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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wer kann Putin noch aufhalten?

    Wer kann Putin noch aufhalten?

    „Das Schlimmste steht uns noch bevor“ – Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian zeigte sich ernüchtert, nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron am gestrigen Donnerstag erneut mit Wladimir Putin telefoniert hatte. Putin wolle die vollständige Eroberung und Unterwerfung der Ukraine, hieß es aus dem Elysée.
    In einer zweiten Gesprächsrunde zwischen der Ukraine und Russland einigte man sich unterdessen immerhin auf „humanitäre Korridore“, damit Zivilisten die umkämpften Gebiete verlassen können. 

    Unterdessen eskaliert der Krieg in der Ukraine weiter – und auch die Repressionen nach innen nehmen zu in Russland: Erste unabhängige Medien – der TV-Sender Doshd und der Radiosender Echo Moskwy – stellten nach Website-Blockaden wegen angeblicher „Falschinformationen“ den Betrieb ein. Das Onlinemedium Meduza ist bei vielen in Russland nur noch über VPN erreichbar, Znak stellte die Arbeit ein, es gibt Berichte über Blockaden von Facebook, seit Tagen sind Soziale Medien verlangsamt. Allein für das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit der „Spezialoperation“ in der Ukraine drohen in Russland drakonische Strafen. Landesweit wurden bei Antikriegsaktionen laut OWD-Info bislang mehr als 8000 Menschen festgenommen.

    Was kann Putin dazu  bewegen, den Krieg zu stoppen? Kann der Druck von innen, der zunehmende Unmut in Gesellschaft und Elite dieses kritische Moment erreichen – mit der Dauer des Kriegs und sich allmählich entfaltender Wirkung von Sanktionen? Wirtschaftswissenschaftler Andrej Nekrassow und Historiker Andrej Subow geben Einschätzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und teilen eine gemeinsame Hoffnung:

    Was kann Putin dazu  bewegen, den Krieg zu stoppen – das fragen Andrej Nekrassow und Andrej Subow / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA 4.0

    Andrej Nekrassow: „Fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst“

    Wirtschaftswissenschaftler und Oppositionspolitiker Andrej Nekrassow ist in einem Post auf Facebook wenig optimistisch, was ein Umdenken in Elite oder Gesellschaft angeht. Er argumentiert, dass die russische Armee immer noch bei weitem überlegen sei, und dass die russische Gesellschaft aufgrund der Propaganda größtenteils fest hinter dem Präsidenten stehe. Außerdem habe Putin vor dem Krieg massive Geldreserven angehäuft. Insgesamt sei das russische Regime daher viel besser aufgestellt als etwa das von Kuba oder Venezuela – die schon seit Jahren Sanktionen und Wirtschaftskrisen trotzen. „Wenn man das Tabakdosen-Szenario ausschließt“ [der russische Kaiser Paul wurde angeblich mit einer Tabakdose erschlagen], dann gibt es für Nekrassow „nur schlechte oder ganz schlechte Szenarien“: 

    Ich sehe völlig unbegründete Euphorie und Siegesgewissheit. Angesichts der taktischen Fehler der russischen Armee, des gescheiterten Blitzkriegs und der westlichen Sanktionen ist die Öffentlichkeit, die sich mit der Ukraine solidarisiert (ob im Westen, in der russischen Opposition oder in der Ukraine selbst), in Illusionen versunken und hat sich fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst. 

    Ich werde versuchen, ein wenig Realismus einzustreuen.

    Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Wirtschaftssanktionen in den nächsten Jahren in keiner Weise die Stabilität des Putin-Regimes beeinflussen werden: Den Russen wird es schlechter gehen. Die Wirtschaft wird einbrechen. Aber das kümmert Putin nicht. Er hat genug Geld für die Gehälter der Silowiki und für die Waffenproduktion, um ein weiteres Jahrzehnt zu überstehen. Sogar für Ärzte und Lehrer wird etwas übrigbleiben. Für die Regimestabilität reichen jedoch die Silowiki.

    Die Sanktionen wirken ausschließlich langfristig. Es geht um Jahre und Jahrzehnte. Mittelfristig haben die Sanktionen keine Auswirkungen auf die Fähigkeit Russlands, eine aggressive Außenpolitik zu betreiben. […]

    So oder so – Selensky wird kapitulieren. Wie diese Kapitulation aussehen wird, spielt keine große Rolle, wichtig ist, dass Putin sie als seinen Sieg darstellen wird und dass das Regime sich dadurch nur stabilisiert. Ich glaube, Putins [wirkliche] Forderungen sind ein neutraler Status sowie die Anerkennung der LNR/DNR und der Krim. Ich würde diesem Szenario 70 bis 80 Prozent geben.  

    Ich will niemanden zu irgendetwas auffordern, aber wenn Selensky sich ohnehin für die eine oder andere Variante der Kapitulation entscheiden muss, dann besser früher als später. Es würden weniger Menschen sterben. Die Siegesgewissheit der Bevölkerung wird aber nicht zulassen, dies früher zu tun. Eine Kapitulation zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Ukrainer glauben, sie würden gewinnen, würde aus Selensky eine politische Leiche machen. Am Ende kommt es höchstwahrscheinlich zum selben Ergebnis, allerdings mit viel mehr Toten auf beiden Seiten.

    […]

    Die Realität hat gezeigt, dass die russische Wirtschaft in den Jahren, in denen sie unter „schrecklichen Sanktionen“ stand, nicht nur nicht zusammengebrochen ist, sondern ihre Reserven um 250 Milliarden [US-Dollar] erhöht, gleichzeitig ihre Auslandsverschuldung um mehr als 250 Milliarden gesenkt hat und so weiter. Den Menschen ging es schlechter, das Wirtschaftswachstum lag bei Null, es gab aber nicht mal annähernd eine Katastrophe, das System wurde nur stabiler. Heute ist eine Katastrophe noch unwahrscheinlicher. Die Konstruktion ist zu stabil. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob die Veränderung der äußeren Umstände zwischen 2021 und 2022 bedeutender ist als die zwischen 2013 und 2016.

    Original


    Andrej Subow: Kleptokratie vs. Putin 

    Langfristig scheint ein wirtschaftlicher Niedergang Russlands nicht nur für Nekrassow unvermeidbar. Ein Schicksal wie Nordkorea oder Iran mit allumfassender Aggression nach innen und außen stünde Russland bevor, so der Tenor. Historiker Andrej Subow jedoch hält auf Facebook dagegen – die massiven westlichen Sanktionen könnten vielmehr ein Umdenken in der Elite bewirken:

    Derzeit herrscht in der [kleptokratischen] Elite Schrecken und Frustration. Der wichtigste Satz in den Büros des Kreml, an der Lubjanka und auf dem Staraja Ploschtschad ist jetzt: „Er hat uns betrogen.“ Denn mit dem russisch-ukrainischen Krieg hat Putin ihr ganzes schönes Leben auf Null gesetzt – ihr Geld und ihre Villen an den besten Orten der Welt sind seinetwegen für sie nun unerreichbar. Und jetzt verlangt er auch noch mehr Loyalität, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass die Komplizenschaft in diesem Krieg viele von ihnen zu Kriegsverbrechern und zu Angeklagten in Den Haag macht. Das war mit Putin so nicht abgemacht. Außerdem würde ihnen das Gespenst des Großen Terrors durch die Köpfe geistern, wenn das nun von der ganzen Welt geächtete Regime seine Aggression fortsetzt, und langfristig auch die Aussicht, zu radioaktiver Asche zu zerfallen. Für die Besitzer von Hochseeyachten, Rolls-Royce- und Lamborghini-Sammlungen, von Meisterwerken der Malerei und gemütlichen Villen in den Weinbergen der Toskana ist das alles keine rosige Perspektive.

    Von einem Tag auf den anderen haben diese Leute ihre Loyalität zu Putin aufgekündigt. Warum sollten sie auch alles verlieren, was sie angehäuft haben, und dazu auch noch ihr eigenes Leben? Ohne sie ist Putin aber kein großer Tyrann mehr, sondern nur noch ein alter Mann, der sich in einem Bunker versteckt. Zwar kann er auf den sprichwörtlichen roten Knopf drücken, den Charlie Hebdo so geschickt dargestellt hatte, aber niemand wird seinem Befehl folgen. Die paar Fanatiker zählen nicht – die werden einfach isoliert, genauso wie der Tyrann selbst.

    […]

    Hätte Putin den Krieg in der Ukraine in zwei Tagen gewonnen und der Westen keine vernichtenden Sanktionen verhängt, dann hätte er die Loyalität und sogar die mystische Begeisterung der Elite – wie Hitler 1939 bis 41 – und die volle Unterstützung des Volkes. Die Intelligenzija wäre gespalten und isoliert gewesen.

    Putin hat den Krieg aber verloren, der Blitzkrieg ist gescheitert, hat sich im März-Schlamm der ukrainischen Schwarzerde festgefahren. Die Sanktionen haben sich wirklich als vernichtend erwiesen, genauso wie es der alte Präsident Biden versprochen hatte.

    Putin ist nun ganz allein. So allein ist nicht mal der Iran, wo sich das Ajatollah-Regime durch eine religiöse Volksrevolution gefestigt hat (wie übrigens auch das bolschewistische Regime in Russland 1917–22), oder Nordkorea, wo ein antikolonialer Krieg des Volkes in Despotismus mündete. In beiden Fällen führte die Revolution zu einem vollständigen Wechsel der Eliten. Russland wird seit 30 Jahren von einer langweiligen, ideenlosen Kleptokratie regiert – einer Kleptokratie, die vom Bolschewismus das von ihm zermalmte Volk geerbt hat. 

    Putin hat die Kleptokratie auf Null gesetzt, er kann nicht mehr ihr Leader sein, er kann sich nirgendwo mehr in der Welt sehen lassen, für die Menschheit ist er der gefährlichste Kriegsverbrecher, der Züge eines Wahnsinnigen trägt. Er wird in den nächsten Tagen verraten. Nicht er, sondern ein neuer Leader wird der Elite ihr schönes Leben zurückzugeben, die Beziehungen zum Westen wiederherstellen, die Freigabe ausländischer Bankkonten und die Aufhebung der Beschlagnahmung ihres Vermögens erwirken. Es sollte jemand sein, der nicht durch die aktuellen Verbrechen befleckt ist und der sie idealerweise lautstark verurteilt. Jemand, der aus ihrer Mitte kommt, mit dem es sich reden lässt.

    Uns droht also kein neuer Stalinismus, auch kein iranischer oder nordkoreanischer Weg. Die Massen Russlands bleiben stumm, es wird keine Volksrevolution geben. Aber es wird sehr sehr bald eine Palastrevolution geben: etwa wie bei der Absetzung Chruschtschows 1964 oder beim Tod von Kaiser Paul in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1801 oder wie bei dem merkwürdigen Tod Stalins im März 1953. […]

    Original

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  • „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“

    „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“

    Es ist Tag acht im russischen Krieg gegen die Ukraine. Aber ist es nur Wladimir Putins Krieg? Bei aller Ohnmacht müssen alle jetzt herausfinden, wo die eigene Verantwortung liegt – und was nötig ist, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können. Der russische Soziologe Grigori Judin spricht darüber im Interview mit Meduza, das hier in Ausschnitten zu lesen ist – und in dem er auch seine Einschätzung zur Proteststimmung darlegt. Er selbst ist am 24. Februar bei einem Antikriegsprotest in Moskau zusammengeschlagen worden.

    Swetlana Reiter: [Die unterschwellige Unzufriedenheit, die wir sehen,] steigt langsamer als der militärische Konflikt.

    Grigori Judin: Ja, sie steigt nicht schnell genug, aber sie steigt, und es steigt auch die Zahl der öffentlichen Personen, die sich dagegen aussprechen: Abgeordnete, verschiedene Verbände. Prominente versuchen zwar zu schweigen, äußern sich mittlerweile aber immer öfter dagegen als dafür. Das bringt zwar nicht viel, aber immerhin. 
    Sollten diese Äußerungen der subelitären Kreise auf die elitären, näher an der russischen Führung befindlichen übergehen, dann ist klar, was das für Putin heißt. Dann sieht plötzlich alles wie ein irrwitziges Abenteuer mit grauenhaften Folgen aus und einer unausweichlichen Niederlage am Horizont. Deswegen stehen wir jetzt an einem Wendepunkt: Die Welt, in der wir im jetzigen Moment leben, wird es nur sehr kurz geben … 

    Mir ist klar, dass das Land noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert war. Aber können Sie als Soziologe trotzdem eine Prognose versuchen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach diesem Wendepunkt, an dem wir derzeit stehen, den erfreulicheren Weg einschlagen oder das Gegenteil?  

    Das ist für die ganze Weltgeschichte eine nie dagewesene Situation – nie hat es etwas Derartiges gegeben. Die ganze Welt steht in diesem Augenblick auf der Kippe zu einer ungeheuren Katastrophe, daher verfügen wir über keinerlei logisches Wissen, auf das wir uns stützen könnten.  
    Schon jetzt wird der Welt bewusst, dass am 24. Februar die lange Nachkriegsepoche zu Ende gegangen ist, eine neue Ära ist angebrochen. Das hat Deutschlands Kanzler Olaf Scholz ganz richtig festgestellt: Unter anderem werden wir in dieser neuen Ära auch ein neues Deutschland sehen, das bereit ist, eine neue Verantwortung zu übernehmen.  

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen

    Wir stehen heute am Rand eines riesigen Krieges. Seine potenziellen Teilnehmer verfügen über Atomwaffen, und es gibt jemanden, der sogar schon ganz offen damit droht. Wörter wie „Nazis“ und „Entnazifizierung“ sind alles andere als harmlos – in der heutigen Sprache haben sie das Potenzial einer völligen Entmenschlichung und bilden die Grundlage für eine „Endlösung des Problems“. Es ist nicht auszuschließen, dass da etwas Vergleichbares zurückschallen wird … ​​Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39. Aber damals war die Welt gespalten und am Ende, heute findet sie zusammen. Vielleicht nicht vollständig, aber der Ernst der Lage wird von Tag zu Tag immer klarer erkannt. Deshalb stehen wir, wie mir scheint, an einer auf Jahrzehnte hinaus bestimmenden Wegscheide, an der die ganze Welt und vor allem die drei Völker stehen, die jetzt Geiseln von Leuten sind, die Waffen auf sie gerichtet haben und sie gegeneinander aufhetzen wollen. Das sind Belarus, Russland und die Ukraine.

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen und jetzt schlicht zu Kampfhandlungen gegen alle drei Völker übergegangen ist. 

    Fühlen Sie sich in solchen Momenten eher als Mensch oder als Wissenschaftler? Oder ist das eine zu dumme Frage? Lassen Sie es mich anders sagen: Soll man analysieren oder sich in Sicherheit bringen?

    Die Frage ist keineswegs dumm, sie liegt in entscheidenden historischen Momenten auf der Hand. Man muss verstehen, dass das zwei Haltungen sind, die sich in jedem Wissenschaftler finden und die miteinander in Kontakt kommen müssen. Du musst dir bewusst machen, woran du glaubst und zu welchem Zweck du deine Analysen vornimmst: Wenn du einfach nur auf Befehl oder Auftrag hin arbeitest, kannst du eine Elwira Nabiullina [die Chefin der Zentralbank der Russischen Föderation] werden und möglicherweise als Kriegsverbrecher enden.

    Sie halten Elwira Nabiullina für eine Kriegsverbrecherin?

    Albert Speer war ein Kriegsverbrecher.

    Ist sie nicht eine Geisel der Situation?

    War Adolf Eichmann eine Geisel der Situation? Ganz im Ernst: Irgendwann muss man aufhören, sich zum Rädchen zu machen und zu einer inneren moralischen Haltung finden. Und dann seine analytischen Fähigkeiten in den Dienst dieser Haltung stellen. 

    Es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen

    Und hier kommt es darauf an, kritische Distanz zu gewinnen, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren. Aber es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen. 

    Wie sehr kann man darauf hoffen, dass jeder Mensch in sich selbst Halt findet? Und was muss getan werden, damit Elwira Nabiullina und, sagen wir, Sergej Schoigu ihr Verhalten ändern?

    Das ist eine Frage ihrer Beziehung zu Gott. Wissen Sie, wir sind jetzt an einem Punkt, der bei allem, was daran einmalig ist, doch an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert. Hannah Arendt hat dazu sehr richtig gesagt, dass es Zeiten gibt, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können.

    Durch kleine Aktionen mit deutlicher Wirkung lässt sich die Angst kurieren – und dann zeigt sich, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird

    Das ist die wichtigste Frage, und jeder Mensch muss diese Frage für sich selbst beantworten – im Bewusstsein, dass die Dinge sich nach dem schlimmsten überhaupt vorstellbaren Szenario entwickeln können und die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist. 

    Und wie bekämpft man in diesem Fall die eigene Angst?

    Es gibt da bekannte Methoden, die immer funktionieren: kleine Aktionen, die eine deutlich messbare Wirkung haben. So lässt sich die Angst kurieren, und dann zeigt sich immer wieder, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird. Wenn man eine Grundsatzposition einnimmt, wenn man die moralische Herausforderung annimmt, nicht so tut, als ob nichts wäre und man sowieso nichts machen könne, sondern begreift, dass man vor eine ungeheure moralische Aufgabe gestellt ist, auf die jeder Mensch reagieren muss, dann kann man sich nicht vormachen, dass man einfach nur Zuschauer ist. Man muss überlegen, wie man mit kleinen Aktionen eine messbare Wirkung erzielt. 

    Selbstanklagen, Scham … Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln

    Theodor W. Adorno hat einmal den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe zitiert: „Nichts als nur Verzweiflung kann uns retten“. Viele Russen, die unter dem Geschehen leiden, reagieren gerade mit Selbstanklagen, Scham, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsversuchen. Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln. Dies ist letztlich kein Krieg, den das russische Volk gegen die Ukraine führt. Dieser Krieg wird den Russen nichts bringen. Sie werden auf die furchtbarste Weise verlieren. Das wird eine ungeheure Katastrophe für das Land, die uns allgemeinen Hass, eine zerstörte Wirtschaft, eine niedergewalzte Gesellschaft und vermutlich eine besiegte Armee einträgt.

    Wir müssen diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen

    Letztlich verlieren wir die unerschütterliche Grundlage für das Ansehen, das bei den Menschen auf der ganzen Welt immer Respekt hervorgerufen hat: Das Image des Befreiers, des Landes, das im denkbar schrecklichsten Krieg heldenhaft gesiegt hat. Deshalb müssen wir diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen. Nun ist es so gekommen, dass die Ukrainer das auf ihre Art tun und die Belarussen und Russen auf ihre eigene Weise handeln müssen – so, dass wir uns später ruhig in die Augen schauen können.

    Ich weiß, es ist merkwürdig, diese Frage an Sie zu richten, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, wenn wir die Ereignisse vom 27. Februar analysieren?

    Eine solche Möglichkeit besteht. Nach Putins Aussagen zu urteilen, würde ich sie bisher nicht als unmittelbare und unabwendbare Gefahr betrachten. Bislang ist das eine Maßnahme, die zeitgleich mit der Anreise zu den Verhandlungen erfolgte – die natürlich rein dekorativen Charakter haben, es sind keine echten Verhandlungen. Aber diese Aussage (in Bezug auf die Waffen) ist eher eine Erpressungsmaßnahme, um die eigene Verhandlungsposition zu untermauern.

    Doch allein die Tatsache, dass diese Drohung ausgesprochen wurde – und das unter diesen Umständen, als Putin und seine Mannschaft deutlich machten, dass sie bereit sind, alles zu tun, um ihren Willen zu kriegen – macht die Nuklearfrage relevant. Zudem sollten wir die Risiken des Einsatzes taktischer Kernwaffen nicht vergessen.

    Ich habe immer geglaubt, dass der Mensch vor allem vom Selbsterhaltungstrieb geleitet wird. Die Entscheidung, Atomwaffen einzusetzen, wäre, gelinde gesagt, selbstmörderisch. 

    Der Mensch ist ein interessantes Wesen, das viele Denker gerade über seine Fähigkeit definiert haben, Selbstmord zu begehen. Aus irgendeinem Grund ist der Mensch imstande zu sagen: „Ich sage Nein zu meiner physischen Existenz.“ Sei es, weil er seine weitere Existenz als unvereinbar mit dem eigenen Selbst empfindet, sei es der Wunsch nach Prestige, nach Ruhm – solche Dinge haben Menschen in der Geschichte dazu gebracht, Selbstmord zu begehen.

    Allerdings hatten die keinen Atomknopf – aber was ändert das letztlich? Auch die, die nuklearen Selbstmord begehen, sind Menschen und also dazu imstande. 

    Entschuldigung, ich muss mich verabschieden – gerade ruft meine Frau an, die vermutlich bei einer Antikriegsaktion festgenommen worden ist.

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  • „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes“

    „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes“

    „Diejenigen, die sehen, was passiert, können keine Rechtfertigung für diesen Angriff auf die Ukraine finden“ – so wurde ein Vertreter der russischen Delegation bei einem UN-Klimatreffen am 27. Februar zitiert. Oleg Anissimow sagte demnach in einer nicht-öffentlichen Online-Runde, er wolle „im Namen aller Russen für die Unfähigkeit, diesen Konflikt zu verhindern, um Entschuldigung bitten“, wie nach der Abschlusssitzung der 195 Mitgliedsstaaten des Weltklimarates berichtet wurde. Ein westlicher Journalist hatte Anissimows Worte öffentlich gemacht – die Nachricht ging um die Welt. Zuvor hatte seine ukrainische Kollegin Swetlana Krakowskaja in einer leidenschaftlichen Rede den Stopp „dieses wahnwitzigen Krieges“ gefordert. 

    Wer sich öffentlich gegen Russlands Krieg in der Ukraine positioniert – oder einfach nur den Krieg als Krieg bezeichnet –, der begibt sich in Russland derzeit in Gefahr und muss mit Konsequenzen rechnen: Laut OWD-Info sind bei russlandweiten Anti-Kriegs-Protesten seit dem 24. Februar mehr als 7500 Menschen festgenommen worden. Und doch sind es nicht nur durch ihre Bekanntheit „geschützte“ Personen des öffentlichen Lebens wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprechen, sondern zunehmend auch Fach- und Berufsverbände, sowie Privatpersonen auf ihren Social-Media-Kanälen.
    Und auch in den Hinterzimmern der Macht herrscht keineswegs allgemeine Kriegsbegeisterung. Zumindest legt das ein kürzlich erschienener Artikel der Journalistin Farida Rustamowa (zuvor bei Doshd und Meduza) nahe, in dem sich ranghohe Staatsbeamte hinter vorgehaltener Hand sehr kritisch und besorgt über die Lage äußern. Einige Oligarchen ließen auch öffentlich Kritik durchblicken, äußerten sich zum Teil sogar deutlich, darunter die Milliardäre Oleg Deripaska und Oleg Tinkow.

    Oleg Anissimow sorgte mit seinen einfachen Worten und seiner Entschuldigung gegenüber der Ukraine für weltweite Aufmerksamkeit und Hoffnung. In einem Protokoll auf Meduza spricht er über die Geschichte hinter der Nachricht, über Schuld, Angst und Verantwortung.

     „Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt.“  / © Foto: Vkokorev / CC BY-SA 4.0
    „Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt.“ / © Foto: Vkokorev / CC BY-SA 4.0

    Es war eine Klausur von Klimaexperten. Die gesamte interne Atmosphäre, alles, was wir dort besprechen, unterliegt absolutem Stillschweigen. Es gab einen Leak [über eine Diskussion des Kriegs], so was kommt vor. Aber damit Sie verstehen: Bei nicht-öffentlichen Veranstaltungen werden Dinge gesagt, die nicht nach außen dringen sollen.    

    Zweitens: Ich bin nicht der Leiter der russischen Delegation. Das hat der französische Journalist [berichtet hat die Nachrichtenagentur AFP – dek] erfunden, der als erster von meinem Redebeitrag berichtet hat. Der hatte irgendwo irgendwas gehört, was ihm dann irgendjemand bestätigt hat. Ein bisschen paparazzimäßig.  

    Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt. Wir hatten zwei Wochen lang intensiv gearbeitet, es tagte der UNO-Sicherheitsrat. Das ist ja eine ziemlich große Sache: der Bericht der UN-Klimaexpertengruppe. Alle Länder sind da, und die Vertreter der Delegationen verhandeln dort Zeile für Zeile die Kurzfassung für die Politik. Das war unsere Aufgabe, sie ist von enormer Bedeutung – bisweilen haben wir um Positionen, die für jedes Land wichtig sind, heftig gestritten.

    Im Rahmen der UNO sprechen die Delegationen der jeweiligen Länder in ihrer Landessprache, auch die russische Delegation führt ihre offizielle Position auf Russisch aus – das habe ich auch getan. Momentan findet diese Konferenz nicht im Präsenzmodus statt, sondern über Zoom, und man kann nicht auf den Flur hinausgehen und mit jemandem ein paar Worte wechseln. Ich nehme seit 1995 an diesen Konferenzen teil, ich habe da viele Kollegen und Freunde aus der ganzen Welt.  

    Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt

    Als mit der Ukraine passierte, was mit der Ukraine passiert ist, traten natürlich alle Delegationen mit irgendeinem Statement zur Unterstützung der Ukraine auf. Das tat ich zu dem Zeitpunkt nicht. Habe ich einfach nicht gemacht. Habe geschwiegen. Na ja, weil ich – ich weiß auch nicht, wahrscheinlich war ich zu kleinmütig. 

    Es ist auch so, dass am Dienstag [22. Februar] meine Mutter gestorben ist, sie war 97. Und am Donnerstag [24. Februar] wurde das alles diskutiert. Sie verstehen bestimmt, dass ich, obwohl ich meine Arbeit fortsetzte, mit meiner Aufmerksamkeit auch woanders war. Vielleicht habe ich es einfach überhört und nicht ganz mitbekommen, als sich alle geäußert haben. Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt – ich war ja dort nicht der einzige Experte aus Russland.

    Wir setzten unsere Arbeit fort. Heute [27. Februar – dek] war der letzte Tag. Wissen Sie, normalerweise war bei diesen Sitzungen immer auch jemand leger gekleidet: Die Teilnehmer leben in verschiedenen Zeitzonen, bei den einen ist Tag, bei den anderen Nacht. Doch heute trugen die meisten Anzug und Krawatte. Und heute war auch Swetlana Krakowskaja wieder im Zoom – sie ist Mitglied der ukrainischen Delegation. Wir kennen uns schon lange, sie war bei unseren Antarktis-Expeditionen dabei und ist eine ziemlich bekannte Wissenschaftlerin. Sie machte eine Erklärung vornehmlich wissenschaftlicher Natur – was für ein großes Stück Arbeit wir alle geleistet hätten und dass die Ukraine aus bekannten Gründen in den letzten Tagen nicht an der Konferenz habe teilnehmen können – es kein Internet gebe und so weiter und so fort. Und sie hoffe, dass diese Arbeit einen Beitrag zum Frieden leiste.  

    Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören

    Dann begann sie, über russische Themen zu sprechen – über den Krieg und all das. Dann verstummte sie, es trat eine Pause ein, das war jetzt der nicht-offizielle Teil. Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören.     

    Ich habe dann folgendes getan: Ich sagte den nächsten Satz auf Englisch. Gearbeitet hatten wir die ganze Zeit auf Russisch – wenn du als offizielle Person auftrittst, wirst du gedolmetscht. Ich sagte auf Englisch, dass ich jetzt nicht als Mitglied der russischen Delegation auftrete, sondern als Mensch, der in Russland lebt und sein Mitgefühl mit der Ukraine zum Ausdruck bringt sowie sein Bedauern, dass wir diesen Angriff nicht verhindern konnten.  

    Außerdem habe ich gesagt: „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes. Ich schäme mich, dass wir es nicht geschafft haben, in unserem Land zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen, die auf Entscheidungen des Präsidenten und der Regierung Einfluss nehmen könnten. Dass wir einfach vor die Tatsache gestellt wurden – genauso wie die Bevölkerung der Ukraine. Wir wurden vor die Tatsache gestellt, dass wir, die Bürger Russlands, in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden.“  

    Das ist alles, was ich gesagt habe. Ich wiederhole, in einer nicht-öffentlichen Sitzung. Es war davon auszugehen, dass das in diesem Plenum verbleibt, aber irgendjemand hat etwas nach außen dringen lassen, dann ist es leicht verzerrt in die Medien gelangt, und schon ging es um die ganze Welt. Jetzt sehe ich es.  

    Verstehen Sie, ich bin jetzt in den Medien bekannt, dabei bin ich einfach ein Wissenschaftler, der als russischer Bürger seine Meinung gesagt hat. Die sehr simpel ist: Erstens, nein zum Krieg. Und zweitens: Ich schäme mich für mich selbst und für meine Mitbürger dafür, dass wir in unserem Land keine Gesellschaft aufbauen konnten, die uns ein friedliches Leben ermöglichen würde – uns und unseren Nachbarländern.     

    Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt

    Ich befürchte, dass meine Aussage meine Karriere beeinträchtigen wird. Natürlich befürchte ich das. Aber hören Sie mir zu, ich bin 64, in zwei Wochen 65. Ich  lebe in Russland und will nicht flüchten, meine Heimat verlassen, nur weil ich etwas befürchte. Aus Sicht eines Bürgers des Landes habe ich nichts gesagt, was diesem Land Schande bringen würde. Ja, ich habe nichts Derartiges gesagt. Und alle meine Befürchtungen sind nichts im Vergleich zu der Zufriedenheit, die ich verspürt habe, als ich meinen Standpunkt geäußert habe. Wissen Sie, es gelingt einem nicht jeden Tag, von allen Ländern der UNO gehört zu werden.   

    Vielleicht war das nicht auf besonders hohem politischen Niveau, vielleicht kann man mich mit Greta Thunberg auf eine Stufe stellen, die ja auch vor der UNO gesprochen hat. 

    Man kann vielleicht auch sagen: „Der spinnt.“ Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt.    

    Ich gebe Ihnen einen Rat: Machen Sie keine Symbolfigur aus mir. Hören Sie, ich bin nicht der einzige im Land. Manche sprechen es aus, viele schweigen. Wer spricht, wird nicht immer gehört – weil es kein Sprachrohr gibt. Das war einfach eine Situation, in der ich eine Plattform hatte und somit ein Sprachrohr. Aber im ganzen Land gibt es solche Äußerungen, die davon zeugen, dass nicht alle Russen mit dem, was passiert, einverstanden sind. Dass das nicht alle unterstützen. Das ist auch ganz logisch – es wäre seltsam, wenn es anders wäre, dann würde ich meinen Respekt vor Russland verlieren.   

    Es ist sehr einfach, aus mir Greta Thunberg zu machen. Sie wissen ja, wie geschickt der Staat manipuliert: „Der Mann ist nicht ganz bei Trost, bei allem Respekt für seine Verdienste, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste, außerdem ist seine Mutter gerade gestorben.“ Dann sehe ich aus wie ein Psycho. Dabei ist alles ganz anders.

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    Es ist Tag sechs im russischen Krieg gegen die Ukraine. Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es seit Donnerstag mehr als 100 getötete Zivilisten und mehr als 300 Verletzte in der Ukraine; mehr als 660.000 Menschen sind auf der Flucht. Die ukrainische Regierung geht von mehreren hundert Toten aus. 

    Von russischen Medien angesprochen auf die UN-Angaben zu Opfern unter der Zivilbevölkerung, hält Kreml-Sprecher Dmitri Peskow weiter an der Darstellung fest, wonach lediglich militärische Anlagen das Ziel seien. Statt von einem Krieg spricht er, wie es das offizielle Russland seit Beginn der Angriffe insgesamt tut, von einer „militärischen Spezialoperation“, von so genannter „Demilitarisierung“ und „Entnazifizerung“ der Ukraine. Die verbliebenen unabhängigen Medien innerhalb Russlands haben den Krieg dagegen von Beginn an Krieg genannt – und berichten außerdem von ersten Opfern auf der russischen Seite, die am Sonntag auch erstmals das russische Verteidigungsministerium bekannt gab (ohne allerdings Zahlen zu nennen). 
    Bei der The New Times wurde ein solcher Artikel nach Anordnung durch den russischen Generalstaatsanwalt blockiert, den Medienberichten zufolge außerdem zahlreiche ukrainische Medien und diese gleich vollständig. 
    Verschiedene Medien, darunter die renommierte Novaya Gazeta, der Telekanal Doshd und das Portal Mediazona, berichten, Anordnungen der Medienaufsicht erhalten zu haben. Ihnen wurde mitgeteilt, angeblich „unzuverlässige Information“ zu verbreiten. Welche Begriffe die Behörde darunter versteht, ließ sie ebenfalls offiziell wissen: „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“.
    Auch die Nutzer sozialer Netzwerke berichten gegenüber russischen Journalisten von Problemen: Demnach laufen Twitter, Facebook und Instagram langsamer. 

    Der Druck, im Internet blockiert zu werden, wird einigen Redaktionen mittlerweile zu groß: Die Novaya Gazeta etwa schrieb am Dienstag (heute, 1. März) in einer Hausmitteilung, nach Aufforderung durch die Generalstaatsanwalt drohten „gigantische Strafen“ bis hin zu „der Aussicht einer Liquidierung der Medien“. Deshalb habe man nach Abstimmung im Redaktionsausschuss mehrheitlich entschieden, „unter den Bedingungen der Kriegszensur“ weiterzuarbeiten. In den Artikeln, die online zu sehen sind, wird nun getitelt: „Russland greift die Ukraine an“. Nutzer reagierten überwiegend mit Verständnis: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“
    Auch bei Echo Moskwy werden Hörer und Nutzer von Chefredakteur Alexej Wenediktow in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Sender aus diesen Gründen – anders als in ersten Meldungen – von „Spezialoperation“ spreche. 

    Update 1. März, 19.30 Uhr: Echo Moskwy hat auf seinem Telegram-Kanal mitgeteilt, dass die Radiostation abgeschaltet worden sei. Außerdem hat die Medienaufsicht angeordnet, Echo sowie Doshd im Internet zu sperren; laut Medienberichten setzen die Provider das bereits um. 

    Update, 2. März: Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko auf Telegram mit, dass er sowie weitere Mitarbeiter das Land verlassen. Ihre „persönliche Sicherheit ist bedroht”. 

    Lew Rubinstein, russischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist und früherer Dissident, schreibt kurz nach dem Angriff über den Kampf der Begriffe und einen Krieg der Sprache – der für ihn lange Zeit vor diesem echten Krieg begonnen hat.

    „Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden“, schreibt Lew Rubinstein auf Echo Moskwy / Foto © IMAGO, Lehtikuva

    Wörter der Nachkriegszeit wie „Nazismus“ und „Faschismus“ haben im sowjetischen und postsowjetischen Propaganda-Diskurs allmählich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie entbehren heute jeglichen semantischen Inhalts. Sie, diese Wörter, werden als reine Instrumente verwendet, als vermeintlich starke und überzeugende rhetorische Figuren.

    In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden. 
    Der russische Präsident sagt, die „Aufgabe, die mit der militärischen Operation verfolgt“ werde, sei die „Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine“. Wenn man das in irgendeine Sprache übersetzt, deren Sprecher nicht den Kontakt zur Realität verloren haben, führt das bei einem normalen modernen und zivilisierten Menschen unmittelbar zu dem, was in der Psychologie kognitive Dissonanz genannt wird: Er zweifelt sofort entweder an der psychischen Gesundheit der Person, die das sagt, oder an seiner eigenen.

    In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden. 

    Wie soll man aus Sicht der klassischen Logik verstehen, dass „das friedliebende Russland die faschistische Ukraine“ angegriffen hat, zwecks ihrer „Demilitarisierung“ und „zum Schutz der eigenen Sicherheit“? Das lässt sich gar nicht verstehen, wenn man nicht bedenkt, dass im politischen Wörterbuch des modernen Russland Wörter überhaupt nicht das bedeuten, was sie in akademischen Wörterbüchern bedeuten. Oft haben sie sogar eine komplett gegensätzliche Bedeutung. 

    Unsere Geschichte unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass sich die wichtigsten Ereignisse im Raum der Sprache abspielen – der beinahe einzigen Realität im irgendwie sonst nicht so realen Leben Russlands. 

    Und immer wiederholt sich alles. Das heißt, nein, es wiederholt sich nicht, es reimt sich. Reim ist ja keine Wiederholung, Reim ist Zusammenklang. Deswegen wiederholt sich nie etwas wortwörtlich. 

    So haben wir zum Beispiel vor Kurzem noch Angst davor gehabt, das Wort „Krieg“ in den Mund zunehmen. 

    Das heißt, es wurde natürlich in den Mund genommen. Aber es gab nur den einen „Krieg“, den Zweiten Weltkrieg. Andere Kriege gab es nicht. Bis vor ein paar Tagen.

    Es gab im Übrigen noch einen Krieg, der nie erklärt worden war und immer währte: Das russische Volk war immer geteilt in zwei ungleiche Teile. Der eine – der kleinere – bezeichnete hartnäckig Gemeinheiten als Gemeinheiten, Feigheit als Feigheit, Dummheit als Dummheit und Faschismus als Faschismus. Der andere, der größere, war anfällig für die offizielle Rhetorik und bezeichnete Gemeinheiten als Patriotismus, Feigheit als die Notwendigkeit, den Umständen Rechnung zu tragen, eine offene Aggression als Schutz der eigenen Sicherheit, und das Streben von Völkern und Gesellschaften nach Freiheit und Offenheit als Nazismus. 

    Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden.

    Dieser Krieg, dieser Krieg der Sprache, dieser Krieg um die Bedeutung von Wörtern und Begriffen, war und bleibt der zentrale und endlose Bürgerkrieg. 

    Und auch der Krieg, der schon den zweiten Tag [der Text erschien am 25. Februar 2022 – dek] vor den Augen der ganzen Welt in der Ukraine entbrennt, wird ebenfalls nicht Krieg genannt. Er heißt „Militäroperation“.

    Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden. Wie? Irgendwie, aber unbedingt. Und darüber müssen wir uns unbedingt Gedanken machen, wir alle gemeinsam und jeder für sich. 

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