Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Brester Festung zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte der Sowjetunion, seit den 1970er Jahren befindet sich am historischen Ort eine monumentale Gedenkstätte. Bis heute steht die Festung in Russland und Belarus für den heroischen Widerstand gegen die deutschen Angreifer in den ersten Tagen des „Großen Vaterländischen Krieges“, für Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass die heutige Legende wenig mit den tatsächlichen Ereignissen gemein hat.
Am Zusammenfluss von Bug und Muchawez entstand im 11. Jahrhundert die Stadt Brest. Unter Zar Nikolaus I. wurde sie in den 1830er Jahren jedoch niedergerissen und etwas weiter östlich neu errichtet. Grund dafür war der Bau einer mächtigen Befestigungsanlage, welche die Grenze des Zarenreiches zu Kongresspolen sichern sollte. Umgeben von den beiden Flüssen sowie künstlich angelegten Gräben liegt die Festung auf vier Inseln mit einer Fläche von etwa vier Quadratkilometern. Die äußeren Inseln wurden mit Erdwällen gesichert, während die Kerninsel von einer zweistöckigen Ringkaserne mit mächtigem Mauerwerk umgeben war.
Im August 1915 konnten deutsche und österreichische Truppen Stadt und Festung ohne Gegenwehr einnehmen, nachdem beide im Zuge des russischen Rückzuges verlassen und teilweise zerstört worden waren. Am 3. März 1918 wurde hier der Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet. Mit dem Frieden von Riga fielen Stadt und Festung 1921 an den neugegründeten polnischen Staat, bevor sie nach dem deutschen Überfall auf Polen und der sowjetischen Annexion Ostpolens im Herbst 1939 sowjetisch wurden. Die Stadt stellte einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt unmittelbar an der Grenze zum deutsch besetzten Polen dar, der militärisch von der Festung aus kontrolliert wurde.
Kampf um die Festung
In den Morgenstunden des 22. Juni begann auf einer Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer der Angriff auf die Sowjetunion. An diesem Tag übertrat auch die 45. Infanterie-Division der Wehrmacht als Teil der Heeresgruppe Mitte die Grenze. Sie hatte den Befehl, Stadt und Festung handstreichartig zu erobern, um die geplante „Panzerrollbahn 1“ zu sichern.
Doch während die Stadt schnell eingenommen war, stießen die Deutschen in der Festung auf Widerstand. Etwa 9000 sowjetische Soldaten und Kommandeure waren durch den Überfall in der Festung eingeschlossen und viele von ihnen nahmen den Kampf auf. Nach drei Tagen waren die schweren Kämpfe jedoch beendet, es hielten sich nur noch einzelne Widerstandsherde, um die weitere zwei Tage gekämpft wurde. Ab dem Abend des fünften Kriegstages, dem 26. Juni 1941, wurde nur noch ein Reduit auf der Nordinsel der Festung, das sogenannte Ostfort, verteidigt. Zwei Bombenangriffe der Luftwaffe zwangen dessen Verteidiger am Abend des 29. Juni zur Kapitulation.
Drei Tage nach dem Ende der Kämpfe verließ am 2. Juli 1941 die Masse der 45. Infanterie-Division Brest in Richtung Osten und ließ nur schwache Sicherungskräfte zurück. Für die Zeit danach sind keine zeitgenössischen Quellen bekannt, die Kämpfe belegen würden. Mit einer Ausnahme: Am 23. Juli 1941 wurden bei einem Feuerüberfall mehrere deutsche Soldaten verwundet und ein sowjetischer Kommandeur gefangengenommen.2
Insgesamt wurden bei den Kämpfen etwa 430 Angreifer getötet und rund 660 verwundet. Ihnen gegenüber standen etwa 2000 gefallene Verteidiger. Zudem gerieten rund 6800 Angehörige der Roten Armee in Gefangenschaft, was etwa 75 Prozent der Garnison entspricht.
Eine Legende wird geformt
Auch wenn diese Zahlen von einer schnellen und klaren Niederlage zeugen, entwickelten sowjetische Journalisten, Parteiideologen und Schriftsteller nach dem Krieg ein Heldennarrativ rund um die Festung Brest: Obwohl zahlenmäßig unterlegen und mangelhaft mit Wasser, Lebensmitteln und Munition versorgt, hätten die sowjetischen Soldaten Gegenangriffe unternommen, unzählige Wehrmachtssoldaten getötet und den Angreifern wochenlang standgehalten. Ihrem Eid treu ergeben, hätten sie zudem den Tod der „schändlichen“ Gefangenschaft vorgezogen. Diese Bereitschaft zur bedingungslosen Selbstaufopferung beweise ihre Überlegenheit und ihre grenzenlose Liebe zum sozialistischen Vaterland und zur Kommunistischen Partei. Eine ganze Division der Wehrmacht sei über einen Monat festgehalten worden, hier hätten die Deutschen einen Vorgeschmack dessen bekommen, was sie noch erwarten sollte, hier wurden angeblich die ersten Ziegel im Fundament des „Großen Sieges“ gelegt.
Paradebeispiel für diese Behauptungen war Major Pjotr Gawrilow, der noch am 23. Juli 1941, dem 32. Tag des Krieges, allein gegen die Invasoren gekämpft haben soll. Erschöpft und entkräftet sei er gefangengenommen worden, ohne sich jedoch ergeben zu haben.
Dadurch, dass der Kampf bis zum Tod und die vermeintlich lange Dauer des Widerstands die Hauptsäulen der Heldengeschichte bildeten, wurde das Thema der Kriegsgefangenschaft ausgespart. Obwohl sie drei Viertel der Verteidiger betraf, war sie nicht Teil des offiziellen sowjetischen Narrativs. Als ehemalige Gefangene fanden nur jene Erwähnung, die als Zeitzeugen gebraucht wurden.
Die Tücken der Quellen
Doch da die Zeitzeugen in der Regel in deutscher Gefangenschaft gewesen waren und „Gefangengabe“ in der Sowjetunion den Straftatbestand des Vaterlandsverrates erfüllte, hatten sie allen Grund, sich als besondere Patrioten darzustellen – von Kapitulation und weißen Fahnen sprachen sie also prinzipiell nicht. Im Gegenteil: Viele Erinnerungsberichte von in Brest stationierten Rotarmisten enthalten Unwahrheiten oder Übertreibungen. Denn so, wie sie von der sowjetischen Propagandamaschinerie instrumentalisiert wurden, instrumentalisierten sie diese auch selbst, um das Stigma des Kriegsgefangenen loszuwerden, das in vielen Fällen mit Benachteiligungen und Diskriminierungen einherging.
In den ersten Nachkriegsjahren wurden einige Zeitungsartikel und Gedichte veröffentlicht, die Brest als ein Ereignis von lokaler Bedeutung behandelten. 1948 und 1951 erschienen schließlich mehrere längere Texte in der sowjetischen Presse, die zum Teil in Armeemedien eine unionsweite Verbreitung fanden. Doch alle, die sich in den 1940er und bis zur Mitte der 1950er Jahre mit der Brester Festung beschäftigten, standen vor einem großen Problem: Es gab kaum Quellen.
Es kursierten lediglich Fragmente einer in Teilen mangelhaften Übersetzung des Gefechtsberichts des Kommandeurs der 45. Infanterie-Division.3 Eine Abschrift dieses Dokuments war im Winter 1941/42 in sowjetische Hände gefallen. Aber der Bericht war für eine Heroisierung in großen Teilen ungeeignet, unter anderem deshalb, weil in ihm von vielen Gefangenen die Rede war. Weitere Primärquellen waren nicht bekannt, was dazu führte, dass die Autoren ihrer Fantasie freien Lauf ließen. So etablierten sie eine Geschichte voller Heldentum und ohne Gefangene und weiteten schrittweise die Dauer der Kämpfe von acht auf 32 Tage aus. Das von ihnen geschaffene narrative Grundgerüst füllten sie mit erfundenen Ereignissen und Fantasiehelden.
Popularisierung der Brest-Legende
Die Brester Heldengeschichte war bereits in ihren Grundzügen geformt und durch Veröffentlichungen in der Sowjetunion bekannt gemacht worden, als der Schriftsteller und Journalist Sergej Smirnow 1954 begann, sich mit dem Thema zu befassen. Er machte erstmals systematisch Zeitzeugen ausfindig und hatte zudem mehrfach Gelegenheit, im Allunionsradio aufzutreten, woraufhin sich aus dem ganzen Land weitere Brest-Veteranen bei ihm meldeten. Diese interviewte er ausführlich, doch einige von ihnen kannten bereits frühere Veröffentlichungen und orientierten ihre Erzählungen an diesen.
Smirnow bezog sich auf ihre Berichte, aber auch auf die meisten Motive der patriotisch-fantasievollen Werke seiner Vorgänger, außerdem integrierte er sorgfältig ausgewählte Fragmente der einzigen bekannten Primärquelle. Aus all dem schuf er die „wahre Geschichte“ von „grenzenloser Kühnheit“ und wochenlangen Kämpfen – obwohl keine seiner Quellen mehr als acht Tage abdeckte.4 Das Buch wurde zu einem Publikumserfolg. Seine Beschäftigung mit der Festung brachte Smirnow den Leninpreis ein und trug maßgeblich zur Popularisierung der Brest-Legende bei.
Im gleichen Zeitraum wurde ein erstes kleines Museum in der Festung eröffnet und es kam der erste Film zum Thema in die Kinos. Ab 1957 explodierte die Zahl künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Festung Brest förmlich; es wurde sehr viel geschrieben, gefilmt und gemalt. 1971 wurde schließlich eine große Gedenkstätte in Brest eröffnet. Allein die Wissenschaft hielt sich zurück: Sowjetische Historiker haben sich der „heldenhaften Verteidigung“ der Brester Festung nie angenommen, ihre Publikationen verwiesen nur auf Heldenbelletristik und redigierte Erinnerungsberichte.5 Die Legende durfte nicht hinterfragt werden.
Das offizielle Narrativ über die „heldenhafte Verteidigung der Brester Festung“ basierte auf Fantasien, Verzerrungen, Fälschungen, Übertreibungen und Verschweigen, einem mehr als problematischen Umgang mit Quellen – vor allem aber auf dem übergroßen Wunsch, der Kriegsverlauf möge wirklich so gewesen sein, wie man ihn sich gewünscht hätte. Wie sehr es den jeweiligen politischen Gegebenheiten diente und von ihnen abhing, wird deutlich, wenn man sich die Veränderungen in der Erinnerungskultur anschaut: Kämpften die Helden zunächst noch „mit Stalin im Herzen“, taten sie es nach dem XX. Parteitag ohne ihn. Kämpften sie zunächst für die Kommunistische Partei und das sozialistische Vaterland, taten sie es nach dem Ende der Sowjetunion nur noch für das – oder irgendein – Vaterland.
Das heutige Gedenken
Heute befindet sich auf dem Gelände der Brester Festung die monumentale Gedenkstätte „Brester Heldenfestung“. Sie umfasst eine Vielzahl von Denkmälern und Museen und ist Schauplatz vielfältiger Rituale, die das Erinnern lebendig halten. Von den einstigen Motiven des sowjetischen Narrativs sind vor allem Patriotismus und Militarismus übriggeblieben. So besuchte am 22. Juni 2021, dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls, Alexander Lukaschenko die Festung und schwor seine Landsleute darauf ein, „das Vaterland“ – und damit vor allem ihn selbst – so gegen Angriffe von außen zu verteidigen, wie es die Verteidiger der Festung im Sommer 1941 getan hätten. Er verglich damit den deutschen Angriff von 1941 mit den Aktivitäten der Protestbewegung 2020 und sprach in Anlehnung an die „Farbrevolutionen“ von einem gegen Belarus gerichteten „Farbenblitzkrieg“.
Bis heute sind in Belarus und Russland die von der sowjetischen Propaganda geprägten Bilder präsent und wirkmächtig. Obwohl die Heeresgruppe Nord vor der Heeresgruppe Mitte die Grenze zur Sowjetunion überschritt, gilt Brest weiterhin als Ort, an dem der Krieg begonnen haben soll. Und noch immer wird vermittelt, die Brester Helden hätten über einen Monat ausgehalten. 2020 wurden Teile der Gedenkstätte in Brest mit russischen und belarusischen Mitteln restauriert. Gleichzeitig hat das Gedenken an den Überfall auf Brest bis heute blinde Flecken: So wird kaum über die jüdischen Opfer Brests gesprochen, die unter deutscher Besatzung dem Holocaust zum Opfer fielen.
Und auch das Thema der Kriegsgefangenen wird bis heute weitgehend ignoriert, dabei betraf dieses Schicksal den größten Teil der Verteidiger der Festung. Nicht nur in Deutschland ist die Geschichte dieser nach den Juden zweitgrößten Opfergruppe des Nationalsozialismus weitestgehend unbekannt, auch in ihren Herkunftsländern haben sie noch keine wirkliche Lobby gefunden. Als Helden waren sie nützlich, wenn sie die heroische Perspektive auf den Krieg stützten, als Opfer passten diese Männer jedoch nicht ins Bild der patriotisch und patriarchal geprägten Kriegserzählung der Sowjetunion. Bis heute hat sich daran wenig geändert.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Zum Weiterlesen
Ganzer, Christian (2021): Kampf um die Brester Festung 1941: Ereignis – Narrativ – Erinnerungsort, Paderborn (Krieg in der Geschichte 115)
Abbildung aus Atlas krepostej Rossijskoj imperii — SPb., 1830-e gody ↩︎
Eine große Anzahl von Primärquellen zu den ersten ca. vier Wochen des Krieges in Brest sind in einer mikrogeschichtlichen Quellenedition jeweils in den Sprachen der Originale und in russischer Übersetzung publiziert worden, siehe dazu: Gancer, Kristian [Ganzer, Christian]/Elenskaja, Irina/Paškovič, Elena u. a. (Hrsg., 2017): Brest: Leto 1941 g. Dokumenty: Materialy:Fotografii: Izdanie vtoroe, ispravlennoe, Smolensk ↩︎
abgedruckt in Gancer et al., Brest: Leto 1941 g., S. 292-300 ↩︎
Von 1961 bis 1971 wurden die stark redigierten Erinnerungsberichte von ca. 70 sowjetischen Zeitzeugen in insgesamt vier Auflagen veröffentlicht. Die sowjetische Zensur kontrollierte Memoiren und Kriegsliteratur besonders streng, sodass der Quellenwert dieser Texte gering ist. Vgl. dazu Gljazer, M.I./Olechnovič, G. I./Chodceva, Tat’jana u. a. (Hrsg., 1961): Geroičeskaja Oborona: Sbornik vospominanij ob oborone Brestskoj kreposti v ijune-ijule 1941 g., Minsk ↩︎
In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion. Eine dreieinhalb Millionen Mann starke Streitmacht marschierte, aufgeteilt in die drei Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd, auf einer Frontlinie von mehr als 2000 Kilometern ein. Während Bomber der Luftwaffe Görings die ersten Angriffe auf Kiew, Odessa und Sewastopol flogen, eilte in der Berliner Wilhelmstraße Wladimir Dekanosow, Stalins Botschafter und früherer Chef der Auslandsspionageabwehr, mit versteinerter Miene in das Arbeitszimmer des deutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop. 22 Monate zuvor hatte von Ribbentrop im Moskauer Kreml – beseelt vom diplomatischen Coup des Hitler-Stalin-Pakts – noch die deutsch-russische Freundschaft beschworen. Nun informierte er Dekanosow knapp, dass „die Sowjetregierung die Verträge und Vereinbarungen mit Deutschland verraten und gebrochen“ habe und „Deutschland nicht gewillt [ist], dieser ernsten Bedrohung seiner Ostgrenze tatenlos zuzusehen“. Der Führer, beschied Hitlers Außenminister, „hat daher nunmehr der deutschen Wehrmacht den Befehl erteilt, dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten.“1
Hitlers Befehl, den lange geplanten und mehrfach verschobenen Fall „Barbarossa“ – so der Deckname für den Feldzug gegen die Sowjetunion – am 22. Juni 1941 in die Tat umzusetzen, war in mehrfacher Hinsicht ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.
Unter der fadenscheinigen Behauptung einer sowjetischen Bedrohung, die Stalin in den vorausgegangenen Wochen unbedingt vermieden hatte, begann das „Dritte Reich“ einen grausamen, tatsächlich apokalyptischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, gegen die Rote Armee und die Zivilbevölkerung, gegen angebliche und wirkliche Widerstandskämpfer, kurzum, gegen all jene, die der vermeintlich unbesiegbaren Wehrmacht und der perfiden völkisch-rassischen Kriegslogik im Wege standen. Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion kostete Dutzende Millionen Menschen das Leben, brachte unvorstellbares, bis in die Gegenwart hineinwirkendes Leid und führte in den Holocaust: die Vernichtung der europäischen Juden in den Bloodlands (Timothy Snyder) Osteuropas.
Innerhalb weniger Wochen drangen die Wehrmachttruppen und in ihrem Gefolge die mörderischen SS-Einsatzgruppen Heinrich Himmlers weit auf das sowjetische Territorium vor, bis sie – militärisch bereits jedweder Blitzkriegsillusionen beraubt – im Herbst vor Moskau zum Stehen kamen. Das „Unternehmen Barbarossa“ endete unter anderem an der legendären Wolokolamsker Chaussee, die der russischen Schriftsteller Alexander Bek in seinem gleichnamigen Roman zum Sinnbild für den heroischen Kampfesmut der Roten Armee nahm, ohne die Härten dieses brutalen Überlebens an der Front auszusparen.
Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg – der im Nachhinein siegreiche Verteidigungskampf der Sowjetunion gegen die nationalsozialistischen Aggressoren. Das Datum markiert gleichzeitig das Ende der ersten Weltkriegsphase und damit einen Wendepunkt des Krieges , der in Europa seit September 1939 noch vom Bündnis und nicht von der Gegnerschaft zwischen Hitlers Reich und Stalins Sowjetunion geprägt gewesen ist. In den knapp zwei Jahren des Hitler-Stalin-Pakts wurde Polen geteilt und zu einem ersten Laboratorium des deutschen Vernichtungskrieges. Westeuropa geriet unter die deutsche Besatzung, so, wie das Baltikum, die Westukraine, Westbelarus, Bessarabien und die Nordbukowina in den Machtbereich Stalins. Der allmähliche Niedergang des verheerenden Pakts hatte bereits im Juni 1940 eingesetzt, als Moskau nach den überraschenden „Blitzkriegen“ Hitlers erklärte, nun „selbst im Baltikum zur Tat zu schreiten“.2 In Südosteuropa und in Finnland schließlich karambolierten die geopolitischen Konkurrenzen, so dass auch letzte Verständigungsversuche während der Berlinvisite von Wjatscheslaw Molotow im November 1940 zum Scheitern verurteilt waren: Noch bevor Stalins Außenkommissar die deutsche Hauptstadt überhaupt erreichte, hatte Hitlers Führerweisung Nr. 18 am 12. November bereits klargestellt, dass „gleichgültig, welches Ergebnis diese Besprechungen haben werden, alle schon befohlenen Vorbereitungen für den Osten fortzuführen [sind]. Weisungen darüber werden folgen, sobald die Grundzüge des Operationsplanes des Heeres mir vorgetragen und von mir gebilligt sind.“3
Der Überfall der Wehrmacht veränderte die politischen Konstellationen und Bündnissysteme des Krieges auf entscheidende Art und Weise. Er führte mit der Anti-Hitler-Allianz zum Zusammenschluss von Großbritannien und der Sowjetunion; eine Koalition, die seit dem Machtantritt der Bolschewiki im Jahr 1917 außerhalb jeglicher Vorstellungskraft war. Die zentrale europäische Triade zwischen Großbritannien, Deutschland und der Sowjetunion, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entweder zu einer deutsch-sowjetischen (Rapallo) oder einer deutsch-britischen (Flottenvertrag und Appeasement) Verständigung geführt hatte, nahm im Juni 1941 eine fast unerhörte Wendung. Auch hierfür waren die Zeichen lange erkennbar gewesen. Schon im Juli 1940 hatte Premier Winston Churchill – mit großem Gespür für die Risse im Pakt – mit Stafford Cripps einen moskaufreundlichen neuen Botschafter zu Stalin entsandt, der erste Sondierungsgespräche führte. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen hielt Churchill dann jene legendäre „lesser of the two evil“ – Rede, mit der er vor der britischen Bevölkerung das Bündnis mit dem Sowjetkommunismus rechtfertigte. „Das Naziregime“, so Churchills vielzitierte Worte, „lässt sich von den schlimmsten Erscheinungen des Kommunismus nicht unterscheiden. Es ist bar jedes Zieles und jedes Grundsatzes, es sei denn Gier und Rassenherrschaft. Es übertrifft jede Form menschlicher Verworfenheit an Grausamkeit und wilder Angriffslust. Niemand war ein folgerichtigerer Gegner des Kommunismus als ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Ich nehme kein Wort von dem zurück, was ich darüber gesagt habe. Aber dies alles verblasst vor dem Schauspiel, das sich nun abspielt. Die Vergangenheit mit ihren Verbrechen, ihren Narrheiten und ihren Tragödien verschwindet im Nu.“4
Hybris und Nemesis des „Dritten Reiches“
Vor dem Hintergrund der britisch-sowjetischen Annäherung in einer Zeit, in der Hitler gegen London einen verlorenen Luftkrieg führte, hat sich die Entscheidung zum Krieg gegen die Sowjetunion letztendlich als fatal herausgestellt. Dass zahlreiche Stimmen vor diesem Zwei-Fronten-Krieg und dem unkalkulierbaren Abenteuer eines Russlandfeldzugs warnten, ist bekannt. Umso mehr ist der 22. Juni 1941 auch das Symbol für den schier unglaublichen militärischen Größenwahn und die eklatanten politischen Fehleinschätzungen zugunsten des ideologischen Furor. Hitler wollte diesen Krieg: die Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“ und die gewaltsame, unbedingte Verwirklichung aller rassistischen Lebensraumkonzepte des deutschen Nationalsozialismus. Der 22. Juni 1941 war Hybris und Nemesis des „Dritten Reiches“. Der Höhepunkt der militärischen, politischen und ideologischen Selbstüberschätzung ebenso wie die ideologisch, kulturell und rassisch begründete arrogante Herabwürdigung der sowjetischen Bevölkerung, die sich hinter dem Diktator Stalin, dessen Großer Terror erst abgeklungen war, zu versammeln wusste.
Der „Zusammenbruch“ der Roten Armee
Tatsächlich war die Sowjetunion zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges militärisch schwach. Stalin hatte die Defizite der Roten Armee noch Anfang Mai bei einem seiner raren Auftritte vor Absolventen der Militärakademien, unter anderem der Frunse-Akademie in Moskau, persönlich beklagt. Nicht nur die schleppende technische Modernisierung und ein von Stalin harsch kritisierter Reformunwillen waren für die mangelhafte Kriegsvorbereitung verantwortlich. Auch fähige Heerführer wie Marschall Tuchatschewski waren dem Großen Terror zum Opfer gefallen – diese Tatsache war ein offenes Geheimnis. Die Gewalt des Stalinismus hatte dafür gesorgt, dass die Sowjetunion im Juni 1941 auf den Verteidigungskampf personell und technisch schlecht vorbereitet war. In den ersten Wochen des Krieges fielen über 236.000 Sowjetsoldaten, während mehr als zwei Millionen in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, wo sie elendig an Hunger und Krankheit zugrunde gingen.5 „Die Rote Armee“, so das nüchterne Fazit der britischen Historikerin Catherine Merridale, „brach in den ersten Kriegswochen zusammen.“6
Die militärische Schwäche der Roten Armee nährte selbst in britischen Regierungskreisen und bei Churchill die Befürchtung, dass auch dieser Feldzug für die Deutschen siegreich ausgehen könnte. Dennoch war London mit der Wendung des Krieges zufrieden und hoffte darauf, dass sich Deutschland und die Sowjetunion für lange Zeit ineinander verkämpften. Mit einem schnellen Sieg der Roten Armee rechnete niemand, auch nicht Stalin, der auf den drohenden Zusammenbruch mit drakonischen Maßnahmen und neuer Gewalt reagierte. Schon am ersten Kriegstag, am 22. Juni, ermächtigte der Oberste Sowjet die Armeeführung, Deserteure durch neu geschaffene Militärtribunale zu bestrafen, die an die berüchtigten Troika-Tribunale aus der Zeit der Säuberungen erinnerten. In der ohnehin unterbesetzten Armee häuften sich daraufhin die Todesurteile. Hunderttausende wurden verhaftet oder landeten in Strafeinheiten, wo sie zum Räumen von Minenfeldern oder bei besonders verlustreichen Aktionen eingesetzt wurden. Im Juli 1941 ließ Stalin auf Divisionsebene „Besondere Abteilungen“ des NKWD einrichten, die den Auftrag hatten, einen erbarmungslosen Kampf gegen Spione, Verräter und Deserteure zu führen. Im Umgang mit der eigenen Armee waren die Traditionslinien zum Terror der 1930er Jahre unverkennbar. Militärstrategisch jedoch verstand es Stalin, die eigene Schwäche, insbesondere aber die Hybris der Nationalsozialisten für sich zu nutzen und in Stärke zu verwandeln.
Stalins Kalkül
Weit verbreitet, auch in der wissenschaftlichen Literatur ist die Erzählung, dass Stalin vom 22. Juni und dem schnellen Vormarsch der Deutschen überrascht gewesen sei, mehr noch, dass er alle Warnungen, unabhängig davon, ob sie von eigenen Agenten oder aus dem Umfeld der britischen Regierung stammten, ignoriert habe. Es gibt jedoch Gründe, dieses Narrativ mindestens einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Hitlers Befehle waren über die Geheimdienste verlässlich nach Moskau gelangt, daher war Stalin weder überrascht noch ignorierte er die Meldungen zum bevorstehenden Angriff. Dass der „Verrat“, mithin der Bruch des Pakts, nur eine Frage des Datums war, gehörte zu alten politischen Wahrheiten, die auch Stalin verinnerlicht hatte. Wie unter anderem Lew Besymenski detailliert dargestellt hat, bereitete sich Stalin seit Monaten auf den bevorstehenden Überfall vor.7 Seine Anweisung, alle Provokationen an der deutsch-sowjetischen Grenze zu unterlassen, ebenso wie der Verzicht auf große Truppenkonzentrationen – entgegen den Plänen von Generälen wie Shukow – waren nicht naiv oder rätselhaft, sondern überlegt. Dass sich Hitler und Ribbentrop bei der fadenscheinigen Kriegsbegründung auf eine herbeigeredete Bedrohung beziehen würden, war zu erwarten und somit unerheblich.
Im Unterschied zu den Plänen von Generälen wie Shukow vermied Stalin dieses Bedrohungsszenario bewusst, um klar in der vorteilhaften Position des Verteidigers zu bleiben. In diesem Sinne handelte er geradezu wie der gelehrige Schüler der Kriegstheorie von Clausewitz, der zufolge Verteidigung die überlegene Kampfform darstellt. Schon 1939 hatte er sich mit dem Einmarsch in Polen zwei Wochen Zeit gelassen, um nicht mit der Aggression Hitlers in Verbindung gebracht zu werden, und um den Vormarsch der Wehrmacht und die Reaktion der Westmächte abzuwarten. Im Juni 1941 war die Position des Verteidigers symbolisch, politisch und militärisch wichtiger denn je. Den Angriff in Kauf zu nehmen, sparte die raren Ressourcen der Roten Armee. Stalin überließ es Hitler, einen ressourcen- und kräftezehrenden Angriffskrieg zu führen, dessen Verluste sich schon im August bemerkbar machten.8 Darüber hinaus begann der Krieg in einer für Stalin problematischen Grenzregion, die erst im Zuge des Pakts 1939 und 1940 mit Gewalt sowjetisiert worden war. Die Bevölkerung der westukrainischen und westbelarusischen Gebiete hatte den „Organen“ des NKWD seitdem immer wieder große Schwierigkeiten bereitet. Die Flüchtlingsströme waren ebenso schwer unter Kontrolle zu bringen, wie die antikommunistischen und nationalen Widerstandsbewegungen, beispielsweise der Ukrainer. Abermals in einer Parallele zu 1939, als Stalin entgegen ersten Verabredungen die zentralpolnischen Gebiete dem „Dritten Reich“ überantwortete, überließ er den deutschen Truppen im Juni 1941 die Zentren des Widerstandes zu zerstören, und er nahm große Opferzahlen zu Beginn des Krieges in Kauf. Antibolschewistische Einstellungen wusste das „Dritte Reich“ nicht zur eigenen Herrschaftssicherung zu nutzen. Im Gegenteil, veränderte der rassenideologische Terror der deutschen Besatzungsherrschaft, der die Hoffnungen ukrainischer Nationalisten schnell enttäuschte, wichtige Loyalitäten: nicht für Hitler, sondern zugunsten Stalins.
Es gab im Juni 1941 gute Gründe, auf die zahlreichen Warnungen vor „Barbarossa“ nicht mit einem vorschnellen Angriff zu reagieren. Die Vorstellung, dass die Rote Armee in das Generalgouvernement – das deutsche Besatzungsgebiet in Zentralpolen – einmarschiert wäre, um so den Hitler-Stalin-Pakt zu brechen und das „Dritte Reich“ anzugreifen, ist so abwegig wie die vor einiger Zeit diskutierte Präventivkriegsthese. Stattdessen kann entgegen geläufiger Sichtweisen argumentiert werden, dass Stalin zwar mit einer hochriskanten Option, doch kalkuliert, rational und nachvollziehbar reagierte. Dass er den Angriff der Deutschen mit einigen Konzessionen, wie etwa der Beschleunigung von Warenlieferungen in das „Dritte Reich“, so lange wie möglich hinauszögern wollte, steht diesem Argument nicht entgegen. Zeit zu gewinnen war die oberste Maxime. Denn letztendlich wollten weder Stalin noch die Sowjetunion den Krieg. Hitler hatte ihn mit „Barbarossa“ schon verloren. Am Ende dieses Vernichtungskrieges gab es 27 Millionen sowjetische Todesopfer – 14 Millionen davon Zivilisten.
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Pätzold, Kurt / Rosenfeld, Günter (Hrsg., 1990): Sowjetstern und Hakenkreuz 1938–1941: Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, Berlin, S. 297 ↩︎
Hubatsch, Walther (Hrsg., 1965): Hitlers Weisungen für die Kriegführung: 1939–1945: Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, München, S. 77–82, hier S. 81 ↩︎
Churchill, Winston S. (1947): Reden 1940–1941: Der unerbittliche Kampf, Band 2, Zürich, S. 260 ↩︎
Overy, Richard (2005): Die Diktatoren: Hitlers Deutschland,Stalins Russland, Stuttgart, S. 651 ↩︎
Merridale, Catherine (2006): Iwans Krieg: Die Rote Armee 1939 bis 1945, Frankfurt/Main, S. 118 ↩︎
Besymenski, Lew (2006): Stalin und Hitler: Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin, S. 354-368 ↩︎
dazu jüngst: Dimbleby, Jonathan (2021): Barbarossa: How Hitler lost the war, London, S. 246ff. ↩︎
Volkstragödie, Abenteuer, psychologisches Drama, pyrotechnisches Theater, romantische Verklärung – das alles war der Krieg im sowjetischen Film und noch viel mehr. In der Kriegsdarstellung spiegelte sich der Zeitgeist, und das Verhältnis zu diesem Krieg blieb für die Bestimmung des historischen Bewusstseins der sowjetischen Gesellschaft immer richtungweisend. Der Wechsel der Stile war ein genauso sensibles Merkmal einer veränderten Sicht auf den Krieg wie die Koexistenz von staatstragender und nicht angepasster Kunst im Kriegsfilm. Im Kaleidoskop der Genres und Stile nimmt der Film Idi i smotri (Komm und sieh!) von Elem Klimow eine ganz besondere Haltung ein: Er zeigt Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium.
Die ersten Kriegsfilme, die noch während des Großen Vaterländischen Krieges (1941–1945) gedreht wurden, waren naturalistisch und brutal. „Heute und morgen sind wir gezwungen“, sagte Alexander Dowshenko 1942, „den Rahmen des in der Kunst Erlaubten zu erweitern. Heute schreit unsere Leinwand nach Galgen, brennenden Häusern, die mit gequälten Menschen überfüllt sind, nach Gefolterten, nach lebendig Begrabenen. Die unzähligen Opfer stöhnen: Dreht euch nicht weg von uns, die wir einen unästhetischen Tod gestorben sind.“1
Sowjetische Kriegsfilme: Abenteuer, Märtyrer und pyrotechnisches Theater
Der Film Ona saschtschischaet rodinu (Sie verteidigt die Heimat (1943)) stellte die Figur der Mutter in den Mittelpunkt – eine rächende, gnadenlose, „kastrierende“ Mutter (= Russland), die in den 1930er Jahren im Figurenensemble der sowjetischen Kinematografie fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). Diese Frau kann mit dem Beil Feinde erschlagen und den Mörder ihres Sohnes mit dem Panzer niederwalzen. Ihr Hass ist gegen Männer gerichtet, die auf der Leinwand – neben der Vernichtungsarbeit des Krieges – meist bei Trinkorgien dargestellt werden.
Die parallel entstandenen Partisanenfilme verklärten den Krieg auf andere Weise. Es waren Märtyrerfilme wie Soja (1944) oder Marytė (1947), in denen sich junge Mädchen opfern und gefoltert werden, und Abenteuerfilme wie Sekretar raikoma (Der Sekretär des Rayonkomitees (1942)) oder Podwig raswedtschika (Heldentaten eines Kundschafters (1944)), in denen entschlossene starke Männer den Feind besiegen. Sie schlüpfen in die Rolle geheimnisvoller omnipotenter Rächer und spielen mit den dummen Deutschen „Räuber und Gendarm“. Die bärtigen, humorvollen Partisanen werden zu märchenhaften Großväterchen der Nation. Bald geriet der Krieg im Film zum pyrotechnischen Theater. Die perfekten Kriegsspektakel stellen die großen Schlachten nach – von dem auf 70 mm gedrehten Mehrteiler Juri Oserows Oswoboshdenije (Befreiung (1970–1977)) bis hin zu heutigen, von Videospielästhetik geprägten Feuerorgien wie T-34 (2019), einer Panzeroper mit Special Effects.
Menschenschicksale und Romantisierung
Die Lockerungen der Tauwetter-Ära gingen im Film eng einher mit dem Kriegsthema und fanden ihren Ausdruck in den wirklichkeitsgetreuen Schützengrabenfilmen der späten 1950er Jahre: Soldaty (Soldaten, 1956) – der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte damals wie eine erste große Offenbarung. Sudba tscheloweka (Menschenschicksal (1959)) oder die erste Geschichte von einer untreuen Kriegsbraut Letjat Shurawli (Die Kraniche ziehen, 1957) wurden zu Ereignissen. Das individuelle Schicksal war plötzlich genauso wichtig wie das der Massen und die entfesselte Kamera ein Ausdruck dafür.
Die 1960er Jahre stellten den Krieg so dar, wie er in Erinnerung geblieben war. Lichte Melancholie der Ballada o soldate (Ballade von Soldaten (1961)) war hier genauso berechtigt wie radikale Expressivität – Iwanowo detstwo (Iwans Kindheit, 1961). Die gewonnene Authentizität wurde durch Romantisierung abgelöst. Und so blieb es bis Alexej Germans Prowerka na dorogach (Straßenkontrolle (1971)) und Larissa Schepitkos Woschoshdenije (Aufstieg (1977)). Krieg wurde zum einzig erlaubten Terrain, auf dem harte existentielle Fragen – nach der (Un)möglichkeit einer Freiheit der Wahl – abgehandelt werden konnten. Die Parabeln haben eine Wahrheit des Krieges tragisch verallgemeinert.
Eine ganz andere Dimension eröffnete Elem Klimow, als er 1984 denselben Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium inszenierte.
Ästhetisierter Horror oder suggestive Beeinflussung?
Elem Klimow und seine Frau Larissa Schepitko begannen zur selben Zeit am selben Thema zu arbeiten. Larissa nahm sich den Stoff des Belarussen Wassil Bykau, Elem den des Belarussen Ales Adamowitsch vor. Nur wurde sein Projekt nach den ersten Drehtagen 1976 gestoppt und erst 1982 wiederaufgenommen. Adamowitschs Drehbuch basierte auf autobiografischen Erlebnissen, die er bereits in mehreren Büchern (Chatyn-Erzählung, Partisanen, Exekutionskommando, Ich bin aus dem Feuerdorf) verarbeitet hatte. Er dachte zunächst an eine Komödie: die Abenteuer eines halbwüchsigen Tollpatsches im Grauen des Krieges. Klimow entschied sich für einen Horrorfilm mit apokalyptischen Zügen. Er forderte den Zuschauer aggressiv heraus: „Komm und sieh!“ Der Titel ist ein Zitat aus der Offenbarung Johannes (Kapitel 5-8): „Und ich hörte ein viertes Wesen sagen wie mit einer Donnerstimme: ‚Komm und sieh!‘ Und ich sah ein blasses Pferd, und der darauf saß, dessen Name war der Tod, und ihm folgte die Hölle.“
Klimow entrollt das Bild einer Apokalypse im Belarus des Jahres 1943, in einem von Hunderten niedergebrannter Dörfer (Klimow sprach von 600, heute zirkuliert eine Zahl von 9000). Klimow weicht von der dokumentarischen Vorlage Adamowitschs und konkreten Ort-Zeit-Bezeichnungen – Chatyn, 1943 – ab, zielt auf Totalität. Auf ein Bild der Vernichtung. Nicht nur der physischen Natur (Wald, Haus, Mensch), sondern der Psyche. Was kommt, nachdem die Hemmschuhe der Kultur abgeworfen werden und die Menschheit in zwei Lager zerfällt: Metzger und Schlachtvieh? Das Individuum schwindet – es ist nicht sein existentielles Drama. Opfer und Henker haben – nach Klimow – keine individuelle Geschichte. Kein Gesicht. Und in Erwartung des totalen Vernichtungskrieges – der Apokalypse – geht es ja um das Geschlecht der ganzen Menschheit. Statt der Frage nach Entscheidung und Schuld, wie sie in anderen Kriegsfilmen dieser Zeit üblich war, wählte Klimow einen anderen Ansatz: „Das Gesicht des Menschen, der dich erschießt, siehst du nicht. Und es ist unwichtig, ob er gezwungen war, schwach oder willens, welche Kompromisse und Gewissensbisse er zu überwinden hatte – er schießt. Eine Differenzierung von Henkern, egal welche Uniform sie tragen, ist unnötig. Eine Differenzierung von Opfern ebenfalls. Wenn Bomben fallen, sehen wir weder Gesichter noch Nuancen. Für mich war die Frage des Stils entscheidend. Ich habe Coppolas berühmte Apocalypse now gesehen. Aber das war ein Kriegsschauspiel – Theater in realer Landschaft. Für mich muss maximale emotionale Einwirkung mit extremer Wahrhaftigkeit einhergehen. Dabei meine ich nicht dokumentarische Authentizität. Unsere Wahrnehmung ist durch Berge von Leichen im Fernsehen beim Abendbrot völlig abgestumpft.“2
Dagegen kämpft Klimow mit hypnotischer Suggestion von Horror, Ekel, Atemnot und Todesangst an. Mit einer für den Zuschauer unmerklich forcierten Vereinnahmung, mit dessen gewaltsamer Platzierung an die Stelle des Helden – und zwar so raffiniert und allmählich, dass der zum Kommen und Sehen Aufgeforderte dies erst wahrnimmt, nachdem die Falle schon zugeschnappt ist und er nicht mehr entrinnt.
In der ersten Szene beobachtet die Kamera aus einiger Entfernung zwei Jungen, die ein Gewehr aus der Erde buddeln, das einem Toten gehörte, ohne zu ahnen, was das bringt. Bereits in der nächsten Szene, als die Mutter den glücklichen Finder Fljora nicht zu den Partisanen in den Wald lassen will, ändert sich die Perspektive. Über die Optik dieses 14-jährigen naiven Dorfjungen öffnet sich der Blick auf den Krieg. Die Kamera schlendert mit ihm durch das Partisanenlager, staunt über die seltsamen Typen und ihr buffoneskes Leben. Doch allmählich verliert das Gewohnte den Charakter des Sicheren, überall lauert der Tod, und er ist allmächtig. Mit der Bombardierung des Waldes beginnt Fljoras Marsch durch alle möglichen Tode: erschossen zu werden oder im Moor zu ertrinken, auf eine Mine zu treten oder im Feuer zu sterben. Der Ton imitiert sein subjektives Hören, die subjektive langsame Kamerafahrt seinen Blick. Der Regisseur rückt den Zuschauer aus der Position des distanzierten Betrachters heraus, immer mehr in das (physiologische) Erleben des Geschehens hinein. In der Drängelei der Massen in der Scheune – in Erwartung eines gemeinsamen unausweichlichen Endes – überkommt den Rezipienten Atemnot, und er empfindet selbst Bedrohung.
Das verzerrte Antlitz des Jungen wird zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Wenn Fljora dem Massaker entkommt, ist er dennoch als Mensch vernichtet, entwürdigt. Erst hier ändert Klimow erneut die Erzählperspektive: Dokumentaraufnahmen vom Ende des Krieges laufen rückwärts. Fljora entlädt sich, indem er immer wieder auf ein Bild des Führers schießt. Auch dessen Leben spult sich rückwärts ab. Bei einem Kinderbild Hitlers hält Fljora inne. Dies wird meist als Zeichen für wieder aufgebaute Menschlichkeit im Opfer gedeutet. Ob der Zuschauer genauso schnell aufzurichten ist und zur Mündigkeit zurückfinden kann, wird dabei nicht beachtet. Doch diesen Effekt wollte Klimow mit seinem radikalen „Hyperrealismus“ und Schockeffekten erreichen. Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Treibsand voller Leichen, Reiter der Apokalypse auf Motorrädern, die aus dichtem Nebel erscheinen; panoramaartige Szenen, die wie Höllenkreise wirken; weißer Schnee, der am Ende plötzlich wie ein Leichentuch die Märtyrer bedeckt.
Klimows Arbeitsmethoden waren, wie so oft bei seinen Filmen, ungewöhnlich. Um bei den Darstellern die Intensität des Grauens zu maximieren, ließ er das Gerücht verbreiten, dass ein tatsächliches Feuer gelegt wird. Anstelle der üblichen Platzpatronen wurden – trotz des erheblichen Risikos – echte Granaten und Leuchtspurgeschosse benutzt. Mit seinem Hauptdarsteller, einem 16-jährigen Moskauer Jungen, arbeitete Klimow nach der von ihm entwickelten „Methode der Posthypnose“. Um ihn vor psychischen Schäden zu bewahren, gab es im Filmstab eine Gruppe von Psychologen und Hypnotiseuren, die den Jungen nach den enormen Belastungen in den Zustand der Ansprechbarkeit zurückholten. Auch den Zuschauer schonte Klimow nicht: „Der denkt, er wisse alles über den Krieg. Aus Büchern, Filmen, aus Familiengeschichten. Doch Information ist nicht alles – gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd.“ Klimows Film erschien im selben Jahr wie das Buch des französischen Philosophen Paul Virilio Krieg und Kino (dt. 1986). Beide meinten, unabhängig voneinander, dass es keinen Krieg ohne die Eroberung der Wahrnehmung gebe. Kriegsfilme, die eine derartige psychologische Macht ausüben, gehörten daher in die Kategorie der Waffen. Klimows Film ist auf diese überwältigende suggestive Wirkung ausgerichtet. Die internationale Kritik sah in ihm einen barbarischen Zirkus, eine Mischung aus lyrischer Poesie und expressionistischem Albtraum und – ein gnadenloses Meisterwerk.
In der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie der Nazis galten die Menschen aus der Sowjetunion als „Untermenschen“. Antislawismus vermischte sich dabei mit Zynismus: Einige der rund drei Millionen verschleppten Zwangsarbeiter mussten Waffen herstellen, mit denen Menschen in ihrer Heimat getötet werden sollten.
Der Einsatz von sogenannten „Ostarbeitern“ in der deutschen Kriegswirtschaft ist Thema des Podcasts von ХЗ: Julia Boxler, Ani Menua und Helena Melikov befragen für dekoder die Historikerin Ksenja Holzmann zum Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion.
Ein halbes Jahrhundert lang lag ein Erinnerungsschatten über den Schicksalen der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion: In der deutschen Erinnerungskultur war dieses dunkle Kapitel der NS-Zeit kaum sichtbar. Auch in der Sowjetunion herrschte Schweigen über die tragischen Schicksale von fast drei Millionen Menschen.
In Deutschland konnten erst nach der Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) die individuellen Entschädigungszahlungen an die zivilen Zwangsarbeiter am 30. Mai 2001 beginnen. Heute, 76 Jahre nach Kriegsende, sind einige von über 30.000 Zwangsarbeitslagern Gedenkorte. In den vergangenen Jahren kamen in Deutschland zahlreiche Publikationen heraus, auch die Zivilgesellschaft beschäftigt sich immer mehr mit dem Thema.
Auf Afisha zeichnet Memorial-Mitarbeiterin Ewelina Rudenko die Aufarbeitung in Russland nach – und schildert, wie diese eigentlich „aus Versehen“ begann.
dekoder zeigt Bilder und erzählt die Geschichten dahinter – in Zusammenarbeit mit Batenka. Memorial-Mitarbeiterin Irina Schtscherbakowa ordnet die Bilder ein und erklärt, warum viele Zwangsarbeiter über Jahrzehnte ihre Biografie verheimlichen mussten.
Ewelina Rudenko, Koordinatorin des Memorial-Projekts Digitalisierung des „Ostarbeiter“-Archivs
1990 erschien in der Zeitung Nedelja ein kurzer Artikel über „Ostarbeiter“. Darin hieß es, dass die Organisation Memorial die Entschädigungszahlungen an die Menschen übernehmen würde, die während des Großen Vaterländischen Krieges zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. Der Artikel wurde in unzähligen Lokalzeitungen nachgedruckt. Ein paar Monate später hatte Memorial etwa 320.000 Briefe von ehemaligen „Ostarbeitern“ und ihren Verwandten erhalten. In der Hoffnung auf eine gerechte Wiedergutmachung und aus dem Wunsch heraus, ihre Geschichte zu teilen, schrieben die Menschen ausführliche Briefe, schickten Fotos und Dokumente von ihrer Zeit in Deutschland. So entstand die Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Zwangsarbeit, die Memorial International angelegt hat, durch einen glücklichen Zufall.
Als Geschichtsstudentin hat mich allein schon die Möglichkeit fasziniert, Fotos aus der Kriegszeit in Deutschland in den Händen zu halten. Aber noch viel beeindruckender waren die Erzählungen der „Ostarbeiter“ über den Krieg.
Denn das war nicht die übliche Stimme der Sieger (die uns aufgedrängt wird und die mit jedem Jahr lauter erklingt), sondern der Blick der Opfer, die man gezwungen hatte, sich selbst für Verräter und nicht für Opfer zu halten.
Das war nicht die übliche Stimme der Sieger
Dank der „Ostarbeiter“ habe ich zum ersten Mal ganz klar verstanden und gespürt, dass der Krieg keine unendliche Reihe von Schlachten und Siegen ist, sondern eine einzige riesige Tragödie, die Millionen Menschenleben zerrüttet und zerstört hat.
Nach der Lektüre all dieser Briefe und Erinnerungen kam mir die erschreckende Erkenntnis, wer die „Ostarbeiter“ eigentlich waren: Es waren überwiegend junge Frauen zwischen 17 und 18 Jahren, meistens aus Dörfern. Frauen, die möglicherweise diese Dörfer noch nie verlassen hatten, keine Großstädte kannten, noch nie Zug gefahren waren, wohl kaum je fotografiert worden sind. Und diesen jungen Frauen steht nun bevor, ins Hinterland des Feindes verschleppt zu werden und die Bomben zu produzieren, die auf ihre Heimatdörfer niedergehen würden. Sie würden sich inmitten der Faschisten wiederfinden, in der Fremde, ohne jegliche Sprachkenntnisse. Ihr erstes Foto wird also das Bild für den Ausweis (im Orig. dt. – Anm. d. Übers.) mit einer Kennziffer auf der Brust. Obendrein werden sie in Deutschland keinerlei Information darüber erhalten, was an der Front passiert, ob ihre Angehörigen noch leben, und vor allem, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren werden. Das scheint mir einzigartig in der Geschichte zu sein, und ich warte nur darauf, dass ein Psychologe oder Volkskundler sich dieses Themas annimmt und ein Buch darüber schreibt.
Fast alle Mädchen haben selbsthergestelltes Rouge auf den Wangen. Im Archiv von Memorial International gibt es Dutzende von Geschichten über die Herstellung von Kosmetika aus improvisierten Materialien.
Alle jungen Frauen sind festlich gekleidet, einige von ihnen tragen Schmuck. Sie hatten kaum Möglichkeiten, ihre winzigen Gehälter auszugeben. Kleidung war teuer (obwohl es Ausnahmen gab – einige „Ostarbeiterinnen“ erwähnten den Kauf von Pullovern, die „den Juden abgenommen“ worden waren). So war billiger Schmuck die einzige Mode, die den Mädchen im Teenageralter zur Verfügung stand. Kleider wurden für gestellte Fotos ausgeliehen.
In der Beschreibung zum Foto erwähnt Maria, dass die Haushälterin ihnen Kuchen zur Neujahrsfeier geschenkt hatte. Die durchschnittliche Verpflegung der Zwangsarbeiter bestand aus Steckrübensuppe zweimal am Tag und 200 Gramm Brot mit verschiedenen Beimischungen. Den meisten dokumentierten Erinnerungen ist gemeinsam, dass die Menschen ständig Hunger hatten und Kartoffelschalen aus Küchenabfällen gestohlen haben. (Irina Schtscherbakowa)
Nikolaj Kirejew
1942 mit 16 Jahren aus der Oblast Orlow verschleppt. Arbeitete in Rüstungsfabriken in Berlin. Kam später, nach einem misslungenen Fluchtversuch, ins Konzentrationslager.
„[…] [An Wochentagen] mussten wir um fünf aufstehen, dann gabs Kawa, wie die Polen sagten. Kawa heißt Kaffee. Die Schüssel hast du immer bei dir – das war die wichtigste Ausrüstung, für den Fall, dass dir jemand wo was einschenkt. […] Und einen Laib Brot. […] Ein gewöhnliches, wenn du es anfasst, ist es, als wäre es aus Sägespänen, die zusammengepresst wurden. Nichts als Späne. Du isst es, und es scheint zu schmecken. Das war morgens. Sozusagen unser Frühstück. Ein Brot für fünf Leute […]. So groß wie ein Borodinski-Brot, oder sogar noch kleiner […]. Mittag gab es aus Kübeln. Sie nannten es Kohlrabi. Das gab es ständig. Kohlrabi ist sowas wie sehr fester Kohl. […] Zum Abendessen gab es gar nichts. Es gab nur zwei Arten von Mahlzeiten am Tag. Nein, manchmal gab es [zum Abendessen] Mehlsuppe. Also einfach nur aus Mehl. Sonst nichts, kein Fett.
Manchmal, an großen Feiertagen, gab es etwas … An Hitlers Geburtstag, am 20. April, war ich [im Spandauer Zwangsarbeitslager] in der Rauchstraße. Zur Feier des Tages gab man uns ein Stückchen Margarine, so groß wie eine Streichholzschachtel. Danach gab es … – davon hatten sie offenbar zu viele – Frösche. Die Frösche gingen sehr gut. Frösche gab es oft an Feiertagen. Die Schenkel und den Rumpf mit irgendeiner Marinade. Das war ein hervorragendes Essen. Ich habe immer versucht, einen zweiten und dritten Nachschlag zu bekommen, weil ich sie sehr gern aß. Das Hungergefühl verschwand nie. […] Dann gab es noch so rote Stiele. Manchmal so dick wie ein Arm. Was das für Stiele waren, weiß ich nicht. Aber die waren süß, mit solchen langen Fäden. Das war ein hervorragendes Essen. Aber vielleicht erschien mir das damals auch nur so […].“ (Quelle)
Auf diesem gestellten Foto sind fast alle sitzenden Männer dem Fotografen zugewandt, die Menschen im Vordergrund schauen ins Objektiv, einer von ihnen isst. Während der Feiertage wurden in Kantinen oder anderen Gemeinschaftsräumen fast überall geschmückte Weihnachtsbäume aufgestellt – auch für Propagandafotos.
Abgekratzte Stellen sind charakteristisch für viele Fotos von ehemaligen „Ostarbeitern“. In der Regel wurden einzelne Motive nach dem Krieg entfernt, um die kompromittierenden Fotos nicht im Familienarchiv aufzubewahren. Dies betraf meistens Nazi-Symbole oder Aufnäher mit der Aufschrift „OST“. Nicht unüblich war es auch, Hitler-Portraits auf Fotos zu entfernen (in diesem Fall oben links). (Irina Schtscherbakowa)
Galina Schalankowa
1942 mit 17 aus der Oblast Sumskaja (Ukraine) verschleppt. Arbeitete im Lager an einer Chemiefabrik bei Wittenberg (Sachsen-Anhalt). „In diesem Lager wurden alle, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, sofort geschlagen und so weiter. […] Als ich mir also die zwei Finger abgehackt hatte, um nicht an der Maschine arbeiten zu müssen, wurde ich ins Labor versetzt, als Putzfrau. Da haben sie [die anderen Arbeiterinnen] gesagt: ‚Galja, bring doch einen Viertelliter Alkohol mit, bitte doch deine Chefin. Und dann feiern wir Neujahr.‘ Wenn sie mich drum bitten, kann ich doch nicht nein sagen, es sind ja meine Freundinnen. Ich hatte einen Mantel, […] im Rockschoß [vom Mantel habe] ich den Viertelliter versteckt.
Und dann – nicht alle werden am Kontrollpunkt durchgelassen, [es heißt]: du, du und du, raus zur Kontrolle. Auch ich war eine von denen [die überprüft werden sollten]. […] Eine Frau hat mich durchsucht. […] Ich sagte: ‚Schnaps.‘ Und sie: ‚Hm, ein Viertelliter. Wozu hast du den genommen?‘ ‚Um Neujahr zu feiern‘, sage ich. ‚Die Chefin hat ihn mir gegeben, ich habe ihn nicht gestohlen. Ich habe sie gefragt. Frau Kulta, ich sehe sie noch heute vor mir. Ich hatte zu ihr gesagt: ‚Gib uns einen Viertelliter Alkohol, dann können wir es wenigstens feiern, das neue Jahr.‘
Also wurden wir zur Seite genommen. Da waren noch ein paar junge Männer, die mit irgendwas erwischt worden waren. Das wars, Hände hoch. Man brachte uns zur Gestapo. Und damit wir nicht mit leeren Händen liefen, bekamen alle irgendetwas zum Tragen, einen Stuhl, eine Kiste, einen Baumstamm. Damit auch alle sehen, dass du etwas angestellt hast, und damit du dich gleichzeitig nützlich machst. Wir kamen […] in den Verhörraum, dort wurde alles aufgeschrieben, wer, was, warum. Und dann ging es weiter zur Gestapo, dorthin, in die Baracke, in diese Baracke kamen wir […] unter die Pritschen. Wir waren drei junge Frauen. Die Männer kamen natürlich woanders hin. Drei Tage ohne Essen und Trinken. Wir waren froh, dass sie uns nicht mit den Schlagstöcken geprügelt haben. […] Das wars. […] Sie können sich vorstellen, was für einen Hunger wir hatten.“ (Quelle)
Dieses Foto zeigt, wie Propagandabilder aufgenommen wurden: Der Fotograf verwendet zwei Scheinwerfer, die auf das Zentrum der Aufnahme gerichtet sind. Dort steht eine gut gekleidete junge Frau mit einem „OST“-Kennzeichen. Sie lächelt in die Kamera und nimmt einen Teller Suppe aus den Händen einer ebenso gut gekleideten Köchin entgegen. Viele „Ostarbeiter“ berichten darüber, dass sie gezwungen worden sind, für Fotos zu lächeln. Die Gesichter von Personen, die nicht von Anleuchtgeräten angestrahlt werden, haben einen auffallend anderen Ausdruck als die Gesichter derjenigen, die im Propagandabild sind. (Irina Schtscherbakowa)
Irina Schtscherbakowa, Koordinatorin der Bildungsprojekte von Memorial, Historikerin, Mitverfasserin des Buchs Für immer gezeichnet
In Deutschland gab es viele verschiedene Lager: Arbeitslager, Straflager für Kriegsgefangene und Konzentrationslager (die härtesten von allen). Die Stellung der „Ostarbeiter“ war ein klein wenig besser als jene der KZ-Häftlinge. Allerdings hing alles davon ab, wo sie lebten und arbeiteten: War es ein großes Lager, das zu einer Rüstungsfabrik gehörte, brauchten sie eine Genehmigung, um in die Stadt gehen zu dürfen. War es ein Haushalt, den sie besorgten, durften sie ruhig rausgehen, um Aufgaben zu erledigen (beispielsweise die Kinder von der Schule abzuholen). Aber sie durften nicht alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, sondern nur bestimmte Strecken damit fahren. Bis 1944 mussten sie das Kennzeichen „OST“ tragen: Wurden sie ohne angetroffen, wurden sie bestraft.
Im Großen und Ganzen behandelte man sie wie unbezahlte Arbeitskräfte. Der Lohn, den sie für ihre Arbeit bekamen, war so mickrig, dass sie höchstens eine Flasche Limonade dafür hätten kaufen können.
Natürlich gab es auch Deutsche, die Mitleid mit den „Ostarbeitern“ hatten und ihnen heimlich Stullen in der Fabrik daließen. Doch ein engerer Kontakt war durch die deutschen Gesetze strengstens untersagt. Freundschaftliche und erst recht Liebesbeziehungen wurden verfolgt. Bestraft wurden vor allem die „Ostarbeiter“, aber manchmal trafen die Strafen auch Deutsche – insbesondere bei Liebesbeziehungen, denn diese galten als ein Verstoß gegen die Rassengesetze.
Nach dem Kriegsende sollten die „Ostarbeiter“ gemäß dem Abkommen von Jalta durch die Alliierten an die sowjetische Regierung ausgeliefert werden. Aber schon bald unterbreiteten die Amerikaner den „Ostarbeitern“ das Angebot, nicht in die sowjetische Besatzungszone zu gehen. Viele nahmen das Angebot an und blieben in den Lagern, die nun der amerikanischen Besatzungsmacht unterstanden. Diejenigen, die aber zurückkehrten, mussten eine Filtration durchlaufen. Wenn ihnen außer der Verschleppung nach Deutschland nichts vorgeworfen wurde, bekamen sie eine Bescheinigung. Damit konnten sie per Militärtransport in die Heimat zurückkehren. Einige – nicht sehr viele – wurden zu Zwangsarbeit und in die Arbeitsarmee geschickt. Mehrere Jahre mussten sie am Wiederaufbau von Zechen und Elektrizitätswerken mitarbeiten.
Der Vermerk, für die Deutschen gearbeitet zu haben, war ein Makel in den persönlichen Akten der Menschen. Ehemalige „Ostarbeiter“ durften nicht in den Großstädten (Moskau, Leningrad, Kiew) leben, keine höhere Bildungsanstalt besuchen, nicht dem Komsomol oder der Partei beitreten. Ein kleiner Prozentsatz der „Ostarbeiter“ wurde verhaftet und noch zwei Jahre nach der Rückkehr repressiert. Nach Stalins Tod besserte sich die Lage ein wenig, trotzdem fühlten sich die ehemaligen „Ostarbeiter“ als Menschen zweiter Klasse. Ihnen wurde zwar nicht vorgeworfen, das Vaterland verraten zu haben – andernfalls wären mehr als zwei Millionen zurückgekehrte Menschen in sowjetischen Lagern gelandet. Doch im Alltag hing immerzu der Verdacht über ihnen, sie hätten für den Feind gearbeitet.
Da sich die „Ostarbeiter“ ausgestoßen und stigmatisiert fühlten, verheimlichten viele nach Möglichkeit ihre Biografie. Über sie und ihr Schicksal wurde nicht geschrieben. Dies änderte sich erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Damals begann die deutsche Regierung mit den Entschädigungsleistungen.
Am 9. Mai wird in Belarus wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken der Tag des Sieges begangen. Auch in Minsk wird mit einer Parade an das Ende des Großen Vaterländischen Krieges, beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs in Europa, und an den Sieg über den Faschismus erinnert. Zu dem Feier- und Gedenktag gehört auch, dass Veteranen am 9. Mai kostenlos Telefonate über den staatlichen Dienstleister Beltelekom führen können. Wie aber hat sich die Erinnerungskultur zum Tag des Sieges in den Jahren seit der Unabhängigkeit der Republik Belarus gewandelt? Wird die junge Generation von den sowjetischen Mythen überhaupt noch erreicht? Ein Bystro von Historiker Alexey Bratochkin in acht Fragen und Antworten.
1. Wie wird der Tag des Sieges aktuell in Belarus begangen und wie hat sich das seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 verändert?
In den Jahren der Unabhängigkeit hat sich der politische Kontext der Erinnerung verändert: Das Erinnern in den Familien, das individuelle Gedenken entfernt sich immer weiter von der offiziellen Version, es ist nuancierter geworden und längst nicht mehr schwarz-weiß, auch wenn die Idee vom Sieg über den Faschismus weitergetragen wird.
Das offizielle Erinnern ist endgültig zu einem Stereotyp geworden, das nicht auf Veränderung ausgerichtet ist. Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2020 lief in allen belarussischen Staatsmedien das Projekt Belarus erinnert sich, dessen Analyse zu verstehen hilft, was diese Erinnerung ausmacht: Betont werden die heroische, idealisierte Selbstaufopferung und die Heldentaten der Soldaten und Partisanen auf der einen, und die Tragödie der zivilen Bevölkerung auf der anderen Seite. Alle anderen Themen werden in keiner Weise kritisch oder realistisch beleuchtet (beispielsweise die Themen Kollaboration, Alltag unter der Besatzung, Holocaust und jüdischer Widerstand oder Kriegsgewalt auf beiden Seiten).
Die Erinnerung an den Krieg steht grundsätzlich nicht mehr im Zentrum des offiziellen Projekts, eine kollektiven Identität zu erschaffen, wie es in den 1990er Jahren und früher der Fall war. Sie bildet lediglich den Hintergrund für die Versuche, den Autoritarismus und seine Praktiken zu legitimieren. Denken wir beispielsweise an die Militärparade in Minsk zum 9. Mai 2020 – auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie, die von der Staatsmacht ja mehr oder weniger ignoriert wurde.
2. Sie nutzen den Begriff Zweiter Weltkrieg. Ist Großer Vaterländischer Krieg nicht mehr gebräuchlich in Belarus?
In Belarus wird zwar immer noch vorwiegend der Begriff „Großer Vaterländischer Krieg“ verwendet, aber er gerät zunehmend in die Kritik und ist Gegenstand von Diskussionen. Der Feiertag wird ja auch mittlerweile zum großen Teil von Menschen begangen, die lange nach Kriegsende geboren sind. Man kann es so sagen: Die Verwendung des Begriffs „Zweiter Weltkrieg“ ist typisch für diejenigen, die sich von der sowjetischen Erinnerungskultur distanzieren wollen oder, wie die jüngere Generation, die Geschichte des Krieges von vornherein außerhalb des sowjetischen Kontextes wahrnehmen, als eine Geschichte, an der viele Länder beteiligt waren.
3. Wie nehmen jüngere Generationen, die die Sowjetunion nicht mehr bewusst erlebt haben, diesen Gedenktag überhaupt wahr?
Die sowjetische Interpretation der Geschichte des Krieges hat sich in den Jahren der Unabhängigkeit gewandelt. Mittlerweile haben wir es mit einem Hybrid aus dem sowjetischen Narrativ und den Versuchen der Staatsideologen zu tun, dieses Narrativ zu nationalisieren. Es wird nicht mehr die sowjetische Identität der Kämpfenden betont, sondern die belarussische. Gleichzeitig werden alle unangenehmen Fragen ausgeblendet.
Auf junge Menschen wirkt das alles wie ein überholtes Ritual. Sie wollen eine „Belebung“ des Gedenkens, persönliche Geschichten, Offenheit, ein Verständnis für die Schattenseiten des Krieges. Die Erinnerung muss in für sie verständlichen Medien präsentiert werden – Youtube, Instagram, digitalen Projekten und so weiter, mit der Möglichkeit zur Interaktion. Die Jugend will die Geschichte des Krieges „von unten“ sehen, als Erzählung einer persönlichen Erfahrung, nicht als Ansammlung stereotyper Propaganda-Parolen.
4. Inwiefern widerspiegeln kritische Haltungen gegenüber den aktuellen Machthabern andere Auffassungen von diesem Feiertag?
Natürlich wird in Belarus über verschiedene Interpretationen des Krieges gesprochen. Manche sehen in der Verehrung des Sieges eine spezifische Fortsetzung: die Rückkehr zum Stalinismus und seiner Vorkriegsatmosphäre. Manchen liegt die Idee von den zwei totalitären Systemen näher – dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen und vor diesem Hintergrund dann die nationale Tragödie.
Mainstream in unserer Gesellschaft ist aber, dem Krieg die entscheidende Rolle für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben, für die Geschichte von Belarus und die kollektive Identität. Gerade deshalb hat die Gesellschaft den Machthabern lange alle Manipulationen verziehen – denn sie waren populistisch und verstärkten die Vorstellung vom Alleinanspruch auf Kriegserinnerung. Heute haben Manipulationen an der kollektiven Erinnerung einen gegenteiligen Effekt – man assoziiert das Regime mit den Manipulationen und nicht mit dem Bedürfnis nach Identität.
5. Gerade der Mythos der „Partisanenrepublik“ war lange mit der Identität von Belarus verbunden. Welche Bedeutung hat dieser Mythos heute noch?
Der Mythos ist tatsächlich erhalten, obwohl man schwer sagen kann, was wir mit dem Wort Partisanen überhaupt meinen. Zum Beispiel gab es während der Proteste sogenannte „Cyberpartisanen“, die die Internetseiten der staatlichen Behörden zu hacken versuchten. Oder wenn wir über die „Partisanen“-Taktik der Proteste sprechen.
Ich denke, wichtig sind hier weniger die Bezüge zum Zweiten Weltkrieg, obwohl es sie gibt (und die Partisanen-Bewegung ist in diesem Zusammenhang eines der komplexesten Themen), sondern vielmehr der Gedanke, dass „wir das schaffen“, die Idee, ein Subjekt zu sein, aktiv zu sein, zu handeln.
Ich denke außerdem, dass man schon lange aufgehört hat, das Wort „Republik“ im sowjetischen Sinne zu gebrauchen – als Terminus, der ein Teilgebiet der UdSSR beschreibt und nichts mit der politischen Bedeutung von res publica zu tun hat: einer gemeinsamen Sache, mit Solidarität, den Werten politischer Teilhabe.
6. Zeigt sich in den aktuellen Protesten eine politische Haltung der Bevölkerung, die möglicherweise der offiziellen Erinnerung zum Tag des Sieges kritisch gegenübersteht?
Die Proteste begannen im Zusammenhang mit politischem Betrug, sie hatten nichts mit der Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu tun. Die erste Massendemo fand nach dem 9. August 2020 statt, rund um das Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk. Erst später ging das Regime dazu über, die Demonstrierenden fast schon zu Faschisten zu erklären, die die heiligen Werte mit Füßen treten würden – und bei allen späteren Protesten wurde das Museum durch das Militär abgeriegelt. Es war das Regime, das die Erinnerung an den Krieg instrumentalisierte. So versuchen die Ideologen der Staatsmacht, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für den Kampf gegen die politische Opposition zu instrumentalisieren (wie schon Mitte der 1990er Jahre), indem sie die Proteste von 2020 und ihre Symbolik mit dem Kollaborationismus zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Verbindung bringen.
7. Der Holocaust, der Belarus nahezu vollständig seiner jüdischen Bevölkerung beraubte, gehörte eigentlich nie zur offiziellen Erinnerungskultur zum Tag des Sieges. Gibt es dahingehend Wandlungsprozesse?
Ich sehe heute keine einheitliche Erinnerungskultur, die für alle gelten würde. In den staatlichen Medien spielt das Thema Holocaust während der Feierlichkeiten zum 9. Mai eine untergeordnete Rolle. Es gibt zwar noch andere Gedenktage, die dem Holocaust gewidmet sind, aber selbst dann wird nicht viel darüber geschrieben. Ich denke, dieses Jahr werden sich die Staatsmedien darauf konzentrieren, den Kollaborationismus der Kriegszeit mit den Protesten in Verbindung zu bringen. Aber viele haben kein Interesse an den staatlichen Medien, sie informieren sich stattdessen zum Beispiel in den sozialen Netzwerken. Dort sieht man viele Fotos, Familiengeschichten, darunter auch Erinnerungen an den Holocaust. Aber das ist die Mikroebene des Gedenkens.
8. Gibt es Debatten darüber, wie ein Tag des Sieges in Zukunft begangen werden könnte?
Öffentlich wird das Thema in Belarus kaum diskutiert. Ich erinnere mich zum Beispiel aber an die Präsentation der Publikation Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, die sich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes mit dieser Frage beschäftigte. Darin wurden für alle betroffenen Länder verschiedene Szenarien gezeichnet: Dass der Feiertag zu „einem von vielen“ werden oder im Zuge der zunehmenden politischen Instrumentalisierung des Kriegsgedenkens in Belarus und Russland mehr und mehr profanisiert werden wird. Ich denke, die Instrumentalisierung des Gedenkens könnte auch zu einer Reaktualisierung der Erinnerung führen und den gegenteiligen Effekt haben, dass es da noch Diskussionen geben wird. Der Einsatz von Militärtechnik beispielsweise während der Niederschlagung der Proteste in Minsk hat eine große Debatte darüber ausgelöst, inwiefern wir die Erfahrung der Gewalt in unserem Land historisch reflektiert haben, unter anderem auch die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Alexey Bratochkin Übersetzerin: Jennie Seitz Veröffentlicht am 06.05.2021
Aldona Wolynskaja ist ihr ganzes Leben lang davongelaufen, hat Dokumente zerrissen, Namen und Nachnamen geändert. Aber die Vergangenheit hat sie immer wieder eingeholt. Sie war im Dritten Reich eine zivile Zwangsarbeiterin aus der Sowjetunion. Anastasia Platonowa hat Aldonas Geschichte aufgeschrieben – die mit dem Kriegsende noch lange nicht vorbei war.
Als das Auto in Brest ankam, überreichte man Aldona einen Umschlag mit ihren Papieren. Sie stieg aus dem Studebaker, nahm ein Blatt aus dem Umschlag, sah die Aufschrift „Waisenheim Odessa“ und zerriss es in kleine Schnipsel. Dann zog sie das nächste Dokument hervor, und noch eins. Aldona machte das nicht zum ersten Mal: Sie wollte verheimlichen, dass ihre Eltern verhaftet worden waren, der Vater tot und die Mutter im Lager, und dass man sie selbst, eine junge Frau von 20 Jahren, vor fünf Jahren nach Deutschland verschleppt hatte. Sie saß auf dem Bordstein der Nachkriegsstraße und riss das Papier in immer kleinere Schnipsel, damit niemand mehr etwas lesen konnte. Damit niemand etwas erfuhr.
Herbst 1942: Nowoukrainka – Kirowograd [Ukraine]
Als man sie in die Waggons lud, war rundum lautes Geheul. Die Jugendlichen aus dem Waisenhaus, die man nach Deutschland brachte, wurden von den „Kleinen“ verabschiedet – von denen, die man nicht mitnahm, weil sie als Arbeitskraft noch nicht zu gebrauchen waren. Noch nicht.
Aldona hatte so gut wie nichts an. Ihre Garderobe bestand aus einem Sommerkleid aus grober Baumwolle. Es war aus dem Bühnenvorhang im Waisenheim genäht, und einem BH aus zwei zusammengenähten Pionierhalstüchern.
In Kirowograd kletterten sie und ein paar andere Mädchen aus dem Waggon und liefen über die Gleise. Sie wollten eigentlich wegrennen, aber wo sollten sie schon hin – fast die ganze Ukraine war seit Herbst 1941 in deutscher Hand. Die Mädchen überlegten kurz und gingen wieder zurück zum Zug, der sie nach Deutschland brachte.
Aldona wusste, dass sie von Deutschland nichts Gutes zu erwarten hatte: Im Waisenhaus kamen Briefe von Kindern an, die man schon früher geholt hatte. Sie benutzten codierte Ausdrücke, um zu sagen: In Deutschland geht es ihnen schlecht.
Aldona wurde nach Deutschland verschleppt, als sie gerade 16 Jahre alt war. Mit ihr fuhren ihre Freundinnen Elja und Aina und andere Jugendliche aus dem Waisenhaus in Nowoukrainka.
Frühjahr 1938: Moskau
Als Aldona zwölf Jahre alt war, zog ihre Mutter ein schwarzes Kleid an und verließ das Haus. Drei Tage lang war sie schon weg. Aldona ging zur Schule, bezahlte die Miete, ging nach der Schule draußen auf dem Sretenski-Boulevard Seilspringen.
Da rief die Nachbarin nach ihr, und als Aldona in ihr Zimmer gerannt kam, waren dort Unbekannte. „Pack deine Sachen, du fährst zu deiner Großmutter. Hast du eine Großmutter?“ Aldona sagte ja. Aber im Stillen fragte sie sich: Wie soll ich zu ihr fahren, wenn ich gar nicht genau weiß, wo sie wohnt? Sie durfte ein paar Kindersachen und zwei Bücher mitnehmen. Aldona suchte sich Puschkin und Tschechow aus. Mit ihnen stieg sie in ein großes schwarzes Auto.
Man brachte sie in ein Durchgangsheim für Kinder. Die anderen Mädchen erklärten Aldona, dass sie alle Kinder von Verhafteten seien. Aldona wurde fotografiert, man nahm ihre Fingerabdrücke und zeigte ihr ihren Schlafplatz. Nach ihrer Großmutter fragte niemand mehr.
Das Danilow Durchgangsheim war 1928 eröffnet worden. Anfang der 1930er Jahre landeten fünfzig Prozent der Kinder dort, wenn sie aus einem Waisenhaus weggelaufen waren. Ab Mitte der 1930er Jahre kamen dann Kinder, deren Eltern, genau wie Aldonas Eltern, verhaftet worden waren. Diese Kinder galten als „sozial gefährlich“, sie wurden getrennt von den obdachlosen Kindern und minderjährigen Straftätern untergebracht. Die Administration ermunterte die anderen Heimkinder die „politischen“ zu schikanieren: Bei Ausflügen wurden sie mit Steinen beworfen und beleidigt. Wenn ein Kind neu im Heim ankam, änderte man unter Umständen absichtlich den Nachnamen, um die Suche zu erschweren, nahm seine Fingerabdrücke und machte Fotos. Kinder, die miteinander verwandt waren, wurden bewusst getrennt und in verschiedene Kinderheime geschickt.
Aldonas Vater, Baltrus Matusjawitschjus, war Kommunist und Untergrundkämpfer in Litauen gewesen. Als er in die Sowjetunion zurückkehrte, änderte er seinen Namen in Wladimir Wolynski und arbeitete im Kreiskomitee der Stadt Istra. Im Sommer 1937 wurde er verhaftet und wegen Vorbereitung eines Attentats auf Stalin angeklagt. Im April 1938 kam die Vorladung für Aldonas Mutter, Nona Lichodijewskaja. Sie hielt sich bereit: Sie war sich sicher, dass sie, eine ehrliche Frau, nichts zu befürchten habe. Außerdem war sie gerade erst wieder in die Partei aufgenommen worden, sie dachte, es würde sich bald alles aufklären, die Gerechtigkeit siegen. Nona wusste nicht, dass ihr Mann, Aldonas Vater, bereits vor drei Monaten erschossen worden war und jetzt in einem Graben in Kommunarka bei Moskau lag. Als sie die Vorladung erhielt, verließ sie ruhigen Gewissens das Zimmer auf dem Sretenski-Boulevard.
Aus dem Durchgangsheim brachte man Aldona in einem Schwarzen Raben fort; es hieß, es ginge ins Sommerlager ans Meer. Im Vorbeifahren sah sie den Park Kultury und ein Haus, in dem Freunde der Familie wohnten und in dem Aldona mit ihrer Mutter oft zu Besuch gewesen war. Der Schwarze Rabe fuhr immer weiter.
Den Kindern erklärte man, wenn sie jemand fragt, sollten sie antworten: Wir sind Einser-Schüler und fahren ins Artek. Später im Zug saß neben Aldona ein Mädchen, dessen Eltern ebenfalls verhaftet worden waren. So lernte sie ihre Freundin Elja kennen, und dann auch Aina. Aina fiel sofort auf: Sie war mit ihren Eltern gerade aus England zurückgekehrt, war grell gekleidet und trug eine kleine Uhr ums Handgelenk. Solche Uhren hatte in der Sowjetunion niemand.
Herbst 1944: Guben, Deutschland
Eines Abends kam Aina zusammen mit einer Freundin, und sie riefen Aldona ans Fenster. Die wohnte weit oben im dritten Stock, die Hausherrin hatte Aldona ein Zimmer unterm Dach gegeben. Aldona ging nach unten zu den Mädchen.
„Wir rennen weg.“ „Und was ist mit mir?“ „Na los, pack deine Sachen.“
Aldona rannte hoch. Ihre deutsche Arbeitgeberin behandelte sie nicht schlecht, hatte Aldona sogar einmal Lohn gezahlt, ließ sie manchmal am gemeinsamen Tisch sitzen und schenkte ihr eines Tages ein von Motten zerfressenes Kleid. Dafür putzte Aldona das Haus und den Laden und wenn eine Lieferung kam, schleppte sie 50-Kilo-Säcke. „Es ist das 20. Jahrhundert und ich bin eine Sklavin“, klagte Aldona Aina ihr Leid. Ob sie weglaufen soll, musste sie nicht lange überlegen.
Aina hatte weniger Glück gehabt: Sie wurde in ein Krankenhaus eingeteilt, in eine Baracke für Ausländer, und das Mädchen brach schier zusammen vor Arbeit. Eine Freundin hatte Aina dann zur Flucht angestiftet, ebenfalls eine Ostowka aus dem Waisenhaus: Vor lauter Wut hatte sie ihre Arbeitgeberin, eine reiche Deutsche, mit einem nassen Lappen geschlagen. Die Mädchen hatten sich Mut angetrunken und waren mit der halbleeren Weinflasche zu Aldona gerannt: sich verabschieden.
Zu dritt fuhren sie schließlich nach Berlin, wuschen sich in einer Bahnhofstoilette, setzten sich auf den Bahnsteig und machten sich daran, ihre Papiere zu vernichten: zerrissen den deutschen Ausweis [dt. im Orig. – dek], rissen alles in kleine Schnipsel, damit die Deutschen nicht merkten, dass drei Ostowkas vor ihren Herrinnen davongelaufen waren, kauften Fahrscheine nach Polen, um nach Hause zu fahren. Aber sie wurden erwischt: An der Grenze wurden alle kontrolliert; die Mädchen stiegen aus, ließen die Kontrolleure vorbei und wollten gerade wieder auf den abfahrenden Zug aufspringen, als ein Polizist sie bemerkte. Die Mädchen wurden von der Gestapo verhört, aber hatten Glück – sie kamen in ein Durchgangslager. Aldona erinnert sich, dass der Lagerleiter ein netter Mann war:
„Na Mädels, wollt ihr arbeiten?“ „Ja!“ „Wo wollt ihr denn hin?“
Die immer hungrigen ehemaligen Heimkinder fragten sofort nach der Küche. Der Leiter sagte, es gebe zwar eine, aber da wolle niemand hin – zu gefährlich.
„Warum denn gefährlich?“ „Das ist ein Flugplatz, der wird bombardiert.“ „Das ist uns egal, Hauptsache es gibt etwas zu essen.“
Sommer 1947: Magdeburg, Deutschland, sowjetische Besatzungszone
Bevor sie nach dem Krieg nach Hause zurückkehren durften, mussten Ostarbeiter durch Filtrationslager des NKWD, wo sie verhört wurden, manchmal auch unter Folter durch Schlafentzug. Aldona blieb in Deutschland und arbeitete in der Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone – ein recht angesehener und vertrauensvoller Posten. Trotzdem wusste sie: Irgendwann wird man sie holen kommen.
Als man sie ins Gefängnis brachte, war Aldona nicht überrascht. Ihre Kolleginnen in der Verwaltung hatten sie gewarnt, dass mehrere Anfragen vorlagen: Die Führung wollte herausfinden, ob die junge Dolmetscherin etwas zu verbergen hatte. Das hatte sie – beim ersten Mal konnte sie sich herauswinden, aber dann kam trotzdem alles heraus. Sie wurde von zwei Männern abgeholt, die sie von der gemeinsamen Arbeit kannte: Der Ermittler Senka Slutschischkin und Major Sergej Sikejew.
„Der Oberst hat gesagt, wir sollen dich verhaften.“ „Na, dann los.“
Im Gefängnis war Aldona nicht zum ersten Mal: Zuerst 1944 im Kölner Gestapo-Gefängnis, als die drei flüchtigen Ostowki-Mädchen von der Patrouille gefasst worden waren. Aus dem deutschen Lager kam die junge Frau in ein sowjetisches Filtrationslager. Dort erdachten sie und ihre Freundin Elja ihre Geschichte neu, änderten ihren Heimatort und die Nachnamen, aus Elja wurde Irina. Das Lager verließ Aldona als Mitarbeiterin der sowjetischen Militärverwaltung – die Sicherheitsdienste brauchten Leute, die Deutsch sprachen.
In Magdeburg blieb sie mehrere Monate – dort wusste man nicht, was man mit der Dolmetscherin mit dem Makel im Stammbaum machen sollte.
In der sowjetischen Militärverwaltung wurde Aldona Dolmetscherin: Sie war bei Durchsuchungen und Verhören dabei, übersetzte die Aussagen angeworbener Deutscher. Ihr war klar, dass eine Mitarbeiterin, deren Eltern beide verhaftet worden waren, jederzeit auf dem Platz des Angeklagten landen konnte.
Ihre Vorgesetzten besprachen den Plan für die Festnahmen oft in ihrer Anwesenheit.
„Wie viele Palki hast du schon?“ „Mir fehlen noch drei.“ „Dann lass uns mal sehen, wen wir noch haben.“
Aldona las die Liste vor: Mann, 65 Jahre alt, Angina Pectoris, dazu ein Haufen anderer Krankheiten.
„Gut, der Nächste.“
Der Nächste ist auf Dienstreise, bei dem anderen waren sie schon, wieder der Nächste ist nicht zu Hause. Dann also doch der Alte mit Angina Pectoris.
Aldona verheimlichte ihre Vergangenheit, und eine Zeitlang ging das gut: Die Papiere aus dem Waisenhaus in Odessa waren bei einem Brand vernichtet worden. Aber sie flog trotzdem auf – irgendwann stellte jemand die richtige Anfrage, und die Antwort mit ihrem echten Namen und dem kompletten Lebenslauf, einschließlich der „unzuverlässigen“ Eltern, traf per Luftpost in Magdeburg ein. Aldona kam in dasselbe Gefängnis, das sie von den Verhören her kannte. Dort blieb sie vier Monate, bevor man sie einfach wieder laufen ließ: Man setzte sie in ein Auto, brachte sie nach Brest und überreichte ihr den Umschlag mit Papieren.
Warum war es so gekommen? Aldona wusste es nicht. Aber sie setzte sich hin und fing aus Gewohnheit an, die Papiere zu vernichten. Blatt für Blatt, immer kleinere Schnipel, damit man nichts entziffern konnte, rekonstruieren, einen Faden spinnen zu ihren verhafteten Eltern, dem Durchgangsheim, dem Waisenhaus in Odessa, der Hausherrin in Guben, nach Köln, zur Militärverwaltung in Magdeburg …
Um alle Spuren zu verwischen, heiratete Aldona und zog mit ihrem Mann, der beim Militär war, auf die Halbinsel Sachalin. Sie ahnte, dass sein Vater ebenfalls erschossen worden war, aber sie haben nie darüber geredet. Das Unausgesprochene hatte immer zwischen ihnen gestanden wie eine Wand, und schließlich trennten sie sich.
Fast ihr ganzes Leben lang hielt Aldona ihre Vergangenheit geheim, ihre Herkunft, ihre Familie, änderte ihre Namen, vernichtete Papiere. Aber 1990 tauchten plötzlich in den Zeitungen Artikel auf, die auch sie persönlich betrafen. In der Prawda entdeckte sie eine Adresse der Stadt Köln, die nach ehemaligen Ostarbeitern und Kriegsgefangenen suchte, und entschloss sich, dort hinzuschreiben. Als Antwort bekam sie Hin- und Rückflugtickets samt einer Einladung des Bürgermeisters von Köln. 1990 lief Aldona durch die vertrauten Straßen, erkannte sie wieder und auch wieder nicht – und erhielt ein Dokument, das sie als Opfer des Nationalsozialismus anerkannte. Damit kehrte sie nach Moskau zurück und ihr wurde klar: Sie musste keine Papiere mehr zerreißen. Und sie durfte über alles reden.
„Patriot – Der Name des Parks ist kein Zufall. Hier ist alles durchdrungen von Patriotismus. Auf dem Parkgelände entsteht ein Flugmuseum, ein Museum für Panzertechnik, ein Artilleriemuseum, Sportanlagen, Sportgeräte, historische Ausstellungen sowie Waffen-Ausstellungen. Wir realisieren hier ein Projekt, wo junge Menschen die Exponate nicht nur anschauen, sondern in Militärgeräten fahren und fliegen, mit Feuerwaffen schießen und Fallschirmspringen können.“
Sergej Schoigu, Verteidigungsminister der Russischen Föderation
Auf dem Gelände des Parks finden alle Großveranstaltungen des Verteidigungsministeriums Russlands statt – Ausstellungen, Gesprächsrunden, Kongresse, Briefings und Gremiensitzungen.
Besonders beliebt bei Besuchern ist der historische Erinnerungskomplex Partisanendorf. Der Komplex besteht aus mehr als 20 Objekten (Unterstände, Stallungen, Bunker, Sanitätsstation, Waffen- und Munitionsdepot, Sprengstoffwerkstatt, Küche, Bäckerei, Banja, die Rote Ecke, Klub und so weiter), so werden Leben und Alltag der Partisanentruppen während des Großen Vaterländischen Krieges bis ins kleinste Detail nachgestellt.
Anlässlich des 75. Jahrestags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg wurde auf dem Parkgelände die Hauptkirche der Streitkräfte Russlands zu Ehren von Christi Himmelfahrt erbaut. Patriarch Kirill von Moskau und ganz Russland weihte den Grundstein im Beisein des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des Verteidigungsministers der Russischen Föderation Sergej Schoigu.
Spendensammlungen für den Bau begannen im September 2018. Speziell für diese Kirche entstand das Achiropíiton Nicht von Menschenhand geschaffenes Bild Christi, das die Hauptikone der Streitkräfte der Russischen Föderation wird. Das Bild des Retters ist in einen bronzenen Flügelaltar eingelassen und wiegt rund 100 Kilogramm. Sowohl das Bild als auch der Flügelaltar wurde mit privaten Mitteln von Präsident Putin finanziert. An den Wänden der Kathedrale finden sich Fresken mit Schlachtszenen aus der Militärgeschichte und Texte aus der Heiligen Schrift.
„Die Ausstellung über den Bürgerkrieg in Syrien ist ein neues Ausstellungsformat im Park Patriot.
Unsere Ausstellung zeigt die neueste Geschichte der Friedenspolitik Russlands und seiner Streitkräfte, die zum Frieden aufrufen und eine humanitäre Mission im Interesse der gesamten Weltgemeinschaft erfüllen.“
„Sehen Sie beim Ausstellungsbesuch, wie negativ sich die humanitäre Krise und die terroristischen Bedrohungen auf die friedliche Bevölkerung auswirken und wie realistisch Themenschaubilder mit echter Kriegstechnik aussehen.
Lernen Sie die Mission des Zentrums zur Aussöhnung verfeindeter Seiten in Syrien kennen, darunter auch die neueste Beobachtungstechnik: ferngesteuerte Drohnen und Autopilot-Fluggeräte.
In einer Sonderausstellung zu Kriegstrophäen zeigen wir zahlreiche Waffen, darunter Granatwerfer und Artilleriegeschütze terroristischer Organisationen aus handwerklicher und Fabrik-Produktion sowie aus handelsüblichen Gasflaschen hergestellte Munition. An einem weiteren Stand können Sie Schusswaffen ausländischer Produktion begutachten, die Soldaten abgenommen wurden, darunter viele Nachbauten der AK-74.
Verfolgen Sie live die Arbeit von Minenräumtrupps und mobilen Minenräumrobotern des Typs Uran-6 – aus nur einer Armlänge Entfernung. Entminte Spielzeuge zeigen hier das wahre Gesicht des Terrors.
Еine Ausstellung, die realistisch das Panorama der zerstörten Stadt Palmyra zeigt, wird Sie sprachlos machen, auch durch den Eindruck, man sei am Ort des Geschehens.“
Besucherreaktionen
„Während des Besuchs und danach hatte ich ein unerschütterliches Gefühl von Stolz und Patriotismus für mein Vaterland!“
„Sehr interessant für die Kinder. Man kann im Zentrum für kriegstaktische Spiele Geburtstage und Firmenfeste feiern.“
„Man kann verschiedene Schusswaffen ausprobieren, in einer modernen Soldatenkantine essen, einen Schützenpanzer- und Motorboot-Simulator lenken. Unvergesslich sind die Eindrücke vom Großen Vaterländischen Krieg, inklusive Besuch eines Konzentrationslagers.“
„Das zweite Jahr hintereinander haben wir die Ausstellung Armee 2018 besucht. Und wieder positive Gefühle noch und nöcher!!! Und die Show Freundliche Menschen auf dem Truppenübungsplatz Alabino ist noch mal ein Thema für sich. Direkt vor euren Augen entwickeln sich reale Kampfhandlungen. Granaten explodieren, Hubschrauber fliegen … Der Park selbst ist auch sehr interessant. Riesenmengen an Militärtechnik. Alles kann man anfassen, überall reinklettern. Die Fotos sind unvergesslich. Das Essen ist gut organisiert. Die Preise erschwinglich für derartige Venues. Rundum eine festliche Atmosphäre.“
„Der Park Patriot sorgt für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung, vermittelt ein attraktives Bild des Wehrdiensts bei den Streitkräften und fördert die Entwicklung von Liebe und Ehrfurcht zum Vaterland.
Auf dem Areal können täglich 20.000 Besucher empfangen werden. Eintritt 500 Rubel [6,30 Euro].
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, wir freuen uns auf Ihren Besuch im örtlichen Musterungszentrum!“
Offizielle Website Park Patriot
(Die Texte sind der offiziellen Website des Park Patriot entnommen, den Wikipedia-Seiten über den Park und der Kathedrale der Streitkräfte sowie Rezensionen bei Google.)
Fotos: Katya Deriglazova Übersetzung und Redaktion: dekoder-Redaktion Veröffentlicht am 19.06.2020
Den 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland mussten die meisten Russen im Stillen begehen: Die große Parade in Moskau am 9. Mai war wegen der Corona-Ausgangssperren abgesagt, die landesweit gezündeten Feuerwerke konnten die meisten Menschen nur aus dem Fenster sehen.
Das stille Feiern im Privaten steht im krassen Kontrast zu den sorgsam orchestrierten Massenveranstaltungen der vergangenen Jahre, die den Tag des Sieges eigentlich begleiten. Dieser Tag ist der wichtigste Nationalfeiertag Russlands und gilt immer mehr als der zentrale Baustein der offiziellen Geschichtspolitik.
Auf Republic fragt Andrej Archangelski, was es für die Erinnerungskultur Russlands bedeutet und was man aus der Stille des 9. Mai 2020 heraushören kann.
Entspricht die derzeitige Stille nicht auf merkwürdige Art dem Wichtigsten an diesem Tag des Sieges, der Erinnerungsarbeit?
Was hörst du, wenn du den Kriegserinnerungen allein gegenüberstehst, wenn dir niemand vorsagt, was du zu tun hast? Im Grunde stehen wir schon lange in diesem Sinne allein da – seit dem Tod unserer Vorfahren.
Erinnerungen aus zweiter Hand
Die Erinnerungen von uns, den Enkeln derer, die gekämpft haben, ist in vielem eine Erinnerung aus zweiter Hand, es sind Film- und Fernseherinnerungen. Der Philosoph Vitali Kurennoi nennt das, was uns heute umgibt, all diese Kopien von Helmen, Feldgeschirr und Zeltponchos, eine „Touristenkultur“.
Anfangs war da ein gewisses „Sortiment a là Arbat” – mit Matrjoschkas und Wodkaflaschen in Form von Kalaschnikows, die in den 1980er und 1990er Jahren den Touristen zum Kauf vorbehalten waren. Erst in den 2000er Jahren wurden sie Teil unserer Kultur.
Das was wir anfangs anderen als unsere Identität verkauft haben, haben wir uns erst später zugelegt. Diese Touristenkultur strotzt vor Plattheit und Geschmacklosigkeit. Doch sie bedeutet, dass wir zu diesem Krieg kein eigenes Verhältnis mehr haben, sondern mit der Distanz von Touristen daraufschauen.
Wir leben nicht mehr „im Krieg” wie unsere Vorfahren, sondern außerhalb. All dieser Siegeswahn bedeutet einzig Folgendes: Je frenetischer die Rufe über die Großväter, desto offensichtlicher verlassen und verdrängen unsere Zeitgenossen die wahren Kriegserlebnisse.
Wer die Vergangenheit zensiert, schafft im Endeffekt ganze Keller von verdrängten Erinnerungen
Andererseits ist unsere Vorstellung vom Krieg heute ungleich vollständiger als die der drei vorangegangenen Generationen zusammen. Wer will, kann heute selbstverständlich ein Bild vom Krieg „ohne Stalin“ sehen – also ohne Propagandahülsen, die die Menschen jahrzehntelang vor gefährlichen Fragen bewahrt haben. Es scheint, das widerspricht dem gesunden Menschenverstand: Je weiter der Krieg zurückliegt, je weniger Zeitzeugen es gibt, desto weniger Wissen. Aber nein. Hier ist das Paradox des totalitären Regimes: Wer die Vergangenheit zensiert (mit den Worten: „Es ist noch nicht an der Zeit“), der schafft im Endeffekt ganze Keller und Lagerstätten voll von verdrängten Erinnerungen – die heute unter dem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Und sogar die teilweise Veröffentlichung von Unterlagen über den Krieg verändert unsere Vorstellung grundlegend.
Das fängt beim Einfachsten an – bei der Sprache, mit der über den Krieg gesprochen wird. Damals in den 1980er Jahren, als die Veteranen in die Schule kamen, war man erstaunt, wie sie über den Krieg sprachen: als hätte man ihnen fremde Worte in den Mund gelegt. Diese offizielle Kriegs-Sprache, der auch heute reproduzierte „Kanon“, gekünstelt und aufgeblasen, wurde in den frühen 1970er Jahren erfunden. Doch warum haben sich die Veteranen selbst damals mit dieser Verfälschung arrangiert, warum haben sie sich bereit erklärt, auf diese Weise darüber zu sprechen?
Wahrscheinlich waren die Erfahrungen aus dem Krieg in keiner Sprache ausdrückbar
Der Soziologe Boris Dubin glaubte, dass in den 1970er Jahren eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen den Veteranen und dem Staat getroffen wurde: Die Veteranen gaben freiwillig die allzu persönlichen Erinnerungen auf – und bekamen im Gegenzug gesellschaftliche Anerkennung und staatliche Zuwendungen (gerade damals hat man nämlich angefangen, Veteranen auf staatlicher Ebene zu ehren). Wahrscheinlich jedoch waren die Erfahrungen, die sie im Krieg gemacht haben, in keiner der verfügbaren menschlichen Sprachen ausdrückbar: Es war viel bequemer für die Psyche, sich hinter den staatlich vorgegebenen Worthülsen zu verstecken.
Persönliches, digitales Gedenken
Es schien, uns könnte nichts die authentischen Erfahrungen und Überlieferungen zurückbringen – doch es geschah ein Wunder: Immer noch tauchen bislang unbekannte Memoiren auf.
So wird die Erinnerung an den Krieg ständig genauer, gleichsam von innen heraus. Die tragische Dimension des Sprechens über den Krieg kehrt trotz Zensur zurück. Und schließlich können wir dank elektronischer Ressourcen (OBD-Memorial und Podwig Naroda) Unglaubliches tun: Die Schicksale von fast allen nachvollziehen, die gekämpft haben, gestorben sind oder gefangen genommen wurden. Wie erstaunlich es doch ist: Nach 60 bis 70 Jahren war es gerade die seelenlose digitale Welt, die es schaffte, das Bild des Krieges minutiös wiederherzustellen – nicht im metaphorischen Sinne, sondern buchstäblich. So wird der Krieg des 20. Jahrhunderts dank der Erfindung des 21. allmählich zu einer privaten, persönlichen Angelegenheit eines jeden.
Aber wie man den Tag des Sieges unter den neuen Umständen begehen soll, versteht nach wie vor niemand. Jeder Versuch von Graswurzel-Initiativen schafft neue Monster, in Form skurriler Slogans oder Fotos wie in den vergangenen Jahren oder in Form von „Georgs-Masken“ in diesem Jahr. Natürlich sind das Geschmacklosigkeiten, aber sie sind auch eine Folge der unterdrückten persönlichen Verantwortung der Bürger. Wenn der Staat den Menschen wenigstens bei den Feiertagen vertrauen und nicht nach Kontrolle der Emotionen streben würde, dann müsste niemand quälend nach einer Antwort suchen auf die Frage, wie man das Fest in Zeiten der Pandemie begehen soll.
Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen?
Die Organisatoren des Unsterblichen Regiments haben in diesem Jahr vorgeschlagen, nach einer landesweiten Schweigeminute am 9. Mai um 19 Uhr mit Porträts der Veteranen auf die Balkone zu treten und Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) anzustimmen. Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen? Es ist eine Nachahmung der neuen europäischen Tradition des Balkonklatschens, um Ärzte und das Leben selbst zu loben. Doch dieses Ritual lebt von seiner Spontaneität, vom persönlichen Elan der Menschen. Und wenn selbst das Repertoire vorab vereinbart ist, wenn alle dasselbe singen müssen (wieder im Chor!), dann nimmt das jeder Aktion die Aufrichtigkeit und Natürlichkeit.
Wie nun können wir den Geist des Festes während der Pandemie wahren? Dafür muss man, so seltsam das klingen mag, Gemeinsamkeiten finden – zwischen dem Sieg von 1945 und der Erfahrung unserer Tage. Der Philosoph Alain Badiou schreibt von einer eigenartigen Doppelnatur der französischen Résistance: Es war ein Kampf gegen die Nazis, aber gleichzeitig auch ein Kampf darum, „man selbst, ein Mensch zu bleiben“. So klingt heute auch die Antwort auf die Frage, wofür unsere Soldaten gekämpft haben, zusammen mit den amerikanischen, britischen, französischen, polnischen, kanadischen, neuseeländischen und anderen Waffenbrüdern: Für eine Welt der Zukunft, eine Welt der Moderne – gegen die Finsternis, gegen die dunklen Geister.
Mensch bleiben
Das Wesen der heutigen Selbstisolation liegt komischerweise genau darin: Wir wollen nicht bloß das „Unheil überleben“, sondern Mensch bleiben, an die Zukunft glauben und nicht an Michalkows Märchen. Die Antwort auf die Frage, wie Fest und Pandemie zusammen gehen, ist einfach: Es soll ein Ehrentag der Menschlichkeit sein, des Sieges über die Umstände, der Bereitschaft „noch zwei Wochen durchzuhalten“ für das Allgemeinwohl (was für unsere Leute, wie sich zeigt, unerträglich ist). Doch für einen solchen gedanklichen Sprung braucht es vor allem freies Denken und nicht blinde Treue gegenüber dem Ritual. Man sollte meinen, die Pandemie hätte uns vieles lehren müssen, doch selbst sie ist anscheinend nicht imstande, uns zu verändern.