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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Editorial: Erinnerung

    Editorial: Erinnerung

    „Die Erinnerungen in meiner Familie an den Krieg brechen alle irgendwann ab. Oder sie haben keinen Anfang. Oder sie beginnen erst nach dem Krieg. Es sind keine schönen und auch widersprüchliche Geschichten, über die nicht viel gesprochen wurde.“

    Dieses Editorial ist die Summe eines Versuchs. 75 Jahre nach Kriegsende in Europa hatten wir als dekoder-Redaktion die Idee, ein Echo zu geben auf eine Publikation in unserem Partnermedium Meduza: In Weißt du, da war Krieg erzählen Mitarbeiter des online-Magazins ihre Großeltern-Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Zum 75. Jahrestag antworten wir mit Erinnerungen aus der dekoder-Redaktion, gerade weil bei uns mit Декодер – читая Европу (dekoder – Europa lesen) seit Ende vergangenen Jahres der Austausch in beide Richtungen möglich ist.

    Doch es ist schwierig. Denn das Erinnern an den Krieg in Deutschland ist etwas anderes als in Russland. Die deutschen Geschichten handeln von Schuld („Irgendwann wurde mir klar, dass es gar nicht so normal ist, zwei Opas zu haben, die im Dritten Reich Richter waren.“ ), von erkannter Schuld („Nach allem, was die Deutschen verbrochen haben, ist keine Versöhnung mehr möglich. Nimm die Beine in die Hand und flieh!“) von weniger Schuld („Da war der vorsichtige Stolz meines Opas, weil sein Vater seine Funktion als Blockwart genutzt hatte, um im Krieg Juden zu verstecken“) – kurz vom Gestalten, Verwalten, Ertragen des eigenen, in gewisser Hinsicht selbst geschaffenen Horrors, vom Überleben, selten vom Verhindern.

    Ist es schwierig, den russischen Geschichten deutsche zur Seite zu stellen? Warum gibt es Unbehagen, die Erinnerungen ins Netz zu stellen? Warum teilweise Bedenken vor der Familie? Immer noch. 75 Jahre danach. Wir nehmen es wahr und tun es trotzdem, denn hier gilt Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes außer man tut es. 
    Auch wenn es ein Versuch bleibt.

    eure dekoderщiki

    [bilingbox]Leonid A. Klimov, Wissenschaftsredakteur:
    Polina Stepanowna war die Cousine meines Opas. Sie lebte in Sankt Petersburg, und nach Petersburg zu fahren, bedeutete immer, zu Tante Panja zu fahren. So nannten wir sie. Wenn wir kamen, brach der Esstisch unter den Köstlichkeiten zusammen. Schon auf dem Weg hatte man mir gesagt: Es wird aufgegessen! Es gab für Tante Panja keine größere Kränkung, als etwas auf dem Teller liegenzulassen. Nach dem Essen kehrte sie mit der Handkante die Krümel auf dem Tisch zusammen und steckte sie sich in den Mund. 
    Tante Panja war eher klein, dünn, hatte ein rundes Gesicht und große Augen, ein singendes Lachen und lautlose Tränen. Und immer redete sie über die Blockade.
    Es gab viele Geschichten. Doch hinter allen Erzählungen stand eines: der Hunger. Er war verzehrend, existentiell, vor seinem Hintergrund waren sogar die Deutschen zwar immer noch das absolute, aber dennoch abstrakte Böse. Der Hunger war überall. Vor Bomben konnte man sich verstecken, vor dem Hunger nicht. Er war allgegenwärtig.
    Zu ihrem „Blockadegeburtstag“ bekam sie von ihrer Mama eine Porzellantasse geschenkt. Ein Gegenstand von überwältigender Schönheit, bemalt mit paradiesischen Blumen. Aber völlig sinnlos: Schon damals hatte sie einen Sprung, trinken konnte man nicht aus ihr. Sie hatte 65 Gramm Brot gekostet – eine halbe Tagesration. 
    Doch selbst Jahrzehnte nach Kriegsende war sie das wertvollste Stück im Haus, niemand durfte sie berühren. Als Tante Panja starb, konnte ich mir aussuchen, was ich haben wollte, und ich entschied mich für die Tasse. Da nahm ich sie zum ersten Mal in die Hand. Sie und die Angst und den Schmerz, den sie barg.~~~Леонид А. Климов, Научный редактор:
    Полина Степановна была двоюродной сестрой моего деда. Она жила в Петербурге и поехать в Петербург означало поехать к тете Пане, как ее часто называли. Потом это изменилось, Петербург стал моим собственным, а вот Ленинград так и остался ее. 
    Она жила вместе с мужем в маленькой квартире на проспекте Просвещения. Мы приезжали, стол в гостиной ломился от еды. И уже по пути меня предупреждали – съесть надо будет все. Пожалуй, не было для тети Пани большего оскорбления, чем если что-то оставалось в тарелке. После еды она краем ладони собирала крошки со стола и отправляла их в рот.
    Тета Паня была невысокого роста, худая, с круглым лицом и большими глазами. С тихим, переливчатым смехом и беззвучными слезами. О блокаде она рассказывала всегда. 

    Историй было много, она рассказывала их в мельчайших подробностях. Но за всеми рассказами стояло одно – голод. Это была всепоглощающая, экзистенциальная проблема, на фоне которой даже немцы были хоть и абсолютным, но все-таки абстрактным злом. Голод был везде. От бомбежки можно было укрыться, а от него нет. Он был вездесущ. 
    На свой „блокадный“ день рождения она получила от матери в подарок фарфоровую чашку. Это была потрясающей красоты вещь, расписанная райскими цветами. Но совершенно бессмысленная: уже тогда она была треснута и пить из нее было невозможно. Стоила она 65 граммов хлеба – половину дневного рациона. Но и спустя десятилетия после окончания войны это была самая дорогая вещь в доме – ее никто не имел права до нее дотрагиваться. Когда тетя Паня умерла, мне разрешили взять на память то, что я хочу, и я выбрал эту чашку. Тогда я впервые взял ее в руки – в ней были боль и страх.[/bilingbox]


    [bilingbox]Tamina Kutscher, Chefredakteurin:
    Ein Foto: Das Kaufhaus meiner Großeltern väterlicherseits in einer Kleinstadt in Mähren. Aus jedem Fenster hängen Flaggen, auf jeder Flagge ein Hakenkreuz. Es ist das Jahr 1939. 
    Sechs Jahre später ist mein Großvater in Kriegsgefangenschaft – im ehemaligen KZ Auschwitz. Er schreibt seiner Frau nach Hause, dass nach allem, was die Deutschen verbrochen hätten, keine Versöhnung mehr möglich sei. Sie solle die erste Gelegenheit ergreifen, um Mähren zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Das Kaufhaus überschreiben meine Großeltern einem tschechischen Angestellten. Er wird später enteignet. Aber das weiß zu dem Zeitpunkt noch keiner. 
    Meine Großmutter macht sich mit fünf Kindern im Flüchtlingstreck auf Richtung Bayern. Nach einem Tieffliegerangriff auf den Treck findet sie ein Baby neben der toten Mutter im Straßengraben, nimmt es mit und gibt es an einer Rot-Kreuz-Station wieder ab. Mein Onkel fasst mit der Verzweiflung eines 10-Jährigen den Vorsatz, eine Pistole zu besorgen und die ganze Familie zu erschießen. Als Erwachsener erzählt er davon und lacht.~~~Тамина Кучер, главный редактор:
    На фотографии магазин моих деда и бабушки по отцовской линии в каком-то городке в Моравии. В каждом окне флаг, на каждом флаге свастика. 1939 год. Через шесть лет мой дед в плену — в бывшем концлагере Освенцим. Он пишет домой жене, что после всех преступлений, совершенных немцами, никакого прощения быть не может. Она должна при первой же возможности уехать из Моравии в Германию. Магазин этот моя семья переписала на работавшего у них чеха. Позже все имущество национализируют. Но этого пока никто не знает.
    Бабушка с пятью детьми в колонне немецких беженцев отправляется в сторону Баварии. После авианалета на их колонну, в канаве, рядом с мертвой женщиной она находит младенца и несет его до следующего поста Красного креста. Мой дядя, с отчаянием десятилетнего мальчика, твердо решает раздобыть пистолет и застрелить всю свою семью. Спустя много лет он вспоминает эту историю со смехом.[/bilingbox]


    [bilingbox]Polina Aronson, Redakteurin:
    Ich lebe seit zwölf Jahren in Berlin. Oft habe ich die Frage gehört, von Deutschen wie von Russen: „Wie kannst du als Enkelin Überlebender der Blockade, zudem noch als Jüdin, mit Deutschen zusammenleben?” Die Antwort fand ich, wo ich sie am wenigsten vermutet hätte – im Blockade-Tagebuch meines Großvaters mütterlicherseits, Oscher (Iosif) Basin.
    Mein Opa beginnt sein Tagebuch mit einem Goethe-Zitat. Nur wer seine Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart. Nicht die Deutschen nennt er den Feind, er benutzt selbst in den schrecklichsten Momenten beharrlich das Wort Faschisten oder Hitleranhänger. Als er aus der Prawda von der Massenvernichtung von Juden erfährt, wo seine Eltern zurückgeblieben waren, schreibt er: „Das sind nicht mal Menschenfresser oder Tiere. Das sind Hitler-Faschisten. Das ist es: Diese Hitler-Faschisten sind eine eigene Spezies.“
    Mein Großvater stammte aus einem kleinen jüdischen Stetl und war bis zu Kriegsbeginn ein glühender Anhänger kommunistischer Ideale – er war den Bolschewiken dankbar für seine Ausbildung, für seine Arbeit, für sein Leben. 
    Nachdem er den ersten Blockadewinter überlebt hatte, wurde er nach Kujbyschewe evakuiert und ging dann an die Front. Bei Kriegsende war er in Warschau. Beinahe unversehrt kehrte er aus dem Krieg zurück – und war schwer enttäuscht von dem Kommunismus, an den er früher geglaubt hatte. 
    Ende der 1940er Jahre schickte die Leningrader Führung meinen Opa für einige Monate nach Leipzig. Von Hass war in ihm keine Spur. Der Frieden hatte begonnen – und das war sein einziger Wunsch. 
    Wenn selbst mein Großvater als Überlebender der Blockade und des Kriegs zwischen Deutschen und Nazis unterschieden hat, dann sollte ich das doch wohl erst recht können. Alles andere wäre undankbar – ihm gegenüber und gegenüber dem Land, in dem ich lebe.~~~Полина Аронсон, Редактор:
    Я живу в Берлине уже 12 лет. Сколько раз я слышала этот вопрос: „Как можешь ты, внучка блокадников, к тому же еврейка, спокойно жить с немцами?
    Ответ нашелся в самом неожиданном месте – в блокадном дневнике моего деда по материнской линии, Ошера (Иосифа) Басина. 

    Дед начинает дневник словами из Гете: „Только тот, кто знает свое прошлое, может понять свое настоящее“. Он не называет врага „немцами“ – он настойчиво пишет „фашисты“ или „гитлеровцы“. Верен себе он остается даже в самые страшные минуты. Узнав из „Правды“ о массовом истреблении евреев в тех местах, где остались его родители, он пишет: „Нет, это даже не людоеды, не звери – их имя гитлеровцы. Это просто гитлеровцы“. Выходец из небольшого еврейского местечка, до начала войны дед свято верил в идеалы коммунизма – он был благодарен большевикам за свое образование, за свою работу, за свою жизнь.

    Пережив первую блокадную зиму, Иосиф сначала эвакуировался в Куйбышев, а затем ушел на фронт и встретил окончание войны в Варшаве. Он вернулся с войны почти невредимым – и сильно разочаровавшимся в том коммунизме, в который верил раньше. в конце сороковых – ленинградское руководство отправило его в Лейпциг. Прожив там несколько месяцев, он вернулся в Ленинград, и никакой ненависти в нем не было. Наступил мир – и ничего другого он не мог пожелать. Если бы я, его внучка, позволила себе сегодня „ненавидеть немцев“ – это не было не просто неблагодарностью к стране, где я живу и работаю. Это было бы неблагодарностью к памяти деда – человека, пережившего блокаду и фронт.[/bilingbox]


    [bilingbox]Friederike Meltendorf, Übersetzungsredakteurin:
    Mein Großvater war schon immer sehr alt. Ihn umflorte irgendein Geheimnis. Ich wusste als Kind nur, dass er elf Jahre in russischer Gefangenschaft war. Und danach noch eine Doktorarbeit oder ähnliches in Philosophie geschrieben hatte. Das war für mich ein dicker Stapel Papier.
    Er war im Ersten Weltkrieg als Fliegeroffizier abgestürzt und der erste Mensch, der mit einem Wirbelsäulenbruch geheilt wurde. Dafür hatte er ein halbes Jahr gehangen. Davon hatte ich ein sehr genaues Bild vor Augen: eine Sprossenwand war da im Spiel, das einzige wo ich mir vorstellen konnte, dass man dran hängen kann. 
    Danach studierte er Jura und lernte meine Oma kennen, die als eine der ersten Frauen in Freiburg Jura studierte. Jurist und Offizier war er also und kam dann Ende der dreißiger Jahre ans Reichskriegsgericht, eines der höchsten Gerichte im Dritten Reich. Die Familie wohnte in einer Villa in Berlin Nikolassee. Es gab dort wohl eine Hitlerecke, von der es heißt – jedoch herrscht Uneinigkeit – da habe früher einmal Hitler gesessen. 
    1941 wurde dieser Opa vom Richterdienst suspendiert, weil er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten und Zeugen Jehovas zum Tode zu verurteilen, oder weil er Urteile hinausgezögert hat, darüber gibt es unterschiedliche Geschichten.
    1945 kam er zu Besuch auf das Rittergut, wo seine Frau, meine Lieblingsoma, mit ihren drei Kindern evakuiert war: meine Mutter, die damals sieben war und ihre beiden Brüder. 
    Man hatte meinen Opa gewarnt, er solle nicht kommen, die Russen würden alle holen, doch er war der festen aufrechten Überzeugung, nichts Falsches getan zu haben. Sie nahmen ihn mit. Er kam nach Bautzen und elf Jahre später nach Hause, nach Berlin. Meine Mutter war unterdessen 19 Jahre alt.~~~Фридерике Мелтендорф, Редактор перевода:
    Сколько себя помню, мой дедушка всегда был очень старым. Еще ребенком я была в курсе, что он провел одиннадцать лет в плену у русских. А потом написал диссертацию по философии или что-то в этом роде. Для меня это была просто большая стопка бумаг.
    Во время Первой мировой он служил в авиации, и когда его самолет разбился, он стал первым пациентом, выздоровевшим после перелома позвоночника. И чтобы разгрузить позвоночник его полгода как-то подвешивали. Я очень ясно себе это представляла: наверняка, там была какая-то шведская стенка, — ну а на чем еще может висеть человек?
    Потом он поступил на юридический и познакомился с моей бабушкой, одной из первых девушек, учившихся на юрфаке во Фрайбурге. Был он, значит, юрист и офицер, и вот в конце тридцатых поступил на службу в Имперский военный суд, один из высших судов Третьего рейха. Его семья жила на вилле возле озера Николазее в Берлине. В этом доме, еще до них, говорят, бывал Гитлер – впрочем тут мнения в семье расходились.
    В 1941 году дедушку отстранили от судейской должности, так как он отказался вступать в НСДАП и не стал приговаривать к смертной казни Свидетелей Иеговы, или, по крайней мере, затягивал вынесение приговоров, на этот счет тоже были разные истории. 
    В 1945 году он приезжал в загородное поместье, где в эвакуации жила его жена, моя любимая бабушка, с тремя детьми: моей мамой и ее братьями. Дедушку предупреждали, что ехать не следует, что русские всех заберут, но он был абсолютно искренне убежден, что не делает ничего плохого. Его забрали. Он попал в Баутцен, а через 11 лет вернулся домой, в Берлин. Моей маме тогда исполнилось 19 лет.[/bilingbox]


    [bilingbox]Alena Schwarz, Controlling:
    Meine Oma war erst vier, als der Krieg begann. Ihre Erinnerungen daran setzen sich aus einzelnen Episoden zusammen. Wie sie 1943 ihre Puppe verpfändet hat, um ihrem Bruder ein Weihnachtsgeschenk kaufen zu können, oder wie sie jeden Mittag im Keller den Schimmel von der Graupensuppe abgeschöpft hat. 
    Im März 1945 entschloss sich meine Uroma, mit ihren vier Kindern aus Koszalin (dt. Köslin) in Westpommern zu fliehen. An diese Flucht in letzter Sekunde erinnert sich meine Oma sehr genau: im Rucksack nur Bettwäsche, Kleidung, für den jüngsten Bruder ein Teddy. Schnee und Eis, Dunkelheit, offene Güterzüge, im Bauch eines Schiffes, Beschuss durch Tiefflieger. 
    Meine Urgroßmutter brachte alle Kinder unversehrt quer durch Polen und Deutschland bis nach Cuxhaven. Die Familie, auf deren Hof sie untergebracht wurden, war sehr gastfreundlich und hilfsbereit. Den Neffen des Landwirts hat meine Oma acht Jahre später geheiratet. ~~~Алена Шварц, Администрация:
    Когда началась война, бабушке было всего четыре. У нее остались отрывочные воспоминания об этом времени. Например, как в 1943 году ей пришлось продать куклу, чтобы купить подарок брату на Рождество, или как в обед она каждый раз снимала плесень с перловки в подвале.
    В марте 1945 года моя прабабушка решила забрать своих четырех детей и бежать из Кезлина в Западной Померании. Это бегство в последнюю минуту бабушка помнит очень хорошо: в рюкзаке только постельное белье, одежда, плюшевый мишка младшего брата. Снег и лед, темень, товарные поезда, трюм какого-то корабля, обстрелы штурмовиков.
    Прабабушка довезла всех детей живыми и здоровыми через всю Польшу и Германию до Куксхафена. Семья фермеров, к которым они попали, была очень дружелюбна и добра к ним. Восемь лет спустя за племянника хозяина фермы бабушка вышла замуж.[/bilingbox]


    [bilingbox]Dmitry Kartsev, Redakteur:
    Mein Opa Wadja war nicht sehr gesprächig, besonders zum Ende hin. Den Großteil der Geschichten von der Front weiß ich nicht von ihm, sondern von den anderen Verwandten. Dass er und seine zwei älteren Brüder, Opa Jura und Opa Ljowa in den Krieg gingen – und wie durch ein Wunder alle drei zurückkamen. Dass er zur Pioniertruppe kam, weil er ein bisschen Deutsch konnte (falls Gefangene verhört werden mussten), und er dort mit seinen 17 Jahren als Jüngster und Liebling der Familie mit Verbrechern und Straftätern zusammen diente, da man hinter der Frontlinie Leute brauchte, die selbstständig Entscheidungen treffen konnten. Dass er einmal seiner zukünftigen Frau, meiner Oma Lisa, einen kurzen Brief schrieb: „Warum zum Teufel schreiben Sie nicht?“ (aus irgendeinem Grund weiß ich, dass das sein einziger Brief war). Dass zwischen meinem Opa und meiner Oma nicht alles einfach war (aus dem Inhalt des Briefes kann man da durchaus darauf kommen). 
    Mit eigenen Augen habe ich nur Ansichtskarten noch nicht zerstörter deutscher Städte gesehen, die er meiner Oma nach dem Sieg schickte. Sie kannten sich seit dem Kindergarten, doch er siezte sie und die Texte auf den Postkarten waren romantisch und schwülstig.
    Mein Großvater erzählte wenig vom Krieg, der nie den Schwerpunkt unseres Familiengedächtnisses bildete. Dafür bin ich ihm wohl genauso dankbar wie für seine Heldentat. ~~~Дмитрий Карцев, Редактор:
    Мой дедушка Вадя был не из разговорчивых, особенно под конец. Кажется, большую часть фронтовой истории я знаю не от него, а от других наших родственников. О том, что на войну ушел он и двое его старших братьев, деда Юра и деда Лева, — и настоящее чудо, что все трое вернулись. О том, что его взяли в саперную разведку, так как он немного знал немецкий (на тот случай, если нужно будет допрашивать пленных), — и, он 17-летний младший ребенок в семье и всеобщий любимец, служил там вместе с бандитами и уголовниками, которых брали, потому что за линией фронта нужны люди, которые умеют самостоятельно принимать решения. О том, что однажды он написал своей будущей жене, моей бабушке Лизе, короткое письмо: «Какого черта не пишете?» (почему-то мне запомнилось, что это было его единственное письмо). О том, что между бабушкой и дедушкой не все было просто (по содержанию письма, впрочем, можно было догадаться).
    Своими глазами я видел только открытки с видами еще не разрушенных немецких городов, которые он посылал бабушке уже после победы. Они были знакомы с детского сада, но он обращался к ней на «Вы», и тексты открыток были одновременно романтичными и вычурными.
    Я знаю, что дед был ранен под Вязьмой (и где-то дважды еще), его наградили, и наградной лист можно найти в интернете. Он мало рассказывал о войне, и она не стала главным содержанием нашего коллективного семейного опыта. И за это я, пожалуй, благодарен ему так же, как и за его подвиг.[/bilingbox]

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  • Russlands Jugend und der Zweite Weltkrieg

    Russlands Jugend und der Zweite Weltkrieg

    „Dieser kleine Soldat kann jedem Erwachsenen eine Lektion in Sachen Tapferkeit, Patriotismus und Standhaftigkeit erteilen,“1 heißt es in einer Beschreibung des Films Soldatik (dt. Der kleine Soldat), der 2018 in die russischen Kinos kam. Der sechsjährige Serjosha Aleschkow wird von Rotarmisten aufgenommen, nachdem deutsche Soldaten seine Familie getötet haben. Serjosha kämpft gemeinsam mit ihnen gegen die deutschen Faschisten, wird für seinen Mut mit einem Orden ausgezeichnet und findet in dem Kommandanten seiner Einheit und einer Front-Krankenschwester schließlich eine neue Familie. Der mit Ressourcen des russischen Kulturministeriums finanzierte Film basiert auf einer wahren Begebenheit und ist für ein Publikum ab sechs Jahren freigegeben.

    Kulturelle Produktionen wie Soldatik zeigen, wie früh Kinder in Russland mit dem Krieg konfrontiert werden. Doch wie bewerten Russlands junge Generationen den Zweiten Weltkrieg? Und wie geht Russlands Jugend mit dem offiziellen Geschichtsbild des Kreml um?

    In der Liste der stolzstiftenden Ereignisse der russischen Geschichte, die das renommierte Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum seit 1999 führt, ist Jahr für Jahr vieles in Bewegung. Nur der erste Platz scheint für immer vergeben zu sein: der Große Vaterländische Krieg. Das sieht tatsächlich nach einem Konsens aus in der sonst oft polarisierten russischen Gesellschaft: Der Große Vaterländische Krieg ist das zentrale Ereignis der Geschichte. 

    Junge Menschen im Blick

    Wie die jüngsten Umfragen des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) belegen: Auch für junge Menschen ist das so.2

    Und das ist nicht nur auf die Geschichtspolitik des Kreml zurückzuführen: Nirgendwo sonst hat der Zweite Weltkrieg so viele Opfer gefordert wie in der Sowjetunion. Nahezu jede Familie hatte Tote zu beklagen, in manchen Dörfern kehrten ganze Jahrgänge nicht aus dem Krieg zurück.3 Der Sieg über das zunächst übermächtig erscheinende nationalsozialistische Deutschland am 9. Mai 1945 nimmt eine entsprechend wichtige Rolle in den Erinnerungskulturen der sowjetischen Nachfolgestaaten ein. 

    In Russland wurde der Sieg nach 1991 zu einer wichtigen Ressource in der Entwicklung einer postsowjetischen russischen Identität. Die russische Führung versucht seit den 1990er Jahren, sich die innen- wie außenpolitische Deutungshoheit über dieses historische Ereignis zu sichern. In den staatlichen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges, in neuen Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht und staatlich geförderten Kulturproduktionen steht der heroische Sieg über das faschistische Deutschland im Vordergrund. So entsteht das Bild einer ruhmreichen Vergangenheit, an das der heutige russische Staat nahtlos anzuknüpfen scheint. Und viele dieser Maßnahmen richten sich explizit an junge Menschen, deren Geschichtsbild als noch formbar gilt. 

    Bereits für Kindergärten gibt es ein Programm zur patriotischen Erziehung, wobei entscheidende Schlachten des Krieges im Sandkasten nachgestellt werden sollen. Viel diskutiert wurde in den letzten Jahren auch eine Reihe von neuen Vorgaben für den Geschichtsunterricht, jüngst in Form eines „historisch-kulturellen Standards“, der die grundlegende inhaltliche Ausrichtung des Geschichtsunterrichts festlegt. 

    Allerdings hängt gerade im Schulunterricht auch viel vom Gestaltungswillen des Lehrpersonals ab. So können Lehrkräfte im Fach Russische Literatur aus einer Vielzahl von Texten wählen, die den Großen Vaterländischen Krieg thematisieren. Unter diesen Texten finden sich durchaus solche, die ein sehr differenziertes Bild des Krieges zeichnen, etwa Wassili Grossmanns epischer Roman Shisn i Sudba (Leben und Schicksal, 1980). Weniger differenziert sind Freizeitangebote, die der patriotischen Erziehung der Jugend dienen. Dazu zählen etwa das „russische Disneyland“, wie der Park Patriot in der Nähe von Moskau oft genannt wird, der ausschließlich dazu dient, den russischen militärischen Ruhm zu feiern. Oder die 2016 gegründete Jugendorganisation Junarmija (dt. Junge Garde), die in den jährlichen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges involviert ist und sich auch darüber hinaus regelmäßig an lokalen Veranstaltungen zur Ehre von Veteranen beteiligt. Was denkt nun Russlands junge Generation über den Krieg? Das ZOiS hat dazu in den Jahren 2018, 2019 und 2020 Meinungsumfragen unter jungen Russinnen und Russen (16–34 Jahre) durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ansichten der jungen Menschen oft differenzierter sind, als es die aktuelle russische Geschichtspolitik vermuten ließe. Und dass sie Widersprüche enthalten, die nicht immer aufzulösen sind. 

    Stolz und Dankbarkeit gegenüber den (Ur-)Großeltern, aber auch gegenüber dem Staat, dominieren die Ansichten der jungen Leute. In einem Interview unterstrich eine junge Frau ihren Stolz darauf, „dass ausgerechnet unser Land dieser schlechten Seite der Geschichte ein Ende bereitet hat.“4 

    Russlands Jugend teilt laut der Studie die Ansicht, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die Gegenwart relevant ist und gepflegt werden muss. Überraschenderweise aber empfinden viele junge Menschen die alljährlichen staatlichen Gedenkfeierlichkeiten zum 9. Mai als dem historischen Ereignis unangemessen. Sie kritisieren, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, dass die russische Führung den 9. Mai für ihre Agenda missbraucht, die nichts mit dem historischen Ereignis gemein hat. Die Präsentation heutiger Stärke ist dem Kreml dabei wichtiger als das eigentliche Gedenken. Auf Kritik stoßen auch die enormen finanziellen Ressourcen, die für die Siegesfeierlichkeiten aufgewendet werden, während, wie es eine junge Frau ausdrückt, „in den Dörfern Veteranen verhungern“. Viele würden intimere Erinnerungsformen bevorzugen, etwa im Familienkreis, bei dem auch daran erinnert werde, dass – so ein junger Mann – „der Sieg durch die Opfer der Menschen errungen wurde, nicht durch den Staat.“ 

    Allerdings rücken die Opfer, die für diesen Sieg erbracht wurden, in den Erzählungen vieler junger Menschen in den Hintergrund. Das ist in Anbetracht der familiären Betroffenheit in Russland erstaunlich. Auch in Politikerreden5 und in den zahlreichen medialen Verarbeitungen werden die Opferbereitschaft und das Leid der Bevölkerung im Krieg häufig thematisiert – nicht zuletzt, weil es ohne Opfer keine Helden geben kann. Stattdessen dominieren heroische Momente – etwa der eigentliche Tag des Sieges – die Erinnerungen der jungen Menschen. 

    Streit- und Tabuthemen

    Die Rolle Josef Stalins wird von Russlands junger Generation unterschiedlich eingeschätzt. Zwar sind sich die jungen Menschen der stalinistischen Repressionen bewusst, denen die sowjetische Bevölkerung auch während des Krieges ausgesetzt war.6 Ihre Bewertung des totalitären Herrschers unterscheidet sich aber je nach politischer Selbstverortung. 

    Regimekonforme junge Russinnen und Russen loben Stalins positiven Beitrag für den Sieg und den Wiederaufbau des Landes. Regimekritische junge Menschen kritisieren die exzessive Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Gleichzeitig betonen aber selbst sie, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg ohne die harte Hand Stalins wohl nicht errungen worden wäre. So sagt ein junger Mann im Interview: „Mit jemandem wie Nikolaus II. wäre alles ganz anders gewesen, die Soldaten wären desertiert, denn es hätte nichts gegeben, wovor sie sich gefürchtet hätten.“ Insgesamt bewerten junge Menschen in Russland Stalin allerdings kritischer als die Gesamtbevölkerung.7  

    Ein Tabuthema bleibt unter jungen Russinnen und Russen – gleich welcher politischen Einstellung – bestehen: Kriegsverbrechen der Roten Armee werden entweder geleugnet oder relativiert. Eine junge Interviewte sagte etwa: „Wenn wir uns daran erinnern, was die Deutschen uns angetan haben, dann war das alles weitaus schlimmer.“ Diese Ansichten decken sich mit den Bemühungen der russischen Politik, das Andenken der Roten Armee zu bewahren, indem jegliche Kritik verbannt wird. Seit 2014 ist es möglich, öffentlich geäußerte Kritik an der Roten Armee strafrechtlich zu verfolgen

    Die Überzeugungen der jungen Menschen gehen mit einem gesamtgesellschaftlichen Schweigekonsens einher, der seit dem Ende des Krieges besteht: Nur wenige Soldaten haben es gewagt, über die Kehrseite des heldenhaften Krieges, über Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde an der Zivilbevölkerung zu sprechen. Werke wie das Langpoem Prusskije notschi (Ostpreußische Nächte, 1974) von Alexander Solschenizyn oder Daniil Granins lange Erzählung Po tu storonu (Jenseits, 2003), die beide unter anderem die Vergewaltigung deutscher Frauen problematisieren, bleiben in Russland absolute (und hoch umstrittene) Ausnahmen.

    Sehnsucht nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt

    Auch wenn es einige Punkte gibt, in denen Russlands junge Generation andere Auffassungen vertritt als die russische Führung, besteht doch im Großen und Ganzen eine hohe Zustimmung zu den Narrativen, die der Kreml seit Anfang der 2000er Jahre und verstärkt seit Wladimir Putins dritter Amtszeit zu implementieren versucht. Unter jungen Russinnen und Russen lässt sich eine gewisse Sehnsucht nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt konstatieren, die den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland überhaupt erst ermöglicht hat. Es werden auch die brüderlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern der Sowjetunion thematisiert, wobei die dominante russische Rolle darin nicht hinterfragt wird. 

    Eine Rede von Waleri Gassajew, Vorsitzender des Duma-Ausschussesfür Nationalitäten, zeigt, wie nahe diese Vorstellungen an der offiziellen Linie des Kreml sind. Im Februar 2020 beschwor Gassajew anlässlich eines Rundtischgesprächs zum Thema Die historische Erinnerung der Völker Russlands an den Großen Vaterländischen Krieg. Verbindung der Generationen die nationale Einheit, die dem „größtmöglichen Sieg“ vorausgegangen sei. Gleichzeitig lässt sich an diesem Beispiel illustrieren, wie Geschichte für die Gegenwart nutzbar gemacht wird: „Es ist wichtig, dass junge Menschen die untrennbare Verbindung zwischen den Generationen spüren, den Beitrag der multinationalen Bevölkerung zum größten Sieg in der Geschichte der Menschheit – den Sieg über den Faschismus – kennen und stolz darauf sind. Die heldenhaften Errungenschaften unseres Volkes waren und sind das beste Beispiel und die beste Quelle für die Erziehung zum Patriotismus, zur Liebe zur eigenen Heimat. Das Erbe des großen Sieges ist eine mächtige, einheitliche Grundlage für die Entwicklung des modernen Russlands.“8


     

    1. kino-teatr.ru: Soldatik (2018) ↩︎
    2. Krawatzek, Félix/Friess, Nina (2020): ZOiS Report No. 1/2020 „World War II for Young Russians: The Production and Reception of History“ ↩︎
    3. Etwa 27 Millionen sowjetische Bürgerinnen und Bürger wurden im deutschen Vernichtungskrieg ermordet, darunter schätzungsweise 19 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten. Über die genaue Zahl sowjetischer Kriegstoter gibt es nach wie vor Diskussionen, mitunter werden auch noch höhere Opferzahlen genannt. ↩︎
    4. Alle hier zitierten Interviews wurden im Juni 2019 im Rahmen von Fokusgruppeninterviews erhoben, die das ZOiS in Sankt Petersburg und Jekaterinburg unter jungen Russinnen und Russen durchführte. Die Fokusgruppen wurden unter jungen Menschen im Alter von 16 bis 34 Jahren durchgeführt und bestanden jeweils aus Personen, die ähnliche politische Ansichten (regimekonform, regimekritisch, politisch indifferent) hatten, um die freie Äußerung der eigenen Meinung zu stimulieren. ↩︎
    5. tass.ru: Putin otložil podgotovku k paradu pobedy ↩︎
    6. Andere Meinungsumfragen zeigen allerdings, dass dieses Wissen unter jungen Russinnen und Russen nicht mehr so weit verbreitet ist wie bei älteren Generationen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WCIOM aus dem Jahr 2018 gaben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 30 Prozent der 25- bis 34-Jährigen an, nichts von den stalinistischen Repressionen zu wissen. ↩︎
    7. levada.ru: Dinamika Otnošenija k Stalinu ↩︎
    8. Ria Novosti: V GD Otmetili rol‘ edinstva naroda v pobede v Belikoj Otečestvennoj ↩︎

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  • „Ostarbeiter“

    „Ostarbeiter“

    Als der Krieg anfing, lebte Ljuba in der Ukraine, in der Region Wosnessensk. Kurz zuvor hatte sie die sechste Klasse beendet; da jede helfende Hand wichtig war, begann Ljuba nun gemeinsam mit ihren Eltern in der Kolchose zu arbeiten. 

    Rund eineinhalb Monate nach dem Beginn des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion marschierten deutsche Soldaten am 7. August 1941 in Wosnessensk ein. Ihr Kampf um den „Lebensraum Ost“ sah vor, dass die Menschen weiter in den Osten der Sowjetunion gedrängt oder vernichtet werden. Die Nazis planten den Hungertod für 30 Millionen Menschen in den besetzten Ostgebieten.1 

    Ljubas Vater trat in die Rote Armee ein. Ljuba, ihre Mutter und ihre vier Schwestern blieben bei Wosnessensk zurück. Die Nazis gründeten das Reichskommissariat Ukraine und das Reichskommissariat Ostland, wo sie ihre rassistische Besatzungspolitik mit Repressionen und Gewalt durchsetzten. Eine allgemeine Arbeitspflicht wurde eingeführt, zunächst mit einer Altersbeschränkung: Für Männer im Alter von 15 bis 65 Jahren und für Frauen zwischen 15 und 45 Jahren.2 Später wurde diese Beschränkung aufgehoben.

    Die Abgaben von den Kolchosen an die Besatzungsmacht stiegen an. Die Lebensmittelrationen für die Bevölkerung wurden immer kleiner. Die fruchtbare Ukraine sollte zur „Kornkammer des Reiches“ werden und die „arischen Herrenmenschen“ ernähren.3 Die Menschen im Land gerieten in immer größere, wirtschaftliche Not und litten Hunger. 

    Zeitgleich propagierten die Nazis, dass Ukrainer, Russen und Belarussen sich freiwillig für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich melden sollten. Dort würden sie eine faire Arbeit und einen gerechten Lohn erhalten, solange sie für die Deutschen arbeiteten. 

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Bis Mitte Januar 1942 meldeten sich 55.000 Arbeiter:innen für den Arbeitseinsatz. Später kamen noch einige weitere zehntausend Ukrainer:innen dazu.4 Als die ersten Gerüchte und Briefe über die Arbeitssituation und die Lebensumstände die Heimat erreichten, war vielen klar, dass sie auf die Propaganda und die leeren Versprechungen der Nazis hereingefallen waren.5 Um die Kriegswirtschaft zu erhalten, setzten die Deutschen auf Ausbeutung und Zwangsarbeit. Längst verließen sie sich nicht nur auf Propaganda: Auch Zwangsrekrutierungen, Gewalt, Repressionen und willkürliche Razzien kamen massiv zum Einsatz. Ganz offen wurde von „Menschenjagden“ oder „Sklavenjagden“ gesprochen. 

    In dem Reichskommissariat Ukraine zogen die Nazis ab 1943 zusätzlich alle Menschen der Jahrgänge 1922 bis 1925 zu einem zweijährigen Pflichtarbeitsdienst im Deutschen Reich ein. Zahlreiche Plakate wurden im Auftrag des Kiewer Stadtkommissars in der ganzen Ukraine verteilt, darauf ließ er verlauten: „Ich erwarte, daß alle in Betracht kommenden Jugendlichen ausnahmslos und pünktlich zur Abreise erscheinen.“ 

    Bild © Bundesarchiv, Bild 183-J10854 / CC-BY-SA 3.0
    Bild © Bundesarchiv, Bild 183-J10854 / CC-BY-SA 3.0

    Am 19. August 1943 wurde Ljuba ins Deutsche Reich gebracht, als eine von zahlreichen Jugendlichen aus der Sowjetunion, die zwischen 1942 und 1945 Zwangsarbeit leisteten. Ging die 17-Jährige mit der Hoffnung auf mehr? Aus Zwang? Oder um ihre Mutter und Schwestern finanziell zu unterstützen? 

    Auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeits- und Lebensort gab es für die Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion drei ärztliche Untersuchungen, um die Gesundheit und körperliche Verfassung der neuen Arbeitskräfte zu prüfen. Ljuba schrieb in einer Postkarte an ihre Familie, die heute im Staatsarchiv der Oblast Mykolajiw aufbewahrt wird: „Ich bin für gesund befunden worden. Darum wartet zu Hause nicht auf mich.“6 

    „Untermenschen“

    Das neue „Material“ musste gesund und einsatzbereit sein. In der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie der Nazis galten die Menschen aus der Sowjetunion als „Untermenschen“. Anfangs sollten die Bürger:innen aus der Sowjetunion nicht zur Zwangsarbeit eingesetzt werden, nachdem die Nazis 1943 aber zum „Totalen Krieg“ übergegangen sind, haben sie immer mehr Arbeitskräfte gebraucht. Aus diesem Grund wichen sie vom Vernichtungsplan ab und griffen immer mehr auf die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter:innen zurück. Durch unmenschliche Behandlung, schlechte und mangelhafte Ernährung, Misshandlungen, Strafen und willkürliche Gewalt starben allein innerhalb weniger Monate ungefähr zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene.7 

    „Ich bin am Leben und gesund“, schrieb Ljuba an ihre Familie. „Wir sind 15 Tage lang gefahren, und mir ging es sehr gut. Jetzt bin ich in Bremen, in einem Lager.“8 Zusammen mit ungefähr 700 anderen Frauen war sie im Lager Heidkamp untergebracht. Viele von ihnen kamen, so wie Ljuba, aus der Sowjetunion. Das Lager wurde eingerichtet und betrieben von der Organisation Todt (O.T.) – eine paramilitärische Bauorganisation und zuständig für viele kriegswichtige Bauprojekte. Es war das größte Zwangsarbeitslager in der Rüstungslandschaft in Bremen-Farge und Umgebung.9


    Im Sommer 1944, dem Höhepunkt des massiven Einsatzes von ausländischen Arbeitskräften im Deutschen Reich, wurden in der Rüstungsindustrie, der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in deutschen Haushalten mehr als 13 Millionen Zwangsarbeiter:innen eingesetzt: zivile Zwangsarbeiter:innen, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene – darunter ungefähr 2,75 Millionen zivile Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion. 

    © Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit
    © Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

    Wie die meisten Zwangsarbeiter:innen wusste auch Ljuba nicht, für welches Rüstungsprojekt sie arbeiten musste und welche Ziele die Nazis damit verfolgten. Die sogenannten „Ostarbeitererlasse“ vom Februar 1942 bestimmten ihr Leben in einem Land, in dem sie nicht als Menschen wahrgenommen wurden. Die Regelungen für „Ostarbeiter“ waren an anderen Erlassen für Zwangsarbeiter:innen orientiert und nochmal verschärft worden. So war es den sogenannten „Ostarbeitern“ streng verboten, das Lager zu verlassen. Sie durften nur raus, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gehen. Sie durften kein Geld, keine Wertgegenstände, keine Fahrkarten, keine Feuerzeuge und kein Fahrrad erwerben oder besitzen. In den Lagern wurden Frauen getrennt von den Männern untergebracht. Ihre Vorgesetzten durften sie züchtigen. Sie erhielten eine schlechtere Verpflegung und weniger Lohn als Deutsche. Jeglicher Kontakt zu den Deutschen war verboten. Sex mit einem Deutschen wurde sogar mit dem Tode bestraft. Wer diese Gesetze nicht einhielt, dem drohte die Einweisung in ein Konzentrations- oder Arbeitserziehungslager. 

    Aus der Interview-Sammlung des Projekts Zwangsarbeit 1939-194510, die tausende Stunden Video- und Audio-Interviews mit Zwangsarbeiter:innen enthält, wird klar, dass die sogenannten „Ostarbeitererlasse“ im Grunde Vogelfrei-Gesetze gewesen sind: Willkür und Misshandlungen waren an der Tagesordnung, auch Fälle der sogenannten „Vernichtung durch Arbeit“ sind überliefert. 

    „OST“

    Zudem mussten Zwangsarbeiter:innen eine diskriminierende Kennzeichnung auf ihrer Brust tragen. Für die zivilen Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion war dies ein rechteckiger, blau-weißer Stoffstreifen, auf dem in Großbuchstaben „OST“ stand. Unter keinen Umständen durften sie die Kennzeichnung ablegen. Auch Ljuba war eine solche „Ostarbeiterin“ – ein nationalsozialistischer Begriff, der die Situation von fast drei Millionen zivilen Bürger:innen aus der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs nur unzureichend umschreibt und harmlos wirkt. Dahinter steckte die unmenschliche, rassistische Behandlung und der Antislawismus der Nazis. 

    Von den rund drei Millionen Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion waren fast zwei Drittel Frauen.11 Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel war ab März 1942 vor allem für die Organisation und Deportation aller ausländischen Arbeitskräfte für den NS-Staat verantwortlich. Er sagte: „Ich werde diese Russinnen zu Hunderten und Tausenden einsetzen. Sie werden für uns arbeiten. Sie halten zehn Stunden durch und machen jede Männerarbeit.“12 
    Die Frauen mussten arbeiten bis zum Umfallen. Schwangerschaften waren nicht gewollt. Viele Frauen berichteten später von Zwangsabtreibungen oder auch davon, dass ihnen die Kinder nach der Geburt weggenommen worden waren. Viele Neugeborene kamen in die sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätten“. In diesen Einrichtungen starben mindestens 50.000 Kinder an den „geplanten Folgen organisierter Unterversorgung“.13Kurz nach der Entbindung mussten die „Ostarbeiterinnen“ sofort wieder arbeiten.

    Im Erinnerungsschatten

    Wie viele Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion in Deutschland ums Leben kamen – dazu gibt es keine belastbaren Zahlen. Ljuba hat überlebt. Im Sommer 1945 wollte sie in die Heimat zurück. Die Westalliierten übergaben die sowjetischen Bürger:innen aus ihren Besatzungszonen an den sowjetischen Geheimdienst. Vermutlich wurde auch Ljuba daraufhin in ein sogenanntes Prüf- und Filtrationslager des NKWD überstellt. In diesen Lagern mussten die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen lange, strenge Verhöre über sich ergehen lassen. Für alle registrierten rund 5,4 Millionen sogenannter „Repatrianten“14 galt eine Schuldvermutung: Allen Zwangsarbeiter:innen wurde seitens der Sowjetunion Kollaboration und Spionage vorgeworfen. 

    Natürlich war es schwer, diese pauschalen Vorwürfe in den Verhören ohne Beweise zu widerlegen. In den schlimmsten Fällen kamen die sogenannten „Repatrianten“ erneut in ein Lager und zur Zwangsarbeit nach Sibirien. Auch für diese Opfergruppe gibt es keine belastbaren Zahlen. Bis zum Zerfall der Sowjetunion und sogar darüber hinaus wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen jedenfalls nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie wurden oft gedemütigt, ausgegrenzt, verfolgt und erhielten keine finanzielle Unterstützung. Deswegen schwiegen viele und sprachen niemals ein Wort über ihr Leid als Zwangsarbeiter:innen. 

    Auch in Deutschland waren „Ostarbeiter“ sehr lange Zeit nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie gehörten zu den „vergessenen Opfern des Nationalsozialismus“.15 Noch 1997 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl individuelle Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter für ausgeschlossen.16 Erst nachdem die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder den Weg für die Einrichtung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ) ebnete, konnten am 30. Mai 2001 die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter:innen beginnen. 

    Über 30.000 Zwangsarbeitslager hat es in Deutschland gegeben. 75 Jahre nach Kriegsende sind einige davon Gedenkorte, die an sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen erinnern: Der Denkort Bunker Valentin in Bremen-Farge etwa gehört dazu, auch die Gedenkstätte Lager Sandbostel oder die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Über die Opfergruppen wird in den vergangenen Jahren immer mehr geforscht, zahlreiche Publikationen kommen heraus, auch zivilgesellschaftliche Initiativen beschäftigen sich immer mehr mit dem Thema. Häufig wird in Politik und Medien aber überwiegend über die Shoah und die KZs gesprochen. Womöglich deshalb fehlt noch eine differenzierte Darstellung der sowjetischen Zwangsarbeiter:innen. Zusätzliche Herausforderung für Historiker:innen ist, dass viele Zeitzeugen bereits verstorben sind. Natürlich versucht man einen Kontakt zu Nachfahren und Angehörigen aufzubauen oder zu intensivieren (wenn er bereits vorhanden ist). Es gibt jedenfalls zahlreiche Quellen, die noch nicht ausgewertet wurden und in Archiven lagern. Häufig haben die Gedenkstätten kaum Zeit für die Forschung. 

    An den Gedenkorten selbst ist es Aufgabe und Ziel, eine differenzierte Sicht zu vermitteln und das Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter:innen aus dem „Erinnerungsschatten“17 zu führen.


    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ)

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    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

  • „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    Das Schicksal der sogenannten „Ostarbeiter“ ist auch in Russland kaum bekannt. Rund drei Millionen sowjetische Zivilisten waren während des Zweiten Weltkriegs als sogenannte „Ostarbeiter“ zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich eingesetzt. Darunter auch viele Frauen und Jugendliche. Nach dem Krieg stellte die Sowjetregierung sie unter pauschalen Verratsverdacht, einige kamen in Lager nach Sibirien. Ihr Schicksal blieb auch nach ihrer Rückkehr ein Stigma und Tabu. Trotz langsamer Aufarbeitung – vor allem durch die Menschenrechtsorganisation Memorial – wissen heute oft nicht mal die Enkel und Urenkel davon, schreibt Iwan Dawydow in seinem Text auf Republic. Dabei braucht Russland diese Erinnerung, meint Dawydow, um vom verlogenen Kitsch im offiziellen Kriegsgedenken wegzukommen. 

    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0
    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0

    Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Dabei ist das, was ihnen geschehen ist, im Schuldspruch der Nürnberger Prozesse zusammen mit den anderen Nazi-Verbrechen genannt. Mehrere Millionen Menschen wurden aus der offiziellen Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges einfach gestrichen. In ihrer Heimat betrachtete man sie nicht als Opfer: Einige kamen nach der Befreiung in [sowjetische – dek] Lager, manche kamen dort um, anderen wurde verboten, in den Großstädten zu leben und die Möglichkeit geraubt, eine angemessene Arbeit auszuüben. Sie lebten mit einem Gefühl der Schuld vor dem sowjetischen Staat, verbrannten Briefe und Postkarten, erzählten nicht einmal Freunden und Familie von dem, was sie im Krieg erlebt hatten.

    Ein Gefühl der Schuld vor dem Staat

    Ende der 1980er erinnerte man sich kurz an sie, als in Deutschland Entschädigungszahlungen diskutiert wurden, dann hat man sie wieder vergessen. Auf das Abstellgleis der Geschichte gedrängt, um ihre letzten Jahre zu fristen – ohne Hilfen, mit einem unveränderten Schuldgefühl. Kein Enkel oder Urenkel geht mit ihren Portraits zum Marsch des Unsterblichen Regiments. Oft wissen die Enkel und Urenkel nicht einmal etwas von dem tragischen Schicksal ihrer Großeltern.

    Unter den unzähligen Büchern über den Krieg, die in der Sowjetunion erschienen sind, findet sich eins (eins!), das ihrem Schicksal gewidmet ist und wie durch ein Wunder durch die Zensur der ruhigen 1970er gekommen ist: Vitalij Sjomins Roman Zum Unterschied ein Zeichen

    Nicht einmal die Enkel wissen vom Schicksal ihrer Großeltern

    Einige (die Minderheit) waren freiwillig nach Deutschland gegangen: verwirrt, zermürbt, zunächst vom Kolchose-Paradies des Sowjetstaates, dann von der schnellen Zerschlagung der Roten Armee und der Besatzung [durch die Nazis – dek]. Sie hatten der Nazipropaganda geglaubt, auf ein besseres Leben gehofft. Andere (die überwältigende Mehrheit) waren einfach zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt worden, wie Sklaven, wie Vieh. 

    Sie passten weder in den sowjetischen noch in den derzeitigen russischen Kriegsmythos. Keine Siege, keine Heldentaten und obendrein Arbeit für den Feind.

    Das Erinnern begann mit einem Missverständnis

    2016 hat die Organisation Memorial den Sammelband Das Zeichen bleibt herausgegeben: Auszüge aus Erinnerungen, Interviews und Briefen der ehemaligen Ostarbeiter. Die Auflage betrug 1000 Exemplare – ein Sammlerstück. 1989 war nämlich einem Journalisten, als er über die Debatte in Deutschland um die Entschädigungszahlungen für ehemalige Ostarbeiter berichtete, eine ungenaue Formulierung unterlaufen. Und dadurch hatten die Überlebenden fälschlicherweise angenommen, Memorial sei jene Organisation, die für die Auszahlungen zuständig sein würde: Sie überhäuften das Moskauer Büro mit Berichten darüber, was sie erlebt hatten. 

    So begann die systematische Erforschung ihrer Geschichten, so gelang es auch, die lebendige Erinnerung an die Schicksale von Millionen Kriegsopfern zu bewahren, die keinen Platz im offiziellen Diskurs finden, an Menschen, derer am Tag des Sieges nicht gedacht wird und die man auch sonst zu vergessen versucht. Heute gibt es bekanntermaßen immer weniger Zeitzeugen, und es erscheinen immer weniger Bücher zu diesem Thema.

    Von 1942 und noch bis 1945 wurden massenhaft Menschen in Zügen nach Deutschland gebracht. Die meisten kamen in Zwangsarbeitslager, die an staatliche oder private Fabriken angegliedert waren. Das bedeutete zwölf Stunden Arbeit täglich, Hunger, brutale Strafen und die drohende Gefahr, beim nächsten Fehler vom Arbeitslager ins KZ zu kommen, sprich den sicheren Tod. Andere kamen als Halbsklaven auf Bauernhöfe oder als Bedienstete in die Häuser deutscher Bildungsbürger: Offiziere, Ingenieure oder gar Wissenschaftler.

    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0
    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0

    In den von Memorial veröffentlichten Erinnerungen gibt es auch seltene Beispiele eines menschlichen Umgangs zwischen den Ostarbeitern und ihren Herren, Geschichten von Freundschaft und sogar Liebe. Aber es überwiegen natürlich ganz andere Schicksale. 
    Die Begegnung mit Europa erschütterte unsere Landsleute: Sie sahen, dass das Leben auch anders sein konnte, dass die unmenschlichen Verhältnisse von Stalins Paradies alles andere als normal waren. Viele schickten ihren Verwandten Ansichtskarten von den Orten, in denen sie gelandet waren: hübsche einstöckige Reihenhäuser aus Backstein, ordentliche Kirchen. „Das hier, Schwesterchen, ist das Dorf, in dem ich jetzt wohne“, darin ist eine Verwunderung spürbar, aber auch ein naiver Stolz. Sie wunderten sich darüber, wie gut selbst die normalen Leute angezogen waren, wie viele verschiedene Lebensmittel es in den Geschäften gab.

    Am meisten wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten

    Ja, ihnen war erlaubt, Briefe in die Heimat zu schreiben und sogar Päckchen zu erhalten. Ein paar Wohltaten sah die deutsche Ordnung auch für die Sklaven vor. 

    Aber noch mehr wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten. Man suchte sie sich aus wie auf dem Sklavenmarkt und behandelte sie danach wie Nutzvieh. Das taten sogar die, die in ihren Bücherregalen russische Klassiker mit Goldeinband stehen hatten. Das nette, behagliche Europa konnte in den Russen, Ukrainern und Belarussen keine Brüder erkennen.

    Zerstörte Biographien, Jahrzehnte des Schweigens

    Sie fanden sich in dem neuen Alptraum zurecht, entwickelten Überlebensstrategien und überlebten. Dann kam die Befreiung. Filtrationslager, unendliche Loyalitäts- und Gesinnungs-Prüfungen, für viele folgten Deportation und Zwangsarbeit beim Wiederaufbau der Sowjetwirtschaft, für einige der Gulag. Feiste Prüfer von den Behörden, zerstörte Biografien, nicht zu tilgende Schuldgefühle, Jahrzehnte des Schweigens. Verbrannte Briefe und Ansichtskarten von hübschen deutschen Dörfchen.

    Die Heimat sah einen Feind in den eigenen Bürgern, die einige Jahre lang die Sklaven des Feindes gewesen waren.

    „Wissen Sie, es ist sehr schwer das aus seiner Psyche zu bekommen. Man hat mir eingebläut, ich wäre schuldig, und damit lebe ich bis heute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich unschuldig bin, nein. An irgendetwas bin ich schuld. Also lebe ich mit dieser Schuld“, erzählte eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die ein deutsches Lager überlebt hat, in einem Interview mit Memorial.

    In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer

    Es ist sinnlos und peinlich darüber nachzudenken, ob das Leid der Ostarbeiter vergleichbar ist mit dem Leid der Soldaten im Krieg, der Menschen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind oder sogar der Menschen, die im sowjetischen Hinterland gearbeitet und um ihr Überleben gekämpft haben. In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer.

    Doch sogar heute, Jahrzehnte später, sind nicht alle Opfer gleich. Die einen werden für ihre Heldentaten geehrt (wobei die Heldentaten nicht selten erfunden und mit geschmacklosem Kitsch aus Propagandafilmen garniert werden, als gäbe es nicht genug echte Heldentaten), über die anderen schweigt man lieber.

    Dabei sind die Geschichten der Ostarbeiter ein ausgesprochen wichtiges Material, um eine richtige Vorstellung von jenem Krieg zu entwickeln. Der Krieg ist die Hölle, eine Wirklichkeit gewordene Hölle auf Erden, wo der Mensch oft nicht mehr über sich selbst bestimmt, wo Tod und Unfreiheit regieren. Die Lebensläufe der nach Deutschland verschleppten Menschen nach dem Krieg sind eine gute Möglichkeit zu verstehen, sich zu erinnern, den jungen und alten Sowjetnostalgikern einzuhämmern, was die Sowjetunion für ihre Bürger wirklich war. Es ist wichtig, sich an Menschen zu erinnern, die es verdienen, die die Not und das Elend des Kriegs überlebt haben – wenn auch an andere, als die offiziellen Mythenschreiber sie besingen, und anders als die Mythenschreiber es gern hätten. Sich an alle zu erinnern, ausnahmslos. Und endlich aufzuhören „die größte geopolitische Katastrophe“ zu beweinen. 

    Wir haben die Freiheit verteidigt. Zu schade, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben

    Der Tag des Sieges gehört zu unseren positivsten Feiertagen, der Tag des Sieges ist wie Ostern. Nicht weil „wir“ es der Welt gezeigt hätten, weil „wir“ ganz Europa zerschmettert hätten – oder was steht da sonst noch auf dem Themenplan der Internet-Patrioten? Nein, weil wir damals gemeinsam mit dem Rest der Welt das größte Ungeheuer des 20. Jahrhunderts bezwungen haben, uns auf die Seite der Freiheit gestellt und diese Freiheit mit unvorstellbaren Opfern verteidigt haben. Zu schade nur, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben, wie sich dann bald herausstellte. 

    Ein ehrliches Gespräch über den Krieg schmälert den Sieg nicht. Eben das tut der verlogene Kitsch, der das Grauen in ein Postkartenmotiv verwandelt und das Andenken an die Opfer beleidigt. Deswegen brauchen wir die Erinnerung an die Millionen Menschen, die nach Deutschland verschleppt wurden, die Erinnerung daran, was ihnen erst die intelligenten Europäer und später die gutherzigen Sowjetbeamten angetan haben. Wir brauchen sie heute. 

    Sie ist (um das Thema wieder aufzugreifen) eine gute Impfung gegen die Krankheit, die wir heute kennen als ein „Wir können das wiederholen“. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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    Der Hitler-Stalin-Pakt

  • Der Hitler-Stalin-Pakt

    Der Hitler-Stalin-Pakt

    Am 23. August 1939 landete das Flugzeug des deutschen Außenministers in Moskau. Nur ungern hatte Joachim von Ribbentrop seine Sommerfrische bei Salzburg verlassen, um einen Vertrag zu unterzeichnen, an dem seiner Meinung nach sowieso nichts mehr zu rütteln war. Auch seinem Zustandekommen drohte nach dem Scheitern der britisch-französischen Gespräche in Moskau keine Gefahr mehr. Wozu also der Aufwand?
    Für Stalin freilich war noch nichts entschieden. Er verlangte Ribbentrop in Moskau, um, wie Hitler rasch zusicherte, „das von der Regierung der Sowjetunion gewünschte Zusatz-Protokoll […] in kürzester Zeit substantiell“ zu klären. Nach sieben Stunden harter Verhandlungen lag das geheime Zusatzprotokoll vor: Darin einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Nach weiteren vier Stunden unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit war der Weg zum Zweiten Weltkrieg in Europa frei.

    Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei
    Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei

    Wenige Tage später, am 1. September, marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein, und am 17. September folgte die Rote Armee aus Osten kommend. In den ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkriegs waren das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion Verbündete, die den europäischen Kontinent gewaltsam untereinander aufteilten. Als der Pakt knapp zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, brach, herrschte Hitler über ein um 800.000 Quadratkilometer erweitertes Territorium, während Stalin sein Imperium nach Westen und in den Südosten um 422.000 Quadratkilometer ausdehnen konnte. Historische Freunde, wie die nationalsozialistische Propaganda behauptete und auch Ribbentrop selbst, der sich in Moskau „wie unter Parteigenossen“ fühlte, waren sie allerdings nie. Der stets von Misstrauen und Skepsis begleitete Hitler-Stalin-Pakt folgte eindeutigen geopolitischen Interessen, die weniger für Hitler, aber stets für Stalin Vorrang hatten vor den Imperativen der Ideologie. Diese Expansionsinteressen wurden im berühmt-berüchtigten geheimen Zusatzprotokoll vereinbart. Bis zur Reformära Michail Gorbatschows in den 1980er Jahren stritt die damalige Sowjetunion die Existenz des Geheimprotokolls vehement ab.    

    Die Teilung Polens

    Die im Geheimprotokoll vereinbarte Teilung Polens war das erste Ziel, das Deutschland und die Sowjetunion erreichten. Zynisch hatte Molotow das Land als „Bastard des Versailler Vertrages“ verunglimpft, dem im Herbst 1939 weder Großbritannien noch Frankreich – ungeachtet bestehender Garantieerklärungen – zur Hilfe eilten. Nach der erfolgreichen Besatzung errichteten Hitler und Stalin grausame Gewalt- und Terrorregime. Die Deutschen verwandelten das sogenannte Generalgouvernement in ein „Auffangbecken“ für tausende deportierte Juden und Polen. Im Generalgouvernement nahm der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, seinen Anfang. Stalin wiederum setzte die Sowjetisierung der gewonnenen Gebiete brutal in die Tat um. Von nun an gehörten Westbelarus und die Westukraine zu seinem Imperium. 

    Beide Diktaturen verübten grausame Kriegs- und Massenverbrechen. Im Frühjahr organisierten die deutschen Besatzer die so genannte AB-Aktion, in deren Zuge tausende vermeintliche und tatsächliche Mitglieder des polnischen Widerstands verhaftet und hingerichtet wurden. Etwa zur selben Zeit erschossen Kommandos des sowjetischen NKWD weit über 20.000 polnische Offiziere in den berüchtigten Massenerschießungen von Katyn. 
    Dass die Vollstrecker des Terrors nicht nur neben-, sondern häufig auch miteinander planten und agierten, gehört zu den vergessenen Kapiteln in der Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts. Mehrfach trafen SS-Schergen und teils hochrangige NKWD-Offiziere zusammen und besuchten sich gegenseitig in den Besatzungsgebieten. Gemeinsam berieten sie etwa im Dezember 1939 über Aktionen gegen den polnischen Widerstand, koordinierten groß angelegte Umsiedlungsaktionen und setzten 1940 eine deutsch-sowjetische Flüchtlingskommission in Kraft, deren Aufgabe es unter anderem war, illegale Flüchtlingsströme zu unterbinden. 

    Auf dem Höhepunkt des Bündnisses 

    Die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gingen weit über Polen hinaus. Auf dem Höhepunkt im Frühjahr 1940 ermöglichte das Bündnis Hitlers „Blitzkriege“ in Westeuropa. Immense Wirtschaftslieferungen aus der Sowjetunion versorgten die deutsche Kriegsmaschinerie mit notwendigen Rohstoffen wie Erdöl und Eisen. Auf der Grundlage eines umfangreichen Wirtschaftsabkommens vom Februar sandte Deutschland im Gegenzug Fabrik- und Industrieanlangen nach Osten. Mit dem deutschen Einmarsch in Paris und der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 erreichte die nationalsozialistische Expansionspolitik in Westeuropa ihren Zenit. Ohne den Hitler-Stalin-Pakt wäre sie nicht möglich gewesen. 

    Die scheinbar mühelosen Siege der Deutschen markierten gleichzeitig die Kehrtwende im deutsch-sowjetischen Bündnis. Stalin hatte sie mit wachsender Skepsis und Sorge beobachtet. Um sich seinen Teil der „Beute“ zu sichern, besetzte er die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die seit 1939 mit lädierter Souveränität überlebt hatten. „Sie hatten keine Chance“, gab Molotow noch Jahrzehnte später zu: „Ein Land muss sich um die eigene Sicherheit kümmern. Als wir unsere Forderungen formulierten – man muss handeln, bevor es zu spät ist – schwankten sie noch. […] Aber schließlich mussten sie sich entschließen. Und wir brauchten die baltischen Staaten.“ 

    Dass die Sowjetunion danach Ansprüche auf Bessarabien und die Nordbukowina erhob, provozierte eine handfeste bündnispolitische Belastungsprobe. Denn auch Deutschland stand diesen, zu Rumänien gehörenden Gebieten, nicht gleichgültig gegenüber: Es benötigte im Zuge der nationalsozialistischen Wirtschaftspläne in Südosteuropa das Wohlwollen Rumäniens, um auf dessen Ölfelder und Landwirtschaftsressourcen zugreifen zu können. Stalin entschied die Bessarabienkrise für sich. Danach aber konnten keine Freundschaftsschwüre mehr die tiefen Risse im deutsch-sowjetischen Bündnis übertünchen. Schon im Frühherbst 1940 streckten beide die Fühler nach anderen Partnern aus. Stalin empfing in Moskau einen Sondergesandten Londons. Hitler schuf mit dem Dreimächtepakt, den das Deutsche Reich, Italien und Japan am 27. September in der Reichskanzlei unterzeichneten, die Achse Berlin-Rom-Tokio. 

    November 1940: Molotow in Berlin

    Der Besuch des sowjetischen Außenkommissars in der Reichshauptstadt im November 1940 gilt gemeinhin als letzter Versuch der Verständigung und Wiederbelebung des Hitler-Stalin-Pakts. Dabei hatte Hitler den Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion bereits getroffen. Die militärischen Vorbereitungen waren im Gange, die Führung der Wehrmacht war unterrichtet und schon im Sommer wurden Militäreinheiten aus dem Westen gen Osten und nach Finnland verlegt, wo sie für Moskau zu großer Besorgnis Anlass gaben. 
    Vor diesem Hintergrund versuchte Hitler seinen Bündnispartner, die Sowjetunion, nach Asien und in einen Konflikt mit Großbritannien zu treiben. Denn als Ausgleich für die Aufgabe territorialer Ambitionen in Finnland und in Südosteuropa bot Hitler der Sowjetunion Indien an; ein „primitives Spiel“, das Molotow leicht durchschaute. Dass Stalin insbesondere auf Finnland beharrte – sein Anspruch war im geheimen Zusatzprotokoll verankert und von den Deutschen anerkannt worden – bestätigte den ideologischen Antibolschewismus, den Hitler nie abgelegt, sondern nur hintangestellt hatte. Die Sowjetunion als gleichberechtigten Partner und nicht als minderwertigen Erfüllungsgehilfen zu betrachten, war in seiner ideologischen Überheblichkeit unvorstellbar. Am 18. Dezember 1940 diktierte Hitler in der Weisung Nr. 21 den Überfall auf die Sowjetunion. Der Weisung zufolge sollte die Wehrmacht bis 15. Mai 1941 alle Vorbereitungen für einen Einmarsch abgeschlossen haben. 

    Vom Bündnis zur Feindschaft 

    Die Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts endete am 22. Juni 1941. Noch Jahre später, mitten im Kalten Krieg, bedauerte Stalin den Bruch seiner Tochter Swetlana zufolge mit den Worten: „Zusammen mit den Deutschen wären wir unschlagbar gewesen“. Und er meinte wohl, unschlagbar, hätte Deutschland keinen Krieg gegen die Sowjetunion begonnen. Es war Hitlers fanatischer Wille, Stalin aus Europa zu vertreiben, einen ideologischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus zu führen. Diesen setzte er als grausamen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in die Tat um. Aus den Verbündeten wurden erbitterte Gegner, die sich auf altbewährte ideologische Feindschaften stützen konnten. Stalin hätte diesen Krieg gern vermieden. Gegen territoriale Eroberungen hatte er nichts. Hitler aber wollte den Krieg, der im Mai 1945 nach unvorstellbarem Leid und Millionen Toten mit der Niederlage des „Dritten Reiches“ endete.

    Der Hitler-Stalin Pakt und die Erinnerung

    Das deutsch-sowjetische Bündnis bestimmte die ersten 22 Monate des Zweiten Weltkriegs in Europa. Ungeachtet seiner immensen historischen Bedeutung erscheint es oft wie ein Präludium, wie ein hinführendes Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der, so der Tenor vieler Geschichtsdarstellungen, erst mit dem erbitterten Kampf zwischen Hitlers „Drittem Reich“ und Stalins Sowjetunion begann. In der teleologischen Sichtweise läuft der Weltkrieg auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Hitler und Stalin bestätigte die Grundspannung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war für Zeitgenossen wie für die Nachgeborenen das sichere Terrain der Weltkriegserinnerung, während die Geschichte ihres Pakts ein damals wie heute beeindruckendes Unbehagen auslöst.

    Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0
    Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0

    Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin-Pakt für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs hat, unterschätzt. Auf das „Dritte Reich“ bezogen fristet er ein Dasein als taktischer Schachzug, der Hitler den Feldzug gegen Polen gestattete, ohne an der Absicht, die Sowjetunion zu vernichten, auch nur einen Deut zu ändern. In der sowjetischen Lesart galt er als Versuch Stalins, den vermeintlich zwangsläufigen Überfall hinauszuzögern; eine Interpretation, die Stalin 1941 selbst erfolgreich in die Welt setzte. Die in den 1990er Jahren favorisierte Deutung lenkte den Blick auf die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte geopolitische Teilung Osteuropas. Für das nationale Selbstverständnis der sich aus dem sowjetischen Imperium lösenden osteuropäischen Staaten besaßen die damaligen Erinnerungsdebatten große Bedeutung. In dieser Zeit prägte der Pakt die Kontroversen um eine gemeinsame historische Erinnerung Europas. Die Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sind dabei gelegentlich als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden. Tatsächlich ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern. Sondern es ging darum, ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Dass die dort vehement erhobenen Ansprüche den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg. Und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran bislang viel ändern.


    Weitere Lektüre
    Von der Autorin ist aktuell zum Thema erschienen: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München 2019 

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    Der Große Vaterländische Krieg 1941 bis 1945

    „Weißt du, da war Krieg“

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    Stalins Tod

    Wann endet der Sieges-Wahn?

  • Heldenstädte

    Heldenstädte

    Am Rand der Einfallstraße vom Flughafen in Sankt Petersburg sticht der irritierende Titel sofort ins Auge: gorod-geroi (dt. Heldenstadt) steht auf einer pseudoklassizistischen Säule, neben dem Goldenen Stern der Helden der Sowjetunion und dem Leninorden. Am Platz des Aufstands, gleich neben dem Moskauer Bahnhof, erscheint der Goldene Stern auf einem Obelisk erneut, vor einer den Helden gewidmeten Leuchtreklame.
    Erst ein Blick auf das Denkmalensemble am Siegesplatz und den Obelisken macht klar: Die Helden sind die Stadtverteidiger im Zweiten Weltkrieg, hierzulande Großer Vaterländischer Krieg genannt.
    Im Kampf um Aufmerksamkeit schmücken sich Städte gern mit Attributen. So wimmelt es in Europa von Zukunftsstädten, „Little Big Cities“, Weltstädten und Schmelztiegeln. Doch Städte, die offiziell zu Helden ernannt werden? Das gibt es nur auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion. 

    Eine der Heldenstadt gewidmete Leuchtreklame ist am Platz des Aufstands in Sankt Petersburg hinter dem Goldenen Stern der Helden der Sowjetunion installiert / Foto © Fjodor Gusljarow/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Eine der Heldenstadt gewidmete Leuchtreklame ist am Platz des Aufstands in Sankt Petersburg hinter dem Goldenen Stern der Helden der Sowjetunion installiert / Foto © Fjodor Gusljarow/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Die Verteidiger Leningrads, wie Sankt Petersburg damals hieß, hielten die Stadt unter unvorstellbaren Opfern gegen die deutschen Belagerer und wurden zu Symbolen des sowjetischen Widerstandswillens. Bereits am 1. Mai 1945 ließ der Diktator Josef Stalin deshalb Salutschüsse zu Ehren der Heldenstädte abgeben – als vorgezogene Siegesfeier und Anerkennung für die Kämpfer in Leningrad, Stalingrad, Odessa und Sewastopol.

    Hierarchie des sowjetischen Heroismus

    Diese Tradition hat sich bis heute in diesen Städten gehalten, und zwischen den 1960er und 1980er Jahren traten Moskau, Kiew, die Festung Brest, Noworossisk, Kertsch, Minsk, Tula, Smolensk und Murmansk in die Reihen der Heldenstädte ein. In der fein abgestuften Hierarchie des sowjetischen Heroismus repräsentierten diese geschichtsträchtigen Orte das „Heiligste des Heiligen“. Sie standen im Zentrum des Kriegskults, der während Leonid Breshnews Amtszeit (1964–1982) den offiziellen gesellschaftlichen Wertekanon prägte.

    Die staatlich betriebene Propagierung einer idealisierten Kriegserinnerung diente dabei dazu, dem Kommunismus neue Mobilisierungskraft zu verleihen. Dies geschah nicht zufällig erst zwei Jahrzehnte nach dem Ende des schrecklichen Blutvergießens: Auf die stalinistisch sozialisierte Kriegsgeneration folgte eine jüngere nach, aufgewachsen im Frieden, unter einem autoritären, aber nicht länger mörderischen Regime. Die Verehrung der Veteranen schuf ein generationsübergreifendes Band, das erstaunlich langlebig und erfolgreich wirkte – teilweise bis heute. 

    Breshnew, dessen eigene, traumatische Kriegserfahrung sein Weltbild stark beeinflusst hatte, wandte sich am 8. Mai 1965 an die Sowjetbürger in einer Rede,1 welche die Gedenkkultur und die Ehrengalerie der Helden über Jahrzehnte prägte. Die Heldenstädte, zuvor eine eher informelle Kategorie, wurden zu einer offiziellen, staatlich sanktionierten Gruppe, ausgewählt durch ein Antragsverfahren an das Politbüro. Vor allem aber schaffte es Breshnew, die bitteren Diskussionen über den Stalinismus und den Preis des Sieges zu übertünchen – durch die kollektive Erhebung der gesamten Kriegsgeneration in den Heldenstatus. 

    Erinnerungspflicht und „sowjetische“ Werte

    Der Krieg sei „ein Meer des menschlichen Leidens und der Trauer“ gewesen, der seine tragischen Spuren in jeder Familie hinterlassen habe, erklärte der Generalsekretär. Nichts und niemand dürfe vergessen werden, „kein einziger Blutstropfen, den die Sowjetmenschen für unser Land, seine Freiheit und sein Glück vergossen haben“. Das friedliche Leben der Nachkriegsgeneration sei nur durch den Opfergang des ganzen Volks möglich gewesen. Deshalb habe diese Generation nun die Pflicht, sich dem Andenken an ihre Ahnen würdig zu erweisen.    

    Das Regime verankerte diese Erinnerungspflicht und die damit verbundenen „sowjetischen“ Werte im Alltag der Menschen: Die Mitglieder der Jugendorganisation Komsomol leisteten ihre Eide an Kriegsdenkmälern und nahmen an einer stetig wachsenden Zahl von militärischen Übungen teil. Fabrikarbeiter schlossen symbolisch Gefallene in ihre Brigaden ein und erfüllten deren Produktionsnormen. Diese „moralischen Anreize“ waren auch ein Gegenentwurf zu den marktwirtschaftlichen Reformen, mit denen die UdSSR in den 1960er Jahren angesichts nachlassender Produktivität experimentiert hatte. Zumindest zu Beginn schufen sie neue Dynamik.

    Doch die Erinnerung – unter Stalin im öffentlichen Raum noch marginalisiert – fand auch im Privaten statt: Gerade den 9. Mai, den Tag des Sieges, nutzte die Kriegsgeneration für informelle Treffen mit Kameraden, um gemeinsam zu essen, zu trinken und zu gedenken. Auch Hochzeitsgesellschaften lassen sich bis heute vor Denkmälern fotografieren – nicht, weil sie müssen, sondern weil sich das so gehört. Die Stärke des Kriegsgedenkens besteht gerade darin, dass es Impulse von oben und von unten in einer moralisch verbindlichen Weise vereinigt.

    Dies gilt besonders in den Heldenstädten, die nicht nur die schlimmsten Schlachten durchlitten haben, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine privilegierte Stellung einnahmen. In der Sowjetunion verkörperten die auf Russland, die Ukraine und Belarus verteilten Orte das Heldentum des Sowjetvolks, jener „Völkerfamilie unseres Landes, durch unzerstörbare Brüderlichkeit vereint“, wie Breshnew 1965 betont hatte. Die Heldenstädte bildeten die Zentren einer Gedenklandschaft, die bis 1991 70.000 Kriegsmonumente umfasste. Die allegorische Formensprache war oft ähnlich – heldenhafte Soldaten, trauernde Mütter, Obelisken und das Ewige Feuer für die Gefallenen. 

    Kriegsgeheimnisse

    Doch unter dieser polierten Oberfläche verbargen sich Geheimnisse – im wahrsten wie im übertragenen Sinne des Wortes: Die Denkmäler bedeckten Schlachtfelder mitten in den Städten, wobei bis heute sterbliche Überreste und Blindgänger zum Vorschein kommen, wenn man am richtigen Ort zu graben beginnt. Für die Nachkriegsgeneration übte dies eine Faszination aus, der sie sich nicht entziehen konnten – umso mehr, da sie in der Schule und in Büchern lediglich unglaubwürdige Heldenepen zu hören bekamen. Auch die Eltern redeten wenig; die Nachkriegsgeneration bastelte sich ihr Kriegsbild aus Propaganda, überhörten Gesprächsfetzen und Zufallsfunden. 

    Unter dem Slogan der Heldenstädte, diesen „uneinnehmbaren Festungen“, „Städten der Krieger“ oder „Schilde der Sowjetunion“, verbargen sich Spannungen und Brüche. So waren etwa Minsk und Kiew während des Krieges mehrere Jahre lang besetzt, doch Kollaboration passte nicht ins Heldenbild. In Tula, kurz vor Moskau gelegen, hatten im Herbst 1941 Chaos und Plünderer geherrscht, bevor die Stadt wie durch ein Wunder verteidigt wurde. 1942 schließlich hatte die Sowjetführung tödliche Repressalien über „Angstmacher und Feiglinge“ verhängt, die vor den Deutschen zurückwichen, gerade in strategisch zentralen Städten wie Stalingrad und Noworossisk. All dies blieb bis zur Perestroika ein Tabu. 

    Symbolischer Status und Privilegien

    Doch die Anreize, an der idealisierten Vergangenheit festzuhalten, waren groß. Die Erinnerung an die mörderischen Säuberungsaktionen gegen angebliche Verräter und Kollaborateure nach dem Krieg war noch frisch, doch in das Heldenkollektiv waren alle eingebunden. Dazu kamen in den Heldenstädten starke wirtschaftliche Interessen: Die Erhöhung des symbolischen Status versprach Privilegien, die in einer Defizitwirtschaft wie der Sowjetunion von großer Bedeutung waren. 

    Helden der Sowjetunion kamen in den Genuss von kostenlosen Leistungen beim öffentlichen Verkehr, Wohnen und in der Gesundheitsversorgung. Diese Logik wurde bis zu einem gewissen Grad auf das urbane Kollektiv übertragen, weshalb die lokale politische Elite stark für die Ernennung lobbyierte – gerade in Provinzstädten wie Tula oder Noworossisk. Die Schwarzmeerstadt, wirtschaftlich privilegiert durch ihren Hafen, konnte dabei auf Unterstützung von ganz oben zählen: Breshnew hatte dort während des Krieges gedient, und die lokalen Politiker nutzten diese Verbindung geschickt aus, um der Stadt mehrere tausend Wohnungen außerhalb des Plans, ein Aquädukt und Spitäler zu sichern.

    In Noworossisk ist Breshnew deshalb bis heute enorm beliebt, und auch der Generalsekretär stand der Stadt emotional nahe. Seine Kriegszeit dort bezeichnete er privat als „mein wahres Inferno“.2 Er wurde schwer am Kiefer verletzt, eine Wunde, die ihn gegen Ende seines Lebens beim Sprechen immer stärker behindern sollte und zu jenem monotonen Vortragsstil beitrug, der sein Image als grauer Apparatschik prägte. 

    Noworossisk wurde aber auch zum Inbegriff der Exzesse des Kriegskults, über die man sich außerhalb der Stadt lustig zu machen begann. Witze zirkulierten über Breshnews Memoiren, die seine Aktivitäten auf dem umkämpften Brückenkopf Malaja Zemlja bei Noworossisk bizarr überzeichneten. Breshnews Gier nach Heldensternen und Orden ließ deren Verleihung politisiert und käuflich erscheinen, was ihren Status in den Augen vieler Sowjetbürger verringerte. Der Schriftsteller Sergej Dowlatow schrieb in einem seiner Bücher eine Anekdote auf: „Für die Erfolge bei der vielfachen Auszeichnung des Genossen Breshnew mit dem Leninorden soll der Leninorden selbst mit einem Leninorden ausgezeichnet werden.“3

    Krieg als neue Staatsideologie

    Der Kriegskult wurde gegen Ende von Breshnews Herrschaft ebenso zum Symbol der Stagnation wie der Generalsekretär selbst. Die historischen Kontroversen der Glasnost-Ära und schließlich das Ende der Sowjetunion führten zum Kollaps der Heldenmythen. Im Gegensatz zum Kommunismus erlebte der Kriegskult im modernen Russland aber eine Renaissance. Wladimir Putins Aufstieg war stark vom Bestreben begleitet, eine neue Staatsideologie zu schaffen. Bereits seit der großen Militärparade 2005 gehört die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg zu deren Kernelementen. Putins Reden lesen sich bisweilen wie Blaupausen von Breshnews Ansprachen – wobei Russland darin die Sowjetunion ersetzt hat. 

    Putin bedient sich zahlreicher sowjetischer Versatzstücke: So wurde unter ihm die „patriotische Erziehung“ wiedereingeführt, zu der auch die Förderung des Militärdienstes gehört. Die Ewigen Flammen der Kriegsdenkmäler, denen meist aus Spargründen in den 1990er Jahren das Gas abgedreht wurde, brennen wieder. Jugendliche und Offiziersschüler dienen in den Ehrengarden, die die Monumente bewachen.

    „Städte des Militärruhms“

    Auch die Heldenstädte erlebten eine Wiedergeburt. Kurz vor dem Tag des Sieges 2006 unterzeichnete Putin einen Erlass zur Ehrung der „Städte des Militärruhms“. Symbole und Rhetorik sind stark an die Heldenstädte angelehnt, doch die neue Gruppe genießt weder den symbolischen noch den wirtschaftlichen Status ihrer Vorgänger. Dazu trägt bei, dass bis heute 45 Städte in diese Kategorie aufgenommen wurden, deutlich mehr als die 13 Heldenstädte. Darunter befinden sich klingende Namen wie Kursk oder Woronesh, aber auch politische Ernennungen wie die tschetschenische Hauptstadt Grosny, die im Zweiten Weltkrieg eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. 

    Die Ambition, eine Erinnerungslandschaft zu schaffen, ist aber auch bei den „Städten des Militärruhms“ offensichtlich. Die Nation wirkt durch diese historische Topografie organischer, ihre Grenzen unumstößlicher. Dass sie auf sowjetischen Vorbildern basiert, befeuert aber auch jenen imperialen Phantomschmerz, der sich im heutigen Russland immer wieder Bahn bricht. So erwähnte Putin die zwei Heldenstädte Sewastopol und Kertsch, die auf der Krim liegen, als eine Rechtfertigung für die Annexion der Halbinsel. „Jeder dieser Orte ist heilig für uns“, erklärte er in seiner feierlichen Rede am 18. März 2014, „es sind Symbole russischen militärischen Ruhmes und unvergleichlichen Heldenmutes“. 

    Putin hat aus der Geschichte gelernt, wie wichtig die Kriegserinnerung als Element der gesellschaftlichen Integration ist – gerade in Zeiten der Unsicherheit. Ob sie als Grundlage für die nationale Identität auch als Zukunftsvision taugt, darf hingegen bezweifelt werden.


    Zum Weiterlesen:
    Belge, Boris/Deuerlein, Martin (Hrsg., 2014): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen
    Davis, Vicky (2017): Myth Making in the Soviet Union and Modern Russia: Remembering World War II in Brezhnev’s Hero City, London
    Hellbeck, Jochen (2012): Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, unter Mitarbeit von Christiane Körner und Annelore Nitschke, Frankfurt am Main
    Tumarkin, Nina (1994): The Living and the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York

    1. Brežnev, Leonid (1970): Velikaja pobeda sovetskogo naroda, in: Brežnev, Leonid: Leninskim kursom: Reči i stat´ji, V 2-h t. T. 1, Moskau ↩︎
    2. Novodar.ru: Viktor Golikov: «Ja verju i nadejus …»: Poslednee interv´ju ↩︎
    3. Dovlatov, Sergej (1973): Uroki čtenija, in: Echo, Paris, Nr. 3, vgl. Sergeidovlatov.com: Uroki čtenija ↩︎

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  • Wann endet der Sieges-Wahn?

    Wann endet der Sieges-Wahn?

    Der 9. Mai, der Tag des Sieges über NS-Deutschland, ist der wichtigste Nationalfeiertag in Russland. Obwohl in der Roten Armee etwa auch ukrainische, belarussische oder kasachische Soldaten kämpften, wird der Tag des Sieges heute vor allem als Schlüsselereignis der russischen Geschichte thematisiert. Schon zu Sowjetzeiten diente der 9. Mai zur Selbstdarstellung auf internationaler Bühne – heute finden in jeder größeren russischen Stadt Militärparaden statt, die größte auf dem Roten Platz in Moskau. Im vergangenen Jahr waren der serbische Präsident Vucic und Israels Premier Netanjahu zu Gast. 

    Für den einzelnen Bürger allerdings bedeutet der 9. Mai nicht nur Paraden, sondern auch Gedenken an die eigenen Vorfahren, der Tag des Sieges ist auch ein Familienfest. 

    Auf Republic beschreibt Andrej Sinizyn, wie der offizielle 9. Mai mehr und mehr zum Propagandainstrument wird – und konstatiert, dass politisches und individuelles Gedenken immer weiter auseinanderdriften.

    Im Jahr 2000 oder 2001 gab es in Petersburg den schönsten Tag des Sieges, an den ich mich erinnern kann. Damals gab es, soweit ich weiß, noch nicht wieder die Morgenparade (oder zumindest ohne Waffenschau?), und am Abend fand ein Umzug der Veteranen über den Newski-Prospekt statt. Es waren auch noch deutlich mehr Veteranen als heute, und in ihrer Kolonne waren ganz unterschiedliche Militärorchester unterwegs (größtenteils russische, aber es gab auch Schotten mit Dudelsack). Man konnte sich einfach so der Kolonne anschließen und mit den Veteranen und den Orchestern zum Dworzowaja Ploschtschad vor der Eremitage ziehen.

    Auf dem Platz fand, so seltsam das heute klingen mag, keine offizielle Feier statt mit Tribünen, Festansprachen von Beamten oder Auftritten heimischer Popstars. Die Orchester verteilten sich auf dem Platz und spielten Märsche, Walzer aus der Sowjetzeit oder Wünsche aus dem Publikum. Und die Zuhörer, ob Veteranen oder nicht, tanzten um sie herum. Es gab auch kleinere Grüppchen mit Akkordeons in der Mitte, die die Veteranen selbst mitgebracht hatten. Und so ging es bis tief in die Nacht, weil niemand heimgehen wollte. Später habe ich mehrmals versucht, dieses Gefühl wiederzufinden – es ist mir nicht gelungen. Auf dem Dworzowaja Ploschtschad gab es nur noch kontrolliert-ausgewählte Konzerte und beim Umzug immer weniger Veteranen, dafür aber immer mehr seltsame Kolonnen irgendwelcher politischer Kräfte oder der Petersburger Bezirke. Und ab Mitte der 2000er nahm auch die bürokratisch-patriotische Begeisterung rapide zu. 

    Der Wahn um den Sieg

    Über den Sieges-Wahn ist schon viel gesprochen und geschrieben worden, verschwunden ist er trotzdem nicht. Beispielsweise hat dieses Jahr in Sewastopol eine Abteilung des Unsterblichen Regiments einer anderen 500 Veteranenportraits gestohlen. Was will man machen, die Region ist neu in der Russischen Föderation, es gibt genug patriotischen Enthusiasmus und entsprechendes Chaos, die Bürokratie hat sich noch nicht etabliert. 

    Aber es kann sich ja alles ändern. Drei, vier Jahre und der Krim-Rausch hat sich nahezu verflüchtigt. Natürlich heißen die Bürger die Angliederung nach wie vor gut, wollen diese aber nicht mehr mit schlechten Lebensbedingungen bezahlen und sehen immer weniger Grund, sie zu feiern.

    Oder nehmen wir den 1. Mai, diesen seltsamen Feiertag. Er hatte schon während der offiziellen Paraden zu Sowjetzeiten seinen Sinn eingebüßt. Je länger das offizielle Programm der  Feierlichkeiten wurde, desto leichter fiel es den Menschen, auf ihre Datscha zu fliehen oder einfach ein Picknick zu machen. Später privatisierten die Bürger den Feiertag vollends für ihre Frühlingsarbeiten auf der Datscha und die Politiker der 1990er verlängerten die Feiertage sogar, um die eigenen Beliebtheitswerte zu steigern.

    Den Arbeitnehmern lag nicht viel daran, für ihre Rechte zu kämpfen, aber ein zusätzlicher freier Tag ist immer gut. 

    Die Bedeutung des Maifeiertags ändert sich

    Heute ändert sich die Bedeutung des Feiertags wieder: Zum einen wurden die Arbeitnehmer vom Staat in letzter Zeit ziemlich gegängelt, zum anderen ist angesichts der eingeschränkten Versammlungsfreiheit der offizielle Tag des Frühlings und der Arbeit zu einer Möglichkeit des Protests geworden. Nach Angaben von OWD-Info wächst die Zahl der Verhaftungen jährlich: 2016 wurden in Moskau und Petersburg 27 Menschen festgenommen, 2017 waren es 37, 2018 bereits 53, 2019 dann 65 allein in Petersburg und 131 im ganzen Land. 

    Die diesjährigen Exzesse zeugen natürlich auch von der zunehmenden Gewalt der Polizei und der Nationalgarde. Es ist offenkundig, dass diese Organe die kleinste Regung von nicht-kontrollierten Aktionen verhindern sollen (vgl. die brutale Auflösung des Rap-Festivals im Olympiastadion Lushniki am selben Tag). Die Regierung jagt Demonstranten der neuen Art, um sie zusammenzuschlagen. Fragt sich, ob sie sie aufhalten wird. Vielleicht entwickeln sich die Feierlichkeiten am 1. Mai zu tatsächlichem Protest.

    Wird sich womöglich auch der 9. Mai verändern? Der Tag des Sieges war ja nicht immer ein offizieller staatlicher Feiertag, das private Begehen („Feier“ ist hier das falsche Wort) hatte für die Menschen der Nachkriegszeit, aber auch noch in den 1970ern, einen deutlich höheren Stellenwert.

    Fanfaren-Müdigkeit

    Neueste Umfragewerte des Lewada-Zentrums lassen den Schluss zu, dass es eine Entwicklungstendenz zu Individualisierung und zu menschlichem Mitgefühl gibt. Auf die Frage, wie man den Feiertag am besten verbringen sollte, antworteten 52 Prozent: „Indem man sich um die Kriegsveteranen kümmert“ (2015 waren es 49 Prozent , 2018  42 Prozent); 23 Prozent sagten: „mit Paraden, Umzügen, Feuerwerk und offiziellen Veranstaltungen“ (2015 waren es 29 Prozent, 2018 35 Prozent). 2015 war die Freude über den Sieg noch wesentlich größer und die Trauer um die Millionen Gefallener wesentlich kleiner als 2019. Vielleicht beobachten wir eine gewisse Fanfaren-Müdigkeit der Bürger in Anbetracht ständig sinkender Löhne

    Selbstverständlich hängt vieles davon ab, wie aufmerksam der Staat ist. Sobald das nachlässt, werden Veranstaltungen ungezwungener und volksnäher. Aber der Staat hat nicht vor, auf die strenge Kontrolle über den Tag des Sieges zu verzichten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es ist der einzige Feiertag, der alle Menschen eint, eine unhinterfragte historische Errungenschaft, die man sich unter den Nagel reißen muss, um die eigene Legitimität zu festigen und eine Quasiideologie darauf aufzubauen. 

    Doch Kontrolle schafft auch einen bürokratischen Überbau. Diese Bürokratisierung des Feiertages verdrängt allmählich seinen wahren Inhalt und die Möglichkeit, irgendetwas zu empfinden. Denn überbordende Euphorie ist als Dauerzustand nicht möglich.

    Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden

    Bemerkenswert ist auch, dass die Regierung seit 2014 mit allen Mitteln versucht, im Massenbewusstsein den Großen Vaterländischen Krieg mit dem Krieg in der Ukraine und in Syrien gleichzusetzen. Der Militarismus, der Waffenkult und das Versprechen, es zu „wiederholen“ (und ins Paradies zu kommen) zielen darauf ab, diese Kriege in Synonyme zu verwandeln. Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden. Gerade droht diese Strategie aber nach hinten loszugehen: Wenn die Menschen des heutigen Krieges müde werden, interessiert sie der historische Sieg nicht mehr besonders.

    Das Neueste im Rahmen der Krim-Propaganda – zumindest für die Massen, im Kleinen hatten Beamte schon früher Anstrengungen in dieser Richtung unternommen – ist die „Verteidigung unserer Geschichte“ vor den heimtückischen Plänen des Westens sie „umzuschreiben“.  

    Wir wissen allerdings, dass sich das Verhältnis zum Westen auch grundlegend ändern kann – alles hängt von der Politik des Kreml ab. Die „heimtückischen Pläne des Westens“ könnten verschwinden, wenn sich die russische Politik ändert oder die Personen, die sie definieren, ersetzt werden. Verschwinden könnten auch der Militarismus und die überschwängliche Feier des Sieges mit vollkommener Ignoranz für die Tragödie.

    Natürlich gibt es wenig Hoffnung, dass sich die russische Politik ändert. Deswegen wird sich der Tag des Sieges bei den heutigen Tendenzen wohl allmählich aufspalten: in einen immer wahnsinnigeren offiziellen und einen immer persönlicheren – oder protestlerischen? – im Untergrund. Dem Urgroßvater mit einem Gläschen auf der Datscha im Kreis der Familie zu gedenken wird zum Mainstream. Doch die offiziellen Veranstaltungen sucht man nur noch auf, wenn es unbedingt sein muss.

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  • Blokadniki

    Blokadniki

    Blokadniki ist eine Bezeichnung für die Opfer und die Überlebenden der Leningrader Blockade. Während der Belagerung der Stadt vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 durch die deutsche Wehrmacht kamen über eine Million Leningrader ums Leben. Die meisten Menschen verhungerten oder erfroren, viele starben im Bomben- und Artilleriebeschuss. Das persönliche Schicksal der Blokadniki wurde lange vernachlässigt: Unmittelbar nach dem Krieg durfte über die Blockade offiziell nicht gesprochen werden, ab den 1960er Jahren wurde sie in der offiziellen Geschichtspolitik zum Symbol nationalen Heldentums und ziviler Standhaftigkeit erklärt. Heutige Blokadniki-Verbände halten größtenteils an diesem Status fest.

    Die Blockade Leningrads ist eines der größten Kriegsverbrechen des 2. Weltkriegs und wird als „größte demographische Katastrophe“ definiert, „die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste“.1 Die Deutschen nahmen diese Katastrophe nicht nur in Kauf, sondern zielten auf eine systematische Aushungerung und totale Vernichtung Leningrads ab. Die sowjetische Regierung war weder auf den Angriff der Deutschen noch auf die Belagerung vorbereitet, was die katastrophale Versorgungslage in der Stadt verstärkte.2

    Überleben in der belagerten Stadt

    Die rund drei Millionen Einwohner der Stadt waren nach Schließung des Belagerungsrings von sämtlichen Versorgungs- und Fluchtwegen abgeschnitten. In den Monaten der größten Lebensmittelknappheit bereiteten die Menschen Mahlzeiten aus Tapetenkleister, Schmierfett oder ausgekochten Lederwaren zu, in ihrer Not aßen sie auch Katzen oder Ratten, es kam zu Fällen von Kannibalismus. In dieser Extremsituation gingen die stalinistischen Repressionen weiter.

    Über diese katastrophale Lage und das Leiden der Bevölkerung in der belagerten Stadt existiert eine Fülle an Literatur in Form von Zeugenberichten, Tagebüchern, Erinnerungen, Gedichten oder Prosatexten.3 Zu zentralen Gedächtnismotiven der Erfahrungsgeneration der Blokadniki wurden das 125-Gramm Stück Brot Tagesration (als Symbol für das Hungern), der kleine Hausofen (als Symbol für Kälte und Dunkelheit), die Kinderschlitten (als Symbol für mühsame Transporte und den Tod von Familienangehörigen), vereiste Menschenbündel auf der Straße (als Bild des Massensterbens) und das überall in der Stadt hörbare Tacken des Metronoms (als Symbol für die permanente Gefahr durch Luftangriffe), welches über die in der ganzen Stadt installierten Radiolautsprecher längere Programmpausen anzeigte. Vielen Hörern war es das einzige Lebenszeichen in der stagnierten Situation.4

    Historische Aufarbeitung

    Allerdings dominierten in der öffentlichen Thematisierung der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre Muster der offiziellen Kriegspropaganda mit Betonung auf Aspekte des Sieges und des Heroismus. Darstellungen des Leidens wurden entweder ausgeklammert oder beschränkten sich auf die Beschreibungen physischer Versehrtheit. Die psychischen Traumatisierungen der Blokadniki wurden nur in privaten Dokumenten und da häufig unter Selbstzensur ausformuliert und spielten im offiziellen Diskurs keine Rolle. Meilensteine in der alternativen literarischen Bearbeitung des Themas sind das Blockadebuch, eine von Ales Adamowitsch und Daniil Granin Ende der 1970er Jahre herausgegebene und collagierte Sammlung von Zeitzeugengesprächen jenseits des Heldenkultur und die dokumentarisch-fiktionalen Schriften Lidija Ginzburgs, die das moralische Dilemma des „Blockademenschen“ und beklemmend-analytische Beschreibungen der Extremerfahrung des Hungers thematisieren.5

    Mit Öffnung der Archive in den 1990ern sind viele weitere persönliche und militärische Zeugnisse aufgetaucht, die den Blick auf die Blockade verschieben und in jüngster Zeit verstärkt von russischen Soziologien, Anthropologen, Psychoanalytikern und Kulturwissenschaftlern aufgearbeitet werden.

    Die Begriffe „Blokadniki“ sowie „Blokadnik“ (mask.) „Blokadniza“ (femin.) selbst waren in ihrer offiziellen Verwendung lange Zeit den Kriegsveteranen vorenthalten, nur jenen Personen also, die an der Leningrader Front gekämpft hatten. Die zunächst umgangssprachliche Verwendung der Begriffe wurde im Laufe der Jahre zur festen und auch rechtlich verankerten Bezeichnung für alle Personen, die während der Blockade in der Stadt waren.6 Seitdem auch die Blokadniki offiziell zu den Kriegsveteranen gezählt werden, haben sie Anspruch auf Zahlung sozialer Leistungen für Kriegsteilnehmer. Die Überlebenden der Blockade kämpfen allerdings bis heute um gesellschaftliche Anerkennung ihrer Traumata.

    Bis heute sind die Blokadniki-Verbände wichtige Erinnerungsakteure im öffentlichen Blockade-Erinnerungsdiskurs. Für die Erfahrungsgeneration der Blokadniki stellen sie eine zentrale Institution der Selbstverständigung und des Austauschs über verbindende Gedächtnismotive und über kulturelle Mythen der Standhaftigkeit, der heroischen Leidensfähigkeit und des kollektiven Märtyrertums dar.

    In den öffentlichen Erinnerungsdiskursen der meisten Verbände dominieren Aktionen zur Bewahrung dieses stark sakralisierten Helden- und Opferstatus der Blokadniki. Die Konkurrenz der Opfergruppen hat in den letzten Jahren zu einem regelrechten moralisch-pathetischen Kampf um die Deutungshoheit des Geschichtsbilds geführt. Viele Mitglieder von Veteranenvereinen sehen sich dem Angriff auf ihren Opfer- und Siegerstatus ausgesetzt und befürchten den Verlust des moralisch-ideologischen Alleinstellungsmerkmals der „Heldenstadt“ Leningrad.

    Emotional aufgeladene Debatten

    Wie stark dieser Mythos den öffentlichen Erinnerungsdiskurs bis heute dominiert, zeigten nicht nur die Neuauflagen alter Stereotype bei den aufwändigen Siegesfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes und des Endes der Belagerung, sondern auch die enorm emotional aufgeladenen öffentlichen Debatten, wenn es um die Verteidigung von Tabus im Umgang mit der Erinnerung an die Blockadezeit geht. So löste etwa der unabhängige TV-Sender Doschd (dt. Regen) im Januar 2014 mit einer Online-Umfrage eine öffentliche Welle der Empörung aus. Anlässlich des 70. Jahrestages des Endes der Blockade fragte er, ob man Leningrad 1941/42 nicht besser hätte aufgeben sollen, um möglicherweise Hunderttausende Leben zu retten. Blokadniki-Verbände erhoben den Vorwurf der Verunglimpfung der Opfer und der Geschichte und es folgten gezielte restriktive Maßnahmen gegen den Sender. Einen solchen empörten kollektiven Aufschrei hatte bereits 1989 der Schriftsteller Viktor Astafew ausgelöst, als er in einem Interview mit der Prawda (russische Tageszeitung) eine ähnliche Frage gestellt hatte.


     

     

     

     

    1. Barber, John (2005): Introduction: Leningrad’s Place in the History of Famine, in: ders. / Dzeniskevich, Andrej (Hrsg.):Life and Death in Besieged Leningrad, 1941– 944, London, S. 1 ↩︎
    2. Ganzenmüller, Jörg (2011): Das belagerte Leningrad 1941–1944: die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn; Reidm Anna (2011): Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941–1944, Berlin ↩︎
    3. Tippner, Anja (2011): Die Blockade durchbrechen: Hunger, Trauma und Gedächtnis bei L. Ginzburg, in: Osteuropa 61 (8-9): Die Leningrader Blockade: der Krieg, die Stadt und der Tod, Berlin, S. 281-298; Neue Zürcher Zeitung: Im Strudel der erstarrten Zeit ↩︎
    4. Voronina, Tat’jana (2012): Die Schlacht um Leningrad: Die Verbände der Blockade-Überlebenden und ihre Erinnerungspolitik von den 1960er Jahren bis heute, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60, S. 1-19; Kirschenbaum, Lisa (2008): The legacy of the Siege of Leningrad 1941–1995: myth, memories, and monuments, Berlin/New York ↩︎
    5. Adamowitsch, Ales / Granin, Daniil (1984/1987): Das Blockadebuch: Erster und zweiter Teil, Berlin; Ginzburg, Lidija (2014): Aufzeichnungen eines Blockademenschen, Berlin ↩︎
    6. Zemskov-Züge, Andrea (2011): Helden um jeden Preis: Leningrader Kriegsgeschichte(n),in: Osteuropa 61 (8-9): Die Leningrader Blockade: Der Krieg, die Stadt und der Tod, S. 135-154; Voronina, Tat’jana: Die Schlacht um Leningrad: Die Verbände der Blockade-Überlebenden und ihre Erinnerungspolitik von den 1960er Jahren bis heute, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60, S. 1-19 ↩︎

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  • Frauen im Großen Vaterländischen Krieg

    Frauen im Großen Vaterländischen Krieg

    Das bis heute populärste sowjetische Kriegsplakat zeigt die entschlossen blickende Mutter Heimat im roten Gewand, die nach dem deutschen Überfall die Söhne des Landes an die Front ruft. In der rechten Hand hält sie den Text des Kriegseides, die linke Hand ist auffordernd erhoben. Hinter ihrem Rücken sieht man einen Wald aus Gewehren mit Bajonetten. Die Verteidigung der Heimat ist damit als Männersache definiert. Entsprechend häufig stellt die Bildpropaganda der Kriegsjahre Frauen (und Kinder) als verletzliche Opfer der deutschen Aggression dar und fordert Frauen auf, die eingezogenen Männer als Arbeitskräfte in Industrie und Landwirtschaft zu ersetzen. Gelegentlich würdigt die politische Ikonographie auch Frauen der Roten Armee bzw. Partisaninnen.1 In der am heroischen Großen orientierten Erinnerungskultur des Krieges finden Frauen aber nur geringen Raum.

    „Mutter Heimat ruft!“ Bild – gemeinfrei/Wikipedia
    „Mutter Heimat ruft!“ Bild – gemeinfrei/Wikipedia

    In allen beteiligten Staaten führte der Krieg zu dramatischen Veränderungen im Leben der Bevölkerung. Allerdings reichten seine Auswirkungen in der Sowjetunion, die das Kriegsgeschehen jahrelang auf eigenem Territorium erdulden musste, weiter und tiefer als irgendwo sonst. Hier bekam auch die weibliche Bevölkerungsmehrheit die Anforderungen und Folgen des Krieges stark und unmittelbar zu spüren. Zum einen als Kriegsopfer, die mit dem Verlust von Angehörigen zurechtkommen mussten. Zum anderen als Kriegsmobilisierte für Industrie und Landwirtschaft oder als Angehörige der Roten Armee. Die populäre Propagandaformel „Männer an die Front – Frauen an die Heimatfront“ bildete die Realität nicht ganz zutreffend ab. Traditionelle Geschlechterrollen verschwammen während des Krieges durchaus.

    Schwerstarbeit ohne Rücksicht

    Der Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung war im Zuge der Stalinschen Industrialisierungspolitik rasant angestiegen und machte 1940 bereits knapp 40 Prozent aus.2 Der Krieg führte dann zu einer weiteren deutlichen Steigerung: Im Jahr 1945 waren über die Hälfte aller Beschäftigten Frauen.3Darin spiegelte sich nicht nur die Wirksamkeit staatlicher Propaganda. Vielmehr wurden mit den staatlichen Erlassen zur allgemeinen Arbeitspflicht von Februar/September 1942 alle Frauen im Alter von 16 bis 45 (Februar 1942) und schließlich von 14 bis 50 Jahren (September 1942) zur Arbeit in der Kriegswirtschaft mobilisiert.4

    In der Tat „ersetzten“ Frauen die einberufenen Männer sowohl in der Industrie als auch, und vor allem, in der Landwirtschaft. Hier (etwa im Bergbau) wie dort bedeutete das: Schwerstarbeit ohne Rücksicht auf eigentlich geltende Arbeitsschutzgesetze. Landmaschinen und Zugtiere waren sofort zu Kriegsbeginn für den Armeebedarf konfisziert worden,5 so dass sich Frauen auf vielen Dörfern selbst vor den Pflug spannen mussten, um die Frühjahrsaussaat vorzubereiten.
    In der Industrie wurde der Arbeitstag spürbar verlängert, eine Urlaubssperre verhängt und die Arbeitsgesetzgebung mehrfach verschärft: Bereits geringfügige Regelverletzungen (Verspätungen, unerlaubte Abwesenheit vom Arbeitsplatz) konnten harsche Strafen (mehrere Jahre Straflager) nach sich ziehen.


    Frauen in der Roten Armee


    Eine Wehrpflicht für Frauen bestand nicht, aber laut Wehrgesetz vom 1. September 1939 konnten Frauen mit medizinischer oder technischer Ausbildung im Kriegsfall sofort einberufen werden. Und das geschah auch. Aber erst nach den dramatischen Anfangsniederlagen und Millionenverlusten griff der Staat ab 1942 zum Instrument der Massenmobilisierung von Frauen in die Rote Armee, überwiegend für nichtkombattante Aufgaben. Im Gegenzug sollten möglichst viele Männer in den unmittelbaren Kampfeinsatz vorrücken. Zwar wurde die Zielvorgabe von 700.000 „Freiwilligen“ deutlich unterschritten, aber über mehrere große (damals geheim gehaltene) Mobilisierungskampagnen in den Jahren 1942–43 gelangten Hunderttausende junge Mädchen und Frauen in die sowjetischen Streitkräfte. Die meisten Soldatinnen arbeiteten im Sanitätswesen oder im technischen Bereich, viele gehörten als Köchinnen und Wäscherinnen zu den rückwärtigen Diensten. Aber einige Zehntausend übten auch kombattante Funktionen aus.6

    Ukrainische Partisaninnen Foto: gemeinfrei/Wikipedia

    Neuere Schätzungen sprechen von rund 1 Million Frauen, die in Uniform am Krieg teilgenommen haben sollen, was einem durchschnittlichen Armeeanteil von ca. 3 Prozent entspricht.7 Es war ein sowjetisches Spezifikum, dass sich eine Minderheit aller Soldatinnen sogar bewaffnet am Kriegsgeschehen beteiligte: als Kampfpilotinnen, Scharfschützinnen („Flintenweiber“), Panzerfahrerinnen sowie bei der Infanterie. Sie kämpften in gemischten Einheiten und auch in reinen Frauenstaffeln, vor allem bei der Luftwaffe.

    Verschwimmen der Geschlechtsrollen

    Überhaupt war die Grenze zwischen dem angeblich traditionell weiblich-unterstützenden Sanitätsdienst, manch anderen Hilfsdiensten und kämpfender Truppe im sowjetischen Kriegsalltag nicht starr, sondern fließend. Selbst Krankenschwestern verrichteten ihre Arbeit nicht in einem geschützten Bereich und in adrett-weiblicher Kleidung, sondern mussten, selbst bewaffnet, die Verwundeten (samt Waffe) direkt vom Schlachtfeld bergen und im Kampfgetümmel notdürftig versorgen. Sie arbeiteten also unmittelbar an der Front und bezahlten diesen gefährlichen Einsatz oft selbst mit dem Leben.8 Schwerstarbeit und Lebensgefahr kennzeichneten also selbst „zivil“ anmutende Bereiche wie das Sanitätswesen oder die Fliegerei – die Kriegspropaganda hat diesen bitteren Alltag jedoch verharmlost und die Tätigkeit von Frauen an der Front entsprechend traditioneller Vorstellungen von Geschlechterrollen in Szene gesetzt.9
    Eine Frauenfigur erscheint Jahre später auch in den 85 bzw. 62 Meter hohen Kolossalstatuen der Mutter Heimat mit erhobenem Schwert, die im Zuge der offiziellen Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg 1967 auf dem Mamajew-Kurgan im ehemaligen Stalingrad und 1981 im Zentrum des Kiewer Gedenkkomplexes errichtet wurden. Bei diesen Frauenfiguren handelt es sich um symbolisch-allegorische Darstellungen der wehrhaften und schließlich siegreichen Heimat, die die Befreiung bewirkt hat. Über die tatsächlichen Rollen von Frauen im Krieg sagen sie nichts.

    Sowjetische Jeanne d’Arc

    Das Medium Film ist schon früh weiter gegangen als die Historiographie oder die offizielle Erinnerungskultur. So rückten die Partisanenfilme aus den Jahren 1943 und 1944 (Raduga; Ona zaschtschischtschajet rodinu) kämpfende Frauen in den Mittelpunkt. Die Filmheldinnen wurden im Kampf gegen die Nationalsozialisten von diesen gefoltert und getötet und damit zu Märtyrerinnen der gerechten Sache, der sie dienten. 
    Im Film Soja (1944) handelte es sich um die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja. Um sie entstand in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein regelrechter Kult, der sie quasi als sowjetische Jeanne d’Arc verherrlichte.10 Sie zog vor allem deshalb so viel Mitgefühl auf sich, weil sie als junges Mädchen für die von ihr verübten Sabotageakte gefoltert und gehängt wurde und die Deutschen ihren Körper noch tagelang zur Abschreckung am Galgen hängen ließen. So lang und aufwändig wie das Gedenken an die Komsomolzin-Partisanin Soja in der Sowjetunion inszeniert und gepflegt wurde, so schnell und heftig kam es nach deren Ende zu Bestrebungen, den Soja-Mythos zu dekonstruieren und als Legende zu entlarven.11
    Die 1972 gedrehte Verfilmung der Erzählung von Boris Wassiljew A sori sdes tichije (Im Morgengrauen ist es noch still, Regie: Stanislaw Rostozki) behandelt  ernsthaft und mit großer Empathie das Thema des Einsatzes der Frauen im Krieg. Das Grauen des Krieges trifft die Frauenstaffel sehr schnell und unvorbereitet. Fünf Mitglieder des Spähtrupps kommen beim Einsatz ums Leben. Schon zu Zeiten seiner Entstehung erfreute sich der Film großer Beliebtheit beim Publikum. Bis heute hat sich daran nichts geändert und er wird jedes Jahr wieder anlässlich des Siegestages am 9. Mai im russischen Fernsehen gezeigt, 2015 entstand sogar ein Remake.

    Vielstimmige Gegengeschichten

    In der am heroischen Großen orientierte Erinnerungskultur hat jedoch das unbekannte weibliche Opfer nur sehr wenig Platz. Die ausführlichen Interviews, die die belarussische Schriftstellerin und spätere Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in den 1980er Jahren mit Hunderten von Kriegsteilnehmerinnen führte, machten deren oft haarsträubende Erfahrungen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.12Diese hatten mit den Erwartungen und Hoffnungen, die die jungen Frauen einst an die Front getrieben hatten, nur wenig gemein. Abenteuerlust, Emanzipationsbegehren, Heldentum, die Lust, mit den Männern gleichzuziehen, hatten am Anfang gestanden. Übrig blieben unendliche Müdigkeit und vielleicht noch Erleichterung darüber, wenigstens am Leben geblieben zu sein. Es gab den Stolz auf die eigene Leistung, aber auch das Wissen um die Strapazen, den Hunger, den Ekel, die Angst, das Sterben und die Unerträglichkeit des Tötens. 
    Während das Kriegserleben männlicher Frontkämpfer im Kontext des pompösen öffentlichen Kriegskultes umgedeutet und geglättet wurde,  folgten die ehemaligen Soldatinnen nicht den üblichen heroischen Floskeln und patriotischen Stereotypen der in Massenauflage verbreiteten Kriegsbücher und -romane. So entstanden erschütternde Berichte  – „vielstimmige Gegengeschichten“ – über Einsätze bis zur völligen Erschöpfung, das Gefühlschaos nach dem ersten tödlichen Schuss, schwerste Verwundungen,  Verstümmelungen und psychische Störungen als Kriegsfolge.

    Betrug um den gerechten Anteil am Sieg

    Nach Kriegsende wurden die Frauen nicht nur schnell aus der Armee entlassen und mussten jede Aussicht auf eine militärische Laufbahn aufgeben, sondern der Staat betrog sie geradezu um ihren gerechten Anteil am Sieg, ja nahm sie nicht einmal vor pauschalen Verleumdungen in Schutz. Jedenfalls fanden weibliche Armeeangehörige keinen angemessenen Platz im sowjetischen Gedächtnis an den Großen Vaterländischen Krieg, der fortan als männliche Leistung konstruiert wurde.13 Sie nahmen nicht einmal an der großen Siegesparade vom 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz teil. Dies unterstreicht, dass die Rekrutierung von Frauen für den Kriegsdienst nicht Ausdruck einer konsequenten Fortführung des Emanzipationsgedankens war, sondern in erster Linie der Abwehr einer existenziellen Niederlage dienen sollte. Daher brachte die Mitwirkung am Sieg den Soldatinnen auch keinen greifbaren gesellschaftlichen Gewinn. Im Gegenteil: Zur gesellschaftlichen Ablehnung der Frontkämpferinnen trug wesentlich das spießig-konservative Frauenbild bei, das die staatliche Propaganda beherrschte. 
    Jetzt stellte der Staat wieder ganz traditionelle Anforderungen an die Frauen: liebevolle Unterstützung der (versehrten) Kriegsheimkehrer bei deren Rückkehr ins zivile Leben und den Ausgleich der immensen Kriegsverluste durch vielfache Mutterschaft. Selbst unverheiratete Frauen sollten Kinder gebären, deren Väter anonym bleiben durften, während der Staat sich eher knauserig an den Kosten beteiligte.14 Für viele Frauen bedeutete das Kriegsende deshalb keineswegs den Beginn der langersehnten „Normalität“ mit Ruhepausen und einem verbesserten Angebot an Konsumgütern, sondern einen erneuten Kampf ums Überleben unter armseligen Wohn- und Lebensverhältnissen. Zwar glorifizierte die Propaganda den Ruhm der Mutterschaft,15 doch in der Realität ließen Väterchen Stalin und „Vater Staat“, aber auch viele leibliche Väter, die Frauen und Mütter oft im Stich.


    1. Rodina-Mat’ sovet! Plakaty Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskau 2014, S. 46, S. 131, S. 162 ↩︎
    2. Conze, Susanne: Weder Emanzipation noch Tradition. Stalinistische Frauenpolitik in den vierziger Jahren. In: Stefan Plaggenborg (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 293 ↩︎
    3. Ibid. S. 295 ↩︎
    4. Rešenija partii i pravitel’stva po chozjajstvennym voprosam, Bd. 3, Moskau 1962, S. 64 ↩︎
    5. Deutsch-Russisches Museum Berlin Karlshorst (Hg.): Katalog zur Dauerausstellung, Berlin 2014, S. 109 ↩︎
    6. Fieseler, Beate: Patriotinnen, Heldinnen, Huren? Frauen in der Roten Armee 1941 – 1945. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), S. 37 – 54; dies.: Rotarmistinnen im Zweiten Weltkrieg. Motivationen, Einsatzbereich und Erfahrungen von Frauen an der Front. In: Klaus Latzel/Franka Maubach/Silke Satjukow (Hg.): Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011, S. 301 – 329; Markwick, Roger D./Cardona, Euridice Charon: Soviet Women on the Frontline in the Second World War, New York 2012; siehe auch die Beiträge von Carmen Scheide und Roger D. Markwick in: Melanie Ilic (Ed.): The Palgrave Handbook of Women and Gender in Twentieth-Century Russia and the Soviet Union, London 2018. ↩︎
    7. Fieseler, Patriotinnen, S. 38 ↩︎
    8. Markwick/Cardona, Soviet Women on the Frontline, S. 66 ↩︎
    9. Siehe etwa die Plakate „Slava boevym podrugam“ (1941) und „Vstavaj v rjady frontovych podrug“ (1941). In: Rodina-Mat’ sovet!, S. 46. ↩︎
    10. Rathe, Daniela: Soja – eine „sowjetische Jeanne d’Arc“? Zur Typologie einer Kriegsheldin. In: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 45 – 59 ↩︎
    11. Sartorti, Rosalinde: On the Making of Heroes, Heroines, and Saints. In: Richard Stites (Ed.): Culture and Entertainment in Wartime Russia, Bloomington-Indianapolis 1995, 176 – 193 ↩︎
    12. Die erste, noch zensierte, Ausgabe erschien 1987: Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Berlin. Eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe erschien 2004 (ebenfalls Berlin); eine nochmals erweiterte Ausgabe ebd. 2013. Zum Werk von Aleksievič siehe: Nackte Seelen. Svetlana Aleksievič und der „Rote Mensch“. Themenheft der Zeitschrift Osteuropa 68 (1-2), 2018 (dort besonders die Beiträge von Karla Hielscher und Nina Weller). ↩︎
    13. Siehe zum Beispiel das Plakat von Viktor Klimašin: ‚Ruhm dem Kämpfer-Sieger‘. In: Naša Pobeda, S. 245 ↩︎
    14. Nakachi, Mie: Population, Politics and Reproduction. Late Stalinism and its Legacy. In: Juliane Fürst (Hg.): Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention, New York 2006, S. 23 – 45 ↩︎
    15. Siehe etwa die Plakate von Nina Vatolina „Ruhm der Heldenmutter“ und „Ruhm der heldenhaften Sowjetfrau“, beide aus dem Jahr 1946. Ersteres in: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Hg.): Triumph und Trauma, Berlin 2005, S. 72 ↩︎

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  • Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Als es der Roten Armee gelungen war, die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad einzukesseln, markierte dies einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der Schriftsteller und Korrespondent Wassili Grossman schrieb, dass die deutschen Soldaten und Offiziere in der schrecklichen Kriegssituation bei Stalingrad nicht nur die eigenen Kräfte, sondern auch die Staatspolitik, die Gesetze, die Verfassung, die Zukunft und die Vergangenheit des eigenen Volkes zunehmend in Frage stellten. 

    Bei den sowjetischen Truppen sei genau das Gegenteil passiert: Der erste Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nach vielen Niederlagen hat die sowjetische Staatsführung gerechtfertigt. Die Frage aber, ob das Volk wegen oder trotz der Regierung siegte, blieb offen. Der Sieg bei Stalingrad bestimmte, so Grossman, den Ausgang des Kriegs, „aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat ging weiter“.1 

    Und dieser Streit ist noch immer nicht zu Ende. Das einst „siegreiche Volk“ streitet nun aber nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit sich selbst und mit den späteren Generationen, die den Krieg nur in seiner medialen Gestalt wahrnehmen und beurteilen können. 

    Im heutigen Russland gibt es kein homogenes „kollektives Gedächtnis“ an den Krieg, sondern mehrere mit-, neben-, und gegeneinander existierende und agierende Bilder der Kriegserinnerung. Die Verflechtung des politischen und individuellen Gedächtnisses ist das Spezifikum russischer Erinnerungskultur, zu welcher sowohl Siegesstolz als auch Trauer gehören.

    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain
    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain

    Einen Konsens gibt es nicht einmal bei der Frage nach den Kriegsopferzahlen. Seit dem Kriegsende gehört die Arithmetik der Verluste zum Gegenstand der aktiven offiziellen Geschichtspolitik. Stalin wies sieben, später zehn Millionen aus – das Land durfte keine größeren Menschenverluste als die Kriegsgegner erlitten haben. „Der Preis des Sieges“ stieg auf 20 Millionen in den späten 1950ern, auf 27 Millionen in den 1980ern, bis im Februar 2017 der Duma-Abgeordnete Nikolaj Semzow mit Verweis auf geheime Daten der staatlichen Plankommission der UdSSR eine weitere Zahl verkündete: 42 Millionen.2
     
    Allein die Zahl von 27 Millionen, die in der Geschichtswissenschaft verankert ist, zeugt von der unvergleichlichen Dimension der Leid- und Opfererfahrung in den Ländern, die von Krieg und deutscher Besatzung betroffen waren. Der Krieg hat tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlassen: Es gibt kaum eine Familie im heutigen Russland und auch in der Ukraine, Belarus und anderen postsowjetischen Ländern, die vom Krieg unberührt geblieben ist. 
    Die gesellschaftliche Verankerung des Themas auf der einen Seite und die übergeordnete Bedeutung der Kriegserinnerung für den Staat auf der anderen Seite bedingten die Entstehung einer vielschichtigen und dynamischen Erinnerungskultur.

    Unheroischer Krieg

    Auf der Ebene der privaten, familiären, alltäglichen Erinnerung war das Bedürfnis, der Trauer Raum zu geben, von Anfang an da. So entstand seit dem Kriegsende in jeder sowjetischen Stadt und in jedem Dorf an einer prominenten Stelle ein Denkmal, um den nicht zurückgekehrten Soldaten zu gedenken. Schlichte Obelisken oder Granitstelen waren oft anonyme Stätten privater Trauerarbeit. 
    Ab den späten 1960er Jahren wurden Ehrenmale des Unbekannten Soldaten und Anlagen mit ewigem Feuer angelegt, das Gedenken an diesen Orten wurde offizieller und staatstragender. Zugleich haben diese Orte ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Trauerarbeit nicht verloren. 
    Auch in der sowjetischen Zeit war der unheroische Krieg vor allem durch den künstlerischen Diskurs wahrnehmbar, durch Literatur, Film und Musik. Der Film Die Kraniche ziehen von Michail Kalatosow zeigte, dass nicht alle Frauen auf ihre Geliebten warteten, und dass ein Rotarmist auch fallen kann, ohne vorher eine Heldentat zu vollbringen. 
    Der Protagonist der Erzählungen von Bulat Okudshawa will im Krieg nur überleben.3 Wassil Bykau schilderte in seinen Erzählungen den Krieg als eine existenzielle Erfahrung, in der es keine Sieger geben kann.4 Ales Adamowitsch beschrieb in seinen Novellen die Gewalt der deutschen Besatzer auf den okkupierten Gebieten5 und zusammen mit Daniil Granin im Blockadebuch6 – die unvorstellbare Opfererfahrung und das Hungersterben in Leningrad.
     
    In den frühen 1990er Jahren dominierte das Bild des schrecklichen Krieges in öffentlichen Präsentationen: Zum Thema wurden die verheerenden Niederlagen der ersten Kriegsmonate, die doppelte Opfererfahrung sowjetischer Kriegsgefangener, die Not der Veteranen. Der 22. Juni, Tag des deutschen Überfalls 1941, ist seit 1996 ein staatlich anerkannter „Tag des Gedenkens und der Trauer“. An den Kriegsdenkmälern und auf den Ehrenfriedhöfen finden Gedenkzeremonien statt, die Staatsfahnen werden gesenkt und die Staatssender zeigen keine Unterhaltungssendungen.
    Nicht der Sieg, sondern der „Preis des Sieges“ schien für eine kurze Zeit im Zentrum der offiziellen Erinnerungspolitik zu stehen. Auch wenn die schreckliche Erfahrung des Krieges als Diskurs an seiner dominierenden Position inzwischen stark einbüßte, existiert diese Perspektive auf den Krieg auch heute im liberalen Diskurs.7 

    Staatliche Heroisierung

    Der ideologische Bezug auf den Großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetzeit lässt sich mit dem Begriff des Massenheroismus zusammenfassen. Seit der Oktoberrevolution 1917 war der Heldenkult ein fester Bestandteil der sowjetischen Ideologie. In der zukunftsgerichteteten sozialistischen Weltanschauung hatte das Trauern um Opfer „historischer Prozesse“ – Revolutionen, Kriege, politische Säuberungen – keinen Platz. Die Helden, die zu ehren waren, mussten im Krieg ihr Leben opfern, besonders heldenhaft für das Vaterland sterben, wie etwa der Rotarmist Alexander Matrossow, der sich auf eine Schießscharte warf, oder die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die auch unter der Folter ihre Mitkämpfer nicht verriet und hingerichtet wurde. 
    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider. Für den siegreichen Kampf stehen zum Beispiel die 85 Meter große Skulptur Mutter Heimat auf dem Mamaj-Hügel in Wolgograd (1967) und das 48 Meter große Monument Den heroischen Verteidigern Leningrads in St. Petersburg (1974–75).

    In der postsowjetischen Zeit fand der heroisierende Diskurs vor allem in der Moskauer Denkmalanlage Park des Sieges (1995) seine monumentale Form. Im Zentrum steht hier eine 141,8 Meter hohe Stele – zur Erinnerung an die 1418 Kriegstage – an ihrer Spitze schwebt die Siegesgöttin Nike und an ihrem Fuß bekämpft der Heilige Georg den Drachen. Zahlreiche Namen der Helden der Sowjetunion sind an den Wänden im Gedenkraum des Museums eingraviert. 
    Im heutigen offiziellen Gebot zu erinnern spielt der Aufruf, den gefallenen Helden würdig zu sein, nach wie vor eine große Rolle. In der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die selektiv auf die stolzen Kapitel der „tausendjährigen Geschichte“ zurückgreift, ist es der militärische Ruhm. Das heroische Pathos ist die gegenwärtige Tonlage, in der die offiziellen Medien und die Regierung über den Krieg sprechen. 

    Emotionalisierung und Kommerzialisierung

    Die heutige Entwicklung der Kriegserinnerungskultur zeichnet sich zum einen durch Emotionalisierung, zum anderen durch Kommerzialisierung der Erinnerung aus. Durch überzeichnete Emotionalisierung und Effekthascherei verliert der Krieg – wie er etwa im Film (Stalingrad, 2013) oder im historischen Reenactment (nachgestellte Szenen der Einnahme Berlins) dargestellt wird – an Faktizität und Authentizität. Die präsentierten Inhalte werden zunehmend mythen-gesättigter wiedergegeben, das Kriegsgeschehen wird immer stärker zum Mythos.  
     
    Gerade weil die Kriegserinnerung auf der privaten Ebene eine sehr wichtige Rolle spielt, wird sie zunehmend als Kontext für kommerzielle Projekte genutzt. Filmproduzenten, Museumsmacher und Event-Veranstalter knüpfen daran an – in der Gewissheit, dass das Kriegsthema Aufmerksamkeit findet und sich gut verkaufen lässt. So beispielsweise im bislang teuersten russischen Film Stalingrad (Fjodor Bondartschuk), der komplett in 3D gedreht wurde, in dem die Straßen- und Häuserkampfszenen im Herbst 1942 wie ein effektvoller Blockbuster inszeniert wurden und der einer Computerspiel-Ästhetik ähnelt.

    Privates Gedenken im öffentlichen Raum

    Aus dem Bedürfnis der Gesellschaft heraus, eigenständige Formen und Praktiken der Erinnerung zu entwickeln, entstand 2012 in der sibirischen Großstadt Tomsk die Aktion Das Unsterbliche Regiment.8 Bei dieser Aktion tragen Menschen über Straßen und Plätze Porträts ihrer Verwandten, die am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben.9 
    Diese Präsenz des privaten Gedenkens im öffentlichen Raum ist das tatsächlich Neue an den Feiern des Kriegsendes. 
    Viele Russen teilten in den letzten Jahren Kurzberichte über die Kriegswege ihrer Großeltern in sozialen Netzwerken, viele davon – unzensierte Familiengeschichten, also Erzählungen „jenseits“ des tradierten, heroischen Narrativs. 
    Es geht nun nicht mehr darum, ein Zeichen der Zugehörigkeit zur „Wir-Gemeinschaft“ der Erinnernden zu setzen, sondern um die Stärkung der Kommunikation von privaten, familienbezogenen Erinnerungen an den Krieg.

    Diese neue Form des Gedenkens wird von der staatlichen Seite in letzter Zeit verstärkt auch als Mobilisierungressource genutzt.10 Sie existiert gleichzeitig mit den großen Inszenierungen, die auf Stabilitätssicherung und Patriotismus-Stiftung ausgerichtet sind. Während der Feierlichkeiten rund um den Tag des Sieges am 9. Mai selbst agiert die Gesellschaft manchmal mit, oft aber auch neben oder gegen die staatlichen Deutungsvorschriften. Nicht immer sind Interessen des Staates und der Gesellschaft hinsichtlich der Form des Gedenkens deckungsgleich – und der Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat geht weiter.


    1. Grossman, V. (1984): Leben und Schicksal, München, S. 686 ↩︎
    2. Novaya Gazeta: Pobeda pred“avljaet sčet ↩︎
    3. vgl. die Erzählung Bud’ zdorov, školjar (1961) von Bulat Okudžava, in der es um Erfahrung eines jungen Soldaten geht. ↩︎
    4. vgl. die Erzählung Sotnikov (1971) von Vassil Bykov. ↩︎
    5. vgl. die Erzählungen Chatynskaja povest’ (1971) und Ja iz ognennoj derevni (1977) von Ales Adamowitsch ↩︎
    6. Ales Adamowitsch arbeitete zusammen mit Daniil Granin am Blockadebuch in den späten 1970er Jahren. Das Buch, das Interviews mit Blockadeüberlebenden beinhaltet, wurde 1984 veröffentlicht. ↩︎
    7. So im Projekt Cena pobedy (dt. Der Preis des Sieges) auf dem Radiosender Echo Moskvy und in der Zeitschrift Diletant. Siehe z. B. den Beitrag Soldatskaja pamjat’ o vojne vom 14.5.2017. ↩︎
    8. Die Formen der sozialen Gedenkpraxis „von unten“ wurden im Projekt „Sieg—Befreiung—Besatzung: Kriegsdenkmäler und Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im postsozialistischen Europa“ untersucht, das von der Autorin zusammen mit Mischa Gabowitsch und Cordula Gdaniec geleitet wurde. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in einem vor kurzem erschienenen Sammelband dokumentiert: Gabowitsch, M., Gdaniec, C., Makhotina, E. (Hrsg.) (2017): Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai im postsozialistischen Europa, Paderborn ↩︎
    9. Eine lokale, gesellschaftliche Initiative, ins Leben gerufen von Journalisten der nichtstaatlichen Tomsker Mediengruppe. Webseite des Archivs mit Familiengeschichten ↩︎
    10. Wie schon so oft in der Geschichte, erkannte die politische Führung schnell die symbolische Wirkungsmacht dieser neuen Erinnerungsform. Zugleich brachte die Popularität des individualisierten Gedenkens auch in die staatliche Erinnerung einen neuen Inhalt ein. Aufschlussreich ist die Teilnahme Putins an der Aktion Das Unsterbliche Regiment, und noch mehr – die Veröffentlichung seiner „Erinnerungen“ an die Kriegserzählungen der Eltern in der Zeitschrift Russki Pionier. Ein Effekt davon ist die „emotionale Aktualisierung“ der Geschichte. Dadurch versucht der Staat, das Gedenken anschlussfähig zu halten. ↩︎

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