Straßen voller Leichen, Folterspuren, gefesselte Hände, Schüsse in den Hinterkopf – die Bilder aus der ukrainischen Stadt Butscha lösen weltweit Entsetzen aus: Wie kann so etwas überhaupt sein, im 21. Jahrhundert?
Mit der Rückeroberung der Stadt bei Kyjiw bot sich den ukrainischen Soldaten ein Bild des Schreckens: Es gibt erdrückende Hinweise, dass die russische Armee ein grausames Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hat. Zahlreiche ukrainische Politiker sprechen von Völkermord, auch einzelne Politiker im Westen sehen dafür handfeste Anzeichen.
Russland weist jede Verantwortung für das Massaker von sich: Die Bilder, so heißt es aus dem Verteidigungsministerium, seien eine weitere „ukrainische Provokation“. Für viele unabhängige Stimmen aus Russland fügt sich das Blutbad jedoch ins große Bild: Folter, Vergewaltigungen, Morde – all das sei etwa in russischen Gefängnissen schon seit geraumer Zeit alltäglich. Insgesamt, so der Politologe Sergej Medwedew, sei die Kultur der Gewalt und Straflosigkeit eine gesellschaftliche Norm in Russland. Auch für den Soziologen Grigori Judin sind die Gräueltaten in Butscha mehr als Kriegsexzesse. Das erklärt er in einem Twitter-Thread, den dekoder ins Deutsche übersetzt hat.
Leider bin ich von den Gräueltaten im besetzten Butscha nicht überrascht. Die Menschen unterschätzen das Narrativ, das in Russland aufgebaut worden ist, um den Krieg zu rechtfertigen. Für die meisten Beobachter klingt das so jenseitig, dass sie es allzu leicht abtun. Aber es funktioniert.
Das Narrativ, das Putin von den ersten Kriegstagen an angelegt hat, dreht sich um die „Entnazifizierung” der Ukraine. Der Nazismus gilt in Russland (wie überall anderswo) als das absolut Böse. Es gilt jedoch als Böses von außen – Russland ist per Definition frei vom Nazismus (wir haben ihn besiegt!).
Daraus folgt, dass der Nazismus ein externer Feind ist, den es um jeden Preis zu besiegen gilt. Die anfängliche Sichtweise war, dass Nazis in der Ukraine die Macht ergriffen haben, während die Durchschnittsukrainer einfach Russen sind – bloß mit dummen Ideen bezüglich ihrer Identität und einer albernen Sprache.
Das hieß, dass diese Entnazifizierung durch einen Regimewechsel zu bewerkstelligen wäre und die Ukrainer befreit werden müssten. Offensichtlich ist dieses Konzept gescheitert, als die Ukrainer begannen, mutig Widerstand zu leisten. Eine ganz natürliche Schlussfolgerung ist, dass die Ukrainer offenbar schwer vom Nazismus infiziert sind.
Und genau in dieser Art haben sich die Äußerungen offizieller Redner in letzter Zeit geändert. So sagtMargarita Simonjan zum Beispiel: Wir haben unterschätzt, wie tief der Nazismus die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hat. Nun bedeutet Befreiung Säuberung.
Das wirkt sich auf die Handlungsweisen der Bodentruppen aus. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein russischer Soldat, der eine ukrainische Stadt besetzt (ich weiß, das ist ein unangenehmes Gedankenexperiment). Welche Einteilungen und Unterscheidungen würden Sie im Umgang mit der lokalen Bevölkerung vornehmen?
Ihre Grundannahme ist, dass dieses Land von Nazis besetzt ist und dass Sie hier sind, um es zu befreien. Natürlich leisten die Nazis Widerstand; die, die Widerstand leisten, sind Nazis. Ihre primäre Aufgabe ist es, die Nazis von den armen Ukrainern zu separieren und die Stadt vom Nazismus zu säubern.
Deswegen sehen wir in der Nähe von Mariupol schon Filtrationslager im Einsatz. Der Filtrationsprozess wird laut Berichten an vielen Orten innerhalb Russlands vollzogen. Das wiederum bedeutet, dass das ganze Konzept der Filtration vorgeplant war. Noch einmal: Das Narrativ der Reinheit ist an dieser Stelle zentral.
Und deswegen habe ich ernsthafte Zweifel, dass diese Gräueltaten einfach nur Kriegsexzesse sind. Jeder Krieg befördert das Schlimmste im Menschen zu Tage, speziell wenn die Befehlshaber skrupellose Übeltäter sind. Die systematischen und konsequenten Handlungen sind jedoch mehr der Art und Weise geschuldet, wie der Krieg gerechtfertigt wird, als dass sie auf Affekte wie Rache zurückzuführen sind.
Wenn Sie den Eindruck haben, diese Reinheitslogik erinnere Sie an Nazi-Gedankengut, dann ist da meiner Meinung nach viel Wahres dran. Ich werde wahrscheinlich einen weiteren Thread dazu schreiben, warum Russland wahrscheinlich nicht immun ist gegen Nazismus.
Ich fürchte, das Schlimmste steht noch bevor. Ich hoffe, ich irre mich.
Vor etwas mehr als einem Monat, am 24. Februar 2022, ist Russland in der Ukraine einmarschiert. Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war, meint Journalist Maxim Trudoljubow im Exilmedium Meduza (die Seite ist aus Russland nur per VPN aufrufbar und wird außerdem technisch aufwändig gespiegelt). Mit dem Krieg würden auch die Geister der russischen und sowjetischen Vergangenheit wieder zum Leben erweckt: Die verdrängte und nicht aufgearbeitete Geschichte, so Trudoljubow, tritt im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder ans Licht.
Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war. Dieser Krieg ist der zum Leben erwachte Schuldspruch, der alles in sich vereint, wovor die russische Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließen kann.
Ihre Haltung dazu haben die Kreml-Machthaber mit der Verfolgung von Memorial demonstriert: Memorial ist eine für die Zivilgesellschaft des neuen Russlands wegweisende NGO, die in vielerlei Hinsicht Vorreiter war beim Versuch der Gesellschaft, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. „Memorial erzeugt mithilfe von Spekulationen über politische Repressionen ein falsches Bild von der Sowjetunion als einem terroristischen Staat“, äußerte bei den Verhandlungen einer der Staatsanwälte. „Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?“
Die Zeit heilt keine Wunden
Wichtig an den Worten des Staatsanwalts ist nicht die typische Verdrehung der Tatsachen (Memorial sprach nicht von Reue, es plädierte für eine juristische Bewertung der Verbrechen), sondern der „Siegerkomplex“: die Vorstellung, Macher des Sieges in einem Krieg gewesen zu sein, an dem sie selbst gar nicht beteiligt waren. In den Köpfen der russischen Führer musste dieser Krieg (in dem die Russen übrigens Seite an Seite mit Ukrainern und anderen Völkern kämpften) die anderen schrecklichen Kapitel der Vergangenheit irgendwie auslöschen – und zwar so, dass der russische Staat und die russische Gesellschaft das moralische Recht hätten, den Kopf oben zu halten.
Aber von der Vergangenheit distanzieren wollte sich nicht nur die russische Machtelite. Der Großteil der russischen Gesellschaft wollte das auch.
Immer wieder tauchte in öffentlichen Debatten Intellektueller zu historischen Themen die Frage nach der Verjährungsfrist auf. Sie wurde unterschiedlich formuliert, diente aber stets demselben Zweck: die Schärfe der Debatte zu mildern. Ja, die Kommunistische Partei und ihre „Einsatztruppen“ – die Geheimdienste – wurden nie in großem Stil verurteilt (bzw. gab es einen Versuch, der jedoch missglückt ist). Aber es ist doch schon so lange her! Warum sollte man ein Volk, das ohnehin schon vom täglichen Kampf ums Überleben zermürbt ist, noch zusätzlich spalten? Das Land von damals existiert nicht mehr, es gibt jetzt ein anderes, das aufgebaut werden will – also muss man in die Zukunft blicken und nicht in der Vergangenheit wühlen. Schließlich gibt es in Russland Gedenkstätten für die Opfer des Terrors, es wird ihrer in Kirchen gedacht, Bücher werden über sie geschrieben und Filme gedreht, und es gibt sogar ein staatliches Museum zur Geschichte des Gulag.
Diese Logik hat nun keinerlei Sinn mehr. Es hat sich gezeigt, dass die Zeit keine Wunden heilt. Man wird sich nicht nur vom Siegerkomplex des Kreml verabschieden müssen, sondern auch von anderen Einstellungen, die außerhalb des Kreml existieren und verhindern, dass man die eigene Vergangenheit in ihrer ganzen Schwere akzeptiert. Wir leben in einem riesigen Schrank voller Skelette, in einem Keller voller Leichen.
Verbrechen ohne Verjährung
Bis zum 24. Februar 2022 konnte man meinen, dass ein Grundpfeiler unserer Identität ein gerechter Krieg war: der Große Vaterländische Krieg. In einem Land, in dem Traditionen und Verbindungen zwischen Generationen und sozialen Gruppen immer wieder abgerissen wurden, war das Gedenken an den Krieg ein verbindender und einheitsstiftender Mythos.
Im Massenbewusstsein überwog die Geschichte des Krieges die Grausamkeit und den Zynismus anderer Kapitel der russischen Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich – die Menschen erinnern sich lieber an das Gute als an das Schlechte. Und Politiker ganz besonders: Viele Staaten legen in ihrer Erinnerungspolitik die Betonung auf die Siege und lenken die Aufmerksamkeit von den Niederlagen ab. Dabei gibt es in der Geschichte eines jeden Landes Niederlagen und schmachvolle Episoden. Jede Nation, jede Gesellschaft bewältigt den Schmerz der Vergangenheit auf ihre eigene Weise. Die russische Gesellschaft bewältigte die Schande durch das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Lange Jahre hat dieses Gedenken verhindert, dass wir unserer Vergangenheit ins Auge blicken. Der Albtraum, der jetzt geschieht, muss uns dazu bringen, es endlich zu tun.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Nachbarländer als Pufferzonen ohne Recht auf Souveränität behandelt. In unserer Vergangenheit und Gegenwart besteht die Bereitschaft, Gewalt gegen ganze Völker anzuwenden, wenn sie den Machthabern in Moskau illoyal erscheinen. Im Grunde handelt es sich um eine koloniale Politik gegenüber den Nachbarvölkern – und auch gegenüber dem eigenen.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet. Um Methoden war der russische – und besonders der sowjetische – Staat dabei nie verlegen.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart hat sich die Macht exorbitante Befugnisse verschafft, eine nicht durch Gesetze und Institutionen eingeschränkte Macht. Im Russischen Reich gab es noch Geschworenengerichte und eine unabhängige Strafverteidigung – der sowjetische Staat entledigte sich dieser Rechtsinstitutionen als „bourgeoise Überbleibsel“. Die sowjetischen Leader verfügten über eine „Legalität“, die zunächst revolutionär und später sozialistisch war, das heißt, sie rechtfertigte jede Handlung, die für den Aufbau des Kommunismus zweckdienlich war. Dieses System hatte nichts mit dem Schutz von Rechten oder Gerechtigkeit zu tun. In unserer Vergangenheit und Gegenwart stellt man die Zweckdienlichkeit über das menschliche Leben.
Die Methoden, derer sich die Behörden bedienten, sind bekannt: Repressionen, inklusive außergerichtlicher Hinrichtungen, Gefangenschaft und Zwangsarbeit, die Eintreibung landwirtschaftlicher Produkte und Enteignungen, die zu Hunger und Tod führten. Nicht zu vergessen die militärische Aggression gegen Nachbarländer, Übergriffe auf Zivilpersonen, Geiselnahmen, Folter, die Verfolgung von Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und die Deportation ganzer Volksgruppen. Diese Methoden benutzte die Sowjetunion sowohl auf dem eigenen Territorium als auch bei der Eroberung der Länder Ost- und Mitteleuropas in den 1940er Jahren – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Sie wurden in beiden Tschetschenienkriegen, in Georgien, in der Ostukraine und in Syrien angewendet – überall dort, wo Russland Gewalt ausübte. Dazu gehören zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keine Verjährungsfrist haben. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu lesen, das diese Verbrechen ausführlich behandelt.
Nicht nur in der Ukraine, gegen die Russland einen Angriffskrieg führt, sondern auch in Ungarn, in Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, in Estland, Finnland, in Tschechien und anderen Ländern, die in ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art ihre Erfahrungen mit Russland gemacht haben, spricht man über die vergangenen Verbrechen des russischen Staates so, als ob sie erst gestern begangen worden wären. Die Mehrheit dieser Länder nimmt heute Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Egal, wie die Kampfhandlungen ausgehen – vergessen wird nichts.
Methoden ohne Ziele
Jetzt kann kein Bürger, keine Bürgerin Russlands, kein einziger Mensch, der sich als Russe bezeichnet, mehr so tun, als wäre die Vergangenheit bloßer Gegenstand akademischer oder publizistischer Auseinandersetzungen. Die Vergangenheit wird gerade auf ukrainischem Boden reproduziert. Dass die Verbrechen des russischen Staates keiner rechtlichen Bewertung unterzogen und von keinem Gericht verurteilt wurden, hat den heutigen Krieg ermöglicht. Ermöglicht hat ihn das ungestrafte Davonkommen der Führer des russischen Staates.
Vielleicht glaubt Putin seiner eigenen Propaganda und stützt sich auf die Pseudorealität, die seine Propagandisten erdacht haben
Die, die jetzt im Namen Russlands Entscheidungen treffen, haben weder große Ziele noch verfügen sie über ein Wissen absoluter Wahrheiten, sie haben weder ideologische oder göttliche Legitimität, die sie so gerne simulieren. Das Einzige, wodurch sie die längst verlorene „große Idee“ – ob von einem Großreich oder vom Kommunismus – erfolgreich ersetzt haben, ist die Lüge. Die Organisatoren des Kriegs gegen die Ukraine haben beschlossen, dass ihnen zur Legitimierung des Krieges Inszenierungen und Fiktionen reichen.
Möglicherweise hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und stützt sein Vorgehen auf die Pseudorealität, die Propagandisten in seinem Auftrag erdacht haben. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so wichtig, ob er an etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls sehen wir, dass russische Beamte und Militärs ihr Vorgehen mithilfe primitiver Desinformation zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, die sterbenden Gebärenden seien Schauspielerinnen, in den Krankenhäusern würden sich Nationalisten verschanzen, und die ganze Ukraine werde von Nazis regiert.
Das heutige Russland hat nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat
Das heutige Russland hat als politisches Gebilde nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat. Die Methoden sind immer dieselben, nur wird jetzt nicht einmal mehr versucht, sie mit einem dekorativen ideologischen Schein zu rechtfertigen. Der russische Staat ähnelt unterdessen einem Zombie – ein Körper ohne Seele, der alles auf seinem Weg zermalmt und nicht einmal versteht, wozu er das tut.
„Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?“, schrieb Warlam Schalamow. Ja, es ist die zentrale Frage. Und je mehr Russen und Menschen, die sich als Russen begreifen, sich dessen bewusst werden, umso rascher wird der russische Staat für seine Verbrechen vor Gericht stehen. Ohne ein solches Gericht kann Russland weder seinen Bewohnern ein vollwertiges Zuhause bieten, noch kann es eine politische Entität werden, mit der ein vertrauensvoller Dialog möglich ist. Wenn die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit dem Namen „Russland“ wieder ein Teil der Welt werden will, dann muss die erste neue Institution, die nach dem Krieg geschaffen wird, ein Gericht über die Verbrechen des russischen Staates sein – in all ihren Ausprägungen, in der Vergangenheit und der Gegenwart.
Es darf nicht mehr die Logik der Verjährung gelten, die argumentiert, dass die Verbrecher nicht mehr am Leben seien und es kaum mehr lebende Zeugen gebe, also wen wolle man jetzt anklagen. Da finden sich welche. Diejenigen, die entschieden haben, die Ukraine anzugreifen, wären für diese Rolle durchaus geeignet. Das Gericht muss unabhängig vom Staat sein, sonst hat der Prozess keinen Sinn. Vor 30 Jahren ist ein Verfahren gegen die KPdSU gerade deshalb gescheitert, weil die Verfassungsrichter eben noch selbst Parteimitglieder gewesen waren und das Rechtsorgan von den staatlichen Strukturen nicht sauber getrennt war.
Mit einem wirklich unabhängigen Gericht würde Russland der Welt beweisen, dass es überhaupt eine Gesellschaft in Russland gibt
Wenn es der russischen Gesellschaft nach dem Krieg – erstmals in seiner Geschichte – gelingt, ein wirklich unabhängiges Gericht zu installieren, dann wird sie sich und dem Rest der Welt damit beweisen, dass es in Russland überhaupt eine Gesellschaft gibt. Das wichtigste Anzeichen dafür, dass es in Russland eine Gesellschaft gibt, wird dann genau das sein: Die Existenz als handelndes Subjekt, die eine rechtliche Bewertung von Handlungen des Staates und seiner Führer erlaubt. Wenn das gelingt, dann schaffen es die Russen vielleicht auch, andere Institutionen aufzubauen.
Man wird dabei wohl mit Institutionen beginnen müssen, die die Gewalt des Staates gegen den Menschen, gegen das eigene Volk sowie andere Nationen verhindern. Man wird dafür sorgen müssen, dass nie wieder jemand an die Macht kommt, der in Kategorien wie „einiges Volk“, „gemeinsames Schicksal“, „große Geschichte“ und ähnlichen grandiosen Verallgemeinerungen auch nur denkt. Und natürlich dürfen Politiker in der Zukunft keine Möglichkeit haben, Kriege zu führen, die auf ihren Fantasien beruhen. Ihnen müssen die Hände gebunden sein.
Das wird in einem Land, in dem Institutionen, Gesetze und sogar das Bildungssystem immer im Interesse einer zentralistischen Regierung und nicht im Interesse der Menschen gehandelt haben, extrem schwer werden. In einem Land, in dem die soziale Ordnung immer zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wurde. Der Erfolg dieses schwierigen Unterfangens ist alles andere als garantiert, aber ohne ihn hat Russland keine Zukunft.
Der chinesische Präsident Xi ist derzeit schwer gefragt: Die westlichen Staats- und Regierungschefs suchen das Gespräch und wollen Xi zu mehr Druck auf Russland bewegen. Der Präsident der Volksrepublik betont darin die Wichtigkeit der territorialen Unversehrtheit und dass China Bemühungen um einen Waffenstillstand in der Ukraine unterstütze. Gleichzeitig sagt Xi aber, die westlichen Sanktionen gegen Russland seien „schädlich für alle Seiten“ und implizit auch, dass Russlands Anspruch auf eigene „Einflusssphäre“ berechtigt sei. Wie lange kann sich China dieses Lavieren noch leisten? Wird die Volksrepublik Druck auf Russland ausüben, oder passt wirklich kein Blatt zwischen die Autokraten Xi und Putin? Und was haben Hongkong und Taiwan mit all dem zu tun? Ein Bystro mit dem Historiker Sören Urbansky – in acht Fragen und Antworten.
1. Der Kreml pflegt demonstrativ gute Beziehungen zu China, die russische Propaganda stellt Peking nicht selten als Verbündeten gegen den Westen dar. Wie viel ist an der russisch-chinesischen Freundschaft dran?
Die über 300 Jahre währende Beziehung zwischen China und Russland war schon immer geprägt von Licht und Schatten. Mit dem Machtantritt Xi Jinpings im Jahr 2012 gewann die Beziehung allerdings eine ganz neue Qualität: Sowohl auf rhetorischer Ebene der Staatschefs als auch auf der Ebene der jeweiligen Propaganda erklingen seitdem immer mehr lautstarke Solidaritäts- und Freundschaftsbekundungen. Die Krim-Annexion 2014 verlieh dieser Annäherung weitere Dynamik. Deutlich wurde es auch, als Putin im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking war – als erster Staatsgast seit zwei Jahren. Dabei haben die beiden Länder auch einen großen Gasdeal abgeschlossen, der wegen des Zeitpunkts durchaus auch als ein Signal an den Westen verstanden werden kann. Was die beiden Länder zusammenbringt, sind geostrategische Synergien. Der Westen, vor allem die USA, gilt als gemeinsamer Feind. Dies gilt sowohl für die „Sicherheitsinteressen“ als auch für das Weltbild: Beide Länder lehnen das freiheitlich-demokratische Modell faktisch ab, beanspruchen für sich aber, selbst Demokratien zu sein. Hinzu kommt, dass China und Russland etwa in Zentralasien gewissermaßen komplementär handeln: China verfolgt dort unter anderem mit dem Projekt Neue Seidenstraße Wirtschaftsinteressen, räumt Russland dabei aber die militärische Vorherrschaft ein. So begrüßte Peking auch den russischen Einsatz in Kasachstan Anfang 2022. Mit umgekehrten Vorzeichen gilt das auch für die Asien-Pazifik-Region: Auf internationaler Ebene unterstützt Russland stets Chinas Anspruch auf seine „Einflusssphäre“. Insgesamt versucht die Partnerschaft also eine Art Gegenpol zum Westen zu bilden: sowohl geostrategisch als auch ideologisch.
2. Und wie sieht es mit den Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder aus?
Das ökonomische Gleichgewicht hat sich in vergangenen 30 Jahren massiv verändert: Anfang der 1990er Jahre waren die Bruttoinlandsprodukte in etwa gleich, heute ist das chinesische BIP rund zehnmal so groß wie das russische. Gleichzeitig gibt es aber enorme Synergien: Auf der einen Seite liefert Russland Rohstoffe und hilft damit, den „Chinesischen Traum“ zu verwirklichen – einen Kern der Staatsideologie, eine Art säkulares Heilsversprechen, mit dem Xi seit 2012 hundert Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 2049 den Aufbau eines wohlhabenden sozialistischen Landes verheißt. Auf der anderen Seite profitiert auch Russland massiv vom Import chinesischer Produkte, die es selbst nicht herstellen kann. Trotz dieser engen Verflechtung würde ich aber sagen, dass es heute keine Allianz ist, sondern eher eine Partnerschaft. Es gibt eine große Überschneidung von Interessen, im Hinblick auf die Wirtschaftskontakte in den Westen vermeidet China aber eine zu enge Annäherung an Russland: Für die Verwirklichung des Chinesischen Traums ist der Westen schlicht wichtiger, allein Chinas Exporte in die EU und nach Großbritannien sind knapp zehnmal so hoch wie Chinas Ausfuhren nach Russland.
3. Wenn der Westen als gemeinsamer Feind gilt, was bildet dann die Klammer der Beziehung: Das Prinzip „Der Feind meines Feindes …“ oder eher eine gemeinsame antiwestliche Ideologie?
Ob es in Russland eine Staatsideologie gibt, ist fraglich: Eine Ideologie ist mehr oder weniger stringent und in sich schlüssig, die russische Propaganda bedient sich aber oft widersprüchlicher Versatzstücke aus der teilweise selbstkonstruierten Geschichte: von Orthodoxie über Imperium, Nationalismus, Großem Vaterländischen Krieg, Stalin bis hin zu kruden Verschwörungsmythen. In China wirkt demgegenüber seit Gründung der Volksrepublik 1949 ein ideologisches Korsett, in dem zwar starke Anpassungen stattfinden, das aber monopolistisch ist und systemimmanent auch durchaus bündig: heute vor allem in Hinsicht auf die Ziele Chinesischer Traum, Sozialismus chinesischer Prägung und Wiedererstarken der chinesischen Kultur und Nation. Das hat auch damit zu tun, dass es in China nie wirklich unabhängige Medien gegeben hat: Russland war bislang immer freier als China. Wesentliche – wenngleich graduelle – Unterschiede gibt es auch in der antiwestlichen Propaganda: Der russische Kampfbegriff von einem Werteverfall in „Gayropa“ ist in chinesischen Medien so nicht denkbar. Überhaupt legitimiert sich der Kreml weitaus mehr über das Feindbild als Xi: In der russischen Propaganda ist Russland eine von Feinden umzingelte „belagerte Festung“. China präsentiert sich vielmehr als eine Weltmacht und erhebt unter der Hand den indirekten Anspruch, eines Tages gar die unipolare Macht zu werden. Wo sich beide Länder massiv annähern, ist der Personenkult – wenngleich Xi und Putin sehr unterschiedliche Führerpersönlichkeiten sind und Xis Macht stärker in ein Kollektiv eingebettet ist: Durch die Aufhebung der Amtszeitbeschränkung in beiden Ländern können beide im Grunde bis zum Lebensende an der Macht bleiben. Eine weitere gemeinsame Klammer ist das Denken in Einflusssphären und der postimperiale Verlustschmerz: Chinas Haltung zu Hongkong und Taiwan kann man mit Russlands Vorgehen in der Ukraine und in Georgien vergleichen, nicht zuletzt allerdings aber auch vor dem Hintergrund, dass alle diese Länder freier und demokratischer sind als Russland und China – und damit auch als eine Gefahr für das eigene System wahrgenommen werden.
4. Auf der einen Seite haben Russland und China also geostrategische und ideologische Gemeinsamkeiten. Auf der anderen sitzt der Westen gegenüber China aber an einem weitaus längeren Hebel als Russland – das nicht selten als Juniorpartner in der Beziehung zu Peking gilt. Kann der Westen nicht diesen Hebel im russischen Krieg gegen die Ukraine betätigen?
Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass China Russland auf internationaler Ebene nie spüren lässt, dass es der Juniorpartner ist. Xi hofiert Putin und gibt auch für die russischen Medien stets das Bild ab, dass es eine enge Partnerschaft auf Augenhöhe sei. Durch diese außenpolitische Bestätigung legitimiert China die russische Führung nach Innen. Hinter verschlossenen Türen sieht es natürlich anders aus: Bei Gasverträgen etwa lässt China Russland durchaus spüren, wie die Kräfte eigentlich verteilt sind und erzielt für sich sehr gute Preise, höchstwahrscheinlich bessere als die, die westliche Unternehmen an Gazprom zahlen. So etwas wird aber nicht triumphierend präsentiert, offiziell pflegt Xi immer ostentativ das Bild der Ebenbürtigkeit, weil er weiß, wie viel es für die russische Führung im Inneren bedeutet. Chinesische Schützenhilfe für die russische Innenpolitik ist derzeit aber auch wichtig, weil Putin aus den besagten Gründen schlicht nützlich ist. Der Westen ist natürlich wirtschaftlich viel wichtiger, deshalb lautet die große Frage vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, wie die chinesische Kosten-Nutzen-Analyse ausfallen wird.
5. War China in Russlands Kriegspläne eingeweiht?
Es gibt Hinweise darauf, dass Putin Xi in seine Kriegspläne eingeweiht hatte und den Krieg erst nach den Olympischen Spielen begann, um Xi nicht die Feier zu vermasseln. Vermutlich ist man aber in China genauso wie in Russland davon ausgegangen, dass Russland diesen Krieg schnell gewinnt, dass es in etwa so ablaufen würde wie bei der Krim-Annexion. Hinzu kommt, dass die Ukraine einen wichtigen Pfeiler in der chinesischen Strategie der Neuen Seidenstraße bildet – aus diesem Grund kann dieser Krieg nicht in Pekings Interesse liegen. Der Westen kann auch viel mehr Druck auf China ausüben, etwa bei der Auslegung von Sekundärsanktionen – was letztendlich den weiteren Aufstieg Chinas gefährden könnte. Deshalb riskiert China derzeit extrem viel und wird es noch viel mehr tun müssen, je länger der Krieg andauert. Mit dem Fortschreiten des Krieges würden die Fliehkräfte für China zunehmen, das Land müsste sich weitaus deutlicher auf die Seite des Westens oder eben Russlands schlagen als jetzt. In beiden Fällen würde China viel verlieren. Deshalb dürfte es ein sehr dringendes Interesse Chinas sein, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.
6. Profitiert China nicht eher von dem Krieg? Russland findet ja derzeit kaum einen Absatzmarkt für sein Öl, da dürfte China doch mit Dumpingpreisen rechnen. Und wenn der Westen ein Öl- und Gasembargo verhängen sollte, dann hätte Russland ja fast nur noch China als nennenswerten Absatzmarkt.
Einerseits ja, China profitiert jetzt schon davon: Es ist bezeichnend, dass die großen Gasdeals zwischen den beiden Ländern zu Zeiten einer Krise in Russland abgeschlossen wurden: Vor dem Hintergrund westlicher Sanktionen 2014 und eben im Februar 2022. Wir kennen nicht die Preise, sie werden für China aber mit Sicherheit günstig sein. Andererseits nein: Das Pipeline-System ist äußerst starr, die Energieträger aus den für den westlichen Absatzmarkt erschlossenen russischen Quellen können nicht so einfach nach Osten umgeleitet werden, der Aufbau einer neuen Infrastruktur würde Unsummen verschlingen und wohl viele Jahre dauern. Fraglich ist auch, dass China solche Mengen kaufen würde wie zuvor der Westen. Außerdem wäre China dabei in einer Position, in der es die Preise diktieren könnte. Bei Erdöl sieht es ähnlich aus: Der Transport per Zug nach Osten aus den für den westeuropäischen Markt vorgesehenen Quellen rentiert sich nur bei einem sehr hohen Ölpreis. Dies ist aber auch ein Knackpunkt: China braucht relativ niedrige und stabile Preise, um das eigene Wirtschaftswachstum garantieren zu können. Allein schon aus diesem Grund kann es nicht in Pekings Interesse liegen, dass Russlands Krieg in der Ukraine lange andauert. Hinzu kommt aber auch die Möglichkeit der härteren Auslegung von US-amerikanischen Sekundärsanktionen gegenüber China – wohl das schärfste Schwert, das der Westen einsetzen könnte. Insgesamt laviert die Pekinger Außenpolitik derzeit zwischen der Betonung der Wichtigkeit des Prinzips der territorialen Integrität auf der einen und dem Verständnis für die russischen Ansprüche auf die „Einflusssphäre“ auf der anderen Seite. Je länger der Krieg fortdauert, desto wahrscheinlicher kommt aber der Kipppunkt: China würde dann Farbe bekennen müssen und sich entweder für den Westen oder für Russland entscheiden.
7. Wenn der Chinesische Traum schon so zentral ist für das Selbstverständnis der Volksrepublik – wäre es da angesichts der weitaus engeren wirtschaftlichen Bindung an den Westen nicht opportuner, sich für den Westen zu entscheiden?
Dass China in der Vergangenheit weitgehend rational und pragmatisch agiert hat, heißt ja nicht, dass es das auch künftig tun wird. Die meisten Russland-Experten haben doch auch Russland bis zu der Invasion als ein relativ rationales Regime eingestuft. Ganz abgesehen davon, dass der Westen wirtschaftlich in einem hohen Maße von China abhängt: Die Volksrepublik könnte bei etwaigen westlichen Sanktionen doch auch mehr auf das Feindbild Westen setzen als bisher. Die Staatsideologie müsste natürlich angepasst werden, den Machterhalt würde es aber auch angesichts des massiven Unterdrückungsapparats wohl nicht unbedingt gefährden. Peking hat sicherlich ganz genau das Vorgehen bei der russischen Machtvertikalisierung beobachtet. Die Volksrepublik war bislang zwar viel unfreier als Russland, einige Tasten auf der Legitimations-Klaviatur des Autoritarismus hat China im Gegensatz zu Russland aber noch nicht so intensiv bedient. Im Hinblick auf die Unterdrückung der Proteste in Hongkong hat Peking wohl auch Russlands zunehmende Repressionen studiert, aber auch die Krim-Annexion. Im Hinblick auf Taiwan dürfte es nun auch genauestens auf Russlands Krieg gegen die Ukraine schauen.
8. Die USA liefern neueste Waffen an Taiwan und Biden hat unlängst Taiwan militärischen Beistand zugesichert. Gleichzeitig geht der US-Präsident offenbar auf die zuvor geächteten Regime in Venezuela und Iran zu. Klingt zynisch, aber einzelne Analysten fragen mittlerweile, ob Taiwan da nicht zur Verhandlungsmasse werden könnte, um China davon zu überzeugen, sich von Russland abzuwenden.
Ich gebe nicht viel auf solche Einschätzungen. Wenn überhaupt etwas in die Richtung stattfindet, dann hinter verschlossenen Türen. Zudem ist Taiwan nur bedingt vergleichbar mit der Ukraine: Das Land ist eine Insel, also besser zu verteidigen, Taiwan hat ein extrem hochgerüstetes Militär – es wäre auch ein sehr blutiger Krieg, auf beiden Seiten. Der von Biden proklamierte militärische Beistand ist wahrscheinlich eine wohlkalkulierte Grauzone, ein Unsicherheitsfaktor, der für China vor dem Hintergrund des russischen Kriegs noch ausschlaggebender werden dürfte. Ich nehme an, dass Peking derzeit ganz genau die westlichen Sanktionen gegen Russland studiert. Eine solche Ent- und Geschlossenheit hat Xi höchstwahrscheinlich genauso wenig erwartet wie Putin. Dies dürfte auch im chinesischen Blick auf Taiwan eine Rolle spielen. Auch deshalb ist es jetzt wichtig, dass die Fliehkräfte für China mit der Dauer des Krieges zunehmen; das Land gerät zunehmend unter Druck, sich in dem Konflikt klar zu positionieren. Egal wie es sich dann entscheidet – China würde viel verlieren. Aus diesem Grund muss es in Pekings Interesse sein, dass der Krieg schnell beendet wird.
Die Novaya Gazeta mit ihrem Chefredakteur, dem Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, versucht auch in Kriegszeiten ihren eigenen Weg zu gehen und, so gut und so lange es geht, unabhängig zu berichten – auch aus dem und über den Krieg in der Ukraine. Zwar beugt sich die Novaya der Zensur, insofern, als sie gemäß der aktuellen Gesetzeslage nicht das Wort „Krieg“ verwendet, sondern „<…>“, auch einzelne Artikel hat die Novaya aus dem Netz genommen, und sie zensiert mitunter Berichte von Korrespondenten aus der Ukraine – all dies macht sie aber stets transparent. Ein Kompromiss, um unter Bedingungen immer stärkerer Desinformation und restriktiver Mediengesetze weiter unabhängig arbeiten und informieren zu können. Die Leser äußerten bei einer extra initiierten Umfrage Anfang März Verständnis und auch Zuspruch: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Manche schlugen gar vor, die ganze Absurdität zu perfektionieren und damit zu demaskieren, dass künftig am besten auch nur noch die Rede ist von: Lew Tolstois Roman „Spezialoperation und Frieden“.
Während immer mehr Medien blockiert werden und zahlreiche unabhängige Journalistinnen und Journalisten aus Angst um ihre Sicherheit das Land verlassen (laut Investigativmedium Agenstwo sind es mehr als 150, die bereits gegangen sind), scheint sich die Novaya noch auf einen gewissen „Sonderstatus“ verlassen zu können, den sie als Leuchtturm der unabhängigen Berichterstattung seit den 1990er Jahren genießt.
Kürzlich kündigte Muratow außerdem an, seine Nobelpreismedaille versteigern und den Erlös spenden zu wollen – für ukrainische Geflüchtete. Das gab die Novaya Gazeta in einer Meldung bekannt, in der sich auch eine Reihe weiterer Forderungen fanden – etwa die nach einem Waffenstillstand. Darüber hatte Muratow außerdem bereits Anfang März mit der Journalistin Katerina Gordejewa gesprochen, die auf YouTube ihren bekannten Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) betreibt.
Im Podcast erklärt Muratow, warum er mit dem Krieg gerechnet hat, inwiefern dieser nun nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. Und worauf er, Muratow, jetzt noch hofft – wider besseren Wissens.
Katerina Gordejewa: Haben Sie tatsächlich bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es Krieg geben könnte?
Dmitri Muratow: Wir haben schon im Vorfeld geahnt, dass es leider Krieg geben wird. Wir hatten in der Redaktion viele Besprechungen zu diesem Thema, untereinander, mit den Ressorts, mit allen. Uns war klar, dass es direkt nach Olympia losgeht.
Es war klar, dass Wladimir Putin bei einigen Auftritten völlig unmissverständlich all die Kränkungen aufgezählt hatte, die Russland, also Putin in Person, zugefügt worden waren. Es war klar aufgrund der Wortwahl – ständig war da die Rede von Nazis, Faschisten, dem Großen Vaterländischen Krieg, den Heldentaten unserer Vorfahren …
Es war klar, dass jener Krieg, der Große Vaterländische Krieg, für Putin nie aufgehört hat. Putin ist zu jung, um dabei gewesen zu sein, aber ich möchte die Vermutung äußern, dass Wladimir Putin jetzt danach strebt, seinen persönlichen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu erringen. Einen Sieg, der darin besteht, die Ergebnisse zu verteidigen, die er für richtig hält. So kämpft er dort jetzt gerade: als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Das ist meine Vermutung.
Aber wenn ich diese Aufrüstung des Bewusstseins sehe, manchmal übrigens eine durchaus humanistische – zum Beispiel das Unsterbliche Regiment, die Armeekathedralen als Orte des Gedenkens: Das alles ist zweifellos ein Leben in der Vergangenheit. Es geht darum, den Sieg zu erringen, als hätte es diesen Sieg nie gegeben.
Die Menschen, die Putin jetzt umgeben, bleiben die aus Angst bei ihm oder weil sie an das glauben, was er tut?
Ich habe gestern [das Interview wurde am 7. März veröffentlicht – dek] mit ein paar Mitgliedern des Machtapparats gesprochen, und ich kann mich nicht erinnern, wann sie … – ich will sie nicht Elite nennen, ich nenne sie Machthaber, Entourage, aber sicher nicht Elite, nicht nach dieser berühmten Sitzung des Sicherheitsrates, nachdem wir gesehen haben, wie sie zittern, wie viele von ihnen breitbeinig zum Podium gegangen sind … Weißt du, warum? Wegen ihrer Pampers, Katja. Also, ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren. Noch nie waren sich die Leute, die an der Macht sind und die mit ihr betraut sind, so einig – ich rede jetzt nicht vom Business, das sind verwandte Dinge, aber doch nicht dasselbe … Sie sind sich absolut einig. Sie teilen Putins Weltbild zu hundert Prozent.
Ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren
Präsident Putin hat sein eigenes Weltbild. Dieses Weltbild ist fast so unerschütterlich wie die ägyptischen Pyramiden, wo zwischen den Steinblöcken keine Nadel Platz hat. Sein Weltbild ist absolut klar: Russland ist eine Festung. Es ist ein isolationistisches Land, unendlich reich an Bodenschätzen, ein Land, das niemanden braucht, das endlich begreifen muss, dass der Westen der Feind ist, dass die Welt der Feind ist … Das ist sein Weltbild, und es hat um sich gegriffen, es hat die ganze Elite infiziert …
Jetzt haben Sie es doch gesagt!
Aus reiner Gewohnheit, weißt du …
Aber im politologischen Sinn ist das die Elite.
Ich weiß nicht … – ich bin nicht bereit, sie Helden oder Elite zu nennen … Mitstreiter vielleicht. Eine Elite, das sind Leute, die bis aufs Blut und weiter für das Glück ihres Landes ackern.
Das, was man Ehre und Heldenmut nennt.
Genau, also können wir das nicht sagen. Sie teilen ein und dasselbe Weltbild. Es gibt da überhaupt keine Spaltung. Die ganzen Theorien, die man uns überall aufschwatzen wollte und von denen man immer noch sagt: dass es zu einem Machtwechsel durch die Spaltung der Eliten kommen wird … Da ist keine Spaltung.
Aber Sie haben doch selbst gesagt: dass die Angst hatten, als sie vor dem Sicherheitsrat sprechen sollten.
Die hatten Angst, das Falsche zu sagen, sie waren schließlich zu einer Prüfung angetreten, und nicht alle hatten den Text auswendig gelernt. Aber jetzt ist allen alles klar.
Und alle teilen diese Ansichten?
Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt. Alles. Eine treuere Regierung hat es, glaube ich, noch nie gegeben.
Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt
Wie hat das alles angefangen, und was hat überhaupt die Ukraine damit zu tun? Das hat doch nicht erst 2014 angefangen?
Nein, das hat früher angefangen, wenn man bedenkt, wo Putin jetzt angekommen ist. Wenn du dich erinnerst: Russland hatte 2006 eine NATO-Vertretung in Brüssel, den NATO-Russland-Rat. Dort saßen diverse Vertreter, unter anderem übrigens Rogosin. Putin hatte damals ernsthaft vorgeschlagen, über einen Beitritt Russlands in die NATO nachzudenken, und war sehr erstaunt, als man ihm sagte, dass man dafür eine Art Probezeit braucht, Dokumente vorbereiten muss … Er war überzeugt, dass man so ein einmaliges Angebot [seitens Russland – dek] nicht ablehnen würde, aber man legte ihm Steine in den Weg. Und als er später vollkommen überzeugt war, dass man ihn betrügt – das heißt, dass der Westen Putin betrügt – da kam die Münchner Rede, in der 2007 absolut alles gesagt wurde, was wir jetzt und hier haben. Diese Rede wurde wohl kaum ernstgenommen. Nur von kleineren Regimes in Lateinamerika und in Kuba.
Sie wurde angehört, und sie hatte einen zweiten, besänftigenden Teil, aber die großen Politiker, selbst die Leader der europäischen Welt haben das nicht ernstgenommen. Sie hielten das für Rhetorik.
Aber im nächsten Jahr kam dann der Georgienkrieg, und Präsident Bush sagte zu Wladimir Putin das eine und zu Michail Saakaschwili etwas anderes. Und die Geheimdienste sind dafür da, alles Gesagte zu vergleichen. Seither glaube ich, dass das einer der wichtigsten Wendepunkte war, denn Russland hatte immer von einem Bekenntnis zu westlichen Werten geredet, von der Diktatur des Gesetzes, davon, wie offen wir seien, wie global die Welt sei. Das alles hat genau in diesem Moment aufgehört: „Man kann ihnen nicht glauben, sie verstehen nur Gewalt, Worte verstehen sie nicht.“ Ich spreche das als inneren Monolog, so wie ich mir den inneren Monolog der kollektiven Staatsmacht vorstelle.
Das heißt, die kollektive Staatsmacht fühlte sich vom Westen gekränkt?
Sehr gekränkt, zutiefst gekränkt, bis zum Umfallen gekränkt. Und dann passierte noch etwas: Putin wurde plötzlich klar, dass die Leute, die ihm was von Werten erzählen, eigentlich Preise meinen. Sieh doch mal, Putin hat massenweise repräsentative mächtige Leute aus dem Westen, westliche Politiker in die Aufsichtsräte der russischen Staatsunternehmen eingekauft.
Sie meinen die, die jetzt eiligst austreten …
Jetzt treten sie eiligst aus, aber genau so eilig sind sie damals eingetreten – so eilig, dass sie fast auf ihrer Schleimspur ausgerutscht wären. Der französische Premier, der deutsche Kanzler, italienische Politiker … Sie nahmen brav Platz, bekamen ihre …
… riesigen …
Ich weiß es nicht von allen genau, ich habe nicht alle Zahlen im Kopf, aber es ging um ein paar Millionen Dollar im Jahr. Und er, Putin, lacht sich kaputt. Er sagt: „Und diese Leute wollen mir was von Werten erzählen? Ihr wollt alle nur Kohle.“ Und er ist davon vollkommen überzeugt.
Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie
Ich glaube, er ist überzeugt davon, dass er ihnen die Freundschaft angeboten hatte und zurückgewiesen wurde, und jetzt sollen sie bitte nicht beleidigt sein. Das ist eine normale Denkweise, ich bin selbst in einem solchen Hinterhof aufgewachsen, das ist so eine ganz normale Hinterhoflogik von Achtklässlern: Sei jetzt bitte nicht beleidigt. Das ist ein krasser psychischer Bruch, auch jetzt in diesem für unser Land absolut kritischen Krisenmoment.
Denn was ist in der Nacht auf den 24. Februar passiert? Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie. Lang und ausführlich hat er seine Kränkungen aufgezählt.
Und es gibt noch ein Detail, auch das kam in der Rede vor: Mit wem soll man denn bitteschön verhandeln, die wechseln doch ständig? Das sind jetzt meine Worte, aber im Großen und Ganzen – sieh mal: Seit Putin an der Macht ist, gab es verschiedene Kanzler in Deutschland, mehrere Präsidenten in den USA, fast ein halbes Dutzend Präsidenten und Premiers in Italien und Frankreich … Sie wechseln die ganze Zeit, und wirklich, so nach dem Motto: Mit wem soll er da reden außer mit Gandhi? Gerade gewöhnst du dich an jemanden, und schon ist seine Amtszeit vorbei. Das ist doch wahrlich nicht vernünftig, oder? Einfach unvernünftig! Und plötzlich steht Putin da als der erfahrenste Politiker der Welt. Er ist knapp über 22 Jahre an der Macht, denn schon als Premierminister standen ihm mächtige Hebel zur Verfügung. Keiner von den europäischen und nordamerikanischen Politikern ist je so lange an der Macht gewesen. Er kennt sie alle in- und auswendig, und er glaubt denen absolut nichts, keinem von denen.
Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein
Er denkt ganz bestimmt: „Warum kümmert es euch denn jetzt plötzlich, dass wir mit diesem Krie…, ach, wie heißt das … mit dieser militärischen Spezialoperation zur Wiederherstellung in der Ukraine sind. … Vorher hat doch angeblich niemand etwas gemerkt – dass sie Janukowitsch gestürzt haben, dass seit acht Jahren im Donbass [Krieg ist].“ Und auf die Frage, ob nicht wir Russen es waren, die zuerst im Donbass einmarschiert sind, kommt immer die Antwort: „Alles hat damit angefangen, dass der Westen die Krim nicht anerkannt hat, aber da hat doch das Volk abgestimmt …“
Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein. Als die Überzeugung noch klein war, war es einfach eine Anhäufung von Kränkungen, aber als dann Iskander-, Bulawa- und Zirkon-Raketen ins Spiel kamen, wurde klar, dass man diese Kränkung durchaus anderen vorhalten kann.
Was meinen Sie: War Putin bewusst, dass bisher noch niemand einen Krieg gewonnen hat gegen ein Land, das diesen Krieg als Vaterländischen Krieg sieht? Als Beispiel dient hier die Sowjetunion [im Zweiten Weltkrieg – dek] oder auch Russland im Napoleonischen Krieg.
Mit dieser militärischen Wucht und Übermacht kann man das Land natürlich vorübergehend unterwerfen, es aufteilen … Einen westlichen Teil, der leben kann, wie er will, mit Lwiw als Hauptstadt, einen zentralen Teil, der natürlich unter russischer Schirmherrschaft stehen müsste, und dann würde man sehen, wer der wichtigste Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen wäre, und schließlich die Ost-Ukraine, die natürlich russisch sein muss. So ungefähr war der Plan. Aber es hat sich herausgestellt, dass da ein Mann mit Eiern in der Hose ist – Selensky, was kaum jemand geglaubt hat. Seine Zustimmungswerte waren vorher nach unten gegangen, also dachten unsere Propagandisten, das ukrainische Volk würde die russische Armee mit Blumen empfangen.
Aber jeder, der in den letzten Jahren auch nur einmal in der Ukraine gewesen ist, hätte doch sagen können, dass das nicht stimmt. Hat man Putin angelogen?
Das kann ich dir erklären. Das ist keine Lüge, das ist viel besser. Schau mal, unsere Regierung bestellt für ihren Boss Propaganda fürs Volk. Sie schaut zu, wie das Fernsehen die Aufgabe erledigt und beginnt allmählich selbst, das zu glauben, was sie in Auftrag gegeben hat, es ist ja im Fernsehen zu sehen. In der Psychologie nennt man das Selbstinduktion. Das ist einer der schwerwiegendsten Gründe: Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen. Sie glauben jetzt tatsächlich an das, was sie sich selbst ausgedacht haben.
Sie haben Echo Moskwy abgeschaltet, sie haben alle jungen und hoffnungsfrohen freien Medien mit diesem „Ausländische Agenten“-Gesetz ruiniert. Es gibt einen riesigen Exodus an Journalisten, Profis, Analytikern, Programmierern, Fachleuten für die Erforschung von Big Data in Russland. Einen gigantischen Exodus. Gigantisch. Du wirst bald sehen, wovon ich rede. Das sind dann meine persönlichen Verluste. So degradiert man ein ganzes Volk.
Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen
Sie haben ziemlich viele Kriege mit eigenen Augen gesehen. Von dem, was Sie jetzt beobachten – die Soldaten der russischen Armee, die russische Militärtechnik, die Soldaten der ukrainischen Armee, die ukrainische Militärtechnik –, können Sie sich da ein Bild vom Zustand der beiden Armeen machen?
Muratow: Damals in Karabach habe ich gesehen, wie das Donezker Einsatzregiment des seinerzeit noch sowjetischen Innenministeriums mit alten Panzern versuchte, die Berge hochzukriechen. Der Anblick war nicht so überzeugend.
In Afghanistan sah ich eine Armee, die zwar schon viel besser aufgestellt war, die aber nicht wusste, wofür sie kämpfte. Die kämpften dort nur für ihre Kameraden, nicht um irgendeine internationale Pflicht zu erfüllen, da hatte keiner einen Plan. Der Krieg lief hauptsächlich unter dem Motto: „Wir rächen unseren gefallenen Freund.“ Was wir dort überhaupt zu suchen hatten, diese Frage wurde gar nicht gestellt.
Ja. Lauter Grundwehrdienstler, die wurden beeidigt und los ging's. Die hatten nicht einmal alle das halbe Jahr Grundausbildung.
Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl
Die heutige Armee ist anders. Es gibt eigentlich zwei Armeen: die traditionelle russische und die Armee von Kadyrow. Kadyrows Armee ist auf Kampf gedrillt, die kämpfen gern, das ist ihr Lebensinhalt. Sie sind gut ausgerüstet, tragen die modernsten Kampfanzüge, die allerneuesten Ratniki. Sie haben im Tschetschenienkrieg viele, wie sie es nennen, Schaitanygefangen und den Umgang mit Waffen von Kindesbeinen an gelernt. Im Grunde versteht Kadyrow sein Land nicht als kleine subventionierte Region Russlands, sondern als Armee, deren Oberbefehlshaber er ist. Daher werden beim Signal des Kriegshorns „Putins Fußsoldaten“ tatsächlich zur Infanterie. Sie haben ein Motiv, nämlich, zu kämpfen.
Die traditionelle Armee hingegen hat kein Motiv. Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl. Das ist alles ziemlich streng hierarchisch strukturiert, wie üblich beim Militär. Und die Angst vor der Strafe des Tribunals, die Angst, dass der Kommandant unzufrieden ist, die treibt die Soldaten an, immer weiter. Aber das Motiv „die Heimat verteidigen“, das fehlt.
Halten Sie alles, was da passiert, gewissermaßen für ein Versagen Ihrer Strategie? Denn Sie waren doch einer, der in ganz schweren Zeiten versucht hat, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Sie konnten sowohl mit denjenigen reden, die auf Demonstrationen wollten, als auch mit denen, die für deren Genehmigung zuständig waren. Sie haben sich gekümmert, haben Leuten geholfen und so weiter. Denken Sie, dass diese Kompromisse dazu beigetragen haben, dass alles innerhalb einer Sekunde in sich zusammengestürzt ist?
Muratow: Ich habe keine Zeit für Social Media, dadurch habe ich viel Scheiße gar nicht mitgekriegt. Nur davon gehört. Gleichzeitig habe ich keinen einzigen Vorwurf gegen unsere Zeitung gehört. Mir wurden Vorwürfe gemacht, aber nicht der Zeitung. Zum Glück, war es nicht umgekehrt.
Was heißt überhaupt sich einigen oder zuhören? Eigentlich ist das meine Arbeit, ich habe ein zweites Signalsystem, also: reden, zuhören, reden, zuhören. Man muss sich die Argumente anhören, und man muss auf jeden Fall den Mund aufmachen, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu bewirken. Klar, man muss hinfahren und reden, um die Demonstranten freizubekommen. Aber ich glaube, diese Möglichkeit habe ich jetzt gar nicht mehr.
Offiziellen Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der Russen die Militäroperation … Muratow: Können Sie das wiederholen? Welchen Umfragen zufolge? Offiziellen. Muratow: Die wer durchführt? Das WZIOM. Muratow: Ist das WZIOM ein staatliches Institut? Ja. Muratow: Dann macht also der Staat mithilfe eines staatlichen Dienstes eine Umfrage für sich selbst, um seine eigene Position zu untermauern.
Sogar wenn wir das Ergebnis halbieren, sind es immer noch viele.
Muratow: Okay, einverstanden, aber sogar das WZIOM, kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel dagegen ist. Also sogar laut staatlicher Umfrage sind ein Drittel dagegen. Das sind, an der Gesamtbevölkerung bemessen, 50 Millionen. Ein Drittel. Immerhin ein Drittel. Ein Drittel! Das sind enorm viele!
Sogar wenn wir davon ausgehen, dass sie lügen, können wir uns immer noch vorstellen, dass der Teil, der dafür ist, und der Teil, der dagegen ist, egal wie groß, aber ungefähr gleich groß sind. Normalerweise führt das dazu, dass Sofakonflikte zu handfesten Auseinandersetzungen werden. Wie schätzen Sie diese Perspektive ein?
Muratow: Das würde ich gern anders beantworten. Es gab im Januar eine Umfrage von Lewada. Das sind telefonische Umfragen, Feldforschung. Es ist ja klar, dass die Leute Angst haben, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation des Präsidenten zur Wiederherstellung der Ordnung?“ Man hat die Telefonnummern der befragten Personen, weiß also auch, wo sie wohnen. Was sollen sie da schon sagen? Ja, sagen sie, ich bin dafür. Die haben doch Schiss, verdammt.
Stehen wir im Land am Rand einer großen Bürgerkonfrontation, die katastrophale Folgen haben wird?
Muratow: Ich denke nicht über einen Bürgerkrieg in Russland nach. Worüber ich ernsthaft nachdenke, ist die Frage, was diese verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenbringen kann. Total überzeugt bin ich von: Waffenstillstand …
Glauben Sie?
Muratow: Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können. Auf gar nichts. Worauf soll man sich denn jetzt noch einigen?
Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können
Unsere Korrespondentin Nadja Andrejewa ist jetzt in Saratow … Sie hat von einer irren Geschichte berichtet, ich werde den Namen des jungen Mannes nicht nennen … Am 24. wurde er getötet, die Nachricht über seinen Tod kam an seinem Geburtstag, am 25. Februar, wenn ich nicht irre. Die Familie ließ ein Grab ausheben und mit einer Plane abdecken, langsam stellte sich die Frage, wann denn die Leiche käme. Aber die war verlorengegangen. Und noch immer wartet dieses abgedeckte leere Grab in der Stadt Saratow [diesen Artikel, wie auch einige weitere, hat die Novaya Gazeta inzwischen gelöscht aufgrund der zensierenden Gesetzgebung, die eine Berichterstattung nur gemäß „offizieller Quellen“ erlaubt, bei „Falschinformation“ drohen bis zu 15 Jahre Haft – dek]. Deswegen braucht es einen Austausch der Gefallenen, humanitäre Korridore und Waffenstillstand.
Gut, aber halten Sie das für möglich?
Muratow: Nun, ich denke, nachdem nichts anderes möglich ist – niemand wird die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurücknehmen, niemand wird die Krim zurückgeben –, bleibt nur die Möglichkeit, nicht noch mehr Menschen zu opfern. Der Krieg wird so oder so zu Ende gehen, die Frage ist nur, wie hoch die Verluste sein werden.
Glauben Sie daran, dass unsere Kinder oder wenigstens unsere Enkelkinder mit ihren ukrainischen Altersgenossen ohne Hass oder Schuldgefühle werden reden können?
Muratow: In unserer Generation wird das nicht mehr möglich sein. In der Generation, die jetzt 20 oder 21 ist, geht das vielleicht noch, da herrscht eine andere Empathie. Die meisten jungen Leute sind kategorische Kriegsgegner, und die meisten von ihnen haben plötzlich innerhalb von zwei, drei Tagen kapiert, dass das das letzte iPhone war, dass der letzte Flug weg ist und sie die Länder, von denen sie geträumt und gelesen haben, nie zu Gesicht kriegen werden.
Das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen geträumt haben, dass ihnen in der Zukunft die Welt offensteht und dass auch Russland weltoffen ist
Aber das ist doch ein Scheißdreck im Vergleich zu den vielen Toten in der Ukraine …
Muratow: Nein, das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen von einer Zukunft geträumt haben, sie haben davon geträumt, dass man Russland in dieser Zukunft lieben würde, dass ihnen die Welt offensteht, dass auch Russland weltoffen ist, dass die Grenzen immer mehr verschwinden und nur mehr zu Ordnungszwecken und für den Zoll bestehen. Sie haben ganz bestimmt davon geträumt, würdige und gleichberechtigte Weltbürger zu sein, dass massenhaft Touristen kommen würden. Von einer Atmosphäre zwischen Russland und dem Rest der Welt wie zur Zeit der Fußball-WM, oder noch besser wie 2014 in Sotschi, vor der Annexion der Krim – davon hat diese junge Generation geträumt. Sie wollten eine schöne Welt, und keine, in der sie losrennen müssen, um für ihre Großmütter schnell noch die letzten Medikamente aufzukaufen.
Schämen Sie sich dafür, dass wir das nicht geschafft haben?
Muratow: Nein. Es tut mir nur unfassbar leid. Aber Scham fühle ich nicht. Ich schäme mich sicher nicht für das, was ich 30 Jahre lang gemacht habe. Es schmerzt mich, dass Anna [Politkowskaja] nicht mehr da ist, genauso wie [die Kollegen – dek] Jura [Schtschekotschichin], Igor [Domnikow] und Stass [Markelow], dass Nastja [Baburowa] und Natascha [Estemirowa] tot sind und dass der Krieg im Donbass Nugsar Mikeladse kaputtgemacht und letztlich umgebracht hat. Dafür verspüre ich Verantwortung und Schuld. Aber nicht für das, was wir tun.
Aber es ist uns nicht gelungen …
Muratow: Schau, manches ist doch gelungen, ein paar Jahre lang lief es gut, da ist uns doch was gelungen. Aber wie es ausgeht, in meinem Leben zum Beispiel … Das steht alles schon bei Jewgeni Schwarz, den ich sehr schätze: „Alles war gut, alles endet traurig.“ Leider kann ich dir, solange dort die Bomben fallen, nichts Aufbauendes sagen.
Aber ich finde andererseits auch, dass sich jetzt Gut und Böse sehr deutlich offenbart haben. Das sieht man sogar daran, wer in der UNO Russland unterstützt hat und wer nicht. Zwei, drei Diktatoren sind noch auf unserer Seite, aber der Rest der Welt, in dem die Menschen glücklicher leben als in Nordkorea, sieht das anders. Und das ist auch sehr viel wert. Ich hoffe sehr darauf, dass wir einen Waffenstillstand erreichen. Das ist alles. Mein Wunsch ist nicht groß, aber schwer erfüllbar.
„Ich war in der Hölle“, schreibt die ukrainische Journalistin Nadeshda Suchorukowa über ihre Heimatstadt Mariupol. Die Stadt, der sie inzwischen entkommen konnte, wird seit Tagen von der russischen Armee belagert und heftig beschossen – auch Wohnhäuser, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen. Die verbliebenen Bewohner sind abgeriegelt von der Außenwelt, von Strom, Wasser, Internet und Lebensmitteln. Die Stadt am Asowschen Meer gilt als strategisch wichtig zwischen den von Russland kontrollierten Donbas-Gebieten und der Krym.
Auf ihrer Facebook-Seite schildert Suchorukowa Erlebnisse aus der Belagerung – dekoder dokumentiert einen Ausschnitt daraus.
Die Leichen deiner Nachbarn und Bekannten holt niemand ab. Die Toten liegen in Hausfluren, auf Balkonen, in Höfen. Und du hast kein Fitzelchen Angst. Denn die größte Angst kommt beim nächtlichen Angriff.
Wisst ihr, was dem nächtlichen Angriff ähnelt? Der Tod, der alle Adern aus dir herauszieht. Schlafen darf man nachts nicht. Denn man träumt friedliche Träume. Du tauchst aus ihnen auf und fällst in den Alptraum.
Zuerst kommen Geräusche. Fiese metallische Geräusche, als würde jemand einen riesigen Zirkel drehen und die Entfernung zu deinem Schutzraum messen. Um ihn genauer zu treffen. Dann kommt die Rakete. Du hörst, wie ein riesiger Hammer auf das Metalldach schlägt, und dann ein fürchterliches Knirschen, als würden sie mit einem riesigen Messer die Erde aufschlitzen oder als würde ein gewaltiger Riese aus Metall in schmiedeeisernen Stiefeln über deine Erde gehen und Häuser, Bäume, Menschen zertreten. Du sitzt da und merkst, dass du dich nicht mal bewegen kannst. Du kannst nicht wegrennen, schreien nützt nichts, verstecken nützt nichts. Er findet dich sowieso, wenn er will.
Ist Putin verrückt geworden? Wenn man davon ausgeht, dass Rationalität mit interessengeleitetem Handeln einhergeht, dann scheint diese Frage tatsächlich nicht ganz unberechtigt. Einen Krieg loszubrechen, das eigene Land in eine massive Wirtschaftskrise und Armut zu stürzen – das unterminiert doch das Hauptinteresse eines jeden autoritären und kleptokratischen Regimes: den Machterhalt.
Wenn man das Regime als irrational und unzurechnungsfähig abstempelt, dann müsste man sich allerdings auch eingestehen, dass es mit den Mitteln der Politikwissenschaft nicht mehr analysiert werden kann. Eine solche Diagnose sollte man lieber einem Arzt überlassen.
Alleine deshalb ist die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Regimes eigentlich müßig, meint zumindest ein anonymer Experte. Er identifiziert vielmehr einige handfeste Anhaltspunkte dafür, dass das Regime doch rational ist. Er veranschaulicht die innere Logik des Systems Putin und zeigt, wie die Kriegsentscheidung sich in diese Logik fügt.
Die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, ist höchstwahrscheinlich eine der unheilvollsten, die russische Regierende jemals in der Geschichte getroffen haben. Für die meisten Beobachter und Analytiker kam sie noch dazu absolut überraschend – nicht einmal jene, die vor weiteren Verschärfungen der Situation gewarnt hatten, hatten ein so rasches Fortschreiten der Ereignisse mit katastrophalen Folgen für die Ukraine, für Russland und die ganze Welt erwartet. Den Experten stellt sich jetzt die Frage, warum die russische Führung genau diese Entscheidung getroffen hat, welche Berechnungen und Vorstellungen sie dazu motiviert haben.
Da man aktuell extrem wenig über die Mechanismen weiß, mit denen im Kreml strategische Entscheidungen getroffen werden, können sich derzeit viele Bewertungen und Vermutungen in der Praxis als falsch erweisen. Dennoch hat die Politikwissenschaft in der Forschung über außenpolitische Entscheidungen in unterschiedlichen Staaten in verschiedenen historischen Epochen einiges an Erfahrung gesammelt. Diese Erfahrung kann dabei helfen zu verstehen, wie die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, entwickelt und in die Tat umgesetzt wurde.
Ich möchte gleich sagen, dass es für diese Analyse nichts bringt, sich dazu verleiten zu lassen, Putin und seinem Umkreis die Rationalität abzusprechen und sich zu sehr auf die Emotionen zu konzentrieren, von denen diese sich leiten lassen. Jedenfalls wirken die meisten Schritte, die der Kreml sowohl vor als auch nach dem 24. Februar 2022 unternommen hat, durchaus rational, und es besteht in dieser Hinsicht kein Anlass, den Beginn der „militärischen Spezialoperation“ als Ausnahme zu betrachten. Vielmehr fügt sich diese Entscheidung durchaus in die allgemeine Logik der russischen Staatsführung ein. Das Unheilvolle besteht nicht in der Spezifik der russischen Ukraine-Politik, sondern in etwas viel Fundamentalerem. Dazu gehören (1) Merkmale des russischen Regimes, (2) Mechanismen der Verwaltung des russischen Staates, (3) falsche Vorstellungen von möglichen Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen und (4) eventuelle Fehleinschätzungen der Folgen des eigenen Vorgehens auf Grundlage der bisherigen Erfahrung.
Das Regime leidet unter der fehlenden Meinungsfreiheit mehr als die Bevölkerung
Es scheint, dass der wichtigste Faktor dieser fatalen Entscheidung im personalisierten Charakter des russischen Autoritarismus besteht. Autoritäre Regime leiden unter der fehlenden Meinungsfreiheit nicht weniger, sondern sogar mehr als die unter den autoritären Bedingungen lebende Bevölkerung. Der Mangel an alternativen Informationsquellen, die Unmöglichkeit, verschiedene Sichtweisen zu vergleichen und auf Basis ihrer Konkurrenz zu entscheiden, all das wirkt sich unheilvoll auf die Entscheidungsfindungen aus – solche Defekte bemängelten die sowjetischen Dissidenten schon vor mehr als einem halben Jahrhundert.
Zudem werden in vielen Autokratien Expertenposten besetzt nach dem Prinzip „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“: Bei der Vorbereitung von Entscheidungen tritt die Kompetenz der Beamten hinter ihrer Loyalität zurück. Das war in Russland im Bereich der Außenpolitik deutlich erkennbar, in der die Stimmen von radikalen Anhängern einer militärischen Konfrontation mit dem Westen zuletzt immer lauter wurden, während gemäßigte Sichtweisen kaum Gehör fanden. Die Geheimhaltung, mit der diese überaus wichtigen Entscheidungen vorbereitet wurden, hat ihren Qualitätsabfall nur noch verschärft.
Experten werden ausgetauscht nach dem Prinzip: „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“
Noch dazu unterscheiden sich personalisierte Autokratien (anders als in Einparteiensystemen oder gar Monarchien) dadurch, dass Entscheidungsfindungen nur wenig institutionalisiert sind, was der Willkür der politischen Führung fast unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet. Dazu genügt es, die Entscheidung zur „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine mit ihrem nächsten Äquivalent in der sowjetischen Geschichte zu vergleichen: dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei 1968. Dem damaligen Beschluss gingen zahlreiche Besprechungen und kollektive Diskussionen im Politbüro voraus, Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung sowie eine Rücksprache mit den osteuropäischen Bündnispartnern der UdSSR. Obwohl auch diese Entscheidung für unser Land unheilvoll war, konnte die sowjetische Regierung in Summe ihre Ziele in der Tschechoslowakei immerhin erreichen und für sich selbst ein Worst-Case-Szenario vermeiden.
Ein Beispiel des genauen Gegenteils war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan, aber diese Episode wies einen etwas anderen Charakter auf – diesen Beschluss fassten schwerkranke Regierende eines Landes, die damals zu kollektiven Diskussionen physisch nicht in der Lage waren.
Wie es um kollektive Diskussionen in der heutigen russischen Führungsriege steht, hat die Sitzung des Sicherheitsrats am 21. Februar 2022 zur Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sehr eindrücklich gezeigt: Von Diskussion konnte keine Rede sein, die Sitzung diente einzig der Zustimmung der Teilnehmer zu einer vorab getroffenen Entscheidung (die im Endeffekt ganz anders aussah als das, was am Ende der Sitzung öffentlich bekanntgegeben wurde [dass nämlich Russland die sogenannten LNR und DNR anerkenne – dek]).
„Bad governance“
Hauptziel und zentraler Inhalt der russischen Staatsführung ist es, Renten zu generieren. So wird ein hochwertiger Entscheidungsfindungsprozess im Land nur in einer Nische strategisch bedeutender „Effektivitätsinseln“ (zum Beispiel der Zentralbank) unter der Schirmherrschaft der politischen Führung beibehalten. Dass die allgemeine Staatsverwaltung eklatant an Qualität einbüßt, können diese „Effektivitätsinseln“ allerdings nicht aufhalten – eher umgekehrt: Im Wissen darum, dass die Zentralbank über ausreichend Gold- und Devisenreserven verfügt, um den Kurs auszugleichen, fühlen sich die Machthaber unverwundbar und wagen vehementere, aber weniger durchdachte Schritte.
Unter solchen Bedingungen leiden Außen- und Verteidigungspolitik stärker an den Lastern der „Bad Governance“ als viele andere Sphären. Sie bleiben abseits jeder zivilen Kontrolle und verhüllt vom Schleier des Staatsgeheimnisses, mit dem sich praktischerweise alle Fehleinschätzungen kaschieren lassen. Das motiviert die Chefs der entsprechenden Behörden, ihre Aufgaben um jeden Preis und möglichst schnell zu erfüllen, ohne an weitere Folgen zu denken (zum Beispiel die „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine, ohne Plan, wie ihr Territorium im Fall eines Erfolgs zu verwalten sei), und leere Versprechen zu geben. Da wundert es nicht, dass mögliche Kosten im Zusammenhang mit der „militärischen Spezialoperation“ im Vorhinein geringer oder gar nicht bedacht wurden. Wobei die „Arbeit an Fehlern“ noch mehr Verluste zu bringen droht.
Falsche Vorstellungen
Da es an echter Expertise mangelt und die Informationen eindeutig verzerrt sind, werden Vorstellungen über die Gegenseite oft konstruiert, indem Stereotype und Ängste vervielfacht werden. So projizierten die russischen Machthaber ihre Erwartung auf die Regierung der Ukraine: Dass die „amerikanischen Marionetten“ im Fall der Bedrohung zu ihren Herrchen rennen, diese dann aber aufhören würden, sie zu unterstützen (wie es 2021 in Afghanistan geschah). Auch eigene Phobien projizierten sie auf die Ukraine – unzählige Ideen, die Politiker Russlands jahrelang bei ihren öffentlichen Auftritten immer wieder formuliert haben und die wahrscheinlich zur Grundlage für strategische Entscheidungen geworden sind: Dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien, dass die Spaltung der Ukraine in West und Ost ewiglich und nicht zu beheben sei, dass in der Ukraine die breite Masse prorussisch eingestellt und nur das Establishment in der Hand von Nationalisten sei.
Sieht man etwas genauer hin, zeigt sich: Hinter diesen falschen Vorstellungen stehen unrealistische, rückwärtsgewandte weltanschauliche Erwartungen, die nicht nur der russischen Führung, sondern auch vielen anderen Politikern auf der Welt eigen sind. Sie basieren auf der Vorstellung, man könne in der modernen Welt eine frühere, verlorengegangene politische, soziale und internationale Ordnung wiederherstellen – während bei Donald Trump der entsprechende Slogan „make America great again“ lautete, erklang in Russland die Drohung „Wir können das wiederholen“. Es überrascht nicht, dass bei einer solchen Herangehensweise alternative Annahmen über die Lage im Ausland nicht ernsthaft diskutiert oder zumindest bei der Entscheidung ausgeklammert wurden.
Wiederholung der Vergangenheit
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine von der russischen Regierung als Extrapolation ihrer bisherigen Erfahrung mit der Angliederung der Krim 2014 verstanden wurde, die Putin laut eigenen Angaben im Alleingang beschlossen hatte. Man darf nicht vergessen, dass die Krim in den Augen der russischen Regierung eine Erfolgsgeschichte war: Die innenpolitische Unterstützung dieser Aktion fiel sehr stark aus, während die Ukraine nicht in der Lage war, sich dem Vorgehen des Kreml zu widersetzen, und die vom Westen auferlegten Kosten hielten sich in Grenzen.
Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer
Abgesehen vom Abschuss der malaysischen Boeing im Juli 2014 über dem Donbass interessierten sich die Establishments von Europa und Amerika nicht wirklich für Russlands Umgang mit der Ukraine, und mithilfe mächtiger Unterstützungsgruppen in den USA und in Europa konnte die russische Führung die schwersten Sanktionen, die dem Kreml drohten, ausbremsen. Diese früheren Erfolge weckten also die Erwartung, dass sich der Westen, der in den letzten Jahren diverse Misserfolge erlebt hatte – vom Brexit über den Sturm auf das Kapitol bis zur Flucht der USA aus Afghanistan – in einem unaufhaltbaren Niedergang befände und prinzipiell nicht zum entschlossenen Widerstand gegen Russland in der Lage wäre. Daher wurden die Dimensionen des Widerstands gegen die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine und international nicht so genau kalkuliert: Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer. Aber bald wurde klar: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Die Folgen der fatalen Selbstüberschätzung, die die russische Regierung bei der Entscheidung über die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine an den Tag gelegt hat, ließen nicht lang auf sich warten und bestimmten die weitere Entwicklung des Landes und der Welt. Doch noch ist unklar, welche Lehren die Machthaber in Russland daraus ziehen und ob ihre zukünftigen Entscheidungen nicht noch unheilvoller sein werden.
Kein einziger Staat weltweit ist derzeit mit so vielen Sanktionen belegt wie Russland. Über 6.000 einzelne Strafmaßnahmen – das sind mehr als gegenüber Iran und Nordkorea zusammen. Nun droht Russland der Bankrott, für die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist er nur eine Frage der Zeit.
Damit werden in Russland Erinnerungen an den Default des Jahres 1998 wach. Doch was bedeutet ein Staatsbankrott wirklich? Könnte er den Krieg stoppen, Russland in die Knie zwingen? Oder würden die Sanktionen dem System Putin womöglich gar in die Hände spielen? Ein Bystro mit Janis Kluge – in sieben Fragen und Antworten.
1. Russland steht vor dem Bankrott. Was bedeutet das?
Russland wird seine Verpflichtungen aus Staatsschulden und Anleihen nicht erfüllen – das hat allerdings weniger mit Russlands Zahlungsunfähigkeit, sondern vielmehr mit seiner Zahlungsunwilligkeit zu tun. Die russische Regierung hat unilateral Regeln beschlossen, auf welche Weise sie diesen Verpflichtungen nachkommt: Sie will die zu entrichtenden Zinsen zunächst auf eine Art Sperrkonto zahlen – und zwar in Rubel und nicht, wie vereinbart, in US-Dollar. Die vertragsgemäße Rückzahlung knüpft Russland an die Aufhebung von bestimmten Sanktionen: Die vom Westen teilweise eingefrorenen russischen Zentralbankreserven in Fremdwährungen sollen wieder aufgetaut werden. Russland verstößt also gegen die eigentlichen Vertragsgrundlagen und nimmt damit bewusst einen Default in Kauf: Einerseits will es damit politischen Druck aufbauen, damit seine eingefrorenen Finanzreserven (laut Finanzminister Anton Siluanow geht es um etwa 300 Milliarden von insgesamt 640 Milliarden US-Dollar) wieder aufgetaut werden, andererseits will der Kreml den Abfluss von Devisen reduzieren. Insgesamt wäre Russland mit seinen Exporten von Energieträgern (die in US-Dollar gehandelt werden) aber bestens in der Lage, die Zinszahlungen zu bedienen. Dass der Staat als zahlungsunfähig eingestuft wird, hat aber zur Folge, dass auch russische Konzerne unter Umständen als zahlungsunfähig gelten werden. Westliche Banken etwa, die russischen Unternehmen Kredite vergaben, müssten diese Werte wegen des Defaults abschreiben oder Wertberichtigungen durchführen. Einzelne westliche Institute können dadurch Probleme bekommen. Deshalb richten derzeit viele den Blick auf westliche Banken, die sich in Russland engagiert hatten.
2. Warum hat der Kreml seine Reserven eigentlich nicht vor dem Zugriff des Westens geschützt? Ist es ein Hinweis darauf, dass der Krieg nicht von langer Hand geplant war?
Russland hat schon 2018 begonnen, seine Reserven zu diversifizieren. Die Dollar-Abhängigkeit sollte reduziert werden: Was zuvor in US-Währung da war, wurde größtenteils in Euro, Yen oder das chinesische Renminbi umgeschichtet. Damals hat man aber offenbar nicht damit gerechnet, dass auch die Vermögenswerte in Yen und Euro eines Tage eingefroren werden könnten. Vermutlich ist der Kreml auch zunächst nicht davon ausgegangen, dass der Krieg so blutig und so umfassend werden würde und dass der Westen mit solch massiven Mitteln auf die Invasion reagiert. Aus heutiger Sicht scheint es absurd, dass Russland viele Jahre lang gespart und etwa eine Rentenreform durchgeführt hat, die politisch viel Kapital gekostet hat – all das, um eine Reserve aufzubauen, an die es heute nur teilweise drankommt: Geld, das für Krisenzeiten da sein sollte, ist jetzt schlicht nutzlos. Die Zentralbank hat sich da also eindeutig verkalkuliert. Da die wirtschafts- und finanzpolitische Elite des Landes offensichtlich nicht in die Kriegspläne eingeweiht war, ist es aber schwierig, ihr die Schuld dafür zuzuschieben.
3. Einige Beobachter sagen, dass die Reserven noch hoch genug seien, um mittelfristig auch den bisherigen Sanktionen gegen Russland trotzen zu können. Andere betonen, dass gegen Russland weitaus mehr Sanktionen verhängt worden sind als gegen den Iran, Nordkorea oder Venezuela. Das System Putin stehe also vor dem Kollaps. Was ist richtig?
Die Anzahl der Sanktionen sagt nicht viel über deren Härte aus. Der Iran ist heute immer noch härter sanktioniert als Russland. Bei der Verhängung von Sanktionen geht es um die Fragen, wie schnell sie wirken und wie viel Angriffsfläche es gibt. Wegen der enormen Abhängigkeit von der westlichen Technologie bietet Russland in der Tat sehr viel Angriffsfläche. Auch in Finanzfragen bietet Russland viel Angriffsfläche, weil es so gut in das globale Finanzsystem integriert war. Die Sanktionen wurden innerhalb weniger Tage verhängt. Deshalb ist es eine historische Situation: Noch nie wurde ein so großes Land innerhalb so kurzer Zeit so massiv mit Sanktionen belegt. Bei dieser Konstellation gibt es viele Variablen, weshalb nicht klar ist, wie es weitergeht.
Solange Russland allerdings Öl und Gas exportieren kann, wird es immer genügend Deviseneinnahmen haben. Hinzu kommt, dass die russische Zentralbank den Devisenabfluss aus dem Land massiv eingeschränkt hat: Ausländische Investoren etwa dürfen ihre Vermögenswerte in Russland derzeit nicht verkaufen. Außerdem importiert Russland nun kaum noch etwas und Menschen aus Russland können derzeit fast keinen Urlaub im Ausland machen. Der Devisenabfluss ist somit vermutlich relativ gering, genaue Zahlen dazu gibt es noch nicht. Der Devisenzufluss dürfte aber immer noch hoch sein, angesichts hoher Gas- und Ölpreise. Aus diesen Gründen kann man Russland nur bedingt mit dem Iran oder Nordkorea vergleichen. Es wird zwar eine massive Wirtschaftskrise in Russland geben, diese wird aber einen ganz anderen Charakter haben als in den Staaten, die man an den Rand der Zahlungsunfähigkeit schubsen kann. Nur eine massive Reduzierung der Deviseneinnahmen aus dem Energieexport kann Russland ernsthaft gefährden.
4. Der Rubel ist im Zuge der Sanktionen abgestürzt, der Ölpreis ist gestiegen. Da der Staatshaushalt in Rubel gerechnet wird, der Ölpreis aber in US-Dollar, hat der Staat derzeit mehr Einnahmen. Einnahmen, mit denen er auch den Krieg finanzieren kann. Wäre es allein aus diesem Grund nicht naheliegend, ein Öl- und Gasembargo gegen Russland zu verhängen, um den Krieg zu beenden?
Die derzeit im Krieg eingesetzte Militärtechnik ist ja schon etwas älter. Wenn man so will, haben wir diese Technik – und diesen Krieg – in den vergangenen Jahren vorfinanziert, als wir Öl und Gas aus Russland kauften. Der föderale russische Staatshaushalt, der für das Militär verantwortlich ist, speist sich zu einem großen Teil direkt und indirekt aus den Exporten von Energieträgern. Alles, was wir jetzt in diese Richtung tun würden, würde Russlands Fähigkeit, diesen Krieg weiterzuführen, nicht signifikant einschränken. Mit Sanktionen können wir den russischen Vormarsch in der Ukraine nicht stoppen. Wir können damit nur den Druck auf das System Putin erhöhen, damit es den Krieg selber stoppt. Mittel- bis langfristig können wir durch Sanktionen außerdem die militärischen Möglichkeiten Russlands in künftig denkbaren Kriegen oder militärischen Konflikten einschränken.
5. Laut Zentralbank soll die Inflation 2022 auf 20 Prozent klettern. Manche Analysten prognostizieren Schlimmeres: Sanktionen, so heißt es, können Massenarmut hervorrufen, Menschen auf die Straße treiben und zum Umsturz animieren. Können Sanktionen in solcher Weise die Regimestabilität gefährden?
Das Kalkül hinter so einem Denkschema ist ja, dass man durch Sanktionen eine zweite Front aufmacht – eine innenpolitische. Da gibt es zwei Argumente: „Rally 'round the flag“ – das Volk stellt sich hinter den Präsidenten – oder die Menschen beschuldigen die Machthaber für die wirtschaftlichen Probleme. Ich bin ein Anhänger der zweiten These. Die Erfahrung aus den Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014 zeigen, dass es für die Machthaber opportun schien, die Wirkungen der Strafmaßnahmen kleinzureden. Putin muss aus der Position der Stärke reden, wesentliche Wirkungen von Sanktionen auf die Wirtschaft zuzugeben hieße da ein Eingeständnis von Schwäche. In der Staatspropaganda wird berichtet werden, dass die Sanktionen zwar lästig sind, aber eigentlich kein großes Problem. Vor diesem Hintergrund dürfte sich aber bei den Menschen in Russland eine Diskrepanz auftun: Das Realeinkommen fällt ja schon kontinuierlich seit 2014, 2022 droht aber noch eine weitaus höhere Inflation als bei der optimistischen Prognose der Zentralbank. Eine hohe Arbeitslosenquote ist zudem nicht mehr ganz so unwahrscheinlich wie in vergangenen Jahren. Und damit auch fortschreitende Armut. Wenn den Menschen dann im Fernsehen etwas von der Wirkungslosigkeit westlicher Sanktionen erzählt wird, könnte sie das durchaus verärgern. Im berüchtigten russischen Bild vom Kampf des Fernsehens gegen den Kühlschrank könnte die Schere noch größer werden. Dass die Menschen ihre Verarmung aber nicht mit Sanktionen in Kausalzusammenhang stellen, sondern eher mit „denen da oben“ – das könnte den Effekt der „Rally 'round the flag“ reduzieren und für die Machthaber langfristig zum Problem werden.
6. Oft heißt es, dass die westlichen Sanktionen vor allem die Ärmsten in Russland treffen: durch Inflation würden sie noch ärmer. Ist das so, treffen Sanktionen am Ende die Falschen?
Nein, die Sanktionen werden in erster Linie die Menschen treffen, die westliche Güter kaufen und mehr ins Ausland verreisen. Diese Menschen erfahren die höchsten Einbußen in puncto Lebensstandard. Im Gegensatz zu den vorangegangenen sanktionsbedingten Krisen kann es diesmal aber zu mehr Arbeitslosigkeit kommen: Da der Westen nun den Export von Technologiegütern größtenteils gesperrt hat, können einige russische Fabriken nicht mehr produzieren. Eine Zeit lang kann es zwar funktionieren, dass der Staat etwa die Lohnausfälle kompensiert, wie lange er das aber im großen Stil machen kann, ist fraglich. Die Sozialleistungen werden derzeit zwar erhöht, sie bringen aber wohl nur den Ärmeren in kleineren Städten und Dörfern etwas. Die urbane Mittelschicht dürfte damit zu den größten Opfern der Wirtschaftskrise werden. Dabei waren Konsum westlicher Produkte und Reisen in den Westen eine Art integraler Bestandteil des Systems Putin. Derzeit ist noch nicht klar, ob es sich von nun an nur noch auf Repressionen stützt, in der bisherigen Form ist das Modell heute allerdings nicht mehr denkbar.
7. Sanktionen würden Russland nur stärker machen, behauptet Putin. Sein Kalkül: Die Importe sollen substituiert werden, durch Autarkie (und niedrigen Rubelkurs) könne sich Russland selbst mit allem versorgen, die russische Wirtschaft könne gar international konkurrenzfähiger werden. Ist an dieser These etwas dran?
Keine Volkswirtschaft kann heute Güter auf dem Stand der Technik alleine produzieren, nicht einmal die USA. Das sieht man beispielsweise am Flugzeugbau und in der IT-Branche: Die Einzelteile und das Knowhow kommen hier aus der ganzen Welt zusammen. Ohne Spezialisierung und Arbeitsteilung auf internationaler Ebene lassen sich auch solche Dinge wie Mikrochips nicht produzieren. Das heißt: Russland kann diese Dinge gar nicht replizieren, weil es eine kleine Volkswirtschaft ist und keine Erfahrung darin hat. Vor diesem Hintergrund haben die verhängten Sanktionen zur Folge, dass Russlands Wirtschaft schlicht primitiver wird und sich mehr und mehr in Richtung Petrostaat entwickeln wird. Seit dem 2014 proklamierten Kurs der Importsubstitution gab es in den russischen Staatsmedien häufig Erfolgsmeldungen: Russland, so hieß es, habe bei dem und dem Produkt 80, 90, 95 Prozent der Importe substituiert. Wenn aber auch nur ein Prozent des Produkts importiert werden muss, es durch Sanktionen aber nicht geht, dann wird es dieses Produkt in Russland schlicht nicht geben. Ich bin überzeugt, dass Putin die russische Wirtschaft für viel autarker hält als sie eigentlich ist. Er unterschätzt die Abhängigkeit vom Ausland. Aus diesem Grund glaube ich, dass die russische Führung es derzeit überhaupt nicht überblickt, wie tiefgreifend die kommende Wirtschaftskrise sein wird.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Janis Kluge Veröffentlicht am: 17. März 2022
Wenn Eltern in Russland, zumal in Kriegszeiten, nicht mehr wissen, was sie sonst für ihre Söhne tun sollen, dann wenden sie sich an die Soldatenmütter. Die Organisation mit zahlreichen Zweigstellen in ganz Russland, die es sich vor mehr als 30 Jahren zur Aufgabe gemacht hat, die Misshandlungen in der russischen Armee aufzudecken, ist später vor allem für ihre Hilfe in den beiden Tschetschenienkriegen bekannt geworden: um Söhne zu finden, die an die Front geschickt wurden und um Gefallene zu dokumentieren und den Verwandten Nachricht geben zu können.
Schon Wochen vor dem großflächigen Angriff, den Wladimir Putin mit den russischen Streitkräften seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt, haben die Anfragen bei den Soldatenmüttern wieder zugenommen.
Vor allem die Wehrdienstleistenden rückten dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil schnell die Vermutung aufkam, auch sie seien in die Ukraine geschickt worden: Schilderungen junger Rekruten legten schon Tage nach dem Einmarsch nahe, dass sie in der Ukraine in Gefangenschaft geraten waren. Videos kursierten davon im Netz, oft veröffentlicht vom ukrainischen Militär, außerdem auf dem Telegram-Kanal Ischi Swoich. Aber auch Eltern wandten sich mit Hinweisen an unabhängige russische Journalisten.
Nachdem Präsident Putin zunächst geäußert hatte, Wehrpflichtige würden nicht eingesetzt, sondern nur Berufs- und Zeitsoldaten, so räumte das russische Verteidigungsministerium am 9. März das Gegenteil ein. Dabei versicherte die Militärführung, die Wehrpflichtigen seien, bis auf die Kriegsgefangenen, inzwischen wieder in Russland. Doch Transparenz ist kaum gegeben, auch mit Opferzahlen hält sich die russische Staatsführung bedeckt, spricht offiziell bislang lediglich von rund 500 getöteten Soldaten auf russischer Seite. US-Angaben und ukrainische Angaben gehen von mehreren tausend Toten bei den russischen Streitkräften aus. Wie viele es wirklich sind, ist unklar.
Die Leiterin der Petersburger Soldatenmütter, Oxana Paramonowa, spricht im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza darüber, wie sich ihre Arbeit vor dem Hintergrund des neuen Krieges gestaltet – über mütterliche Ohnmacht, einen Staat, der wenig preisgibt, und wie sie als Organisation auch selbst durch eine verschärfte Gesetzeslage in ihrer Arbeit beschnitten werden.
Sascha Siwzowa: Wie hat sich die Arbeit der Soldatenmütter von Sankt Petersburg seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar verändert?
Oxana Paramonowa: Die Arbeit unserer Organisation haben wir [bereits] im Oktober letzten Jahres verändert – wir haben so gut wie jeden Rechtsbeistand für Armeeangehörige eingestellt und nur den Auskunftsdienst beibehalten. Allein die Zahl der Anfragen bei diesem Auskunftsdienst ist seit dem 24. Februar gestiegen. Und zwar deutlich.
Warum haben Sie das Format Ihrer Arbeit geändert?
Unsere Organisation hat 30 Jahre lang Ersuche entgegengenommen. Die Menschen wandten sich über verschiedene Kanäle an uns, meist persönlich. In den letzten Jahren gab es eine Hotline und Online-Beratungen. Unsere Anwälte haben sich um diese Anfragen gekümmert. Wir haben Treffen mit Kommandostäben und der Militärstaatsanwaltschaft organisiert. Die Grundlage für die Arbeit waren Informationen, die wir persönlich von den Menschen erhielten.
Im Oktober wurde der unglückselige FSB-Erlass verabschiedet, der das Sammeln jedweder Information über die Armee faktisch verbietet. Dadurch drohte den betreffenden Personen eine strafrechtliche Verfolgung, und wir waren gezwungen, diese Arbeit einzustellen.
Was hat sich seit diesem neuen Gesetz verändert? Sie haben aufgehört, Informationen zu sammeln und Rechtshilfe zu leisten?
Da wir jetzt keine Informationen mehr sammeln, können wir uns nur aus den Anfragen ein Bild von der allgemeinen Lage machen, aber wir können keinen aktiven Rechtsbeistand mehr leisten. Faktisch wurde uns die Möglichkeit genommen, im Namen der Organisation zu agieren, weil wir nicht schreiben können, dass uns irgendwer irgendwo irgendetwas erzählt hat. Wir brauchen konkrete Angaben, um jemanden als Organisation vertreten zu können. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir praktisch keine Daten mehr erheben – angefangen bei personenbezogen Daten bis hin zu medizinischen Auskünften, Angaben zu Straftaten und begonnenen Ermittlungen. Wir haben nicht mehr das Recht, solche Informationen zu sammeln.
Wie stark ist die Zahl der Anfragen seit Kriegsbeginn gestiegen?
Bis Oktober waren es viele Anfragen – um die zweitausend im Jahr. Dann gingen die Anfragen natürlich zurück, weil wir erklärt hatten, dass wir unser Arbeitsformat ändern und keine Rechtshilfe mehr anbieten können. Aber die Zahl der Anfragen, die wir seit dem 24. Februar erhalten, ist im Vergleich zu dem, was wir seit Oktober hatten, sprunghaft gestiegen. Im Oktober und November erreichten uns ein bis zwei Anrufe täglich. Jetzt sind es zwanzig.
Was möchten die Angehörigen der Wehrpflichtigen von Ihnen wissen?
Alle Fragen beziehen sich auf die Ereignisse seit dem 24. Februar. Uns rufen Eltern an, die meisten von ihnen bitten um Hilfe bei der Suche nach ihren Söhnen.
Was erzählen Ihnen die Eltern der Armeeangehörigen?
Wir sammeln praktisch keine Informationen, mit Ausnahme derer, die uns die Leute selbst geben. Je nach Fragestellung geben wir Orientierung, was man tun kann. Unter diesen Umständen fällt unsere Hilfe recht mager aus.
Aber an der Menge der Anrufe und daran, wie es den Menschen geht, sehen wir, dass sie nirgendwo sonst anrufen können. Sie finden unsere Nummer und melden sich. Manche sagen, dass sie in der Armee-Einheit angerufen haben, aber nicht durchgekommen sind oder zu hören bekamen: „Warten Sie, Sie werden informiert.“ Manche erzählen, dass sie versucht hätten, beim Verteidigungsministerium anzurufen. Aber auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums wurden seit dem 24. keine Informationen veröffentlicht, an wen sich Angehörige wenden können [das Verteidigungsministerium hat einen Tag nach dem Interview, am 9. März, eine Hotline eingerichtet – dek].
Wir geben den Leuten einfach Kontakte aus dem Verteidigungsministerium weiter, die wir im Laufe der Jahre gesammelt haben. Wir arbeiten ja ziemlich eng mit verschiedenen Abteilungen innerhalb des Verteidigungsministeriums und in den jeweiligen Bezirken zusammen. Wir geben ihnen die Kontakte, die wir haben, und empfehlen den Leuten, überall anzurufen, um Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen. Hauptsächlich geht es darum.
Was tun Sie noch, abgesehen von der Empfehlung, welche Behörden man kontaktieren soll?
Wir versuchen, die Eltern untereinander zu vernetzen. Das ist für uns als Organisation eine schwierige Aufgabe, manchmal nicht machbar.
Aber es ist wichtig, dass die Eltern gemeinsam handeln. Dass sie sich koordinieren, dass jemand direkt an den Dienstort [d. h. in die Militäreinheit] fährt, an dem sie das letzte Mal Kontakt [mit dem Vermissten] hatten, dass ein anderer am Telefon sitzt und wieder ein anderer Schreiben [an das Verteidigungsministerium und andere Behörden] aufsetzt. Sie müssen sich zusammentun.
Wir haben auch früher alles dafür getan, solche Supportgruppen entstehen zu lassen: Damit der Rekrut nicht alleine zur Musterungsbehörde geht, damit er eine Gruppe von Eltern oder seine Kameraden plus seine Eltern hinter sich hat, die wenigstens eine minimale Kontrolle darüber haben, wie der Armeedienst abläuft.
Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind
Gibt es jetzt solche Gruppen?
Die Menschen schätzen die aktuelle Situation sehr unterschiedlich ein. Das ist ein Problem, denn manche warten lieber ab, und andere finden, dass man sofort handeln sollte.
Was ist besser, abwarten oder handeln?
Die Entscheidung muss jeder selbst treffen. Ich persönlich finde immer, handeln ist besser. Ich verstehe, dass Beten auch eine Form von Handeln ist. Aber meines Erachtens nicht die einzige. Manche entscheiden sich dafür zu warten. Man kann nur hoffen, dass irgendwann das eintritt, worauf sie warten.
In den ersten Tagen war ich sehr aufgewühlt und habe den Eltern versucht zu erklären, dass man etwas tun muss, anstatt zu warten. Bei manchen hat es funktioniert, bei anderen nicht. Die Kooperation zwischen den Eltern ist sehr schwierig. In den meisten Fällen haben die Eltern, die bei uns anrufen, weder die Telefonnummern der Militäreinheiten noch Kontakte zu den Eltern der Kameraden ihrer Söhne.
Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind. Und selbst die haben zum Beispiel oft keine Kontaktdaten der Einheit. Ich finde das merkwürdig.
Inwiefern merkwürdig?
Ich habe das Gefühl, sie sind völlig abgekoppelt vom Dienst in der Armee. Die Familien haben alles dem Staat überlassen. Aber die Folgen davon, dass wir alles dem Staat überlassen haben, baden wir jetzt aus.
Das nächste Problem wird sein, dass der Staat für das, was passiert, nur eine minimale Verantwortung übernehmen wird. Dessen muss man sich bewusst sein. Das ist es den Eltern leider nicht. Ihnen ist nicht klar, dass, egal was mit ihren Söhnen jetzt passiert, die vom Staat übernommene Verantwortung minimal sein wird.
Wladimir Putin hat Angehörigen von in der Ukraine gefallenen Soldaten zusätzliche Kompensationen versprochen.
Wir kriegen ein paar Vorzeigebeispiele präsentiert – Kompensationen in Millionenhöhe [in Rubel – dek] und so was. All das, was uns der Präsident versprochen hat. Der Rest wird diesen Kompensationen jahrelang hinterherrennen – im besten Fall. Schlimmstenfalls versuchen sie es einmal und geben dann auf, sagen: „Tja, so läuft das eben in unserem Land.“ Danach werden sie nur in ihrem Umfeld darüber sprechen, dass es ihnen so ergangen ist.
Verstehen Sie, wie die Verluste gezählt werden? Das Verteidigungsministerium spricht von 498 Gefallenen auf russischer Seite.
Dazu kann ich nicht viel sagen, weil die Zahlen auseinandergehen: Die beiden Kriegsparteien nennen unterschiedliche Zahlen. Das ist normal, die Menschen sollen auf diese Art beeinflusst werden. Wie sie das jeweils zählen, ist schwer zu sagen. Wenn im Netz Informationen auftauchen, dass dieser Held mit Ehren bestattet wurde, dass jener Held mit Ehren bestattet wurde, dann kann man davon ausgehen, dass das auch eine Rolle spielen wird.
Was meinen Sie?
Dass möglicherweise für manche gar nichts ausgezahlt werden muss, weil sie Heldenbegräbnisse bekommen, eine Gedenktafel in ihrer Schule und in ihrem Heimatdorf, und fertig. Ich fürchte, dass sich ein Teil der Gesellschaft auch damit zufrieden geben wird, leider.
Wie könnte die Suche nach vermissten Soldaten offiziell aussehen?
Auf der Website des Verteidigungsministeriums läuft kein rotes Band, wo man nach Soldaten suchen kann. Es gibt auch keine Listen mit Gefallenen.
Außerdem unterliegen Informationen über Verluste bei „Spezialoperationen“ seit 2015 der Geheimhaltungspflicht. So gesehen stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage sie jetzt die Namen der Gefallenen offiziell verlautbaren lassen.
Liegen Ihnen Zahlen über Verluste vor?
Nein, wir sammeln sie nicht. An uns wenden sich Eltern, die jemanden suchen und in der Regel keine Informationen haben. Sie versuchen, Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen, zu erfahren, wo sie sind und wie es ihnen geht. Wir dürfen keine Daten zu Verlusten sammeln. Wir hatten ein paar Anfragen, bei denen Eltern sagten, sie hätten ihre Söhne unter den Kriegsgefangenen erkannt. Die reichen wir an Kollegen weiter, die sich mit der Suche von Kriegsgefangenen auskennen. Wir geben den Eltern den Kontakt, alles weitere erfahren sie dort, was man überhaupt machen kann.
Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe
Können Sie eine Institution nennen, die sich mit Kriegsgefangenen befasst?
Das sind einfach Sankt Petersburger Menschenrechtsaktivisten, die bereits aus anderen Militärkampagnen Erfahrung haben. Sie wissen, an wen sich die Eltern wenden können. Aus Gesprächen mit Journalisten, die sich während des Tschetschenienkriegs mit solchen Fragen beschäftigt haben, weiß ich, dass die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation [Tatjana Moskalkowa] dabei helfen kann. Ich empfehle den Angehörigen, dort einen Gefangenenaustausch anzuregen. Ansonsten sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, keine offiziellen Strukturen.
Es heißt, die russische Armee führe womöglich mobile Krematorien mit sich. Stimmt das?
Dazu haben wir keine gesicherten Informationen.
Haben die Anfragen der Angehörigen, die jetzt nach Soldaten suchen, etwas gemeinsam?
Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe. Ich habe verschiedene Mütter in verschiedenen Situationen erlebt, und ich weiß, wie Mütter handeln können. Momentan höre ich auf viele meiner Vorschläge nur: „Was bringt das?“ Verstehen Sie? Das klingt für mich, als sähen die Leute keinen Sinn darin, das Leben ihrer Söhne zu retten. „Wozu denn? Lassen die mich denn dort rein?“ Wenn ich zum Beispiel sage: „Fahren Sie zum Kommandostab, und fragen Sie dort nach.“ Wenn eine Mutter das will, dann lassen sie sie rein, und dann reden sie auch mit ihr. Aber wenn sie sich von all diesen Fragen abschrecken lässt und ihre eigene Kraft in Zweifel zieht, dann wird sie höchstwahrscheinlich nicht durchkommen.
Ist das eine Art allgemeine Ohnmacht?
Wie auch immer man das nennen will. Es herrscht ein allgemeiner Zustand der Passivität: Apathie, Ohnmacht. Man könnte es auch schärfer formulieren. Jedenfalls hat man das Gefühl, das Leben eines Menschen sei nichts wert. Es gibt den Wunsch, irgendwo etwas zu beweisen, aber die Fähigkeit zum Handeln, um ein Leben zu retten, ist blockiert. Ich weiß nicht, ob es Angst ist, oder Schuld. Wenn man genauer hinschaut, hat da wahrscheinlich jeder sein Päckchen zu tragen. Aber dass dieser Impuls in der heutigen Zeit praktisch fehlt, ist, glaube ich, eine Tatsache. Da ist kein Impuls, Leben zu retten.
Was werden diese Geschehnisse noch für Folgen haben?
Welche Folgen diese „Spezialoperationen“ in Russland haben werden? Das wird in jeder Familie anders sein. Die Frage ist, ob sie zu einem gemeinsamen Bild zusammengefügt werden, anhand dessen die Verantwortung und Beteiligung der Gesellschaft sichtbar werden, die Verantwortung des Staates, und ob daraus irgendwelche tiefgreifenden Veränderungen resultieren. Aber wahrscheinlich wird das eher ein Mosaik bleiben. Das heißt, jede Familie wird eine eigene Geschichte erleben, mit individuellen Folgen – und irgendwie damit zurechtkommen, so gut es eben geht. Und wir werden in dem Zustand verharren, in dem wir jetzt sind. Oder es wird noch schlimmer.
Er lebt in einer anderen Welt – das soll Angela Merkel wenige Tage nach der Angliederung der Krim 2014 in einem Telefonat mit Barack Obama über Wladimir Putin gesagt haben. Acht Jahre später führt letzterer einen offenen Krieg gegen die gesamte Ukraine, der bereits jetzt tausende Menschen in den Tod und über eine Million in die Flucht getrieben hat.
In einem wütenden und zugleich selbstkritischen Meinungsstück auf Meduzaschreibt der Journalist Maxim Trudoljubow über eine Welt der Lüge, mit der Putin sich selbst und sein Land vergiftet habe und nun die Ukraine in eine Katastrophe stürzt.
Während all der Jahre unter Putin hat die russische Regierung einen erbitterten, aggressiven Kampf gegen die gesellschaftliche Realität geführt. Die politischen Verwaltungsbeamten (Verwalter, nicht Politiker, denn niemand hat sie gewählt) sind gegen jegliche Unabhängigkeit und jeglichen Aktivismus vorgegangen und haben Politiker und Journalisten mit einem eigenen Standpunkt aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Ihre Plätze wurden von Figuren eingenommen, deren Aufgabe darin bestand, Aktivität zu heucheln und den Schein zu wahren. Die Manager der Präsidialadministration haben dafür gesorgt, jede selbstorganisierte Partei, Gruppe und Struktur in künstliche, kontrollierte Zellen umzuwandeln.
Wie die Zerstörung der Gesellschaft zum Krieg führt
Alles Echte ist für andersartig, ausländisch, fremd, extremistisch und sogar „terroristisch“ erklärt worden. Erinnern wir uns an das Netzwerk, das Alexej Nawalny erschaffen hat – eine Organisation, die einen politischen, gewaltlosen Kampf gegen das Regime führte und aus diesem Grund für kriminell erklärt wurde.
Was die Zerstörung betrifft, waren die Erfolge der Manager beeindruckend. Zugegeben, doch wir sollten nicht vergessen, dass diese „Erfolge“ mithilfe von gezielten Morden, Repressionen und der Vertreibung von Menschen aus dem Land erzielt wurden. Gesichtslose Verwaltungsbeamte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter der jeweiligen politischen Leitung im Kreml – Wladislaw Surkow, Wjatscheslaw Wolodin, Sergej Kirijenko – tätig waren, haben das Feld in enger Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten gesäubert. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in der Tat erschreckend.
Denken wir an die inhaftierten Aktivisten. Denken wir an all jene, die das Land verlassen mussten, und an die, die ihre öffentliche Tätigkeit eingestellt haben, nachdem sie sämtliche mit ihr verbundenen Risiken nüchtern abgewägt hatten. Vergessen wir auch nicht die ermordeten Politiker, Journalisten und Bürgerrechtler, wer auch immer für ihren Tod unmittelbar verantwortlich sein mag.
Putins Verwalter wollten nicht nur die Zivilgesellschaft kontrollieren, sondern auch die Ergebnisse im Sport. Die Logik des fairen Wettbewerbs wurde untergraben: Der Leader glaubte offensichtlich nicht daran. Russische Sportler mussten um jeden Preis besser sein als alle anderen. Deshalb wurde der Wettkampf durch ein Dopingprogramm ersetzt, das dem Leader ein Bild von durchschlagendem Erfolg malen sollte. Bei den Olympischen Winterspielen 2014 ging es um das Projekt, garantiert zum Sieg zu gelangen. Die Steuerung der Spiele wurde schließlich von einem Überläufer aufgedeckt, von dem Ex-Leiter des Moskauer Antidopinglabors Grigori Rodtschenko. Dank ihm verfügen wir über ein detailliertes Bild dieser beschämenden Geschichte.
Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören
Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören. Deshalb wirkte das Putinsche Theater beim Versuch, eine tote Alternative zu einer lebendigen Gesellschaft aufzubauen, wie ein offensichtlicher Reinfall. Diejenigen, die uns zu den „Anderen“ (den „Ausländischen“, „Unerwünschten“) gemacht haben, haben im Grunde nie selbst etwas erschaffen, aus eigener Initiative, aus Inspiration oder dem Ruf ihres Herzens folgend. Und deshalb ist es ihnen auch nicht gelungen, ihren eigenen öffentlichen Bereich zu erschaffen – ihren eigenen offenen Raum für Diskussionen, ihre eigene Politik, eine glaubwürdige Meinungsforschung, Soziologie und Politikwissenschaft, ihre eigene Opposition und Presse.
Alternative Wirklichkeit
Ihre alternative Wirklichkeit wirkt wie das Zerrbild einer lebendigen Öffentlichkeit: Clowns anstelle von Politikern, Imitationen anstelle von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Propagandisten anstelle von Journalisten und Analytikern. Man konnte leicht damit leben: Die Clowns musste man nicht wählen, die Pseudoanalytiker nicht lesen, Kisseljow und Solowjow nicht anhören – denn diese Figuren entbehrten jeden eigenständigen Denkens. Sie waren schlechte Schauspieler, die einen fremden Text herunterbeten, Instrumente in einem grobschlächtigen politischen Spiel. Alles war dermaßen grob zusammengeschustert, dass man fest überzeugt war: Das Kartenhaus fällt in sich zusammen, sobald sich der Klammergriff der Sicherheitsorgane lockert. Der Grund für eine solche Lockerung hätte, wie auch ich annahm, ein natürlicher Prozess sein können – eine ökonomische Krise, die sinkende Popularität des Leaders, ein Generationenwechsel in den Machtstrukturen.
So eine Krise hätte die künstlichen Figuren vom Feld gefegt: Die sogenannten „Politiker“ und „Journalisten“ (ja, genau, in Anführungszeichen) wären einfach von der Bildfläche verschwunden, denn sie funktionieren wie Maschinen, nur so lange, wie sie vom Staat gespeist werden. Die Bürger Russlands wären aus ihrer Verblendung erwacht und hätten mitangesehen, wie die Kulisse in sich zusammenstürzt. Wie geht doch gleich das Ende von Alice im Wunderland: Der König, die Königin, die Ritter und Richter verwandeln sich mit einem Schlag in Spielkarten. Oder das Finale von Nabokovs Einladung zur Enthauptung: „Ein Wirbelwind packte und ließ kreiseln: Staub, Lumpen, Splitter aus bemaltem Holz, Stücke vergoldeten Stucks, Pappziegel …“
Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weitverbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe
Doch heute bringen Raketen, Granaten und Bomben den Ukrainern und Russen den ganz realen Tod. Der Wirbelwind, der heute über das Territorium der Ukraine fegt, ist echt, die Splitter und Ziegel sind echte Splitter und Ziegel. Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weit verbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe. Diese Politik als virtuell wahrzunehmen war trügerisch. Das Bühnenbild entpuppte sich nicht als vergoldeter Stuck, die Ziegel nicht als Pappziegel. Im Gegenteil: Die von billig angeheuerten Malern bemalten groben Bühnenbilder erwachen zum Leben und werden zu Tod und Leid.
Ich bekenne mich zutiefst der eigenen Unfähigkeit bei dem Versuch, die Kulisse herunterzureißen, als es noch möglich war – vor dem Krieg. Ich war überzeugt, dass sie von alleine fallen würde.
Wie eine Weltanschauung die Welt zerstören kann
Zu glauben, dass Leben, Gewissen, Talent und Anerkennung käuflich sind, ist eine minderwertige, verachtenswerte Sicht auf die Welt. Aber sie ist kein unschuldiger Fehler. Der Mann, der einst zu der Überzeugung gelangt war, dass alles käuflich und verkäuflich ist, dass man eine Gesellschaft okkupieren, unterwerfen und an ihrer Stelle seine eigene, mit Geld erkaufte Realität erschaffen kann, hat nicht nur sein Land, sondern die ganze Welt in eine Katastrophe gestürzt.
Er hat nicht nur an seine, von ihm bezahlte Realität geglaubt, sondern sie zur Grundlage seines Handelns in der wirklichen Welt gemacht. Es ist nun klar, dass sein Plan einer kurzen Militäroperation im Bruderland auf dieser von ihm selbst geschaffenen Fiktion basierte. Offensichtlich hatte er erwartet, dass die Anwendung von Gewalt durch den „echten“ – also „seinen“ – Staat zum sofortigen Zusammenbruch des „unechten“ ukrainischen Staates führen würde. Er dachte, er hätte es mit einer Kulisse zu tun, errichtet im Auftrag von irgendwelchen feindlichen Kräften – Amerikanern, Europäern, denen er Verhalten nach seiner Manier unterstellt. Er hatte offenbar geglaubt, dass sich seine künstlich geschaffenen „Umfragewerte“ in eine echte Zustimmung seitens der russischen Gesellschaft verwandeln würden. Dass alle an die Mär von den ukrainischen „Faschisten“ und seine Mission als Befreier glauben würden. Offenbar hat er den ihn umgebenden Speichelleckern Glauben geschenkt und angenommen, Russland wäre bereit für Krieg und Sanktionen.
Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft gemacht hat
Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft mithilfe von Morden und Einschüchterungen gemacht hat. Er hat geglaubt, die Ukrainer – von den einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld bis zur ihm verhassten obersten Staatsführung – würden sich in Spielkarten verwandeln und seine Macht anerkennen. Der ukrainische Präsident – ein Comedian, der Bürgermeister von Kiew – ein Boxer. Wer sind die überhaupt? Offenbar hat er ernsthaft daran geglaubt, er sei der heutigen Ukraine und der ganzen demokratischen Welt psychologisch und moralisch überlegen. Sein defektes Bild von der Welt hat ihm die Sicht darauf verstellt, dass seine ganze „Überlegenheit“ eine Erfindung seiner eigenen Hofnarren ist. Sein Fernsehprogramm und seine Presse hatte jahrelang nur einen Auftraggeber und einen einzigen wirklichen Zuschauer – ihn selbst. Er hat sich selbst mit seiner eigenen Lüge vergiftet.
Möglicherweise steht er vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen einsetzt. Das würde zu mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern
Er ist moralisch kein bisschen überlegen, niemandem. Die einzige Überlegenheit besteht in seiner militärischen Stärke. Aber um diese Überlegenheit auszuspielen, braucht es eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein. Eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein, haben in diesem Krieg jedoch nur die Ukrainer. Möglicherweise steht er gerade vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen, die ihm zur Verfügung stehen, einsetzt oder nicht. Das würde zu noch mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern.
Sein Krieg gegen die Realität hätte seine Privatsache bleiben müssen. Wenn du in Groll und Zorn auf die ganze Welt leben willst, dann tu das, so lange du willst. Doch er hat dem russischen Volk seine Anwesenheit mit Gewalt, Manipulation und Lüge aufgedrängt. Jahrelang hat er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine „Umfragewerte“ hoch gehalten. Indem er mit Gewalt und Drohungen die russische Gesellschaft an sich band, hat er die Identität des eigenen Volkes entwertet, das einst Seite an Seite mit den Ukrainern in einem gemeinsamen und gerechten Krieg gekämpft hat.
Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann
Er hat nicht nur sich selbst vergiftet, sondern auch Russland. Er hat den Weg geebnet für jene Verachtung, mit der die Welt nicht nur auf ihn schauen wird, sondern auch auf uns, die russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Noch viele Jahre werden wir die Welt nicht davon überzeugen können, dass „wir nicht so sind“, dass „wir das nicht waren“. Noch viele Jahre – nach Putin – werden wir in Russland eine Gesellschaft aufbauen müssen, die frei ist von politischen Kulissen und Fiktionen.
Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann. Ganz unabhängig vom Kampfgeschehen: Russland hat diesen Krieg verloren, als politische, ökonomische und gesellschaftliche Einheit, als Land, als Teil der Welt. Es war immer ganz normal, das Wort „Krieg“, ohne es genauer zu bestimmen, mit dem Großen Vaterländischen Krieg zu assoziieren. Jetzt hat dieses Wort eine neue Bedeutung bekommen. Es ist ein Krieg ohne genauere Bestimmung, ohne Adjektive. Es ist der Krieg, den er entfacht hat, mit dem er mich und alle Russen verantwortlich gemacht hat für die von ihm geschaffene Katastrophe.
Von Anfang März bis Ende April 2022 erzählt Mila Teshaieva auf dekoder aus ihrer Heimatstadt im Krieg. Ab dem 24. Juni 2022 ist dieses Fototagebuch in einer Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen, Berlin, zu sehen.
[bilingbox]Über die letzten Wochen fahre ich jeden Tag in kleine Städte und Dörfer nordwestlich von Kyjiw. Vom ersten Tag an, als die russische Armee abzog und die Überlebenden aus ihren Kellern kamen, zitternd, um die enorme Landschaft des Todes um sich herum zu entdecken. Bis zum letzten Tag, an dem alle kaputten russischen Panzer von den Straßen entfernt und die meisten vorläufigen Gräber in den Gärten und Höfen ausgehoben sind. All diese letzten Wochen schweige ich mit meinem Tagebuch. Ich schweige auch mit mir selbst. Auch die Feuerwehrleute schweigen, die unter den Ruinen neunstöckiger Häuser in Borodjanka nach Leichen suchen. Auch die Freiwilligen schweigen, die mit Lastern kommen, um die Leichen aufzusammeln, die in schwarzen Plastiksäcken in einer Reihe liegen. Das Schweigen kommt, weil es unmöglich ist zu begreifen, was geschehen ist. Zu begreifen, dass es geschieht. Es gibt innen drin keinen Platz für Trauer, nicht einmal für Wut. Es ist, als wäre die riesige Betonmauer, die die Menschen in Borodjanka unter sich begraben hat, auch auf uns niedergestürzt, die wir Zeugen vom Danach sind.
In diesen letzten Wochen habe ich mich fast vollständig vom Fotografieren auf Video verlegt. Fotos waren nicht genug. Denn es gibt Menschen, die sprechen müssen. Solche, die in ihrem Haus die Demütigung durch Feinde erlebt haben, durch Feinde, in deren Macht es lag, zu töten oder zu verschonen. Wie gern würde ich all diese Menschen umarmen, wie gern würde ich ihnen ihr Fieber nehmen können. Ein Freund aus Berlin schrieb mir: „Komm weg von dort, um deines Lebens willen.“ Aber ich kann hier nicht weg. Dies ist kein Krieg von jemand anderem, ich kann nicht weg und vergessen – wo immer ich bin, ist er bei mir. Um mich herum offenbart sich meine eigene Geschichte. Und mir ist wichtig, das zu dokumentieren. Vielleicht spreche ich später darüber.~~~These last weeks, I am going every day to small cities and villages’ northwest of Kyiv. Since the first day, when Russian army left and those remained survivors got out of the basements, trembling, to discover this immense landscape of death around them. To the last day, when all rotten Russian tanks are removed from the streets and most of the temporary graves in gardens and yards are dogged out. All these last weeks I am silent with my diary. I am also silent with myself. So silent are fire-workers, who are searching for bodies under the ruins of 9-store houses in Borodyanka. So silent are those volunteers who come with track to pick up bodies lying in line in back plastic packs. This silence comes from the impossibility to comprehend what happened. To comprehend that is happening. There is no place inside for grief, there is no even anger. Ist like this massive concrete wall that burried people in Borodyanka crushed down also on us, who witness the aftermath. These last weeks I almost fully switched from photography to video. photography seemed to be not enough. Because there are others, who need to speak. those who went through humiliation of having enemy in their homes, enemy that had power to kill or spare. I wish I can hug all of them, I wish I can take away their fever. A friend from Berlin wrote me “get out of there, for the sake of life”. But I can’t get out. This is not someone else war, I cant leave and forget, wherever I go it stays with me. My own history is unfolding around me. This what is important for me to document now. I might speak about it later.[/bilingbox]
[bilingbox]An dem Abend nach Butscha erreicht mich eine Nachricht: Ein sehr lieber Freund hat in Mariupol sein Leben verloren. Mantas. Genial, gutaussehend, mutig und enorm großzügig, von Frauen geliebt, von Männer angebetet, fast wie ein Gott. Götter sollen unverwundbar sein, so hat er bis vor wenigen Tagen in Mariupol gedreht. An diesem Abend zerbirst mein Panzer in kleine Teile. Am Morgen höre ich, dass Russland die Fotos aus Butscha als Fake bezeichnet. Ich setze die Teile wieder zusammen und sichte meine Fotos von toten Körpern auf den Straßen. Ich bin mit einer komplexen Frage konfrontiert: Ich muss sie zeigen und ich muss dabei auf die Gefühle derer achten, die sie anschauen.~~~In the evening after Bucha I receive news: the very dear friend lost his life in Mariupol. Mantas. genius, handsome, fearless and uniquely generous, loved by women and adored by men. almost like God. Gods shall be invulnerable that’s why he was filming in Mariupol until last days. That night the panzer (броня) around me crumbles into pieces. In the morning I hear that Russia announced photos from Bucha being fake. I gather my pieces together and go through photographs of dead bodies on the streets. I face complex question here: I must show and tell what I saw and I need to care about feelings of those who see it. [/bilingbox]
[bilingbox]Der Tod verfolgt mich derzeit. Ich weigere mich immer noch, ihn hereinzulassen, indem ich mich in eine Art Klumpen verwandle, mit nach außen gerichteten Dornen, die denen ähneln, die jetzt auf allen Straßen und Wegen meines Landes liegen. Doch als ich den letzten Kontrollpunkt vor der Straße von Kyjiw nach Shytomyr überquere, erwartet mich der Tod an jeder Ecke und flüstert mir zu: „Schau her, wende deinen Blick nicht ab.“
Wir fahren auf schmalen Waldwegen nach Butscha und Irpin, fahren langsam, weichen Granatsplittern, Überresten russischer Panzer und Leichenteilen derer aus, die in mein Land kamen, um es zu zerstören. Am Ortseingang von Butscha stehen Reste einer Immobilienwerbung: Ihr Traumhaus im Wald.
Die schwarzen leeren Augen dieser Häuser blicken auf die Straßen, wo ein kleiner Bus mit der Aufschrift Cargo 200 fährt und Leichen aufsammelt. Die Männer, die mit Cargo 200 unterwegs sind, arbeiten schwer in den letzten Tagen, aber sie haben immer noch zu viel zu tun. Die von den Russen getöteten Menschen liegen überall, in Wohnungen, Häusern und Kellern, begraben in den Gärten, in verschiedenen Massengräbern in allen Ecken der Stadt. Ich gehe die Straße entlang, halte respektvollen Abstand, betrachte die Posen, in denen der Tod sie erwischt hat, und frage mich, was diejenigen gedacht haben, die beschlossen, ihnen das Leben zu nehmen.
Die Überlebenden der Stadt kommen aus ihren Verstecken, viele lächeln fröhlich, als ob das neue Leben schon da wäre und alle Schrecken hinter ihnen lägen. Sie nehmen unsere Hände und bedanken sich dafür, dass wir gekommen sind, dass wir hinsehen, dass wir uns kümmern. Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges fehlen mir die Worte, hier habe ich nichts zu sagen. Die Menschen bekommen kleine Pakete mit Lebensmitteln und verschwinden wieder.
Der Tod schaut mir vom Straßenrand aus zu, wo noch vor einer Stunde die Leiche einer Frau mit rot lackierten Fingernägeln lag, die Reste der Immobilienwerbung knarren im Wind.~~~Death follows me these days. I still refuse to let it in, turning myself into some kind of lump, with spikes directed outside, spikes similar to those that lie now on all the roads and streets of my country. But as I cross the last checkpoint before the Kyiv Zhyitomir road, death is waiting me on every corner, whispering “look here, don’t turn your eyes away”. We are driving narrow forest roads leading to Bucha and Irpin, driving slow, avoiding shell fragments, remains of Russian tanks and body parts of those who came to my land to destroy it. At the entrance to Bucha, the piece of real estate advertisements reads “have your dream home in the forest”. Black empty eyes of those homes are looking to the streets, where small bus marked “Cargo 200” is moving along the town, collecting dead bodies from the streets. Several men doing their work with Cargo 200 are working hard those last days, but there are still too much to do for them. People killed by Russians are everywhere, in the flats, houses, and undergrounds, buried in the gardens, in various mass graves in all corners of the town. I walk along the street, keeping respectful distance, looking at the poses in which death caught them, wondering what was a thought of those who decided to take their life.
Survivors of the town come out of their hideouts, many smile happily, like new life already here and all the horrors are behind. They take our hands, thanking for coming, for seeing, for caring. First time since beginning of the war I lack words, here I have nothing to say. People get small boxes with food and disappear again. Death is watching me from the side of the road, where the body of a woman with a red manicure was laying just an hour ago, and remnants of real estate advertisement creaks in the wind.[/bilingbox]
Kyjiw, 31. März 2022 [bilingbox]Heute ist gefühlt der erste echte Frühlingstag. Und der erste Tag ohne Luftalarm, zumindest bis jetzt. Vielleicht hat beides zusammen die Straßen Kyjiws plötzlich so lebendig gemacht. Mädchen mit hohen Absätzen, Fahrradfahrer, wo waren die den ganzen letzten Monat? Die Stadt kehrt zur Normalität zurück, wenn das Wort „normal” überhaupt in Frage kommt. Die Stadtverwaltung hat gerade angekündigt, dass es schon ab morgen wieder kulturelle Veranstaltungen geben wird, ab 1. April, auch Kino und Theater. Allerdings mit dem Hinweis, dass sich bei erneutem Luftalarm alle Theaterbesucher umgehend in die Keller begeben sollen. Ich stelle mir vor, wie es ist, mit Hamlet im Bunker zu sitzen und scrolle durch die Ticketangebote.~~~Today feels to be the first real day of spring. And the first day when there were no air raid signals, at least so far. Maybe the combination of these two factors made the streets of Kyiv so alive. Girls on high hills, bicyclists, where they were all this last month? The city comes back to normality, as far as the word “normal” could be considered. The city administration just announced that Cultural Events will start as soon as tomorrow, April 1st, including cinemas and theater. Though with the note that with the renewed air raids all theater visitors should immediately move underground. I imagine sitting in the bomb shelter with Hamlet and start scrolling online tickets sales.[/bilingbox]
Jetzt geht der Krieg schon mehr als einen Monat. Ein Monat sind 30 Tage, und jeder Tag bringt Nachrichten aus dem ganzen Land, die der Verstand ablehnt zu begreifen. Jeden Tag sage ich allen, die ich in Kyjiw treffe, den sinnlosen Satz: „Alles wird gut.“ In diesem Satz gibt es ein Moment der Nichtakzeptanz dessen, was geschieht. Nichtakzeptanz als Überlebensinstinkt. Ich kann die von russischen Soldaten getöteten Kinder nicht in mich hineinlassen, verschließe mein Gehirn und meine Seele, damit ich nicht selber zu einer Brandstätte werde. Jeden Tag denke ich, dass das, was schon passiert ist, das Schlimmste ist, was geschehen konnte, mehr geht nicht. Und dann bricht ein neuer Tag an.
In den letzten Tagen denke ich viel über das Leben und über Schuldgefühl nach. Ich möchte so sehr, dass die Menschen nach Kyjiw zurückkehren, ich freue mich wie ein Kind, das den Weihnachtsmann trifft, wenn ich in der Stadt ein wiedereröffnetes Café sehe. Doch nach dem Stolz und Glücksgefühl, dass das Leben weitergeht, überrollt mich ein Schuldgefühl. Schuld, in Kyjiw einen Kaffee zu genießen, während in demselben Moment ein Haus am Rande meiner Stadt brennt. Schuld, mit Freunden laut zu lachen, während tausende Menschen in meinem Land schluchzen vor Gram und Entsetzen. Meine Gedanken berühren sich mit den Gedanken vieler, die hier geblieben sind. Ein Monat Krieg ist sehr lang. Ich spüre, dass für mich persönlich der Verzicht auf die Freude des Augenblick, das Akzeptieren der mir selbst auferlegten Kriegsregeln eine Erniedrigung bedeuten, die ich nicht akzeptieren kann. Deswegen gehe ich mit meinem Morgenkaffee hinaus auf den Balkon und sage der Nachbarin, dass alles gut wird.
In der vergangenen Woche werde ich in Kyjiw jeden Tag von der Sonne geweckt, die durch die kleinsten Spalten eindringt und mir keine Chance gibt, die Begrüßung des Morgens zu verpassen. Die Vorhänge an den Fenstern in Kyjiw werden nachts fest zugezogen, das ist die Verdunklung in der Stadt, in der mindestens achtmal am Tag Luftalarm heult, der begleitet ist von ohrenbetäubenden Salven der Luftabwehr. Das Geräusch des Luftalarms löst quälende Unruhe aus, eine Angst, die auf halbem Weg zwischen Brustkorb und Magen zu spüren ist.
Ich verbringe diese Tage in Kyjiw mit sehr unterschiedlichen Menschen, mit Olga, einer Rentnerin, mit Freiwilligen von Zoo Patrol, mit Rischad, einem Friseur, und vielen anderen. Wo auch immer wir sind, beim Klang des Luftalarms fallen wir in Schweigen und schauen einander in die Augen, als würden wir prüfen, ob der Angstklumpen in uns auftaucht, dann atmen wir aus und arbeiten weiter. Über die 26 Tage, die der Krieg nun dauert, ist dieser kurze Moment des Aufkommens und der Überwindung der Angst zur Norm geworden, zur Notwendigkeit, um weiterzuleben, um die zu unterstützen, die es in diesem Moment noch schwerer haben als du. Jeden Tag zur Mittagszeit erklingt aus den Lautsprechern auf dem Maidan ein altes Lied über die Liebe zu Kyjiw. Manchmal mischen sich die Klänge des Liedes mit dem Heulen des Luftalarms. Ich schaue mir die Menschen an, die vorbeigehen, wenn das Lied erklingt, das alle kennen, und in diesem Moment lächeln sie. Und die Sonne durchflutet die Stadt, die unbesiegbar ist.
[bilingbox]Ich übernachte in einer Wohnung zusammen mit meinen Freunden aus Kyjiw, die nach Kriegsausbruch nach Lwiw gezogen sind. Dort ist es ihnen schon in den ersten Kriegstagen gelungen medizinische Hilfsleistungen aus Israel zu organisieren, sie kaufen Medikamente und verteilen sie an Kliniken und Privatleute in der ganzen Ukraine. Shenka, Sersho, Ljocha, Julia – wir kennen uns alle schon lange, wir wurden älter, aber die Art unser Unterhaltung ist dieselbe – wir lachen jede Sekunde, über uns selbst, über die anderen, bei unserem Treffen jetzt ist es nicht anders.
Am Morgen, wir sitzen auf dem Boden ihrer kleinen Küche und trinken gerade Kaffee, bekommt Shenka eine SMS von ihrer Mutter. Auf dem Handy ist ein Foto ihres Hauses in Kyjiw zu sehen, ein neunstöckiges Hochhaus aus der Sowjetzeit, vor nur einer Stunde ist eine russische Rakete eingeschlagen, das Haus steht in Flammen. Shenka guckt auf ihr Handy, ich sehe, wie ihr Gesicht einfriert, sie weigert sich, es zu glauben, sie ruft ihre Mutter an und sagt: „Nein, das ist nicht unser Haus.“ Ich höre die Stimme ihrer Mutter, ruhig und leise. „Es ist unser Haus“, sagt sie, „wir haben kein Zuhause mehr. Wir haben keine Geschichte mehr.“
Shenka ist kein Mensch, der schnell aufgibt, sie sagt, macht nichts, kein Problem, wir gewinnen diesen Scheißkrieg und dann bauen wir uns ein neues Haus. Am Abend treibt sie eine Kiste Bier auf – die ihr freundlicherweise jemand gegeben hat, ein ziemlicher Schatz in diesen Tagen, in denen es in der Ukraine verboten ist, Alkohol zu verkaufen. Wir sitzen in ihrer Küche, wir konzentrieren uns nicht auf das, was gerade passiert ist, und wir lachen wieder.~~~I stay overnight in a flat with my friends from Kyiv, who since beginning of the war moved to Lviv and since first days of the war managed to organize stable system of donations from Israel for which they buy and distribute medicine for hospitals and individuals all over Ukraine. Zhenka, Serzho, Leha, Julia, – we know each other long time, we became older, but the style of our conversation remains the same – we laugh every second, at ourself, at others, and our current meeting is not different. In the morning we drink coffee sitting on the floor in their tiny kitchen as Zheka gets a message from her mom. On her phone is a photograph of their house in Kyiv, nine stores soviet house, Russian rocket hit it just an hour ago, the house is burning. Zheka looks at her phone, I see how her face gets frozen, she refuses to believe, she calls her mother saying “no, no, it’s not our house”. I hear her mother voice calm and quiet. „That’s it“, mother says, „we don’t have home anymore. We don’t have history anymore“. Zheka is not a person to fall in despair. she says -that’s nothing, no problem, we win this fck war and then we build us new house. In the evening she gets box of beer – kindly given to her by someone, quite a treasury these days as no alcohol is allowed for sale in ukraine. We sit in their kitchen, we don’t focus on what just happened, and we laugh again.[/bilingbox]
Ich habe Lwiw nie so überfüllt gesehen wie in diesen Tagen. Die Stadt wurde plötzlich zu einer neuen Hauptstadt des Tuns, ein weltweites Hub, wo alles und jeder ankommt und abfährt. Es beginnt schon an der Grenze, die ausländische Freiwillige zu Fuß in Richtung Ukraine passieren, während gegenüber Scharen von Frauen und Kinder darauf warten, auf die andere Seite zu gelangen. Überfüllte Züge mit Flüchtlingen aus dem Osten kommen an und fahren voll mit Soldaten und humanitärer Hilfe aus dem Westen wieder ab. Universitätsprofessoren sind damit beschäftigt, in einem Theater der Stadt Berge von Kinderkleidung und Spielzeug zu sortieren, während in einem schicken Restaurant tausende Brote für Soldaten geschmiert werden.
Ich kam nach Lwiw, um mich nach einer ziemlich anstrengenden Zeit in Kyjiw etwas auszuruhen, aber hier ist keine Ruhe zu sehen; jeder, den ich treffe, ist damit beschäftigt entweder die Evakuierung von Leuten aus dem Osten oder die Lieferung von Rettungswesten in den Osten zu organisieren, alles in einem Rhythmus und Grad an Konzentration, wie sie vorher keiner dieser Menschen kannte. Es ist überwältigend und berührend gleichzeitig, ich fühle mich wie inmitten eines Ameisenhaufens, wo jeder seine Funktion kennt, alle zusammen für eine gemeinsame Aufgabe – das Ende des Krieges.~~~I’ve never seen Lviv as overcrowded as it is these days. It suddenly became some kind of new capital of action, worldwide hub where everything and everyone is arriving and departing. It starts already at the border, where foreign volunteers are walking into Ukraine, and just the opposite direction staying crowds of women and children waiting to get to the other side. Trains arrive overloaded with refugees from East and depart loaded by soldiers and humanitarian help from West. University professors are busy, sorting mountains of children cloth and toys in in a town theatre, while thousands of sandwiches for soldiers being prepared in a fancy restaurant.
I went to Lviv, to get some rest after quite intensive time in Kyiv but here is no rest visible; everyone I meet is busy, organizing evacuation of people from East or supply of life vests to East, in a rhythm and in a state of concentration not known to these people before. It’s overwhelming and touching at the same time, and I feel being inside anthill, where everyone knows its function, all together for one common task – the end of the war.[/bilingbox]
[bilingbox]Vor einigen Jahren hatten meine Freunde eine für die Ukraine untypische Geschäftsidee: Sie verwandelten ein völlig unbekanntes Dorf bei Kyjiw in ein Lavendelparadies. Sie begannen mit einem kleinen Hang neben dem Haus, jedes Jahr wurde die Fläche größer, sie lernten aus den Fehlern, freuten sich über Erfolge und schließlich – im vergangenen Jahr – hatten sie ihren ehrgeizigen Traum verwirklicht: Ein Lavendelpark, mit einer Brücke, einem Park, hingegossen in lilafarbenen Wellen über die Wassylkiwer Hügel. Dieses Jahr versprach wahrlich erfolgreich zu werden und sie für die Jahre der Arbeit zu belohnen.
Wir kommen in ihr von Lavendelduft erfülltes Haus, in dem sie bleiben wie in einer Burg. Nach einer Explosion im Öllager im benachbarten Wassylkiw brachten sie ihre Kinder nach Rumänien und sind dann zurückgekehrt, nach Hause. Sergej patroulliert mit den Nachbarn jede Nacht durchs Dorf. Er hat keine Waffe, nur ein qualitativ hochwertiges Messer, mit dem er bislang noch nicht so recht umgehen kann und sich an den Händen verletzt. Julia hilft auf einer benachbarten Plantage beim Kleinschneiden von Pilzen, die dann in die Stadt gebracht werden, wo man auf Essen wartet. Sweta koordiniert die Evakuierung von Menschen aus Kyjiw. An den Abenden schalten sie das Licht aus, um keine Aufklärungstrupps anzulocken, und scrollen dann bei Kerzenschein durch die Berichte von der Front. Ab und zu fliegt etwas über das Haus hinweg und es gibt ein verzögertes Geräusch. Nach 14 Tagen Krieg haben meine Lavendelfreunde gelernt zu unterscheiden, was diese Geräusche mit sich bringen. Ich möchte gern bei ihnen bleiben, in diesem Haus, wo der Kaffee sehr lecker ist, wo es warm ist und nach Lavendel riecht.~~~Несколько лет назад мои друзья начали необычный для Украины бизнес: они превратили никому не известную деревню возле Киева в лавандовый рай. Начав с небольшого склона возле дома, они каждый год расширялись, учились на ошибках, радовались успехам, и в прошлом году, наконец, реализовали свою амбициозную мечту – открыли Лавандовый Парк, фиолетовыми волнами раскинувшийся на гектарах Васильковских холмов. Этот год обещал быть по-настоящему успешным и должен был вознаградить их за годы работы. Мы приехали в ним, в их дом, пахнущий лавандой, ставший для них крепостью. После взрыва нефтебазы в соседнем Василькове они вывезли детей в Румынию и вернулись обратно. Сергей вместе с соседями каждую ночь патрулирует деревню. У него нет оружия, только очень хороший нож, которым он пока что не умеет пользоваться и то и дело ранит об него руки. Юля занимается нарезкой шампиньонов на дружественной соседской плантации; шампиньоны они отправляют в Киев, туда, где не хватает еды. Света координирует эвакуацию людей из Киева. Вечерами они выключают свет, чтобы не привлекать диверсантов, и при свете свечей читают сводки с фронта. Время от времени над домом что-то пролетает и с запозданием доносится звук. За 14 дней войны мои лавандовые друзья научились различать, что несут в себе эти звуки. Мне очень хочется остаться с ними в этом доме, где очень вкусный кофе, тепло и пахнет лавандой.[/bilingbox]
Kyjiw, 9. März [bilingbox]Seit meinen ersten Tagen in der Ukraine habe ich meine Gefühle für mich behalten und versucht, positiv in die Zukunft zu schauen, durch Tränen hindurch gelächelt, versucht, die zu trösten, die es brauchten. Ich habe mich an den Lärm der Luftangriffe gewöhnt und an den Lärm von Explosionen. Irgendwie habe ich den Krieg von mir weggehalten, doch nun dringt er langsam ein in Körper und Seele. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich mitten in einem Kreuzfeuer stand – der erste Kriegstraum seit meiner Ankunft. In meinem Traum fühlte es sich an, als hätte ich mich an den Krieg gewöhnt.~~~Since my first days in Ukraine I’ve kept my emotions inside, trying to be positive about future, smiling through the tears, trying to comfort those who needed it. I’ve got used to the sound of air attacks and to the sounds of explosions. Somehow I have been rejecting this war but now it slowly penetrates body and soul. Last night I had a dream about staying in-a cross fire, the first dream of war since my arrival here. And in my dream the war felt like something I got used to live with.[/bilingbox]
[bilingbox]Es ist der 8. März. Ich spreche mit Menschen in einem Schutzraum. Ein Mann hat irgendwo Blumen gefunden. In rund einer Stunde wollen sie allen Frauen in dem Schutzraum Blumen schenken.~~~It’s 8 March. I am speaking with people in the shelter. A man found somewhere flowers. And in about an hour they want to present flowers to all the women in the shelter.[/bilingbox]
[bilingbox]Am Tag nach unserem Besuch in Irpin warteten schon Tausende Menschen unter der Brücke, um über den Fluss zu gelangen. Die Kämpfe sind in die Stadt vorgedrungen, der Kommandeur Sascha geht nicht mehr ans Telefon. Doch die Stadt ist noch nicht eingenommen.
Gestern erzählte uns ein Kyjiwer Abgeordneter, sie würden versuchen, über einen humanitären Korridor für Zivilisten in Irpin zu verhandeln. Ein Abkommen wurde geschlossen, ein paar Stunden später wurde eine Gruppe von rennenden Menschen von einer Mörsergranate getroffen, acht Menschen starben.
Bei Dämmerung hielten wir uns einige Kilometer entfernt von Irpin auf, als der Kommandeur der Gebietsverteidigung mit diesen Nachrichten aus der Stadt kommt. Er kann seine Tränen auch vor der Kamera nicht zurückhalten, als er uns von dem Horror erzählt, den er dort grad miterlebt hat.
Heute, am 7. März sind wir wieder am Eingang zur Stadt. Die Schüsse sind so nah, dass ich nicht in die Nähe der Brücke gelangen kann. Einer nach dem anderen fahren die Krankenwagen von der Brücke von Irpin zum Stadtrand von Kyjiw, die letzten Bewohner sind evakuiert.
Doch die Stadt Irpin ist noch nicht eingenommen.~~~
Next day after our visit to Irpin, there were already thousands of people waiting under the bridge to cross the river. Fighting moved inside the town and commander Sascha was not picking up phone anymore. Still the town of Irpin hasn’t been taken.
On 6.03.22 a deputy of Kyiv told us they are trying to negotiate a humanitarian corridor in the city for civilians. Agreement has been made and some hours later, group of running people were hit by the flying mine inside the town, leaving eight people dead. In the dusk we were staying some kilometers away from Irpin, when the commander of territorial defiance came with these news from the town. He couldn’t keep tears even in front of camera telling of horrors he just witnessed there. On 7.03.22 we approached the entrance of the town again. Gunshots were so close that I couldn’t get any close to the bridge. Ambulances were running once by once from Irpin bridge to edge of Kyiv, last people were evacuated. Still the town of Irpin hasn’t been taken.[/bilingbox]
Eine Brücke über den kleinen Fluss – der kürzeste Weg aus dem Zentrum von Kyjiw in die bewaldete Vorstadt Irpin – wurde von ukrainischem Militär am zweiten Kriegstag gesprengt. Momentan ist das der einzige Weg aus der Vorstadt heraus, in der rund 60.000 Menschen leben. In alle anderen Richtungen steht die russische Armee, erinnert mit minütlichem Beschuss höflich an ihre Anwesenheit. Wir möchten nach Irpin, dort erwartet uns Sascha Morkuschin, in Personalunion Bürgermeister und Kommandeur der Gebietsverteidigung. Das Treffen mit ihm in der unter Beschuss stehenden Vorstadt haben Freunde von Freunden organisiert, denn jetzt sind alle Freunde von Freunden auch deine Freunde. Der Weg zu dem Treffen ist nicht einfach. Nachdem du auf dem Weg Dutzende Kontrollposten passiert hast, kommst du zu der zerstörten Brücke, stellst das Auto ab, gehst unter die Brücke, überquerst das Flüsschen auf eilig verlegten Kieferbrettern, kletterst über Betontrümmer und wartest dann auf ein Auto, hinter dem Steuer Männer mit Maschinenpistolen, das dich an einen Ort bringt, von dem du sofort wieder verschwinden möchtest. Der Bürgermeister und Kommandant ist ein gutmütiger dicker Mann, der zusammen mit dem Chef des Wohnungsamtes, einem Tischlermeister, und anderen Menschen aus ähnlichen Berufsgruppen schon 10 Tage die Stadt verteidigt. Die Explosionen werden häufiger und wir ziehen uns langsam zurück zur Brücke. Aus Riwne sind Busse gekommen, von der dortigen Baptistengemeinde organisiert, um Menschen aus der Stadt zu holen – und viele von denen, die bisher nicht daran gedacht haben, sehen nun ein, dass das womöglich eine der wenigen Chancen zur Flucht ist. Der Übergang über den Fluss auf den dünnen Kieferbrettern ist immer stärker frequentiert, die Menschen tragen in Wolltücher gewickelte Hunde und Katzen, ein anderer hat ein super-schickes Fahrrad als einziges Gepäckstück, wieder einer schleppt ein paar riesige Koffer. Wie wenig Zeit bleibt gerade, um zu entscheiden, was man mitnimmt, wie wenig Kraft für diesen Weg, wie viel Angst vor dem Ungewissen. Sie balancieren über die dünnen Bretter so schnell sie können, dann eilen sie los, sehen mich nicht, obwohl ich direkt daneben stehe, und schlussendlich erreicht mich das Grauen, das hier und jetzt geschieht, ein unendlicher Schmerz dringt in mich ein, denn ich verstehe nicht, warum ihnen, warum uns dieses Grauen widerfährt. Und dann überkommt mich Zorn. Zorn auf die, die dieses Grauen hierher gebracht haben.
[bilingbox]Kyjiw bereitet sich auf den Kampf vor. Es geschah über Nacht, wir sind aufgewacht und nun sind an fast jeder Ecke Barrikaden errichtet. Ich gehe zu einer hin, ungefähr hundert Menschen jeden Alters bewegen sich wie Ameisen, schnell, ruhig, organisiert. Alte Männer füllen gemeinsam mit jungen Hipster-Mädchen Flaschen mit Molotowcocktails. Andere bauen Mauern aus Autoreifen und Sand. Wir reden, wir lachen, ich umarme Menschen, die ich grad erst getroffen habe, wir versprechen uns, uns bald wiederzusehen. Dieser Moment gibt mir ein Gefühl der Ruhe, irgendwie verschwinden all meine Ängste und meine Zweifel darüber, ob ich nicht doch rechtzeitig fliehen sollte. Irgendetwas ist so richtig an diesen Menschen, die in der Stadt bleiben, die bereit sind zum Schlimmsten und voll Hoffnung auf das Beste. Ihre Kraft hat nichts Pathetisches, ihr Vertrauen ist überzeugend. Plötzlich fühle ich mich sicher mit ihnen, mit denen, die jetzt in Kyjiw sind, mit denen wir teilen werden, was als nächstes kommt. Ich treffe an diesem Tag so viele unterschiedliche Menschen, von zivilen Verteidigern bis hin zu einem Parlamentsabgeordneten, und alle sagen im Grunde dasselbe: Die Russen können Kyjiw zerstören, doch es ist nicht möglich, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören. Keiner von ihnen will sterben, aber keiner von ihnen ist willens zu kapitulieren. Es hat etwas Besonderes – diese Art von Freiheit, wenn du sie erstmal geschmeckt hast, wenn du sie erlebt hast, dann gibt es keinen Weg zurück.~~~Kyiv preparing for the fight. It just happened overnight and we woke up with barricades being constructed on practically every corner. I approach one of those, where around 100 people of all ages are moving like ants, fast, quiet, organized. Old men together with young hipster-looking girls are filling bottles with Molotov cocktail. Others build walls filled with car tires and sand. We talk, we laughs, I hug with people I just met, we promise to see us soon again. I feel calm from this moment, somehow all my fears and doubts of timely escape are going away. Something is very right with these people, who stay in town, who are ready for the worse but firmly hope for the best. Their strength is totally not pathetic, their confidence is convincing. I suddenly feel safe with them, those who are now in Kyiv, with whom we might share what comes next. I meet with so many different people this day, from young civil defenders to a member of Parlament and all basically say same thing. Russians can destroy Kyiv but its not possible to destroy Ukraine and Ukrainians. Nobody of them wants to die but nobody agrees to surrender. There is something special about this essential sense of freedom, once you taste it, once you lived with it, there is no way back[/bilingbox]
[bilingbox]Ich bin in Kyjiw, meiner Stadt, meiner Heimat, laufe durch die Straßen im Zentrum, wo fast jeder Stein eingeschrieben ist in mein Leben. Es ist kalt draußen und normalerweise würde ich gleich in eines der gemütlichen Lokale gehen, ein paar Freunde anrufen und ein Glas Wein mit ihnen trinken. Doch heute ist hier nichts normal. Ich bin die einzige, die hier über den Chreschatik spaziert, die Hauptstraße von Kyjiw. Die meisten Freunde von mir haben Kyjiw eilig verlassen, als die Stadt auf einmal jeden Tag und jede Nacht von Raketen getroffen wurde. Etwas Undenkbares passiert, etwas, das mein Gehirn sich weigert zu akzeptieren. Der KRIEG ist hier, in meinem Land, in meiner Stadt.
Am Tag des Angriffs entschied ich mich, nach Kyjiw zu fahren. Das dringende Bedürfnis hier zu sein hat nichts zu tun mit dem Berichten aus der heißen Zone. Wenn der Krieg in mein Zuhause kommt, möchte ich irgendwie zu Hause sein. Es geht hier nicht um Fotografie, es geht um mich, meinen Ort, meine Geschichte und die Geschichte der ganzen Welt, die derzeit hier stattfindet. Ich bin aufgewachsen im Bann der Geschichten meiner Großmutter, die die ganze Zeit während der Nazi-Besatzung von 1941 bis 1944 in Kyjiw war, und meines Großvaters, der Militärmusiker war und bis Königsberg und in die Mandschurei kam. Nie war Krieg für mich real, aber jetzt ist er hier. Meine Nichte und mein Cousin riefen mich am dritten Kriegstag an, als sie in den nördlichen Außenbezirken der Stadt unter Beschuss saßen, sie weinten vor Angst, baten dringlich, ich möge auf die Straßen von Berlin gehen und ihnen helfen, sie beschützen. Es waren Tausende auf den Straßen, rund um die Welt, aber kann das helfen?
Ich laufe durch die Straßen im Zentrum von Kyjiw, leere tote Straßen einer Stadt im Krieg. Neben dem Gebäude der Stadtverwaltung steht eine alte Frau, allein. Als wir näherkommen, bittet sie uns dringlich, wir mögen helfen, die deutsche Kanzlerin zu erreichen, sie sagt, sie würde wissen, wie man Putin stoppt, die weiß es ganz sicher. Wir gehen weiter.~~~I am in Kyiv, my city, my home, walking the streets in downtown, where almost every stone is inscribed into my essence. It’s cold outside and normally I would soon sneak into one of cozy restaurants around and call some friends to join me for glass of wine. But today nothing is normal here. I am the only person walking on Khreschatik, the main street of Kyiv. Most of my friends have left the city in a rush, as rockets started hitting town every day and night. Something unthinkable is going on, something that my mind refuses to accept. The WAR is here, in my country, in my city. I took decision to go to Kyiv in the first day of attack. The urge to be here is not connected with reporting from the hot zone. But when war comes to my home I somehow want to be home. This is not really about photography, this is about me, my place, about my history and the history of whole world that currently happens here. I’ve grown up being fascinated by stories of my grandmother, who spent whole Nazi occupation in 1941-44 in Kyiv and my grandfather, who was an army musician and went as far as Königsberg and Manchuria. War never seemed real for me but now its here. My niece and my cousin called my on third day of the war, as they were sitting under shelling in the northern outskirts city, crying from fear, begging me to go to the streets of Berlin to help them, to protect them. There were thousands on the streets all around the world, but would it help? I am walking central streets of Kyiv, empty dead streets of town in the war. Next to the town administration an old woman stands, alone. As we approach, she begs us to help to reach german kanzler, she says she knows how to stop Putin, she knows for sure. We walk away.[/bilingbox]
Mila Teshaieva ist in Kyjiw geboren und aufgewachsen. Seit 2010 lebt sie auch in Berlin. Seit 2004 arbeitet Mila Teshaieva an Langzeitprojekten auf den Gebieten der ehemaligen UdSSR, insbesondere widmete sie die letzten Jahre dem Kaukasus und der Region um das Kaspische Meer. Erschienen sind ihre Bilder auf den Seiten des Courrier international, British Journal of Photography, Time Magazine, Magazine Lightbox und vielen anderen. Für ihre fotografische Arbeit hat Mila Teshaieva bereits zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten.
Einzelausstellungen (Auswahl): MIT Museum Boston (USA 2018) Museum Europäischer Kulturen (Berlin 2017) Haggerty Museum of Art (USA 2015) Blue Sky Gallery (USA 2015) Museum an der Westküste (Föhr 2014)