ehrenamtler des Sieges) erstellte 2017 Richtlinien für die richtige Verwendung, in denen sie auf Piktogrammen die korrekte Bindeweise demonstrierte und darauf aufmerksam machte, die Bändchen nicht auf Taschen und an Autoantennen anzubringen.3 Im Vorfeld der Feierlichkeiten im Jahr 2017 kündigten auch Aktivisten des Moskauer Jugendparlaments an, auf Streife zu gehen – gegen die „unethische Verwendung des Georgs-Bändchens4.

    St. Georgs-Band an einer Autoantenne/Foto © Charlik
    St. Georgs-Band an einer Autoantenne/Foto © Charlik

    Auch Veteranenverbände und die Kommunistische Partei lehnten sich erst gegen das neue Symbol auf – ersetzte das Bändchen doch die Rote Fahne, das zuvor wichtigste Symbol des „kommunistischen Sieges“ über den Faschismus. Gleichzeitig wurden damit zunächst nicht nur die ehemals sowjetischen Nachbarländer milde gestimmt, die das alte Symbol mit sowjetischer Okkupation assoziierten, sondern auch der russische Klerus, der die Rote Fahne mit Repressionen gegen die Kirche verband.

    Staatssymbol

    Während solche Kritik über die Jahre weitgehend verstummte, wird das St. Georgs-Bändchen inzwischen immer häufiger auch als Symbol der Loyalität gegenüber Putin und dessen Politik gedeutet.5

    Da es immer mehr für Russki Mir (dt. Die russische Welt) steht, regt sich auch in den baltischen Ländern mit großen russischsprachigen Minderheiten Besorgnis: In Lettland wurden schon 2010 „Aktivisten“ gesichtet, die Nummernschilder von mit Bändchen geschmückten Autos aufschrieben (und deren Fahrer wohl den Behörden meldeten). In Estland gab es ernstzunehmenden Quellen zufolge eine diskrete politische „Empfehlung“ an die Medien, die Bändchen-Aktionen nicht zu thematisieren.6 In Litauen, wo es seit 2008 verboten ist, sowjetische Symbole zu benutzen, wurde das Bändchen ebenfalls mit Argwohn aufgenommen.7

    In der Ukraine lieferten sich 2009 – also bereits fünf Jahre vor der Krim-Angliederung – die zumeist russischsprachigen Städte der Halbinsel eine Art Wettbewerb: Simferopol stiftete ein 50 Meter langes „antifaschistisches“ Bändchen, Sewastopol konterte mit 300 Metern. Im Zuge der Angliederung der Krim und des Kriegs im ukrainischen Donbass benutzten prorussische Separatisten das Symbol, um ihre Zugehörigkeit zu Russland und ihren Kampf gegen die „Kiewer Faschisten“ zum Ausdruck zu bringen. Im Mai 2017 stellte das ukrainische Parlament das Verwenden des Bändchens unter Strafe.

    Seit 2015 diskutieren auch moldawische Politiker über ein gesetzliches Verbot des Symbols.

    In einem „Kult des Großen Vaterländischen Krieges8, in dem das Georgsband zum Gegenstand einer regelrechten „kollektiven Psychose“9 (Michail Jampolski) wurde, bewerten russische Staatsmedien solche Initiativen derzeit nicht selten als Affront gegen Russland.10

    Auch innenpolitisch führt das Symbol zu einer schroffen Polarisierung: Werden die Träger des Bändchens zunehmend mit der Unterstützung des Systems Putin assoziiert, hat sich bei der Protestbewegung 2011/12 das Weiße Band als Erkennungsmerkmal etabliert. 


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    Geschichte als Rummelplatz

    Der von Deutschland ausgelöste Krieg forderte schätzungsweise 25 bis 42 Millionen sowjetische Todesopfer. Die offizielle russische Geschichtspolitik zelebriere einen regelrechten „Kult um den Sieg“, meint Sergej Medwedew, eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Dabei verwandle sich das Erinnern zunehmend in einen Marketing-Gag, die dunklen Epochen der russischen Geschichte würden übertüncht.

    Auf republic.ru analysiert Medwedew, inwiefern das Tragische des Krieges zunehmend als spielerische Farce inszeniert wird.

    Nachrichten aus der Welt des Schönen: Einen Monat vor dem Tag des Sieges kam heraus, dass sich Russen nun eine Hitlerfrisur schneiden lassen können.

    Die Facebook-Userin Olga Makarowa hatte die Preisliste eines Kinderfriseurs in einem Moskauer Einkaufszentrum gepostet, wo Kunden das „Modell Hitlerjugend in zwei Stylingvarianten“ angeboten wird.

    In den sozialen Netzwerken herrschte Aufregung, die Friseurin entschuldigte sich und ließ die strittige Bezeichnung verschwinden. Aber im Zuge der Diskussion wurde klar, dass „Hitlerjugend“ in Friseur-Fachkreisen ein allgemein gebräuchlicher Terminus ist und dieser Haarschnitt in Salons und Barbershops russlandweit angeboten wird.

    Wieso denn immer gleich Hitler?

    Das könnte man kurios finden, für ungeschicktes Naming und eine unerfreuliche Ausnahme halten, aber das Problem liegt viel tiefer. In den letzten Jahren ist in Russland eine ganze Schicht von Wörtern und Begriffen rund um den Zweiten Weltkrieg enttabuisiert worden.

    So wurde etwa das Wort „Faschist“ zu einer derart gängigen Beleidigung, dass es seine Bedeutung komplett verloren hat.

    „Faschismus“ wird heute jegliche für den Sprecher unangenehme Erscheinung genannt: Faschismus findet man in Kiew und im Kreml, in den Reden von Marine Le Pen und Alexander Dugin, bei den Donezker Separatisten und den estnischen Nationalisten. Seit Beginn des Krieges mit der Ukraine hat sich das Wort bis zum endgültigen Bedeutungsverlust abgenutzt.

    Ebenso armselig sind die jüngsten Versuche des Staates, Nawalny mithilfe eines anonymen Videos zu diskreditieren, in dem er mit Hitler verglichen wird – die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens sah man sogar im Kreml ein.

    Hitler ist mittlerweile zum Internet-Mem geworden: Im Netz kursiert ein Demotivator, wo der beleidigte Führer aus einem Zugfenster heraus fragt: „Wieso denn immer gleich Hitler?“    

    Als Ergebnis dieser Wort-Inflation taucht der Haarschnitt Hitlerjugend auf, der gewitzte Unternehmer in Nowosibirsk nennt seine Banja Abwehr und versieht sie mit dem Slogan Mal so richtig Auschwitz-en1, und die Schwestern Karatygin, zwei Studentinnen aus Moskau, antworten im TV-Quiz auf die Frage „Was ist der Holocaust?“ „Ein Tapetenkleister“.

    Wozu denn so an Worten kleben?  

    Ähnliche Fragen warf der Eistanz von Tatjana Nawka und Andrej Burkowski in Auschwitz-Lagerkluft auf. Sie tauften ihn Tanz mit Sternen, da auf den Hemden gelbe Judensterne aufgenäht waren. Und obwohl damit nur das Sujet des Films Das Leben ist schön von Roberto Benigni künstlerisch umgesetzt wurde, war ein so unbeschwerter Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust – in Form einer Unterhaltungsshow, mit applaudierendem Publikum und lächelnden Tänzern – nur durch diese Wertminderung der Wörter und Begriffe möglich, durch die Umwandlung der Katastrophe vom tragischen Symbol in eine choreografische Komposition mit historischem Thema und sicherem Sieg.

    Will man manchen Leuten erklären, warum Frisuren wie Hitlerjugend moralische Konventionen sprengen, stößt man auf offenes Unverständnis: Ist doch ein stylischer Haarschnitt! Wozu denn so an Worten kleben?   

    Dieselbe Abnutzung von Wörtern und Bedeutungen findet sich beim Thema der Stalinschen Säuberungen. Ende letzten Jahres wurde in Moskau in der Uliza Ostoshenka das Restaurant NKWD eröffnet, und obwohl das Schild ein paar Tage später verschwand und man im Restaurant beteuert, die Abkürzung stehe für „Nationale Küchen der Großmacht“, prangen auf der Speisekarte Portraits von Stalin und Dsershinski, im Saal hängt ein großes Portrait des sowjetischen Führers, und die Kellner tragen die Militärhemden aus der Stalinzeit.

    In Tjumen gibt es eine Security-Firma namens Tschekist, die Kindergärten bewacht, in Sotschi die Firma Stalinism, in Barnaul gab es mal einen Erdbaubetrieb namens Gulag und in Wolgograd die OOO Berija. Ihre Besitzer sind wohl kaum überzeugte Verfechter der Säuberungen (auch wenn man das nicht ausschließen kann). Wahrscheinlich wollen sie provozieren und finden, diese Namen hätten Witz und Schärfe, und moralische Bedenken kennen sie nicht.

    Zwei Arten von historischem Gedächtnis

    Hier muss man einräumen, dass im modernen Russland zwei Arten von historischem Gedächtnis existieren: das traumatisierte und das spielerische.

    Zunächst zum traumatisierten: Das entstammt der Erinnerungskultur der Nachkriegsgenerationen, basiert auf dem Trauma des Krieges, der Liste von Verlusten, auf der Idee, der Krieg sei eine fundamentale Katastrophe gewesen und ein Opfer, das die Nation gebracht habe.

    Der sowjetische Diskurs über den Krieg war abgesteckt von moralischen Markern und Tabus, von inneren Beschränkungen und stilistischen Vorgaben. Es war nicht üblich, laut von Heldentaten und Siegen zu sprechen, der Kameraden gedachte man schweigend, ohne mit den Gläsern anzustoßen, ja, und sogar der Tag des Sieges hatte noch 30 Jahre nach dem Krieg, als die Mehrheit der Veteranen noch lebte, den Charakter eines Gedenkrituals, eines frühlingshaften, weltlichen Osterfestes: Ein Fest, begangen mit Augen voll Tränen trifft es am besten.

    Faschisten gab es in der Propaganda, aber nicht im Alltag

    Das Wort „Faschist“ trug eine ernsthafte moralische Ladung, vor allem für die Generation, die den Krieg miterlebt hatte.

    Genauso war der Name „Hitler“ ein mystischer Fluch, den man nicht achtlos aussprechen durfte, da er beim Sprecher blanken Hass auslöste. So erzählte mir meine Mutter, wie sie sich als Kind nachts grausame Hinrichtungen für ihn ausgedacht hatte.

    Und dann gibt es noch ein anderes Kriegsgedenken: das Spiel. Kinder haben es immer gespielt: Als Schuljungen konnten wir einander als „Faschisten“ und Hitler beschimpfen, doch den Erwachsenen war das verboten.

    Außerdem kamen Faschisten in der Propaganda vor, aber nicht im Alltag.

    Ins normale Leben hielten die Faschisten in den 1990ern Einzug. Dieser Wendepunkt ist in Brat 2 von Alexej Balabanow deutlich markiert (zusammen mit Brat 1 eine bis heute gültige Enzyklopädie des russischen Unbewussten): Danila wird zum Waffenkauf in einen Keller geführt, die Figur des Verkäufers trägt den Namen „Faschist“ und eine Wehrmachtsjacke. Danila, mit seinem moralischen Bewusstsein, sagt verblüfft: „Also, mein Opa ist im Krieg gefallen“, worauf Faschist phlegmatisch meint: „Soll vorkommen.“

    Und das war’s dann – das Ende der normativen Kultur, der Beginn der Spiel-Realität, in der Danilas Augen beim Anblick der Schatzkammer voller Waffentrophäen zu glänzen beginnen („Hör mal, woher ist das alles?“ – „Ein Echo des Krieges.“).

    Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit

    In den 2000er Jahren drang die spielerisch-kindliche Vorstellung vom Krieg in die offizielle Ideologie und ins Massenbewusstsein durch – der Krieg wurde als harmloses Soldatenspiel betrachtet, die Erinnerung mythologisiert und kommerzialisiert, sie wurde zur gefragten Ware auf dem Markt der Ideologien und Identitäten. Die Epoche der historischen Rekonstruktion und politischen Restauration hatte begonnen.

    Anhänger des zweiten spielerischen Erinnerungstyps sind ebenfalls erfüllt von moralischem Bewusstsein, aber hier ist es bereits Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit, von Hochmut und Selbstisolierung.

    Die Opfer sind Anlass zum Stolz, nicht aber zur Trauer. Während das traumatische Gedenken wie eine Beschwörung wiederholt „bloß kein Krieg mehr“, verkündet die spielerische Erinnerung großmäulig: „Wir können das auch wiederholen!“

    Pyrotechnik ersetzt Patriotismus

    In diesen Maitagen läuft in Russland wieder das Festival der Wiederholer, und an den Autos tauchen widerliche Sticker auf, auf denen unter eben diesem Motto Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. Das Land versenkt sich in ein endloses Sarniza-Spiel, in dem der Krieg inszeniert und rekonstruiert und Patriotismus durch Pyrotechnik ersetzt wird – von Alexander Saldostanows Biker-Pride auf der Krim bis zur heiteren Stürmung des Sperrholz-Reichstags im Freizeitpark Patriot.

    Extra zu erwähnen ist die Live-Rekonstruktion des Zweiten Weltkriegs im Donbass mit Hilfe von militärhistorischen Klubs: Die Schlacht um Awdijiwka verwies direkt auf Gefechte des Großen Vaterländischen Kriegs, ukrainische Kriegsgefangene wurden durch Donezk getrieben wie deutsche 1944 durch Moskau. Und Strelkow erschoss Plünderer und Marodeure auf Grundlage einer Verordnung Stalins von 1941.

    Die Grenze zwischen Tragödie und Trolling verschiebt sich

    Für das spielerische Erinnern ist charakteristisch, dass Menschen zu Spielzeugsoldaten werden, zu Hieroglyphen auf einem Plakat, zu den Steinen eines Brettspiels. Die Inflation von Erinnerung und Trauer führt dazu, dass Personen und Dinge, die wir uns nicht getrauten, beim Namen zu nennen, jetzt zu Memes, Werbegags, Markennamen werden – und dann gibt es eben Hitlerjugend-Haarschnitte und Holocaust-Tänze. Vor unseren Augen verschiebt sich die Grenze zwischen Tragödie und Trolling, Schmerz und Witz, Traumata werden enttabuisiert und bereinigt.

    Das ist wahrscheinlich der Zeitgeist, die Postmoderne. An die Stelle der Generationen, die mit Kriegs- und Lagerprosa aufwuchsen, tritt eine Generation, die mit Fjodor Bondartschuks Stalingrad und Sachar Prilepins Obitel aufgewachsen ist, mit Memes, Videogames, bunten Kriegsfilmen und einer Light-Version der Geschichte.

    Auch der Staat macht gern auf postmodern, veranstaltet Reenactments und Paraden, betäubt die Erinnerung an Tragödien und verstärkt den Kult um den Sieg und die Erfolge der UdSSR.

    Spiel statt Trauma, Anästhesie statt Schmerz, Cosplay statt Katharsis: Vor unseren Augen ist das neue, ungetrübte Bewusstsein der 2000er Jahre geboren, das sich ohne Zögern das Georgsband anheftet, die Kinder in Tschekistenkostüme steckt und mit derselben Leichtigkeit beim Friseur oder in der Propaganda den Namen Hitlers dekliniert – die Geschichte ist ein Rummelplatz geworden, auf dem alles tanzt.


    1.Der Slogan aus dem russischen Original – Освенцим отдыхает (Oswenzim otdychajet, wörtl.: „Auschwitz erholt sich“) – verwendet eine weitverbreitete Redewendung aus der Umgangssprache, in der das Verb „sich erholen“ im Sinne von „ist nichts dagegen“, „kann einpacken“ gebraucht wird. Ein direktes deutsches Äquivalent dafür gibt es nicht. In einer ersten Übersetzungsvariante hatten wir uns für die wörtliche Version entschieden („Auschwitz erholt sich“) – ein Teil der Bedeutungsaspekte des Originals muss hier ja in jedem Fall geopfert werden. Nachdem uns ein Leser auf die entstehenden Verständnisschwierigkeiten hingewiesen hat, haben wir nun mit der Konstruktion eines neuen Slogans, der dem russischen in Sinn und Duktus weitgehend analog ist, eine, wie wir finden, gute Alternativlösung gefunden.

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    Das Erinnern an den Großen Vaterländischen Krieg ist in Russland eine feierliche Sache – und war es auch schon zu Zeiten der Sowjetunion: Am Tag des Sieges, der am 9. Mai gefeiert wird, gibt es eine große Parade am Roten Platz in Moskau. Hunderttausende im ganzen Land gehen auf die Straße und feiern den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus. Die heutigen militärischen und propagandistischen Ausprägungen des Feiertags – einem der wichtigsten in Russland – werden allerdings immer wieder auch kritisch hinterfragt.

    Eine neue, privatere und persönlichere Form des Erinnerns läutete in jüngster Zeit etwa die Aktion Unsterbliches Regiment ein, eine ursprünglich zivilgesellschaftliche Initiative. Auch wenn diese teilweise von offizieller Seite vereinnahmt wird (auch Wladimir Putin lief bereits mit einem Bild seines Vaters bei einem solchen Gedenkmarsch mit), ist der Ursprungsgedanke, die Geschichte der eigenen Großeltern zu erfragen und zu bewahren. Politische oder kommerzielle Aussagen sind bei dieser Art des Gedenkens dagegen unerwünscht.

    Zum persönlichen Gedenken, das die Geschichte der eigenen Vorfahren würdigt, aber auch kritisches Nachfragen erlaubt, motiviert die Aktion des unabhängigen Exil-Mediums meduza: Es rief seine Leser in diesem Jahr dazu auf, ihnen die Kriegserinnerungen der Eltern und Großeltern zu schreiben. Einzelne Redakteure steuerten außerdem Geschichten aus der eigenen Familie bei. Einige davon hat dekoder übersetzt – und stellt sie an diesem für beide Länder wichtigen Tag neben die russischen Originale.

    Wladimir Zybulski

    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza
    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza

    [bilingbox]Ich bin nach meinem Großvater benannt. Einen Großteil meines Lebens wusste ich Folgendes über ihn: Mit 18 kam er an die Front in den Nachrichtentrupp, er kämpfte bei Stalingrad, arbeitete nach dem Krieg in einer Lokomotivfabrik und hat einmal in einem Film mitgespielt. Ich habe nie mit ihm gesprochen: Er starb zwei Jahre vor meiner Geburt.

    Mama und Oma erzählten immer, dass Großvater sehr zurückhaltend war und dass es Großmutter große Anstrengung gekostet hat, bis er bei seinen Chef um eine Wohnung bat. Außerdem wurde noch erzählt, dass die Orden auf dem feierlichen Portraitfoto in Wirklichkeit nicht seine waren. Er hatte all seine Orden und Medaillen verloren, als er in Berlin in den Zug stieg, und das Portrait musste dann mit den gleichen, aber eben den Orden von jemand anders gemacht werden. Großvater hat lange Jahre an das Ministerium geschrieben, damit sie ihm neue machen, aber vergeblich.

    Wofür genau mein Opa all seine Orden bekommen hat, wurde mir allerdings nie erzählt: Ruhmesorden II. und III. Klasse, den Orden des Großen Vaterländischen Krieges I. Klasse und einige Medaillen.

    Vor ein paar Jahren entdeckte ich dann die Website podvignaroda.ru, auf der man etwas über Verwandte erfahren konnte, die im Krieg waren. Dort fand ich auf Auszeichnungs-Listen, dass mein zurückhaltender Großvater mit 21 Jahren nach Korrektur des Frontverlaufs deutsche Maschinengewehrschützen entdeckt hatte, die um den Beobachtungsposten verteilt waren. Er erschoss damals 15 Deutsche, die übrigen entkamen. Ein bisschen später dann in Berlin „stürmte er ein Haus, in dem Deutsche waren – durch Kugeln aus seiner Maschinenpistole starben acht deutsche Soldaten, drei nahm er gefangen“.

    Ich erzählte meiner Mutter von meiner Entdeckung und die zeigte es meiner Oma. Keine von ihnen wusste, was mein Großvater im Krieg gemacht hatte. Wenn du über Morde im Krieg in Büchern oder in Interviews mit Frontsoldaten liest, ist es das eine; wenn du erfährst, dass auch dein eigener naher Vorfahre getötet hat, beziehst du es auf dich und dir wird ganz schön mulmig. Aber du spürst auch Stolz – auf den Mut deines Opas.~~~Меня назвали в честь деда. Большую часть моей жизни я знал про него следующее. В 18 лет его забрали на фронт связистом, он воевал под Сталинградом, после войны работал на тепловозостроительном заводе и однажды засветился в одном фильме. Сам я никогда с ним не разговаривал: он умер за два года до моего рождения.

    Мама с бабушкой рассказывали, что дед был очень скромный, и бабушке больших усилий стоило заставить его попросить у начальства квартиру. Еще рассказывали, что медали, которые у него на портрете, на самом деле не его. Все свои медали и ордена он потерял, когда садился в поезд из Берлина, и парадный портрет пришлось делать с такими же, но чужими. Дед потом долго писал в министерство, чтобы ему сделали новые награды, но тщетно.

    Чего мне не рассказывали, так это того, за что именно дед получил все свои награды: ордена славы II и III степеней, орден Отечественной войны I степени, ордена Славы II и III степеней и несколько медалей.

    Несколько лет назад я узнал про сайт «Подвиг народа», где можно узнать про воевавших родственников. Там я нашел наградные листы, и выяснилось, что мой скромный дед в 21 год, возвращаясь после исправления линии, обнаружил немецких автоматчиков, окружающих наблюдательный пункт. Тогда он застрелил 15 немцев, остальные разбежались. А чуть позже, уже в Берлине, «ворвался в дом, где находились немцы, и огнем своего автомата убил восемь немецких солдат и троих пленил».

    Я рассказал про свою находку маме, та показала бабушке. Никто из них тоже не знал, что дед делал на войне. Когда читаешь про убийства на войне в книгах или в интервью фронтовиков — это одно; когда узнаешь, что и твой самый ближайший предок убивал тоже, примеряешь на себя — и становится жутко. Но и гордость чувствуешь — за смелость деда.[/bilingbox]


    Lika Kremer

    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza
    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza

    [bilingbox]Ein Jahr bevor die Deutschen Riga eroberten, bekamen mein Opa Mark und seine Frau – nach 13 Jahren kinderloser Ehe – endlich eine Tochter.

    Der Bruder meines Opas hatte ein Geschäft für Männerhemden, darum hat man ihn gleich nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1940 mit seiner Familie als „Kapitalisten“ nach Sibirien deportiert. Mein Opa blieb. Er war Geiger, spielte außerdem Saxophon und leitete ein kleines Unterhaltungsorchester, das in Restaurants auftrat und Stummfilme im Kino Splendid Palace begleitete.

    Als die Gefahr einer deutschen Okkupation aufkam, wussten Opa und seine Familie nicht, ob sie emigrieren sollten oder nicht. Letztlich entschieden sie, dass man mit einem Kleinkind besser nicht ins Unbekannte flieht, und blieben. Zum eigenen Schutz ließen Mark und seine Frau eine Lettin bei sich einziehen, in der Hoffnung, dass die Familie verschont bleibe, wenn die eine Lettin den Pogromverbrechern die Tür öffnet.

    Ab August 1941 gab es in Riga ein Ghetto, in das man meinen Opa mit Frau und Tochter schickte. Vier Monate später nahm man ihnen ihre anderthalbjährige Liba weg, verschleppte sie in den Rumbulski-Wald und tötete sie. Die Frau meines Opas kam ins Konzentrationslager Kaiserwald.

    Mit allen, die arbeiten konnten, durchquerte Mark jeden Morgen unter Aufsicht die ganze Stadt, um Zwangsarbeit zu verrichten. Eines Tages entschied er sich mit einem Mithäftling, Willi Kaplan, zur Flucht.

    Elvira Ronis, jene Lettin, die kurz vor der Deportation bei meinem Opa eingezogen war, lebte noch immer dort. Sie war eine feinfühlige, mutige Frau. Mein Opa erklärte es damit, dass sie einen Buckel und deswegen viel durchgemacht hatte. Als mein Opa noch im Ghetto lebte, kam Elvira täglich an den Zaun und brachte ihm und seiner Familie heimlich Milch. Als Mark und Willi flohen, versteckte sie die beiden schließlich im hintersten Zimmer jener Wohnung.

    Sie lebten dort eine Weile, doch dann entwickelte sich eine Affäre zwischen Elvira und einem deutschen Offizier. Der Offizier schöpfte Verdacht, dass irgendwas in der Wohnung nicht stimmt.

    Aus Angst, aufzufliegen, mietete Elvira eine Werkstatt in der Terbatas Straße 56. Opa und sein Kamerad hoben unter dem Boden eine große Grube aus und versteckten sich in dieser Erdhöhle. Elvira brachte ihnen regelmäßig zu essen. Manchmal setzte sich mein Opa eine Sonnenbrille auf, klebte sich einen Schnurrbart an, verließ das Versteck und ging auf den Markt, um verbliebene Gegenstände zu verkaufen, damit Elvira Geld für Lebensmittel hatte.

    Mein Opa verbrachte ein Jahr und sieben Monate in der Grube. Anfangs waren dort nur zwei untergetaucht, zum Ende des Kriegs hin waren sie zu siebt.

    Am 13. Oktober 1944 hat die Rote Armee Riga befreit. Mein Opa erhielt eine Stelle als Stimmführer der zweiten Geigen beim Orchester des Rigaer Radios. Dort lernte er meine Großmutter Marianna kennen.

    Meine Oma kam gebürtig aus Deutschland, aus der Familie eines erfolgreichen schwedischen Geigers. Ihre Mutter war Jüdin, deshalb war die Familie nach Estland geflohen, als Hitler an die Macht kam. Das wohlhabende deutsche Mädchen lernte über den Sommer alle 14 Fälle der estnischen Grammatik und ging in Tartu in die Schule. Fünf Jahre später wurde Estland sowjetisch, dann begann der Krieg. Meine Oma fuhr mit ihren Eltern per Zug durch das riesige fremde Land bis nach Alma-Ata.

    Während der Evakuierung spielte meine junge Großmutter im Orchester des Mossowet-Theaters, litt Hunger, lernte Russisch sprechen, mit Gewehr überm Rücken Ski fahren und Zuckerrüben ernten. In ihrer Freizeit strickte sie den Schauspielerinnen Pullis mit Hirschen und Sternen und tauschte sie gegen Kartoffeln. Nach dem Krieg zog die Familie nach Riga. Meine Oma begann beim Radio-Orchester zu arbeiten, traf meinen Opa und … mein Papa wurde geboren.

    Ende der 1970er Jahre wanderten meine Großeltern nach Westdeutschland aus. Meine Oma Marianna begann dort ein neues, aufregendes Leben. Sie wurde zur Modenärrin, reiste viel, liebte es, Geschenke zu machen und andere zu überraschen. Und fast alles, was ich machte, kommentierte sie – ohne das „r“ zu rollen, wie es sich gehört – mit dem Wort „Horror“. ~~~За год до того, как немцы захватили Ригу, у моего дедушки Марка и его жены, после тринадцати лет бездетного брака, наконец родилась дочь.

    У дедушкиного брата был магазин мужских сорочек, поэтому сразу после ввода советских войск в 1940 году его вместе с семьей депортировали в Сибирь как «капиталиста». А дедушка остался. Он был скрипачом, играл на саксофоне и руководил небольшим эстрадным оркестром, который выступал в ресторанах и сопровождал немое кино в кинотеатре «Сплендид палас».

    Когда возникла опасность немецкой оккупации, дедушкина семья никак не могла понять, стоит эмигрировать или нет. Решили, что все-таки с маленьким ребенком бежать неизвестно куда нельзя — и остались. Чтобы обезопасить себя, Марк с женой поселили в квартиру латышку, надеясь, что если дверь погромщикам откроет она, семью не тронут.

    В августе 1941-го в Риге появилось гетто — их с женой и дочкой отправили туда. Через четыре месяца полуторагодовалую Либу отобрали, отвезли в Румбульский лес и убили. А дедушкину жену отправили в концлагерь «Кайзервальд».

    Вместе со всеми, кто мог работать, каждое утро Марк шел под конвоем через весь город на принудительные работы. И однажды они, с еще одним узником, Вилли Капланом, решились бежать.
    Эльвира Ронис, та самая латышка, которую дедушка поселил у себя незадолго до депортации, все еще жила у него дома. Это была чуткая и смелая женщина, дедушка объяснял это тем, что у нее был горб — и она сама много натерпелась. Когда дедушка еще был в гетто, Эльвира каждый день приносила к решетке и тайно передавала ему и его семье молоко. В итоге она спрятала сбежавших Марка и Вилли в дальней комнате в той же самой квартире.

    Они прожили там какое-то время, но тут у Эльвиры случился роман с немецким офицером. Офицер начал подозревать, что в квартире что-то не так. Опасаясь разоблачения, Эльвира сняла мастерскую на улице Тербатас, 56. Дедушка и его товарищ вырыли под полом большую яму и спрятались в этой землянке. Эльвира регулярно приносила им продукты. Время от времени дедушка надевал темные очки, наклеивал усы, выходил из укрытия и шел на рынок — продавать сохранившиеся вещи, чтобы добыть для Эльвиры деньги на еду.

    В этой яме дедушка провел год и семь месяцев. Сначала беглецов было двое, но к концу войны стало уже семеро.

    13 октября 1944 года Красная армия освободила Ригу. Дедушка получил место концертмейстера вторых скрипок в оркестре рижского радио. Там он познакомился с бабушкой Марианной.

    Бабушка родилась в Германии в семье успешного шведского скрипача, ее мама была еврейкой, поэтому когда Гитлер пришел к власти, семья бежала в Эстонию. Благополучная немецкая девочка за лето выучила все 14 падежей эстонского языка и пошла в школу Тарту. Через пять лет Эстония стала Советским Союзом, а потом началась война. Бабушка с родителями проехала на поездах через огромную чужую страну и оказалась в Алма-Ате.

    В эвакуации юная бабушка играла в оркестре театра Моссовета, голодала, училась говорить по-русски, бегать на лыжах с винтовкой и собирать сахарную свеклу. В свободное время она вязала артисткам свитера с оленями и звездами и меняла их на картошку. После войны семья переехала в Ригу. Бабушка пошла работать в оркестр радио, встретила дедушку — и у них родился мой папа.

    В конце 1970-х дедушка с бабушкой эмигрировали в Западную Германию. Там бабушка Марианна зажила новой увлекательной жизнью. Стала модницей, много путешествовала, обожала дарить подарки, устраивать сюрпризы. И почти про все, что я делала, бабушка, не выговаривая букву «р», говорила «кошмар».[/bilingbox]


    Galina Timtschenko

    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny  / Foto © Galina Timtschenko/meduza
    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny / Foto © Galina Timtschenko/meduza

    [bilingbox]Unmöglich ist es, sich zu erinnern, wann sie dir das erste Mal gesagt haben: „Weißt du, da war Krieg.“ Du blätterst im Fotoalbum mit den Portraits von Opa in Uniform mit den Rauten am Kragen; du siehst, wie Omas Gesicht anfängt zu zittern, wenn sie über ihn spricht; du weißt, dass Mama jedes mal den Ton ausschaltet, wenn sie im Radio oder Fernseher hört Erhebe dich, du großes Land [Wstawai, strana ogromnajadek]; merkst, dass sie deinem Vater nie Kartoffeln auftun und erklären, dass „sie im Krieg nur gefrorene Kartoffeln gegessen haben“; voll Entsetzen schaust du auf den buckeligen orthopädischen Schuh und gewaltigen Stock von Omas Bruder.

    Meine Mama war sechs, als der Krieg anfing. Opa war zu dieser Zeit Hauptmann bei der Roten Armee. Er fuhr schon am 22. Juni los an die Front. Oma und Mama gelang es wie durch ein Wunder in die ihre Heimat nach Perwomaisk in die Ukraine zu gelangen. Einen Monat später wurde das Gebiet [von Deutschen – dek] besetzt.

    Sie unterteilten die vier Jahre unter den Deutschen in die Zeit, „als die Ingenieure da waren“ – damals sorgten die Deutschen für Infrastruktur und zogen gen Osten; „als die Italiener kamen“ – da erinnerte sich Oma, dass die „nie etwas wegnahmen, im Gemüsegarten ernteten sie Tomaten und brachten im Tausch entweder Wäsche oder Brot; „als die Rumänen kamen – da wurde das Haus ratzeputze leergeräumt“; „als die SS-Einheiten kamen“ – das war eine Strafoperation, nachdem sie den Untergrund aufgespürt hatten; und schließlich, „als unsere Leute vorstießen“ – da wurde die Stadt drei Tage bombardiert, und alle saßen drei Tage im Keller.

    Die ganzen vier Jahre nahm meine Urgroßmutter die vier Fotos mit Männern in Uniform nicht von der Wand: ihre drei Söhne Alexej, Pjotr und Nikolai und ihr Schwiegersohn (mein Großvater) Pjotr. Alle waren an der Front, und bis Kriegsende hatte sie von keinem Nachricht.

    Ihr ältester Sohn Alexej war seit 1942 verschollen. Der mittlere Pjotr beendete den Krieg der Garde als Hauptmann und Ordensträger. Der jüngste kämpfte als Infanterist und Oberfeldwebel, ausgezeichnet mit dem Orden des Roten Sterns; aufgrund einer Splitterverletzung hinkte er sein ganzes Leben.

    Mein Großvater, Hauptmann Pjotr Iwanowitsch Zerkowny, war seit Juni 1941 in der Nähe der Stadt Uman verschollen. Nach dem Tod meiner Großmutter fand ich in ihren Unterlagen einen Stapel Suchanfragen an das Verteidigungsministerium. Die letzte hat sie 1991 abgeschickt.~~~Невозможно вспомнить момент, когда тебе впервые сказали: «Знаешь, была война». Ты просто листаешь альбом с портретами деда в военной форме с ромбами на воротнике; видишь, как начинает дрожать лицо у бабушки, когда она говорит о нем; знаешь, что мама каждый раз выключает звук, если слышит по радио или в телевизоре «Вставай, страна огромная»; замечаешь, как отцу никогда не кладут на тарелку картошку, объясняя, что «в войну только мерзлую картошку и ели»; с ужасом смотришь на горбатый ортопедический ботинок и здоровенную трость бабушкиного брата.

    Моей маме было шесть, когда началась война. Дед, к тому времени капитан Красной армии, уже 22 июня уехал на фронт, а бабка с мамой чудом смогли доехать до родного дома в Первомайске (Николаевская область Украины). А через месяц оказались в оккупации.

    Они делили прожитые «под немцем» четыре года на «когда стояли инженеры» — это немцы налаживали сообщение, двигаясь на восток; «когда пришли итальянцы» — тут бабка всегда вспоминала, что те «никогда ничего не отнимали, собирали в огороде помидоры и приносили то белье, то хлеба в обмен»; «когда пришли румыны — и в доме не осталось ничего»; «когда пришли эсэсовцы» — это в городе была карательная операция после обнаружения подполья; и, наконец, «когда наступали наши» — город бомбили трое суток, и все трое суток они просидели в подвале, а во дворе под грушей до 46 года лежала неразорвавшаяся бомба — и прабабка поставила вокруг плетень «от греха».

    Все четыре года прабабка не снимала со стены четыре фотографии мужчин в военной форме: трое сыновей Алексей, Петр и Николай и зять (мой дед) Петр. Все были на фронте, и ни от кого из них до конца войны не было вестей.

    Старший ее сын пропал без вести в 42-м. Средний Петр закончил войну гвардии капитаном и орденоносцем. Младший воевал в пехоте, гвардии старшина, награжден орденом Красной звезды, остался навсегда хромым из-за осколочного ранения.

    Мой дед, капитан Петр Иванович Церковный пропал без вести в июле 1941 года под городом Умань. После бабкиной смерти в ее документах я нашла пачку запросов в министерство обороны, последний из них она отправила в 1991 году.[/bilingbox]

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  • Sturm auf den Reichstag

    Sturm auf den Reichstag

    Kriegsspiele für die ganze Familie: Im Freizeitpark Patriot bei Moskau stellen Rollenspieler die Schlacht um Berlin nach. Das russische Verteidigungsministerium hat das Event finanziert, laut Veranstalter kamen rund 10.000 Zuschauer.

    Ilja Milschtein zitiert auf Snob.ru zunächst eine begeiserte Reaktion des Massenblatts Komsomolskaja Prawda auf das Event. Und setzt sich dann damit auseinander, weshalb seiner Meinung nach solche Reenactments eher helfen, zu vergessen, statt zu erinnern.

    Foto ©  Dimitri Korotajew/Kommersant
    Foto © Dimitri Korotajew/Kommersant

    Ein Kriegsberichterstatter versorgt uns mit wertvollen Details:

    Das Drehbuch, so der Augenzeuge, zeigt alle Etappen im Kampf um Berlin: die Schlacht um die Seelower Höhen samt Angriffen und Gegenangriffen, Häuserkämpfe, und die Erstürmung des Reichstages … Dann wurde über dem Feld eine Luftschlacht  zwischen Jagdflugzeugen eröffnet: Lawotschkin LA-7 gegen Messerschmitt. Tiger rollten gegen unsere T-34er auf, die Infanteristen stießen im Nahkampf aufeinander … Es gab sogar einen Hitler, der dazu aufrief, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Als unsere Kämpfer die Flagge auf dem Dach des Reichstages hissten, tobten die Zuschauerränge in einem einhelligen „Hurra!“.

    Nun, so war es doch wahrscheinlich im Frühling 1945, oder etwa nicht? Man erstürmte Höhen, führte Straßenkämpfe,  präsentierte den Zuschauern, damit ihnen nicht langweilig wird, anschließend eine Luftschlacht, dann spielten die Kämpfer noch ein bisschen Panzer-Biathlon, während Hitler immerzu nach dem Mikro griff. Und dann, als die Fahne über dem Reichstag gehisst wurde, tobten die Zuschauer auf den Rängen.

    Kurz, die in Kubinka bei Moskau versammelten Helden haben diese amüsante, letzte Schlacht bis ins letzte Detail nachgestellt – und Minister Schoigu, würdiger Nachfolger von Marschall Shukow, war nicht umsonst Ehrengast bei diesem lautstarken Jubel- und Frühlingsfest. Dafür wurde den Junarmisten und den mitziehenden erwachsenen Reenactors im Park Patriot extra ein Reichstagsgebäude errichtet, und das war alsbald eingenommen.

    Fette Party zur Anerziehung patriotischer Gefühle

    So etwas nennt man auch Staffelübergabe der Generationen. Weil aber nicht nur Heerführer, sondern auch Normalbürger die Heldentaten der Väter und Großväter beerben, ist es ausgesprochen wichtig, denen, die den Stab übernehmen, zu zeigen, wie sich das Ganze tatsächlich abgespielt hat. Und zwar anhand von anschaulichen Beispielen – in diesem Sinne war der Sieg über die deutschen Fritze bei Moskau in deren eigener Bastion, dem Berliner Reichstag und Umgebung, eine äußerst sinnvolle Sache. Sowohl als fette Party als auch zur Anerziehung patriotischer Gefühle – die lassen sich bekanntlich am besten unter Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei und in Anwesenheit des Verteidigungsministers einimpfen.

    Man könnte sogar meinen, es gäbe heute, angesichts der gegenwärtigen Situation, keine wichtigere Aufgabe, als der Jugend beizubringen, dass der Krieg eine wahnsinnig witzige Sache sei. Ein fabelhaftes Spektakel, das unweigerlich in einen überzeugenden Sieg gipfelt. Vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten. 

    Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei

    Etwas Ähnliches passiert gerade im fernen Syrien, und passierte eben noch im ziemlich nahen, heimischen Donbass. Wir erinnern uns: Im Donbass wurden vor drei Jahren gefangengenommene „Faschisten“ genauso durch die Straßen getrieben wie 1944 die Deutschen in Moskau.

    Krieg – das ist wahnsinnig cool. Auch wenn wir uns an den Reenactor Strelkow erinnern, der sich später aus dem Staub gemacht hat: Wie er um Slawjansk kämpfte und davon träumte, mit den Truppen bis nach Kiew vorzudringen, um da auch irgendwas zu hissen. Wäre ihm das gelungen, könnten wir in 70 Jahren Sturm auf Kiew spielen.

    Ein Sieg vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten

    Überhaupt, das ist echt eine Spitzenidee: ein Sturm auf Berlin im Jahr 2017. In Zeiten von heftigen außenpolitischen Auseinandersetzungen Russlands mit Europa und den USA, die allmählich vom kalten Stadium in ein recht aufgeheiztes übergehen.

    Wo Freunde von gestern, wie Erdogan, uns plötzlich ein Messer in den Rücken rammen und zu Feinden werden, nur um dann wieder Freunde zu werden, allerdings irgendwie nicht mehr ganz so zuverlässig.

    Wo Feinde von gestern, wie die Amerikaner, plötzlich unseren Busenfreund zum Präsidenten wählen, dieser sich aber plötzlich als Feind entpuppt und unseren allertreuesten Freund bombardiert.

    In Zeiten, wo in der Welt alles wackelig und unsicher ist wie eine fünfstöckige Chruschtschowka, sollten die Bewohner der belagerten Festung lieber öfter trainieren: Attrappen europäischer Hauptstädte errichten und sie im Sturm erobern. Das mobilisiert die Stürmer und schweißt zusammen, gleichzeitig dient es dem Feind als mahnende Erinnerung. An unsere vergangenen Siege und an jene, die quasi unausweichlich bevorstehen.

    Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns

    Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns. Wir hingegen, vom Oberbefehlshaber über Minister Schoigu bis hin zum unbedeutendsten Statisten aus den Massenszenen – wir alle können den realen Krieg ruhig komplett vergessen. Vergessen, wie er wirklich sein kann. Zu welchem Preis der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg errungen wurde. Unsere Großväter, die von der Front nicht zurückgekehrt sind – denn das sind sie doch bei den wenigsten.

    Ja, auch den Sturm auf Berlin im Frühling 1945 sollte man ein für alle Mal aus dem Gedächtnis tilgen, um nicht daran denken zu müssen, wie viele sowjetische Soldaten dort in den letzten Tagen, Stunden und Minuten des Krieges gefallen sind.

    Daran darf man sich nicht erinnern, andernfalls kämen einem inmitten dieser Riesengaudi, die wir vorgestern in Kubinka beobachten konnten, die Tränen, und die Veranstalter dieses Spiels würden zu Idioten, wenn nicht gar zu Marodeuren. Und auch Minister Schoigu erschiene uns plötzlich als Marodeur, wenn nicht gar als Idiot. Vom Journalisten jenes Klatschblatts ganz zu schweigen.

    Aber wozu sollen wir uns die Laune verderben und fremde Menschen beleidigen? Besser, wir schließen uns ihnen an und fühlen uns als Sieger. Oben fliegen hübsche Flugzeuge herum, drüben rollen Panzer, während der tollwütig anmutende nationale Führer sich ganz umsonst die Seele aus dem Leib schreit, denn der ganze Spaß geht schon dem Ende zu.

    Die Zuschauer applaudieren und ziehen in freudiger Erwartung neuer Spektakel davon. Noch wurde ja die Schlacht im Kursker Bogen nicht nachgestellt, Stalingrad nicht neu errichtet, die Leningrader Blockade nicht durchbrochen – und das ist nur der Zweite Weltkrieg. Man denke nur an all die anderen Kriege und Schlachten, für jede davon ließe sich ein mitreißendes Szenario erfinden, mit großem Geballer und allem Pipapo. In der belagerten Festung weiß man sich zu amüsieren, und tut es gern, indem man lustig die Zeit totschlägt. Unser Korrespondent deckt sich schonmal ein mit Dienstreiseanträgen, Metaphern und Popcorn.

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  • Erinnerungs-Entzündung

    Erinnerungs-Entzündung

    Geschichte ist zu einem der wichtigsten Streitgegenstände geworden in Russland – die Politik spielt dabei eine aktive Rolle. Morgen, zum Tag der Einheit des Volkes in Russland, wird in Moskau eine Statue zu Ehren des Fürsten Wladimir eingeweiht. Das Denkmal ist mit einer Vielzahl historischer Konnotationen aufgeladen (Verhältnis russischer Staatlichkeit und Orthodoxie zur Kiewer Rus, Verhältnis zwischen russischer und ukrainischer Geschichte). Zugleich werden durch Gedenktafeln, Büsten und Diskussionen um die Umbenennung von Straßen oder gleich ganzen Städten Bezüge in die Sowjetzeit und zum Stalinismus hergestellt.

    Für das Webmagazin InLiberty hat sich Nikolay Epplée mit dem sensiblen Thema der Erinnerungskultur im gegenwärtigen Russland auseinandergesetzt. Seine zentrale These: Die Interpretation der Geschichte werde derzeit völlig von der herrschenden Politik instrumentalisiert. Mit der Angliederung der Krim und dem Krieg im Donbass sei dies aktiv vorangetrieben worden. Das habe gewaltige Impulse in die russische Gesellschaft hineingegeben – und Raum für eine lange nicht dagewesene Anknüpfung an Stalin freigesetzt. Ein Kurzessay.

    Illustration © Masha Krasnova-Shabaeva
    Illustration © Masha Krasnova-Shabaeva

    Was noch vor wenigen Jahren nur einige besonders feinfühlige Autoren und Forscher konstatierten, ist heute offensichtlich: Russland ist von der Vergangenheit besessen. Der Ausdruck „Kampf der Erinnerung“ war zu Beginn der 2010er Jahre nur Soziologen ein Begriff, die sich mit dem kollektiven Gedächtnis befassten. Heute ist er allgemein bekannt. Keine Woche vergeht ohne einschlägige Nachrichten: Denkmäler für Stalin, Iwan den Schrecklichen, Wladimir den Großen werden eingeweiht (bzw. bestehende Denkmäler geschändet oder demontiert). Entsprechende Museen werden eröffnet oder Gedenktafeln für bestimmte historische Figuren angebracht. Oder es wird wieder einmal eine Initiative zur Umbenennung von Wolgograd gestartet.

    Die Massenkultur überschlägt sich: TV-Moderatoren stehen in Stalinscher Feldjacke verkleidet vor der Kamera. Werber und Organisatoren kultureller Massenveranstaltungen versuchen, mit dem Thema Repressionen zu spielen. Und ein Aktionskünstler, der die Tür der Lubjanka anzündet, gilt als der wichtigste zeitgenössische Künstler Russlands. Die Historiker sehen mit ohnmächtiger Verzweiflung zu, wie ihr Forschungsgegenstand zur mächtigen Ressource für den Aufbau einer „Geschichtspolitik“ wird – was nicht heißt, dass ihr Urteil dadurch mehr Gewicht erhielte; es wird paradoxerweise erst gar nicht mehr berücksichtigt. Die Erinnerung an die Vergangenheit führt ein Eigenleben, ganz wie es die klassischen Theorien der Kultursoziologen beschreiben. Sie nährt sich von Traumata, Manien, Phobien und der alltäglichen Erbitterung und zeigt wenig Interesse an Tatsachen. Eine grundlegende Besonderheit der heutigen russischen Realität, auf die schon oft hingewiesen wurde, besteht darin, dass die Geschichte an die Stelle der Politik tritt: Im Fernsehen, in den sozialen Netzwerken, auf der Straße und in den Küchen debattiert man nicht über die Gegenwart, sondern über die Vergangenheit.

    „Diskussionen dieser Art (über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kriege in Afghanistan oder Tschetschenien, die Repressionen und den Zusammenbruch der UdSSR) kommen ganz von selbst zustande, im Taxi, im Zug, im Wartezimmer beim Arzt – überall, wo sich die Gelegenheit zum Gespräch ergibt“, schreibt Maria Stepanowa in einem der wichtigsten journalistischen Texte des Jahres 2015. „Das Ganze erinnert ein wenig an einen Familienkrach. Nur, dass das ganze, riesige Land als Küche dient. Und dass dabei auch Tote mitwirken, die, wie sich zeigt, ‚lebendiger als alle Lebenden‘ sind.“

    Auf jemanden, der das Geschehen aus der Distanz betrachten kann, macht es einen äußerst merkwürdigen Eindruck. Ein Land, das sich mit all seinen Nachbarn überworfen hat, befindet sich in einer langwierigen Wirtschaftskrise mit unsicherem Ausgang, die Regierung kürzt die Ausgaben auf das Allernotwendigste, außer die für den Krieg – und die Gesellschaft debattiert mit paranoidem Eifer über die Vergangenheit. Die Umbenennung der Metrostation Woikowskaja in Moskau oder das Anbringen bzw. Entfernen einer Gedenktafel für Carl Gustaf Mannerheim in St. Petersburg beschäftigt die Einwohner der beiden Hauptstädte mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr als die Erhöhung der Lebensmittelpreise und die anhaltenden Kampfhandlungen auf dem Territorium des benachbarten Bruderstaates.

    Es lohnt sich, den Gründen für dieses Phänomen nachzugehen. Die Vergangenheit hält uns in Bann, weil sie nicht abgeschlossen ist – weil es nicht möglich war, die Toten gebührend zu begraben und zu betrauern, ihr Erbe anzutreten, Erkenntnisse aus der Geschichte zu ziehen und nach Vollendung eines Zyklus den nächsten zu beginnen. Um sich diesem Problemkomplex anzunähern, sollte man sie genau beobachten, diese Entzündung unseres Erinnerungsapparates.

    Reaktivierung des Stalinkomplexes

    Die Denkmäler für Stalin und seinesgleichen sind nicht auf einmal aus dem Boden geschossen. Sie sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder aufgetaucht – mal hier, mal dort. Aber während man in den 2000er und den frühen 2010er Jahren versuchte, sie in den Gedenkräumen von Schulen, in Vorgärten oder auf geschlossenen Betriebsgeländen vor den Blicken Außenstehender zu verbergen, sind sie seit Anfang 2014 auf öffentliche Plätze vorgedrungen. Im Februar 2015 wurde in Jalta in Anwesenheit des Vorsitzenden der Staatsduma, Sergej Naryschkin, das Monument Die großen Drei eingeweiht – das erste offizielle Denkmal seit der von Chruschtschow eingeleiteten Ent-Stalinisierung, das auch Stalin gewidmet ist.

    Die russische Staatsmacht, die die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan als ernsthafte Gefahr für sich selbst empfand, begann, nach einer möglichst universellen Sprache zu suchen, welche die innerlich zutiefst gespaltene (oder vielmehr absichtlich und systematisch aufgespaltene) Nation zusammenführen konnte. Der universalistische Tonfall, der bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi angeschlagen wurde, erwies sich als schlecht geeignet für die Mobilmachung. Es bedurfte einer patriotischen und isolationistischen Sprache, die an die Erfahrung des Sieges über äußere und innere Feinde appellierte.

    In Russland ist die einzige derartige Sprache traditionell die der Beschwörung des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Ein Problem ist dabei, dass sich die Vertreter aus der offiziellen Sphäre diese Sprache zu sehr aneignen und die innere Bereitschaft, ihr zu folgen, auf persönlicher Ebene an Kraft verliert. Zudem eignet sie sich zwar zur Abarbeitung einer „positiven Agenda“, etwa wenn es um das Zusammenstehen gegen einen äußeren Feind geht. Aber für eine negative Mobilisierung, bei der an Gefahr und nicht an Größe gemahnt werden muss, ist sie kaum brauchbar.

    Die gleichzeitige Berufung auf Stalin und die Repressionen öffnet dem aufgestauten Negativen hingegen die Tür. Sie bietet einen kritischen, ja sogar einen Protest-Diskurs an und fügt sich in eine Auseinandersetzung mit inneren Feinden ein. Die staatliche Propaganda benutzte diese Sprache nicht gerade heraus; sie begann einfach nur, von äußerer und innerer Bedrohung, von Strafkommandos und Aufständischen, Bandera-Anhängern und Verrätern der Nation zu sprechen. Die Macht gab ihrer Stimme einen metallischen Beiklang, sie drohte und demonstrierte Stärke. Das genügte, um den Komplex zu aktivieren, der im Bewusstsein der russischen Bürger schlummerte.

    „Die abrupte Änderung der nationalen Politik hat bei vielen Leuten zu einer Veränderung der historischen Wahrnehmung geführt. Das Geschehen ließ sich für sie am folgerichtigsten in der Sprache der Sowjetunion unter Stalin beschreiben“, sagt der Historiker Ivan Kurilla. „In dieser Ära hat die Sowjetunion ihr Territorium erweitert, und das wurde damals als positiver Prozess gesehen. Nach Stalin hatte es das nicht mehr gegeben. Die Expansion des Landes, die Annexion der Krim, erwies sich also für einen Großteil der Mitbürger als Anstoß, zu einem Weltbild zurückzukehren, das wir aus der Sowjetunion aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kennen.“

    Die Staatsmacht hat dieses Bild nicht absichtlich evoziert. Es entwickelte jedoch eine Eigendynamik, und bereits im Frühjahr 2014 bekannten sich mehr Russen als zuvor zu einer sympathisierenden Haltung Stalin gegenüber. Wie in der alten Geschichte vom Zauberlehrling waren die entfesselten Kräfte unkontrollierbar für diejenigen, die sie aus Nützlichkeitserwägungen heraus freigesetzt hatten. Und ihre Wucht und Bedeutung ging weit über den ursprünglichen Anlass hinaus. Aus dem Abgrund stieg ein Problem empor, das weit größer war als Krim und Maidan. Die Staatsmacht war beim Tasten nach einer einenden Sprache auf einen allumfassenden Schmerz gestoßen. Sie hatte auf sensible Stellen im Körper abgezielt, aber den traumatischen Punkt getroffen.

    Sowjetische Ideologie-Versatzstücke

    Gerade das Trauma ist das wichtigste einigungsstiftende Moment dieses wieder zum Leben erweckten Gebildes. Was auf den ersten Blick aussieht wie die Wiedergeburt eines Kolosses, wie die Rückkehr des Staatsmodells der UdSSR unter Stalin, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Reihe heterogener Elemente, denen die innere Einheit fehlt.

    Besonders deutlich wird dies in der Außenpolitik – zum Beispiel in der Wiederbelebung von Ideen und Reaktionsweisen, die mit dem Kalten Krieg zusammenhängen. Anders als die UdSSR kann das heutige Russland – das den wirtschaftlichen Wettbewerb und den Rüstungswettlauf verloren hat und der Welt kein alternatives politisches System, keine alternativen Werte und Ideale mehr zu unterbreiten hat – den eigenen Bürgern nur die Sehnsucht nach einer solchen Alternative und solchen Werten bieten und dem Rest der Welt nur ein Imitat der sowjetischen Bedrohung. Da der Staat den Status als Weltmacht nicht auf natürliche Weise wiedererlangen kann, nutzt er eine Art Analogiezauber. Er legt Kostüme der Vergangenheit an, um in eine Zeit zurückzukehren, in der das Gras grüner war – und er selbst stärker und erbarmungsloser. Interessanterweise spielt die Bevölkerung dabei gerne mit. Die Erinnerung an das Leben im Kalten Krieg ist ja noch recht frisch und leicht wiederzubeleben. Und dass wir anstelle einer Ideologie und eines starken Staates etwas äußerst Amorphes haben, entgleitet der Aufmerksamkeit der meisten Leute, scheint gleichsam irrelevant zu sein.

    Das Gleiche geschieht in der Innenpolitik. Die staatlichen Repressionsorgane sind desintegriert und schwach. Ihnen fehlen die ideologische Motive und der Glaube an die Gerechtigkeit der eigenen Sache, sie sind allein von Gier und Angst angetrieben. Der Staat spielt die starke Hand nur – und seine Bürger spielen bereitwillig das Leben unter der starken Hand. Innerhalb dieser Logik erklärt sich, weshalb der abrupte Anstieg der Verfahren wegen „Extremismus“ und „Staatsverrat“ sowie die Kampagnen gegen „ausländische Agenten“ und die Fünfte Kolonne funktionieren und von der Mehrheit akzeptiert werden (fast die Hälfte derer, die über das ziemlich schnell eingestellte Verfahren gegen die mehrfache Mutter und „Staatsverräterin“ Swetlana Dawydowa informiert waren, gaben den Daten des Meinungsforschungsunternehmens WZIOM zufolge an, dass sie eine Gefängnisstrafe verdient habe). Selbst rein technische Maßnahmen wie die Einführung gebührenpflichtiger Parkplätze, der Abriss von Verkaufsbuden oder Straßenbaumaßnahmen im Zentrum von Moskau werden nach dem Muster stalinscher Mobilisierungskampagnen durchgeführt.

    Für die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die Gebrechlichkeit der Konstrukte, mit denen wir es heute zu tun haben, spricht auch ihr hoffnungslos eklektischer Charakter. Sowjetische Ideologie-Versatzstücke verbinden sich mit monarchistischen, Orthodoxie mit Faschismus, Kommunismus mit Kapitalismus und Erscheinungen der Moderne mit offenkundigem Postmodernismus. Der „weltanschaulichen Rahmen“ beherbergt ein Konstrukt aus äußerst heterogenen Erscheinungen, die je nach Situation aus Ängsten und Traumata  zusammenmontiert wurden.

    Aber wenn das so entstandene Bündel künstlich, unvollständig und nicht lebensfähig ist, wenn es keine Ressourcen für eine echte Renaissance des stalinistischen Modells gibt – woher kommt dann die offensichtliche und augenfällige Energie, mit der dieses Gebilde Lebenszeichen von sich gibt?

    Erstens liegt der schmerzhaft aufbrechenden Erinnerung an die Sowjetunion, wie schon gesagt, ein Trauma zugrunde, das die Zeit nicht heilen kann, wenn es nicht verarbeitet wird. Zweitens erinnert das Phänomen mit seiner Intensität und seinem verkrampften Bemühen stark an eine Agonie. Agonie im medizinischen Sinn bedeutet ja immer eine Aktivierung der Lebenskräfte – Atmung, Herzrhythmus und Durchblutung des Sterbenden funktionieren plötzlich wieder. Verantwortlich dafür sind jedoch nicht das Gehirn und der obere Bereich des Nervensystems, sondern Hirnstamm und Rückenmark. Es handelt sich um eine von Krämpfen begleitete Verbrennung der letzten Ressourcen im Vorgriff auf das unvermeidliche Ende. Das, was heute zu beobachten ist, erinnert bei aller scheinbaren Lebendigkeit und Frische genau daran.

    Der schlafende Koloss erwacht nicht, sondern liegt im Todeskampf. Das heißt jedoch keineswegs, dass das Geschehen harmlos ist. Diese Agonie von historischem Maßstab kann Jahre andauern, und der Drache kann in den letzten Zuckungen viele mit ins Verderben reißen – sowohl die tapferen Ritter als auch die Anhänger, die sich an ihn geklammert haben, sei es aus Angst, aus Dummheit oder weil sie den Todeskampf mit der Rückkehr zum Thron verwechselten.

    Er hat schon jetzt einige tausend Menschen mit sich gerissen, die – freiwillig oder auf Befehl – in den ukrainischen Krieg zogen und dort getötet haben und gefallen sind. Und einige Dutzend (anderen Angaben zufolge Hunderte) in Syrien. Dazu kommen die Opfer der Verurteilungen wegen Extremismus und anderer parapolitischer Anklagen, die infolge der Aktivierung des repressiven Systems stark zugenommen haben.

    Unheimlicher und Schmerzlicher Diskurs

    So paradox es klingt: Man kann in dieser krampfhaften Aktivierung des „Stalinkomplexes“ auch ein wichtiges Zeichen der Hoffnung sehen. Denn die Verarbeitung der traumatischen Vergangenheit, die durch zahlreiche politische, soziale und psychologische Faktoren erschwert wird, könnte sich dadurch endlich das ganze Land packen und Russland faktisch zu einem ernsthaften Umdenken zu nötigen. Die Erinnerung an den Großen Terror ist bis heute entweder weitgehend privat, in den Tiefen verborgen, aus denen heraus sie unsichtbar die Gegenwart und die Beziehung zu ihr gefärbt hat (siehe das Buch Krivoe gore – dt. Der entstellte Kummer von Alexander Etkind), oder sie wurde „extern“ bearbeitet. Jetzt kann sie mit voller Kraft erwachen. Die gemeinsame Verarbeitung des gemeinsamen Schmerzes ist eine unumgängliche Voraussetzung für die Heilung.

    Staatliche Anstrengungen allein reichen in solchen Fällen nicht aus – davon zeugt die äußerst oberflächliche offizielle Ent-Stalinisierung in den 1950er und 1960er Jahren, die als solche schon ein schmerzhaftes Ressentiment provoziert hat, und später dann die Umwertung der Werte in den 1990er Jahren. Auch die Bemühungen lediglich eines aktiven Teils der Zivilgesellschaft sind nicht ausreichend. Die Bedeutung der Tätigkeit von Organisationen wie Memorial ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Mitglieder von Memorial sagen jedoch selbst, dass sie ihre Aufgabe darin sehen, der Öffentlichkeit die Materialien und Fakten für die Aufarbeitung an die Hand zu geben. Sie können diese Aufarbeitung nicht anstelle der Gesellschaft und ohne Mitwirkung des Staates durchführen.

    In den beiden letzten Jahren ist zu beobachten, dass in der ganzen Gesellschaft ein Diskurs über die Repressionen und das Erbe des Stalinismus beginnt. Dieser Diskurs ist oft unheimlich und schmerzlich, er entgleitet zuweilen in unnötige und emotionale Verallgemeinerungen – aber wenn ein Geschwür aufbricht, ist das unvermeidlich. Oleg Chlewnjuks Buch über Stalin gehört zu den verlegerischen Höhepunkten des Jahres 2015, und einiges deutet darauf hin, dass es im Kreml aufmerksam gelesen wird. Posts in sozialen Netzwerken, die dem Gedenken an die Repressionen gewidmet sind, werden zu Zehntausenden geteilt (nur zwei Beispiele: Andrej Mowtschans Antwort auf einen Kommentator und Sergej Parchomenkos Erzählung über Kolpaschewski Jar); Bürgerinitiativen wie Woswraschtschenie imjon (Rückgabe der Namen) und Posledni adres (Die letzte Adresse) vermehren sich  exponentiell. Ein wichtiges Detail: In diesem Jahr wird die Aktion Woswraschtschenie imjon am Solowezki-Stein in Moskau erstmals nicht aus Fördertöpfen, sondern durch Spenden von Bürgern finanziert. Früher war so etwas nicht möglich – jetzt ist es auf einmal ganz selbstverständlich geworden.

    Man kann sogar noch etwas weiter gehen. Russland braucht nicht einfach nur einen Diskurs über die Erinnerung. Ein solcher Diskurs ist vielmehr der einzige Weg, um eine weit schwierigere Aufgabe anzugehen: den Versuch, im ganzen Land eine gemeinsame Sprache zu finden.

    Neben vielen anderen Dingen hat die Krim-Krise deutlich gezeigt, dass in der russischen Gesellschaft ein kalter Bürgerkrieg herrscht, der in einer Krisensituation ein heißer werden kann. Der Schmerz, der deutlich mit der Stalinära in Zusammenhang steht, ist wohl die einzige wirklich gemeinsame Erfahrung, die nicht nur die Russen vereint oder vereinen könnte, sondern alle Menschen im postsowjetischen Raum.

    Eine solche Vereinigung wäre von gänzlich anderer Art als das, was die Urheber der Post-Krim-Mobilisierung wachrufen wollten. Aber gerade sie könnte ein Gespräch darüber in Gang setzen, wie wichtig und notwendig eine Koexistenz in diesem Raum ist – ein Gespräch über gemeinsame Ziele und über Gemeinsamkeiten, für die es sich lohnt, Kompromisse einzugehen.

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  • Disneyland für Patrioten

    Disneyland für Patrioten

    Gerade ist wieder ein Zeppelin mit neuen Gästen aus Moskau gelandet, der Panorama-Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete schaukelt Besucher durch den Park, während der Reichstags-Nachbau erstürmt wird oder auf der maßstabsgetreuen Kopie des Roten Platzes eine Übung für die Militärparade am 9. Mai stattfindet – so könnte es demnächst aussehen im Freizeitpark Patriot, den das russische Verteidigungsministerium derzeit vor den Toren Moskaus errichten lässt. Was man auf dem über 5000 Hektar großen Gelände (25 Mal der Berliner Tiergarten) als Besucher bereits geboten bekommt, berichtet Dimitri Okrest auf Snob:

    „Wir müssen unsere Zukunft auf ein stabiles Fundament stellen. Ein solches Fundament ist der Patriotismus. Selbst wenn wir noch so lange darüber debattieren würden, was für ein Fundament, welche feste moralische Basis unser Land haben könnte, wir würden auf nichts Anderes kommen“, erklärte im September 2012 auf einem Empfang für die Jugend in Krasnodar Wladimir Putin. 

    Jetzt zieren die Worte des Präsidenten ein Werbeplakat an der Autobahn M1, das für den Park Patriot wirbt. Der Park ist zwar erst zu 10 Prozent fertig, empfängt aber schon Besucher. Das Getöse hier flaut nie ab, und jetzt ist auch noch der Lärm der Bagger dazugekommen. Die Fläche des Parks beträgt 5500 Hektar, 100.000 Quadratmeter davon sind mit Ausstellungspavillons bebaut. Der Park soll 20.000 Patrioten täglich begrüßen können – ihnen zuliebe wurde der angrenzende Wald für 6000 Autoparkplätze niedergewalzt. Vorläufig kommen jedoch in halbleeren Marschrutkas meist zentralasiatische Bauarbeiter.

    „Ich war früher Lehrer, er war Musiker und der da Arzt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeiten wir aber alle mehr mit Schaufel und Beton M-300“, erzählt Abdugan, der seit Anfang des Jahres am Park mitbaut.

    Abdugan muss das Projekt zusammen mit seinen Landsleuten bis 2020 vollenden, Verstärkung ist vorhanden: In den Wäldern der Umgebung sind 650 Einheiten von Militärgerät und zwei Baubrigaden stationiert. Die Baustelle, so die Bewohner der umliegenden Dörfer, ist auch nachts in Betrieb. Im Frühling hat Abdugan das „Partisanendorf“ fertiggestellt. Das ist die bisher einzige fertiggestellte Attraktion – bis zu diesem Zielpunkt rumpelt die Marschrutka durch Morast und Bauschutt.

    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest
    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest

    Ein Security in schwarzer Uniform rückt sein Barett zurecht. Pünktlich um 10:00 Uhr öffnet er das Tor zum Park. Dann steht er wie erstarrt an der Metalldetektorschleuse und wartet auf Besucher. Gegen 10:00 Uhr fegen die einen Usbekinnen alles zum x-ten Mal durch, während die anderen ihre Plätze an der Kasse einnehmen. Es gibt noch gar keine offiziellen Eintrittskarten in den Park, doch einzelne Gäste schauen schon mal vorbei.

    Partisanen-Darsteller in Rotarmisten-Uniform

    Das Vergnügungs-Partisanendorf soll den Alltag der Untergrundkämpfer zeigen und dem Betrachter das Gefühl geben, dabei zu sein. Die Partisanen hier versuchen, die historische Wahrheit treu nachzustellen – in den Erdhütten liegen Wattejacken, die Bücher sind auf die 30er Jahre datiert. Entlang der makellosen Blockhütten aus noch nicht nachgedunkeltem Holz spazieren Widerstandskämpfer in Rotarmisten-Uniform herum. Auf dem Kopf ein Schiffchen und an den Füßen ungeachtet der brütenden Hitze hohe Stiefel. Ist ja schnurzpieps, dass die Partisanen von Brjansk damals eher wie Bauern und nicht wie Kämpfer der Roten Armee aussahen.

    Hier gibt es einen Keller mit Gurkengläsern und gekeimten Kartoffeln, eine Rote Ecke mit einer Lenin-Büste, einen Stall für sechs Kaninchen, eine Banja und ein Gasthaus. Irgendwo im Abseits finden sich Eisenbahnschienen, an denen Schülern einer Diversantenschule gezeigt bekommen, wie man dort Dynamit befestigt, um deutsche faschistische Okkupanten in die Luft zu jagen.

    „Was ist denn das für ein Keller?“, fragt ein kleines Mädchen, auf Papas Schoß in einer Erdhöhle sitzend.

    „Hier lebten die Onkel und Tanten Partisanen. Damals war ein grooooßer Krieg. Es gab keine Freundschaften, alle haben gekämpft.“

    „Und wer ist das auf dem Foto?“ Die Kleine zeigt auf das Portrait Josef Stalins, das in jedem Bunker hängt.

    „Das ist ein Foto von Stalin, der aaaalle anführte.“

    „Und wo ist dann das Foto von Putin?“

    Armee-Merchandise und Grütze mit Dosenfleisch

    Zwischen Dynamit-Attrappen, Landkarten und Aluminiumgeschirr leuchtet ein LCD-Fernseher, die Stimme aus dem Off erzählt: „Während die Partisanen von Putywl bis in die Karpaten vordrangen, änderten sie die Taktik. Sie verübten nicht mehr nur Anschläge und Sabotageakte, sondern hatten nun genügend Schlagkraft, um die faschistischen Truppen in deren Hinterland zu treffen. Sie befreiten Dörfer und sogar Städte, in denen sie die bittere Wahrheit über die Brutalität der Besatzer zu hören bekamen.“

    „Die Magnet-Buttons mit der Topol-M kosten 300 Rubel [4 Euro], die T-Shirts mit dem Partisanen-Opa 1000 Rubel [13,70 Euro]“, sagt die Verkäuferin in ihrer grünen Uniform müde. Zu Mittag ist die Hitze sogar im Wald unerträglich.  

    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt
    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt

    Die Verkäuferin hängt gelangweilt am Ausgang des runden Shops herum, der wie eine Hobbithöhle aussieht, niemand steht nach den Spielzeugsoldaten Schlange. Bei großen Veranstaltungen wurden hier schon massenweise Putin-T-Shirts und Schokokonfekt der Sorte Höfliche Bärchen verkauft, doch heute gibt es die nicht. Seufzend erhebt sich die Verkäuferin bei jedem, der hereinkommt, von ihrer Bank, wartet, bis er wieder geht, und kehrt dann zu ihrem Buch zurück. Über dem Dorf ertönt das Lied des Fahrers an der Front:

    Keine Bombe kann uns schrecken,
    Zum Sterben ist’s zu früh –
    Wir haben zuhaus noch was vor.

    Der hier herumsitzende Partisan lässt sein Smartphone in der Jackentasche verschwinden und drückt die soundsovielte Zigarette aus. Gott sei Dank muss er sich nicht der historischen Authentizität zuliebe Papirossy aus Bauerntabak drehen. Da er als Partisan die ungeschriebenen Gesetze des Parks befolgen und genau wie ein Kellner immer beschäftigt wirken muss, verkrümelt er sich in die Küche – die Glut schüren. Aus der Soldatenkantine, in der eine große Familie mit stämmigen Kindern Platz genommen hat, ist soeben die Bestellung eingegangen:

    „Fünf Mal Würstchen. Schön saftige! Und die Soldaten-Grütze, was ist das? Buchweizengrütze mit Dosenfleisch? Na, dann auch fünf Mal. Wo steht denn der Samogon? Kriegt man hier hundert Gramm, wie an der Front?“

    Der Partisan eilt zum Kohlegrill, das Fleisch braten, und jetzt stellt er plötzlich nicht mehr die Zeit des Zweiten Weltkriegs nach, sondern die 1990er, in denen rechtlose „Geister“ auf die Datschen der Generäle geschickt wurden, um dort private Dienste zu verrichten.

    „Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik“

    Am Rand des Kiefernwaldes donnern Salven: Besucher vergnügen sich beim Schießen mit entschärften Gewehren. Ihnen stehen zur Verfügung: ein Dragunow-Gewehr, Kalaschnikows AK-47 und AK-103, eine Mossinka und eine Witjas Maschinenpistole PP-19-01. Strahlend lächeln Mädchen mit umgehängten Maschinengewehren in die Kameras.

    Der Schießanleiter Nikolai sieht begeistert in die Zukunft und verspricht, dass die langersehnten Parkbesucher bald mit einem Zeppelin aus Chimki hertransportiert werden. Für die Mobilität vor Ort werden Segways und eine Panoramabahn auf Schienen sorgen. Während man im Disneyland von Paris in einer Eisenbahn im Stil des 19. Jahrhunderts durch die Landschaft zieht, lädt man die Gäste des patriotischen Lunaparks zur Fahrt in einem Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete in einem der Waggons ein.  

    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft
    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft

    Im Januar 2015 stand hier noch ein Wald: Die Frösche quakten im Sumpf, im nahen Waldort Sjukowo sammelte man Morcheln. Jetzt ziehen Bauarbeiter eine „Stadt der Militärberufe“ in die Höhe. Im Luftfahrtsektor wird es Flugsimulatoren geben, im Sektor der Kriegsmarine echte Schiffe, bei den Luftlandetruppen ein Übungsfeld für Soldaten und Besucher. Geplant sind auch Sektoren für den Generalstab, die Bodentruppen, Raketentruppen und die Weltraumverteidigung.

    „Dieser Sektor soll der heranwachsenden Generation Patriotismus beibringen, mit einem Thema, das Kinder fasziniert: der Weltraum. Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik. Aufgabe aller Sektoren ist es, künftige Vertragssoldaten und Wehrpflichtige anzuziehen. Im Zentrum des Parks befinden sich die Alexander-Newski-Kirche und die Allee der Helden aller Kriege, die der russischen Armee Ruhm gebracht haben“, heißt es in einem Werbefilm auf Youtube. Ob da auch Teilnehmer an den Kampfeinsätzen in Afghanistan, Tschetschenien, Georgien und Syrien geehrt werden, bleibt unerwähnt. Nebenan wird es ein 3D-Kino geben, wo man die Brester Festung verteidigen oder Sturm auf Berlin nehmen kann.

    Eine Kopie von Kreml und rotem Platz für Militärparaden

    Das Militär wird einen eigenen Kreml mit Mausoleum und Lobnoje Mesto haben – sie wollen im Maßstab 1 : 1 den Roten Platz mitsamt dem Historischen Museum, der Basilius-Kathedrale und dem GUM nachbauen. Die Idee ist, dass dieses gigantische Modell während der Proben für die Parade zum Tag des Sieges am 9. Mai die Hauptstadt entlasten soll. Im Winter soll es hier eine Eisbahn geben, auf der dann Eishockey-Turniere stattfinden, wie sie – seiner aktiven Teilnahme an der Nachthockeyliga nach zu schließen – der Oberste Befehlshaber gern hat.

    Alles passiert unter Zeitdruck: Das Kongresszentrum Patriot-Expo, wo moderne Technik ausgestellt ist und neue Gebäude aus dem Boden wachsen, erinnert an Sotschi vor den Olympischen Spielen. Letzten Sommer fand hier die dreitägige Messe Armee – 2015 statt, auf der 300 Kriegstechnik-Exponate von 1500 einheimischen Herstellern präsentiert wurden. Laut Wjatscheslaw Presnuchin, dem Chef der Abteilung für Wissenschaft und Forschung im Verteidigungsministerium, besteht das wichtigste Ziel darin, Hersteller und Anwender militärischer Produkte an einem Ort zusammenzubringen. Das scheint die ehrlichste Beschreibung der Idee hinter diesem Park zu sein.

    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen
    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen

    Über die gesamte Wand des Kongresszentrums erstreckt sich ein Bildschirm – darauf ein Countdown der Tage bis zu den nächsten Konferenzen. Dann leuchten die Gesichter Putins, Medwedews und Schoigus auf – doch weil der Bildschirm defekte Stellen hat, kann man die oberste Führung nicht sofort erkennen. Die VIP-Gesichter werden von muskelbepackten Kerlen abgelöst, die mit Waffen aller Art schießen, mit Fallschirmen aus Hubschraubern springen und Extremisten liquidieren. Auf dem Dach des Gebäudes funkelt rubinrot ein Stern.  

    Die sich träge fortbewegenden Besucher werden von noch trägeren Wachleuten beobachtet. Die dürfen weder lesen noch rauchen noch Sonnenblumenkerne knabbern. Doch was macht man, wenn man die nächsten acht Stunden absolut nichts zu tun hat? Schatten ist hier auch keiner, also schmoren sie in der Sonne und kaufen sich einer nach dem anderen ein Eis. Und fragen einander per Funk:

    Eskimo am Stiel oder ein Hörnchen?“

    Eis wird von einer Usbekin in einem grünen, torpedoförmigen Anhänger der     Militärhandelsorganisation mit der Aufschrift „Armeequalität“ verkauft. Jeden Tag beginnt sie damit, Snickers, Twix und Mineralwasser der Marke Armee auszulegen. Dann bereitet sie gemächlich Hotdogs (150 Rubel [2 Euro]) und Pommes (50 Rubel [70 Cent]) zu.

    „Möchten Sie nicht vielleicht eine Einmannpackung Militärverpflegung? Nur 700 Rubel [9,60 Euro]! Ganz echt – mit Dosenfleisch, Dosengemüse, Knäckebrot, Fruchtgelee und Schokocreme. Außerdem Streichhölzer, die sogar unter Wasser brennen“, preist die Verkäuferin ihre Ware an. Fotos genau solcher Packungen, die bei Donezk weggeworfen worden waren, haben ukrainische User in sozialen Netzwerken verbreitet. Sie waren für sie ein Beweis, dass die Armee des Nachbarlandes am Konflikt mitmischt.   

    Die Läufe aller Waffen weisen Richtung Westen

    Gleich in der Nähe stehen das Raketensystem Topol [dt. Pappel], eine Panzerfähre auf Ketten und ein Brückenlegefahrzeug. Von der Größe her erinnern sie an kämpfende Ents, die wandelnden Bäume aus Herr der Ringe. Angesichts solcher Riesen wirken die Menschen auf dem Platz wie Zwerge. Neben den Giganten steht das Flugabwehrraketensystem Buk [dt. Buche] – für den Kampf gegen bewegliche aerodynamische Ziele auf geringer und mittlerer Höhe, wie es auf dem Schild heißt. Wahrscheinlich das einzige Modell dieses Flugabwehrraketensystems, das Laien je zu Gesicht bekommen. Das Selbstfahrgeschütz in der Größe eines Lastwagens erlangte im Sommer 2014 Berühmtheit, als eine malaysische Boeing 777 in der Ostukraine vom Himmel fiel.

    Über dem leeren Platz, auf dem Panzer, Schützenpanzer, Kampfjets und anderes Kriegsgerät aufgereiht sind, erschallt eine Melodie, die wir aus Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg kennen:

    Die Hütte von Feinden verbrannt  
    Die ganze Familie vernichtet.
    Wohin soll jetzt der Soldat,
    Wem seine Trauer klagen?

    Bis auf die Gedenk-Tracklist und die Georgsbändchen an den Zäunen fehlt das, was man patriotische Symbolik nennt, fast vollständig. Im Patriotenpark ist vorerst alles einfach, wie beim Militär: Das hier ist ein Panzer, der kann schießen und schwimmen. Vor jedem Modell sind akribisch genau seine technischen Daten angeführt – Maße, Geschwindigkeit, Kraftstoffreserve, Standardmunition. Wie viele Menschen damit auf einen Schlag getötet werden können, ist nicht angegeben.    

    „Hey, das sieht echt super aus, wow. Stell dich dazu und leg die Arme um sie“, sagt ein Typ zu seiner Freundin, das Handy knipsbereit. Parallel dazu streicht ein Hobbyfotograf über einen Schützenpanzer BTR-60 mit Frontpanzerung und Strahlenschutz.

    Das Maschinengewehr des BTR weist, wie alle Läufe im Vergnügungspark Patriot, Richtung Westen.

     
    Werbefilm für den Militärpatriotischen Park „Patriot

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  • Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und gilt als wichtigster Nationalfeiertag im russischen Kalender. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg zwischen 1941 und 1945 auch heute noch in Russland überwiegend genannt wird, hat kaum ein Familienschicksal unberührt gelassen. Die Erinnerung daran sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Daher ist der Tag des Sieges für viele Menschen in Russland ein Tag großer Emotionen – sowohl bei denen, die sich in der offiziellen Form des Gedenkens wiederfinden, als auch bei denen, die sich genau daran reiben.

    Insbesondere die Einführung neuer Gedenktraditionen, wie das Tragen von Georgsbändchen oder das sogenannte bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment), und der Krieg im Osten der Ukraine befördern in der Mediendiskussion ganz grundlegende Fragen: Was ist es eigentlich, was hier gefeiert werden soll? Und ebenso: Wie soll es gefeiert werden?

     

    RBC: SÄULE NATIONALER IDENTITÄT

    Olga Malinowa, Professorin für Politikwissenschaften an der Higher School of Economics, sieht im Sieg von 1945 das wichtigste identitätsstiftende Ereignis nach dem Zerfall der Sowjetunion, wie sie auf dem unabhängigen Wirtschaftsportal RBC schreibt:

    [bilingbox]Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde in den 2000er Jahren zu einer zentralen Identitäts-Säule des „Wir“, das hinter dem modernen russischen Staat steht. […]

    Dass ausgerechnet der Große Sieg die Hauptstütze einer Erinnerungspolitik wurde, die auf die Bildung einer neuen russischen Identität zielt, ist nur logisch. Es ist fast das einzige Ereignis der russischen Geschichte, welches alle Kriterien der „politischen Tauglichkeit“ erfüllt: Es ist im kollektiven Bewusstsein fest verankert, insofern es auf einer soliden Erinnerungs-Infrastruktur fußt, die hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren geschaffen wurde, sowie auf den lebendigen Erinnerungen der älteren Generation; es deckt ein breites Spektrum symbolischer Bedeutungen für die Charakterisierung des „Wir“ ab (und zwar positive) und ist nicht Gegenstand konträrer Bewertungen, die in einem Nullsummenspiel konkurrieren.

    Gleichzeitig wurde angesichts knapper „aktualisierter“ symbolischer Ressourcen der Mythos des Großen Siegs in den letzten 15 Jahren buchstäblich unser aller; er gewann eine Vielzahl neuer Bedeutungen und symbolisiert beinahe alle Aspekte der modernen russischen Identität.~~~Победа в Великой Отечественной войне превратилась в 2000-х годах в центральный столп идентичности „нас“, стоящих за современным российским государством. […]

    То, что именно великая Победа стала главной опорой политики памяти, нацеленной на формирование новой российской идентичности, вполне закономерно. Это чуть ли не единственное событие российской истории, которое отвечает всем критериям „политической пригодности“: оно актуализировано в массовом сознании, поскольку опирается на солидную инфраструктуру памяти, созданную главным образом в 1970–1980-х годах, и пока еще живую память старшего поколения; имеет широкий спектр символических значений для характеристики „нас“ (причем позитивной) и не является предметом противоположных оценок, конкуренция которых воспринимается по принципу игры с нулевой суммой. Вместе с тем в силу скудости „актуализированных“ символических ресурсов миф о великой Победе за последние 15 лет стал буквально нашим всем; он приобрел множество новых смысловых значений и символизирует чуть ли не все аспекты современной российской идентичности.[/bilingbox]

    RUS2WEB: 1945 – PUTINS SIEG

    Einen Schritt weiter geht der Journalist und Blogger Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Rus2Web: Er sieht in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Art Vereinnahmung des Sieges durch den Kreml.

    [bilingbox]Die Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die in den 2000er Jahren entstand, ist eine neue Mythologie. In ihr ist Raum sowohl für imperialistischen Revanchismus („Wir können das wiederholen“) als auch für den Chanson-Pathos als auch für die liberal-intellektuelle Empörung – alles hat seinen Ort und alle sind zufrieden.

    Der Witz, dass Putins größte Errungenschaft in den 16 Jahren seiner Herrschaft der Sieg von 1945 sei, ist tatsächlich gar nicht nur ein Witz. Der Sieg ist für den putinschen Staat wirklich von allergrößter Bedeutung – wichtiger geht nicht. […]

    Putin hat den 9. Mai tatsächlich völlig mit sich selbst verknüpft: Wenn du gegen Putin bist, bist du – ob du willst oder nicht – naturgemäß auch gegen die Georgsbändchen, dann gegen die Parade und gegen das Unsterbliche Regiment und überhaupt gegen die Großväter, die gekämpft haben.~~~Мифология Великой отечественной войны, сложившаяся в нулевые, — это новая мифология. В ней есть место и имперскому реваншизму („Можем повторить“), и шансонному надрыву, и либерально-интеллигентскому возмущению — все на месте и все довольны. Шутка о том, что главным достижением Владимира Путина за 16 лет пребывания у власти оказалась победа 1945 года, на самом деле не такая уж и шутка. Победа действительно имеет для путинского государства самое важное — важнее нет — значение. […]

    Путин действительно привязал 9 мая к себе до такой степени, что, если ты против Путина, ты естественным образом, даже сам того не желая, становишься сначала против георгиевской ленточки, потом против парада, и против „бессмертного полка“, и против воевавших дедов вообще.[/bilingbox]

    SPEKTR: AGGRESSIONS-SYMBOLIK

    Zu den alljährlichen Stimmen der Empörung, von denen Kaschin spricht, zählt auch die scharfe Kritik des russischen Journalisten und Autors Arkadi Babtschenko. Sein aktueller Text, der in dem in Lettland erscheinenden Medium spektr sowie auf seinem Blog auf Echo Moskwy veröffentlicht wurde, stieß insbesondere in den sozialen Medien auf große Resonanz.

    Der Tag des Sieges, so Babtschenko, trage inzwischen eine neue Bedeutung, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt sei: Ging es anfangs bei der Militärparade noch um Verteidigung und nicht um Angriff, sei das Fest für ihn – vor dem Hintergrund der Kriege in Georgien und der Ukraine – mittlerweile ein Ausdruck von Aggression und Okkupation.

    Auf drastische Weise äußert er, der als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien und Südossetien größtes Unheil hautnah miterlebt hat, sein Unbehagen über den kritiklosen Militarismus:

    [bilingbox]„Nun sehen Sie, wie die Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Uragan über den Roten Platz rollen. Sie kamen in Tschetschenien und Georgien erfolgreich zum Einsatz.“ Diesen Satz schnappte ich auf, als ich auf die Live-Übertragung der Parade im Fernsehen stieß. Eine junge Moderatorin sagte den Satz, mit freudig erhobenem Tonfall.

    Mein Gott, Mädchen, was erzählst du da? Hast du mal gesehen, was diese Uragans mit Tschetschenien gemacht haben? Hast du je gesehen, in was sie die Dörfer verwandeln? Hast du das tschetschenische Dorf Zony gesehen, in dem nicht ein einziges Haus heil geblieben ist, sondern nur Schornsteinschlote aus Aschebergen ragen?

    Ein ganzes Dorf nur mit Schornsteinschloten – eins zu eins wie in den Kriegsfilmen. Nur haben das hier nicht die deutsch-faschistischen Okkupanten angerichtet, sondern diese deine Mehrfach-Raketenwerfer.~~~„Сейчас вы видите, как по Красной площади идут системы залпового огня Ураган. Они успешно применялись в Чечне и Грузии“, — эту фразу я услышал как-то, когда наткнулся по телевизору на трансляцию парада. Произносила её девочка-телеведущая, с приподнято-радостной интонацией. Бог мой, девочка, что ты несешь? Ты вообще видела, что эти Ураганы с Чечней сделали? Ты видела, во что они превращают села? Видела чеченское село Зоны, в котором не осталось ни одного целого дома, а только лишь печные трубы посреди пепелищ? Целое село печных труб — один в один как в кино про войну, только наделали все это уже не немецко-фашистские оккупанты, а вот эти вот твои системы залпового огня.[/bilingbox]

    KOMMERSANT: DAS UNSTERBLICHE REGIMENT UND DIE ERSTKLÄSSLER

    Zu den umstrittensten Elementen des offiziellen Gedenkens zählt die 2012 initiierte und seitdem regelmäßig durchgeführte Aktion vom Unsterblichen Regiment, in die auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden. Im Kommersant berichtet Mascha Traub von den WhatsApp-Gesprächen irritierter Eltern, deren Kinder in der 1. Klasse zur Vorbereitung auf den 9. Mai eine besondere Hausaufgabe bekommen hatten:

    [bilingbox]Den Erstklässlern wurde aufgetragen, Portraitfotos [ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten – dek.] für das Unsterbliche Regiment mitzubringen. Da die Kinder das mit dem Regiment nicht verstanden und auch die Eltern nicht, entbrannte ein wildes Hin-und-her-Geschreibe:
    – Es müssen Portraits im A4-Format mitgebracht werden, eingerahmt und mit einem Stab zum Hochhalten. Von Großvätern, die im Krieg waren.
    – Gehen auch Großmütter?
    – Nein, wohl nur Großväter.
    – Und wenn wir keinen solchen Großvater haben?
    – Dann findet einen.
    – Bei uns waren weder Großvater noch Großmutter im Krieg, sie sind in Rente.
    – Dann Urgroßväter!!!
    – Ja, man soll drunterschreiben, wo der Großvater gekämpft hat und welchen Rang er hatte. Möglichst in Paradeuniform und mit Orden. Und er sollte … na, ihr wisst schon … er sollte passen … Die Kinder sollen mündlich vortragen, wo der Urgroßvater gekämpft hat, wo er gefallen ist oder nicht gefallen ist und so weiter.~~~Детям-первоклашкам велели принести портреты для „Бессмертного полка“. Поскольку дети про полк ничего не поняли, родители тоже, началась бурная переписка.
    – Нужно принести портреты формата А4 в рамке и на палке. Дедушек, которые воевали.
    – А можно бабушек?
    – Нет, вроде бы нужны только дедушки.
    – А если у нас нет такого дедушки?
    – Найдите.
    – А у нас ни дедушки, ни бабушки не воевали, они на пенсии.
    – Прадедушки!!!
    – Да, нужно подписать, где дедушка воевал, в каком звании. Желательно, чтобы в парадном мундире и с орденами. И чтобы… ну вы понимаете… чтобы подходил… Ребенок должен устно рассказать, где воевал прадед, как погиб или не погиб и прочее.[/bilingbox]

    SLON: AUCH STALIN WAR AGGRESSOR

    In der Debatte um den Tag des Sieges geht es immer auch um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beziehungsweise um die Vergegenwärtigung von Geschichte. Im Interview mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Slon bemängelt der Historiker und Publizist Boris Sokolow, dass gewisse Aspekte im offiziellen Gedenken ausgeblendet oder zumindest nachrangig behandelt werden:

    [bilingbox]Die Sowjetunion trat als Aggressor in den Krieg ein. Entsprechende Akte der Aggression waren die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina sowie der Angriff auf Finnland. Und nur weil Hitler am 22. Juni 1941 Stalin angegriffen hat, heißt das nicht, dass die UdSSR kein Aggressor mehr war.

    Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre und Stalin hätte es geschafft, Hitler zuerst anzugreifen (und solche Pläne hatte er sowohl 1940 als auch 1941, es gab sogar eine ursprüngliche Angriffsfrist bis zum 12. Juni 1941, festgehalten in den Strategieplänen der Roten Armee vom 11. März desselben Jahres), dann wäre Deutschland in den Augen der Anti-Hitler-Koalition immer noch der Aggressor.

    Warum sollten wir die Sowjetunion hier anders behandeln? Nur weil sie unter den Siegern war?~~~Советский Союз вступил в войну как агрессор. Точно такими же актами агрессии были оккупация Прибалтики, Бессарабии, Северной Буковины и нападение на Финляндию. И от того, что 22 июня 1941 года Гитлер напал на Сталина, СССР не перестал быть агрессором. Ведь если бы было наоборот и Сталин успел бы первым напасть на Гитлера (а такие планы у него были и в 1940-м, и в 1941 году, и был даже установлен первоначальный срок нападения на 12 июня 1941 года, зафиксированный в плане развертывания РККА от 11 марта того же года), то Германия после этого все равно не перестала бы быть агрессором в глазах стран антигитлеровской коалиции. Почему же к Советскому Союзу у нас должен быть иной подход? Только потому, что он оказался среди победителей?[/bilingbox]

    IZVESTIA: SIEG ÜBER DEN FASCHISMUS

    Immer wieder werden Bezüge zu aktuellen weltpolitischen Geschehnissen und insbesondere zum Ukrainekonflikt hergestellt. Entsprechend dem offiziellen Narrativ von der Kontinuität im Kampf gegen den Faschismus schreibt die Schriftstellerin Diana Kadi in der staatsnahen Tageszeitung Izvestia über die Bedeutung des 9. Mai für die Krim:

    [bilingbox][…] Der 9. Mai ist heute für die Bewohner der Krim nicht nur der Tag des Sieges über Deutschland. Mit Blick auf die gegenwärtige Ukraine, als Teil derer die Krim all die Jahre ihr Dasein gefristet hat, haben die Menschen auf der Halbinsel begonnen, den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wertzuschätzen.

    Das, was als gegeben galt. Das, wofür unser Urgroßväter ihr Leben gaben. Wir haben das vergessen, erst jetzt erinnern wir uns wieder. Tragische Ereignisse in einst heimatlichen Randgebieten haben uns dazu verholfen, die Erinnerung aufzufrischen und die Bedeutung des Sieges über die Faschisten. Dort, wo Mitglieder der OUN und der UPA […] nicht nur rehabilitiert, sondern als Unabhängigkeitskämpfer gefeiert werden.~~~[…] 9 мая для крымчан сегодня — не только день победы над Германией. Глядя на нынешнюю Украину, в составе которой Крым влачил существование все эти годы, жители полуострова стали ценить мирное небо над головой.

    То, что воспринималось как данность. То, ради чего наши прадеды отдали свои жизни. Мы забыли об этом, а вспомнили только сейчас. Освежить память и значение победы над фашистами нам помогли трагические события, произошедшие в некогда родной окраине. Там, где члены ОУН и УПА […] не только реабилитированы, но и признаны борцами за независимость.[/bilingbox]

    ROSSIJSKAJA GASETA: POSTSOWJETISCHE ZENTRIFUGALKRÄFTE

    In der von der russischen Regierung herausgegebenen Rossijskaja Gaseta beklagt die stellvertretende Chefredakteurin Jadwiga Juferowa, dass durch die individuellen Gedenkformen in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern das verbindende Element des Sieges vernachlässigt werde. Abgrenzungstendenzen vom sowjetischen Erbe und von Russland würden die gemeinsame Erinnerung gefährden:

    [bilingbox]Warum kamen in vielen postsowjetischen Republiken derartige Zentrifugalkräfte zum Tragen? Jedes Volk möchte eine eigene Geschichte haben und ehren. Wir haben sie zum wiederholten Mal zerstört. Im Jahr 1991 genau wie im Jahr 1917 … Bis auf die Grundfesten. Unter dem gemeinsamen Fundament lag Dynamit von solcher Sprengkraft, dass ihm mit Müh und Not einzig der Große Sieg standhielt (mit all seiner Wucht!).

    Alle begannen ihre eigene großartige Geschichte zu schreiben, „sowjetlos“. Die Historiker schafften es nicht, diese im Leben mehrerer Generationen so wichtige Periode gedanklich zu erfassen, nachdem sie ebenfalls zu Revolutionären geworden waren.~~~Почему многие постсоветские республики взяли такой центробежный разбег? Каждый народ хочет иметь и уважать свою историю. А мы в очередной раз ее уничтожили. В 1991-м так же, как в 1917-м… До основания. Под общий фундамент был заложен такой силы динамит, что с трудом устояла лишь одна Победа (с ее-то мощью!). Каждый начал писать свою великую историю "без совка". Историки не справились с осмыслением этого очень важного периода в жизни нескольких поколений, став тоже революционерами.[/bilingbox]

    NOVAYA GAZETA: LEBEND VERSCHOLLEN

    Die Journalisten der unabhängigen Novaya Gazeta haben anlässlich des 9. Mai die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren nachrecherchiert und aufgeschrieben, um einen individuellen Blick auf Kriegsschicksale zu geben, die im allgemeinen Gedenken oft untergehen. So schreibt etwa Dmitri Muratow, Chefredakteur und einer der Gründer der Zeitung, über die Probleme seines Großvaters, als einstiger Feldarzt nach dem Krieg in das zivile Leben zurückzufinden:

    [bilingbox]Bis zu seinem Tod litt er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzungen unter Kopfschmerzen und dämpfte sie mit Wodka. Vor nicht allzulanger Zeit begegnete ich Daniil Granin. Er sagte, dass sie, die Frontsoldaten, nach ihrer Heimkehr nicht wussten, was sie mit dem Sieg anfangen sollten. Mein Großvater wusste es wahrscheinlich auch nicht.

    Granin: „Ohne Krieg war alles vorbei, ja, es war ein Glück, dass man noch lebte, ein kurzes Glück, das bald endete. Was würde nun folgen?“

    Mein Großvater hat sich nie als Arzt im zivilen Leben wiedergefunden. Er blieb lebend verschollen.~~~До самой смерти его мучили головные боли от тяжелого ранения и контузии, он глушил их водкой. Я совсем недавно видел Гранина, он заметил, что они, фронтовики, вернувшись, не знали, что им делать с победой. Мой дед, наверное, тоже не знал.

    Гранин: „Без войны все оборвалось, да, есть счастье, что остался жив, короткое счастье, что кончается. И что дальше?“

    Дед не нашел себя на гражданской службе санитарным врачом. Не мог быть без вести живым.[/bilingbox]

    Daniel Marcus, Leonid A. Klimov

     

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  • Wolgograd (Stalingrad)

    Wolgograd (Stalingrad)

    Die südrussische Stadt Wolgograd ist als Stalingrad durch das Inferno im Zweiten Weltkrieg in die Weltgeschichte eingegangen, hatte jedoch im Zarenreich einen anderen Namen tatarischen Ursprungs. Heute wird versucht, wieder stärker an die sowjetische Vergangenheit der Stadt anzuknüpfen, vor allem dadurch, dass die Stadt zu bestimmten Feiertagen wieder Stalingrad heißen darf.

    Der Name Stalingrad ist zu einem Synonym für den Zweiten Weltkrieg geworden. Allerdings wird man auf heutigen Landkarten vergeblich nach der „Stadt Stalins“ (grad ist ein altrussisches Wort für Stadt) suchen, da sie 1961 in Wolgograd umbenannt wurde. Stalingrad war aber nicht der ursprüngliche Name der Industriestadt an der unteren Wolga: In der ersten urkundlichen Erwähnung wurde die Siedlung 1589 als Zarizyn bezeichnet. Der Name Zarizyn hatte nichts mit den Zaren zu tun, sondern leitete sich aus dem tatarischen Namen eines Nebenflusses der Wolga ab.

    Im Zuge landesweiter topographischer Umbenennungen bekam die Stadt zu Ehren Stalins, der hier im Bürgerkrieg als Armeekomissar gedient hatte, 1925 den Namen Stalingrad. In die Weltgeschichte ist die Stadt vor allem durch die Vernichtung der deutschen 6. Armee im Zweiten Weltkrieg eingegangen, was nach gängigen Deutungen als ein historischer Wendepunkt gilt. Während der Schlacht 1943 wurde die Stadt fast vollständig zerstört.1

    Nach dem Tod Stalins begann mit dem Tauwetter eine neue Periode in der sowjetischen Geschichte. Die stalinistischen Verbrechen wurden von Chruschtschow angesprochen, die Lager wurden geöffnet und kritische Meinungen zum Erbe des Stalinismus konnten geäußert werden.2 Im Zuge der Ent-Stalinisierung wurde auch Stalingrad umbenannt. Allerdings entschied man sich nicht für den historischen Namen, sondern für eine Neuschöpfung, die die Bedeutung der Lage an der Wolga unterstreichen sollte. Seit 1961 heißt die Stadt deshalb Wolgograd.

    In jüngster Zeit wird im Zuge eines zunehmenden Patriotisierungskurses versucht, auf die sowjetische Vergangenheit der Heldenstadt Bezug zu nehmen. So wurde die Stadt zum 70. Jubiläum des Tags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg auf Beschluss der städtischen Duma für einen Tag in Stalingrad umbenannt. Diese Aktion soll nun zu den kriegsbezogenen Feiertagen wiederholt werden. Eine Petition, die Stadt wieder nach Stalin zu benennen, wurde von mehr als 50.000 Personen unterzeichnet, jedoch wird diese Idee von den lokalen Behörden und Präsident Putin derzeit nicht unterstützt.3

    Die Statue Mutter-Heimat vor der Kulisse Wolgograds. Foto – Mamaev kurgan (ОКН) © volganet.ru unter CC BY 3.0

    1. vgl. von Scheliha, Wolfram (2003): „Stalingrad“ in der sowjetischen Erinnerung, in: Jahn, Peter (Hrsg.): Stalingrad Erinnern: Stalingrad im deutschen und im russischen Gedächtnis [Ausstellung 15. November 2003 – 29. Februar 2004], Berlin, S. 24–32; zu der Schlacht um Stalingrad siehe Ueberschär, Gerd R. (1993): Stalingrad – eine Schlacht im Zweiten Weltkrieg, in: Wette, Wolfram (Hrsg.): Stalingrad: Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt am Main, S. 18–41 ↩︎
    2. vgl. zum Beispiel Kozlov, Denis (2006): Naming the Social Evil: The Readers of Novyi mir and Vladimir Dudintscev’s Not By Bread Alone: 1956–1959 and beyond, in: Jones, Polly (Hrsg.): The Dilemmas of De-Stalinization: Negotiating cultural and social change in the Khrushchev Era, London, S. 80–98 ↩︎
    3. The Guardian: Stalingrad name may return to city in wave of second world war patriotism ↩︎

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