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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Krieg im Namen des Sieges von 1945

    Krieg im Namen des Sieges von 1945

    Der „Tag des Sieges“ am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland. Seit einigen Jahren ist der inzwischen wichtigste Nationalfeiertag Russlands auch Gegenstand von Kritik: In der zunehmend monopolisierten Erinnerungskultur des Landes diene er, so der Tenor, immer weniger dem Gedenken, sondern vielmehr der Legitimation politischer Herrschaft. Andere Kritiker wie der orthodoxe Publizist Sergej Tschapnin bemerkten schon 2011, dass der 9. Mai Züge einer „Zivilreligion“ trage, die Feindbilder pflegt, Kriege glorifiziert und den Stalinismus rechtfertigt. 

    Der Begriff „Zivilreligion“ geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück: Der Philosoph glaubte, dass Aufklärung zu Chaos führt und dass man eine säkulare Ersatzreligion schaffen müsse, um die politische Herrschaft und damit auch die politische Ordnung zu legitimieren. 

    Der 9. Mai gilt heute unter zahlreichen Wissenschaftlern als der zentrale Ankerpunkt der offiziellen russischen Geschichtspolitik: Der Kampf gegen den Faschismus will nicht nur dem politischen Regime Legitimität verleihen, sondern auch dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Doch wie funktioniert eine solche Zivilreligion? Diese Frage stellt der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew im Vorfeld des 9. Mai auf Holod.

    Ich habe mich bei einem seltsamen Gefühl ertappt: Seit ungefähr zehn Jahren habe ich Angst vor staatlichen Feiertagen und sonstigen offiziellen Daten, weil ich weiß, dass die Staatsmacht diese zeitlich gerne mit gründlichen Säuberungen verbindet. 

    Nun warte ich voller Angst auf den 9. Mai, an dem Putin womöglich eine Parade zum Sieg über den imaginären Nazismus veranstalten will, wohl gar mit einer Vorführung gefangener Banderowzy auf dem Roten Platz – sie haben ja bereits im August 2014 in Donezk ukrainische Kriegsgefangene vorgeführt. Hinter ihnen schrubbte eine Straßenreinigungsmaschine ihre Spuren weg, genau wie 1944 in Moskau. Heute blickt die ganze Welt voller Angst auf den 9. Mai, weil alle wissen, dass Putin seinem blutrünstigen Publikum einen „Sieg“ vorweisen muss, und wenn es im Feuerschein einer Atomexplosion ist.       

    Der „Feiertag mit Tränen in den Augen“ ist nun eine militärisch-patriotische Show geworden 

    Der Tag des Sieges hat in Putins Russland eine schwindelerregende Entwicklung erlebt. Aus dem „Feiertag mit Tränen in den Augen“, der er Anfang des Jahrhunderts noch war, wurde eine militärisch-patriotische Show – eine gigantische symbolische Maschine, der das Land unterworfen wurde.

    Im Grunde hat Putins Staat im 9. Mai seinen wichtigsten Bezugspunkt gefunden, seine Gründungsgeschichte. Die beginnt weder 1917, noch 1991 noch 1999 (obwohl, wieso erklärt man eigentlich nicht die Sprengung von Wohnhäusern im September 1999 zum Anfangspunkt?), sondern 1945 in Jalta und Potsdam, als Stalin mit einem Bleistift in der Hand über der Weltkarte stand. Putin fühlt sich wahrscheinlich am ehesten wie der Generalissimus auf dem Bild von Fjodor Reschetnikow – obwohl er in Wirklichkeit eher dem großen Diktator aus dem gleichnamigen Film von Charlie Chaplin in der berühmten Szene gleicht, in der dieser in seinem Größenwahn den Globus aus dem Ständer nimmt und ihn auf dem Finger wirbelt.     

    Der 9. Mai wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf

    Ab Mitte der 2000er Jahre begann der 9. Mai, sich auf die gesamte historische Zeit auszudehnen, wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf. Nicht zufällig tauchten damals an den Autos die ersten Sticker mit dem großkotzigen Spruch „Wir können das wiederholen“ auf, mit geschmacklosen Bildern, wie Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. (Muss man erwähnen, was in Butscha und Irpin aus diesem Vergewaltigungskult geworden ist?)

    Der Tag des Sieges wurde zur Linse, durch die Russland auf die Welt blickt und ihr seine Gekränktheit, Komplexe, Wünsche, Aggressionen und Ressentiments präsentiert. Der Feiertag ist zu einer konstanten Liturgie geworden, zu einem ekstatischen und mystischen Wiedererleben einer Vergangenheit, die den Menschen die nicht sehr beglückende Gegenwart ersetzt hat.   

    Die Siegeskathedrale in Kubinka: finster, bedrohlich, auf freiem Feld inmitten eines beängstigend symmetrischen Rasens

    In den letzten zwanzig Jahren hat der Tag des Sieges alle Züge eines religiösen Kults angenommen. Im Zentrum dieses symbolischen Universums erhebt sich die monströse Siegeskathedrale in Kubinka, die aussieht, als wäre sie von der Filmkulisse aus Star Wars abgemalt oder einem Gothic-Comic entnommen. Da steht sie finster, bedrohlich, auf freiem Feld mitten auf einem beängstigend symmetrischen Rasen, durchdrungen von Zahlenmagie wie ein Freimaurersaal: Durchmesser des Sockels der Hauptkuppel – 19,45 m, größter Durchmesser der Hauptkuppel – 22,43 m (um 22:43 Uhr am 8. Mai wurde Deutschlands Kapitulation unterzeichnet), die Mosaike im Inneren nehmen eine Fläche von 2644 m² ein, was der Anzahl der Träger des Ruhmesordens I. Klasse entspricht, et cetera. Die Metallstufen sind aus erbeuteten deutschen Waffen aus dem Museum der Streitkräfte gegossen, und eine der „Reliquien“ in der Kathedrale ist Hitlers Schirmmütze: In ihrem Feuereifer, den Sieg über den Faschismus darzustellen, verfällt diese militaristische Version der Orthodoxie in Pathos, Komik und Kitsch.        

    Das Unsterbliche Regiment ist zu einer bürokratischen Demonstration des staatlichen Patriotismus pervertiert

    Zu Ehren des Siegeskults finden Prozessionen des Unsterblichen Regiments statt, die an Kreuzzüge erinnern. Ursprünglich eine zivilgesellschaftliche Grassroots-Initiative von Mitarbeitern des Tomsker Fernsehsenders TV2, hat sich bald die Propaganda dieses Ritual angeeignet, hat es verzerrt und zu einer bürokratischen Demonstration des staatlich verwalteten Patriotismus pervertiert, bei der Staatsbedienstete angewiesen werden, mit Fertig-Porträts unbekannter Helden aufzumarschieren. Vereinzelte Privatpersonen mit Porträts ihrer Vorfahren gehen unter in den Lügen und Performances unverhohlener Freaks: Stalinisten tragen Bilder ihres Götzen, und bei einer solchen Prozession marschierte Natalja Poklonskaja mit einer Ikone von Nikolaus II.     

    Tatsächlich nehmen die Heldenporträts Züge von Ikonen an. Vor ein paar Jahren kursierte im Netz ein Propaganda-Trickfilm, den eine Anti-Abtreibungsbewegung in Auftrag gegeben hatte: Eine junge Frau teilt ihrem Freund am Telefon mit, dass sie schwanger sei, woraufhin er sagt, sie solle abtreiben. Die Frau denkt nach, und da beginnt, ganz im Stil einer „sprechenden Ikone“, eine Kriegskrankenschwester aus dem Unsterblichen Regiment aus dem Porträt an der Wand zu ihr zu sprechen: „Treib nicht ab, du bekommst einen Sohn, einen Soldaten!“ Danach verschwindet, durchaus typisch, der Mann aus der Handlung, die Frau wird alleinerziehende Mutter und geht Jahre später mit ihrem Sohn zur Siegesparade.     

    Beim Heldenmythos des Siegs sind historische Fakten unwichtig

    Der Heldenmythos des Siegs muss nicht einmal der Realität entsprechen – er ist Gegenstand eines blinden Glaubens, seine Funktion ist es zu überzeugen. Allgemein bekannt ist der Fall gewisser sowjetischen Märtyrer: der 28 Panfilow-Helden. Die Garde-Infanteristen sollen bei Dubosekowo vor Moskau eine Division deutscher Panzer aufgehalten haben. Die Charkower Militärprokuratur fand jedoch im November 1947 heraus, dass sich einer der „gefallenen“ Helden im Frühling 1942 in Kriegsgefangenschaft ergeben und den Deutschen gedient hatte. Woraufhin Ermittlungen ergaben, dass die ganze Geschichte erfunden worden war von einem Korrespondenten des Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) namens Alexander Kriwizki auf der Grundlage tatsächlicher Kämpfe in dieser Region. Trotz allem entwickelte die Legende eine eigene Logik, hielt Einzug in den sowjetischen Patriotismus-Kanon, und als der Direktor des staatlichen Archivs, Sergej Mironenko, 2015 von dieser Fälschung erzählte, wurde er sofort der Russophobie bezichtigt, der damalige Kulturminister Wladimir Medinski erklärte, ein Mythos, der Generationen von Sowjetbürgern inspiriere, sei wichtiger als historische Fakten, und Mironenko war seinen Posten bald los.            

    Der Kult erfasst die Massen und wird mit siegeswahnsinnigen Ritualen ausstaffiert – geschmückte Autos und Schaufenster, historische Reenactments, Cosplays aus Kriegszeiten und Travestien, Kinder in Militäruniformen, Buggies und Kinderbetten in Panzer-Design. Völlig offensichtlich kommt Kindern hier eine besondere Rolle zu, um Opfer zu legitimieren und Gewalt und Tod durch eine höhere Moral abzusegnen.

    Frühlingsriten nach einem langen Winter

    Gleichzeitig wird so der Siegeskult in die Frühlingsriten eingeschrieben, bei dem junges Grün auf toter, verbrannter Erde wächst. Hier kann man von der Biopolitik des Sieges sprechen, von der Herstellung neuer Menschenmasse: Die Kinder sind die „neuen Soldaten, die die Weiber gebären“, um den apokryphen Satz zu zitieren, der Georgi Shukow zugeschrieben wird. Es ist ja kein Zufall, dass das vor der Abtreibung gerettete Kind in dem Pro-Life-Video zur Siegesparade geht und auf einem Werbeplakat der Bewegung Für das Leben ein Embryo aus dem Mutterleib appelliert: „Schütze du mich heute, dann schütze ich dich morgen!“ An anderer Stelle sieht man ihn als Fünfjährigen mit Helm und Maschinengewehr.   

    Siegeskult als vollwertige Staatsideologie 

    Der Sieg ist zu einem sakralen Objekt geworden, zu einem Raum, in dem es unmöglich ist, die Sowjetunion, das „Siegervolk“, Stalin und Shukow zu kritisieren, in dem das Recht des Stärkeren gesegnet ist und sich ein isolationistisches Bewusstsein à la „Wir allein gegen den Rest der Welt“ herausgebildet hat. Der Siegeskult ist eine vollwertige Staatsideologie geworden, die theoretisch laut Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation verboten wäre – aber wen kümmert in Russland heute schon die Verfassung? 

    Russland ist dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen   

    Im Namen des Sieges werden auch Gesetze beschlossen, die das historische Gedächtnis reglementieren, und es kommt zu Repressionen: Alexej Nawalny stand 2021 in einer fingierten Anklage wegen „Beleidigung eines Veteranen“ vor Gericht. 

    Und jetzt hat Russland im Namen des Sieges auch noch einen aggressiven Eroberungskrieg begonnen.     

    Der Bannspruch der Nachkriegsgenerationen hieß: Bloß keinen Krieg. Jetzt heißt es: Wir können das wiederholen

    Das ist der wichtigste und schrecklichste Output der militaristischen 9.-Mai-Religion: Anstelle einer Würdigung des Sieges, eines Festakts zum Kriegsende, anstelle einer Feier des Friedens ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen. Der Sieg wurde ersetzt durch eine permanente Schlacht. Anstelle eines Aufatmens – nie wieder, never again, нiколи знову –, anstelle des Bannspruchs Bloß keinen Krieg, den die Nachkriegsgenerationen beschworen, hat Russland die revanchistische Losung Wir können das wiederholen geprägt, die es wie eine Beschwörung wiederholt. Aus der Idee des Friedens wurde ein blutrünstiger Kriegskult, der Menschenleben kostet.   

    Genau das ist am 24. Februar 2022 passiert: Unter dem Deckmantel der „Entnazifizierung“ der Ukraine, abgeschrieben aus Geschichtsbüchern und von Propagandaklischees, hat Russland in Europa den größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg entfacht. Man wollte 1945 wiederholen, doch Russland hat in dieser blutigen Geschichtsrekonstruktion seine Rolle falsch eingeschätzt: Die Ironie des Schicksals will, dass es nicht die sowjetischen Befreier spielt, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer.  

    Russland spielt nicht die sowjetischen Befreier, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer

    Die Geschichte hat einen weiten Kreis gezogen und ihn geschlossen. Die Schlange beißt sich in den eigenen Schwanz, die Sieger über die Nazis wurden selbst zu ihrem jämmerlichen Abbild. Die tatsächlichen Erben von 1945 sind heute die Ukrainer, die tapfer ihre Heimat verteidigen, und nicht die russischen Besatzer, die in ein fremdes Land gekommen sind, um zu vergewaltigen, zu rauben und zu brandschatzen. 

    Wer das Gedenken des großen Siegs ehrt, der kann nicht anders, als Russland in diesem sträflichen, schändlichen, sinnlosen Krieg eine Niederlage zu wünschen.  
     

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  • „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Die Russen sind die neuen Deutschen.“ Unter liberalen russischen Stimmen kam diese Formel schon wenige Tage nach dem Kriegsbeginn auf. Sie verweist auf historische Parallelen zwischen Russland und Deutschland, vor allem auf Aspekte wie Kollektivschuld und „Banalität des Bösen“.

    Bereits vor rund zwei Jahren schrieb der russische Soziologe Grigori Judin: „Für Putin ist mit Deutschland [unter Hitler – dek] überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfter geben.“  

    Wie kommt eine solche Denkweise überhaupt zustande? Im ersten Teil seines jüngsten Interviews mit der Journalistin Katerina Gordejewa im Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) argumentiert Judin, dass man über die tatsächliche Kriegsunterstützung im Land nur wenig sagen kann, dass der „überragende Teil der russischen Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben will.“ Dass sie damit die Augen vor der Wahrheit und vor grundsätzlichen Sinnfragen verschließe, das entbinde sie nicht von der Verantwortung für das, was geschieht, so der Soziologe. Anders sei es bei Putin: Dieser übernehme ganz bewusst die Verantwortung für den Krieg, argumentiert Judin im zweiten Teil des Interviews – und folge dabei einer inneren Logik, wonach der Krieg ein Akt der Selbstverteidigung ist.


    Grigori Judin: Wenn du mich fragst, warum die Entscheidung getroffen wurde, die Ukraine zu zerstören, so sehe ich darin eine gewisse Logik.

    Katerina Gordejewa: Inwiefern?

    Für Wladimir Putin und seine Gefolgschaft ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung, sie bedroht buchstäblich ihr Leben. Und weil [Putin] offenbar irgendwann beschlossen hat, dass ihre Existenz gleichbedeutend ist mit der Existenz des ganzen Landes, schließen sie daraus, dass sie für das ganze Land sprechen können und das ganze Land in Gefahr ist.

    Wie? Ganz einfach. Nehmen wir die Situation in Libyen zur Zeit des späten Gaddafi. Oberst Gaddafi sieht sich nach einer endlosen Herrschaft mit einem inneren Aufstand konfrontiert. Der Aufstand ist mehr oder weniger erfolgreich. Gaddafi weiß, dass seine einzige Chance darin besteht, den Aufstand mit Hilfe der Armee niederzuschlagen. Das tut er auch. Er rückt auf Bengasi vor, bereit, alles dem Erdboden gleichzumachen.

    Wie Gaddafi beseitigt wurde hat bei Putin tiefen Eindruck hinterlassen

    Dann greift die NATO ein und errichtet eine Flugverbotszone, was den Kämpfen eine Wendung gibt. Die ganze Armada, die aus Tripolis in Richtung Bengasi unterwegs ist, kehrt um, Tripolis wird eingenommen und Gaddafi auf die Ihnen bekannte Art und Weise beseitigt.

    Wie wir wissen, hat das bei Wladimir Putin tiefen Eindruck hinterlassen. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass die Entscheidung, Medwedew abzusetzen, in genau dem Moment gefallen ist. Denn Medwedew war damals Präsident und hat sich nicht gegen die Flugverbotszone ausgesprochen.

    Was heißt das für Putin? Das heißt, dass in dem Moment, in dem es in Russland einen Aufstand gibt, und es wird ihn geben, unweigerlich … Übrigens war ich geneigt zu glauben, dass der Moment nicht weit weg ist, weil Belarus, das Russland in seiner politischen Kultur sehr ähnlich ist, es gerade vorgemacht hatte. Folglich war Russland auch nicht weit davon entfernt. Alle vergleichbaren napoleonischen Regime haben eine Lebensdauer von etwas über zwanzig Jahren. Die Widersprüche im Inneren häufen sich, und ihm [Putin – dek] dürfte klar sein, dass ein Aufstand nicht weit entfernt ist.

    Aber für ihn ist ein Aufstand nie Ausdruck einer aus der Bevölkerung erwachsenden Energie – es sind immer die Machenschaften eines äußeren Feindes, etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Es gibt überhaupt kein Volk, es gibt nur einen äußeren Feind, der dich eliminieren will. Wenn dir eine solche Gefahr droht, musst du absolut sicher sein, dass dir im Unterschied zu Gaddafi jedes erdenkliche Mittel zur Verfügung steht, um diese Gefahr zu bekämpfen. Jedes. Egal, wie viele Menschen du dafür töten musst, du musst in der Lage sein, es zu tun.

    Wenn es ein benachbartes Land gibt, das Russland kulturell sehr nahe steht – ein riesiges Land, das größte Land Europas –, in dem es ein anderes politisches Leben gibt, das Putin als „Anti-Russland“ bezeichnet, eine radikale Alternative zu Russland, und diese Form der politischen Organisation ist in militärischer Hinsicht, sagen wir, durch die USA garantiert, dann ist das eine nicht hinnehmbare Gefahr. Es bedeutet, dass er mit seinem Volk nicht alles tun kann, was er will. Über ihm hängt ein riesiges [Damokles-Schwert], das sein Schicksal jeden Moment in das von Gaddafi verwandeln kann.

    Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte

    Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich die Situation in genau diese Richtung entwickelt, weil die Ukraine, auch wenn sie kein Mitglied der NATO ist, ganz klar zu einem Militärbündnis mit den USA tendiert und das politische Regime in absehbarer Zeit durch die USA garantiert würde. Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte.

    Wenn er also sagt, sie hätten uns angegriffen, hätten wir es nicht getan, dann glaubt er tatsächlich, was er sagt? 

    Ohne jeglichen Zweifel. Mehr noch, in einem verrückten Sinn ist das sogar wahr, denn er hätte jedes Vorgehen gegen ihn als einen Angriff durch die NATO interpretiert, und weil das unweigerlich eingetreten wäre, entspricht das in seiner paranoiden Wahrnehmung der Wahrheit. Deshalb war für mich schon vor zwei Jahren klar, dass es Krieg geben würde. Und als er vor einem halben Jahr diesen Aufsatz veröffentlichte, in dem er der Ukraine die Daseinsberechtigung abspricht, war es dann völlig offensichtlich. In diesem Text steht schwarz auf weiß: Entweder wir unterwerfen sie friedlich und machen sie zu einem Anhängsel, oder wir erobern sie. Das sind die zwei Optionen.

    Natürlich ist jetzt auch die Konjunktur vergleichsweise günstig: Putin denkt, er sei dank modernster Waffen militärisch überlegen, er hat enorme Ressourcen angehäuft (wo die alle hin sind, ist eine andere Frage), dann sind da die Rohstoffpreise, Europas Abhängigkeit von diesen Rohstoffen, Turbulenzen in diversen Ländern … Kurzum, die Entscheidung war in seinen Augen absolut unvermeidlich. 

    Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten – das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen

    Und ja, er und sein Umfeld sprechen jetzt von einem Vabanque-Spiel, bei dem sich Russlands Zukunft entscheiden werde. Sie verstehen also durchaus, worauf sie sich eingelassen haben. Innerhalb dieser Logik müssen sie sich tatsächlich verteidigen. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass das für sie ein Verteidigungskrieg ist. Aus ihrer Sicht ist das Ziel nicht, eine Hegemonie zu errichten oder kulturell zu expandieren. 

    Wenn wir von der „Russischen Welt“ sprechen, meint das nicht, dass es etwas spezifisch Russisches gäbe, das die Ukrainer nicht hätten und das man ihnen bringen müsste. So etwas gibt es nicht. Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten. Nein, das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen. Was natürlich noch gefährlicher ist, weil wir hier von Leuten reden, die glauben, dass man sie umbringt, wenn sie sich nicht verteidigen. Sie müssen sich verteidigen – um jeden Preis.

    Welche Rolle spielt die so populär gewordene Theorie des „Russki Mir“, deren Vertreter mal als die Ideologen des Kreml galten, also Leute wie Dugin?

    Einerseits sehe ich, dass einige von Dugins düsteren Ideen durchaus ihren Einfluss hatten auf die Clique, die in Russland die Entscheidungen trifft, und wahrscheinlich auch indirekt auf den Präsidenten, der sich in letzter Zeit offenbar komplett isoliert hat und die Entscheidungen nahezu im Alleingang zu treffen scheint. Auf der anderen Seite sehe ich auch, dass diese [weltanschauliche – dek] Suppe, die sich da zusammengebraut hat, sogar im Vergleich zu diesen Ideen sehr primitiv wirkt. Man könnte meinen, diese Leute seien intellektuell dafür verantwortlich, was sie ausgebrütet haben, aber das, was am Ende dabei herausgekommen ist – ich bin nicht sicher, ob sie selbst davon so begeistert sind.

    Die ideologische Suppe des ‚Russki Mir‘ wirkt sehr primitiv

    Das große Problem mit diesem ganzen „Russki Mir“ ist, dass es eine leere Idee ist. Ein Imperium muss etwas vermitteln. Die „Russische Welt“ vermittelt nichts. Sie bietet keine Visionen. Keinerlei Perspektiven für eine kulturelle Entwicklung. Da ist rein gar nichts. Jeder, der Interesse an einer Ausweitung des russischen Einflusses hat, versteht, dass man irgendeine Art von Hegemonie braucht, um als Land eine Position zu erlangen. Unter Hegemonie versteht man, dass ein Land etwas anzubieten hat, das für andere attraktiv ist. Dann beginnt man, sich mit dieser Idee zu identifizieren, an sie zu glauben und sie zu verbreiten.

    Dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss – diese Idee ist in Russland aus den Köpfen verschwunden

    In Russland war das an einem gewissen Punkt einfach wie weggeblasen: Der simple Gedanke, dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss. Diese Idee ist aus den Köpfen verschwunden. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht vereinen lässt mit diesem fundamentalen Beleidigtsein auf die ganze Welt. Oder weil man dafür anfangen müsste, den Leuten zuzuhören. Man müsste versuchen, sie zu verstehen, Gemeinsamkeiten finden, hören, was sie wirklich bewegt, etwas anbieten, das darauf reagiert. Das scheint niemanden mehr zu interessieren, das einzige, was noch übrig ist, ist rohe Gewalt. Aber mit roher Gewalt kann man keine Welt errichten.

    Das sagen selbst die Quellen, auf denen dieses zweifelhafte, widersprüchliche und natürlich auch gefährliche Projekt basiert. Immerhin impliziert es die Errichtung einer gewissen Einflusssphäre. Aber Russland schneidet sich gerade selbst für viele viele Jahre alle Einflussmöglichkeiten ab. Sehen wir uns zum Beispiel das Problem mit dem NATO-Block an, das ich für durchaus glaubhaft halte. Wozu wird das führen? Dazu, dass alle, die bisher nicht beitreten wollten, es jetzt tun. Russland steht nun einem Block gegenüber, der ihm tatsächlich feindlich gesinnt ist. Jetzt wollen alle rein. Finnland und Schweden bereiten schon Abstimmungen vor.

    Alle, die bisher nicht der NATO beitreten wollten, tun es jetzt

    Warum bringt man alle gegen sich auf? Nur, weil man keine andere Möglichkeit sieht, zusammenzuarbeiten, weil man ernsthaft glaubt, dass die einzig mögliche Interaktion Gewalt ist, dass man seine „Partner“ mit Waffengewalt zwingen muss. Das ist ein Fehler, der uns sehr teuer zu stehen kommen wird.

    Was wird aus der Ukraine?

    Angenommen, es endet nicht alles mit einem Atomkrieg …

    Ja, lassen wir das Worst-Case-Szenario mal beiseite.

    Was allerdings nicht ausgeschlossen ist und unter diesen Bedingungen durchaus realistisch. Abgesehen davon hat Russland natürlich überhaupt keine Chance mehr, irgendeine ideologische Kontrolle über die Ukraine auszuüben. Das ist für immer vorbei. Es hätte eine Möglichkeit gegeben, wenn man die Karte der jahrhundertealten gemeinsamen Geschichte ausgespielt und den Ukrainern etwas angeboten hätte, was sie einerseits respektiert und was andererseits attraktiv im Hinblick auf die Integration in eine gemeinsame Sphäre gewesen wäre. Jetzt ist diese Möglichkeit ausgeschlossen, ich schätze, für immer.

    Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten

    Das mit der Ukraine ist eine Sache, aber was ist mit all den anderen slawischen Völkern? Sieh dir doch mal an, was die Leute in den slawischen Ländern sagen. Wir verlieren absolut alle. Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten. Wir werden ihnen jahrzehntelang nichts entgegensetzen können. Sie werden sagen: „Dieses Land muss für immer kleingehalten werden, sonst wird es sich erheben und wieder auf uns losgehen.“ Und wir haben so gut wie keine Argumente dagegen. Wir können sagen, dass wir uns geändert haben, dass das unsere durchgeknallten Vorfahren waren, aber die Antwort wird sein: „Nein, die haben das im Blut. Die werden nie Ruhe geben.“ Und damit werden wir irgendwie umgehen müssen.

    Natürlich betrifft das genauso die Ukraine und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Belarus. Wie das konkret aussehen wird, das ist eine andere Frage, das hängt davon ab, wie die sich anbahnende Niederlage [für Russland – dek] aussehen wird, welchen Preis auch die Ukrainer dafür werden zahlen müssen. Aber es existiert nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, dass Russland die Ukraine für immer besetzt und die Ukrainer irgendwie umformt, nach welchem Vorbild auch immer. Das ist unmöglich. Deshalb ist das eine Wunde, die für immer bleiben wird.

    Und die Ukraine selbst, ihr Geist, die Menschen, der Präsident, der Staat?

    Das hängt stark davon ab, wie weit sich dieser Krieg ausbreitet. Ich denke nicht, dass die Möglichkeit besteht, dass es bei der Ukraine bleiben wird. Es wird davon abhängen, wie weit er sich ausbreiten wird, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird. Das ist noch völlig unklar.

    Es wird davon abhängen, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird

    Klar ist jedoch, dass sich für die Ukraine jetzt viele Probleme lösen, die sie vorher gespalten hatten. Ich bin kein Experte für die Ukraine, aber ich schätze, dass sich das Ost-West-Problem für immer erledigt hat. Klar ist auch, dass Selensky jetzt auftritt, wie ein Präsident in Kriegszeiten auftreten muss, er hat unglaubliches rhetorisches Talent. Er ist zu einem der führenden Politiker unserer Zeit geworden. Ein Mann, über den man noch viele Filme drehen wird. Und jetzt ist er natürlich in der Lage, eine Menge für den Wiederaufbau der Ukraine tun zu können, sobald der Krieg vorbei ist. Aber dieser Moment muss erst noch kommen. Bis zu diesem Moment müssen sie noch ausharren, durchhalten, und dann wird sich zeigen, wie das aussehen wird.

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  • „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    Vergleiche zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland sind schon seit über zwei Jahrzehnten fester Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem System Putin. 

    Nach den jeweiligen Niederlagen im Ersten Weltkrieg respektive dem Kalten Krieg kam es in beiden Ländern zu einem Systemzusammenbruch und zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen über kollektive Identitätskrisen, Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Sie warfen ihren Landsleuten Verrat und Kollaboration mit dem Feind vor, diskreditierten Andersdenkende, sprachen anderen Völkern das Daseinsrecht ab. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Anschließend gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. Schließlich haben beide Länder einen Krieg entfacht. Die Massen – so heißt es in dem vorerst letzten Kapitel der Weimar-Vergleiche – jubelten und standen geeint hinter dem Führer respektive Leader.

    Mehr als 80 Prozent der Menschen in Russland befürworten derzeit laut Umfrageergebnissen des Lewada-Zentrums den Krieg in der Ukraine. Denis Wolkow, Direktor dieses unabhängigen Umfrageinstituts, argumentierte kürzlich auf Riddle, dass es derzeit kaum Anhaltspunkte dafür gebe, an dieser Zahl zu zweifeln.

    Der Soziologe Grigori Judin war demgegenüber schon immer skeptisch, ob Meinungsumfragen in autoritären Regimen ein Abbild öffentlicher Meinung liefern können. In einem Interview mit der Journalistin Katerina Gordejewa in ihrem Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) bringt er seine Argumente vor – und erklärt, welche Parallelen er zum Zwischenkriegs- und Hitlerdeutschland sieht.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.


    Katerina Gordejewa: Betrachten wir mal die 60 bis 70 Prozent, die – je nach Umfrage – den Krieg gutheißen. Ich weiß, du magst es nicht, wenn man sich auf Umfragen bezieht, aber ich muss die Frage stellen, weil diese Zahlen derzeit überall kursieren. Auch die Propaganda stützt sich darauf. Begreifen diese 60 bis 70 Prozent die Konsequenzen nicht? Verstehen sie die Frage nicht, die man ihnen stellt? Oder was genau unterstützen sie?

    Grigori Judin: Ich rate immer dringend dazu, vorsichtig mit Umfragen zu sein – generell, aber in Russland doppelt, und unter den heutigen Umständen gleich zehnfach. In Russland ist die Beteiligung sowieso immer niedrig. Außerdem gehen die Menschen, die an den Umfragen teilnehmen, meist davon aus, dass sie direkt mit dem Staat sprechen. Und durch die gegenwärtigen Kriegshandlungen ist die Vorsicht natürlich nochmal um ein Vielfaches gestiegen, das belegen alle unabhängigen Studien, die gerade durchgeführt werden: Die Menschen antworten weniger bereitwillig, erzählen von Ängsten oder fragen sogar direkt: „Werde ich verhaftet?“ Wir haben verschiedene Instrumente, die Stimmung der Umfrageteilnehmer zu untersuchen, dadurch sehen wir, dass die Menschen, die eher verschlossen, introvertiert sind, andere Antworten geben. Umfragen belegen im Prinzip immer das, was die russische Regierung belegt haben möchte. Heute erst recht.

    Mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten

    Ich denke, dass die Zahlen am Anfang noch eine gewisse Aussagekraft hatten, aber mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten. Das liegt natürlich nicht in unserer Macht. Und es könnte alles noch schlimmer machen, aber ich würde diese Umfragen keinesfalls ernstnehmen. 

    Wenn ich in Deutschland gefragt werde: „Wie kommt es zu diesen 71 Prozent?“, erwidere ich: „Wie viel Prozent hattet ihr denn 1939, als die Spezialoperation gegen Polen begann?“ Ich sehe da keinen krassen Unterschied. Man sollte den Menschen keine idiotischen Fragen stellen und die Antworten nicht überbewerten. Aber abgesehen von allem, was ich jetzt gesagt habe, denke ich trotzdem, dass es wohl daran liegt, dass ein überragender Teil unserer Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben möchte.

    Nach dem Motto: Soll da doch ein Krieg toben, oder eine Flutkatastrophe alles überschwemmen … 

    Ja, in dem Sinne: Ich kann sowieso nichts ausrichten. Was soll ich schon machen? Mich geht das doch nichts an. In Russland kursiert gerade etwas, das ich die „Zwei-bis-drei-Monats-Theorie“ nenne. Überall hört man: Noch zwei, drei Monate, dann renkt sich alles wieder ein. Keine Ahnung, woher dieser Schwachsinn kommt, aber es ist ein Versuch, sich an die eigene Realität zu klammern. Eigentlich ist es ein Versuch, weiterhin alles zu leugnen. So funktioniert die russische Propaganda. 

    Die Propaganda erklärt dir, warum du nichts tun sollst

    Mich würde interessieren, warum die Propaganda die Menschen nicht davon überzeugen konnte, dass es Covid gibt, aber sie so leicht davon überzeugen kann, dass es in der Ukraine Faschismus gibt?

    Aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe von Propaganda ist es nicht, dich von etwas zu überzeugen oder dir einen bestimmten Standpunkt aufzudrängen, sondern dir einen Grund zu geben, nichts zu tun. Sie erklärt dir, warum du nichts tun sollst. Als erklärt wurde, dass es Covid gibt und dass man etwas unternehmen muss, da war sie machtlos, weil der Mensch nichts tun will. Jetzt wird erklärt, warum das alles eine kurze Operation ist, dass sie erfolgreich enden wird, dass es eine unmittelbare Bedrohung für Russland gibt, und dass das alles überhaupt keine echten Ukrainer betrifft. Kurzum: Alles ist gut. Alles ist gut, alles ist bald vorbei, die politische Führung hat alles im Griff. Das genügt den Leuten, um ihr normales Leben ruhig weiterzuleben. 

    Der Vorteil bei den Belarussen ist, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts

    Ich denke, das Problem im heutigen Russland ist nicht, dass die Russen massenhaft diese bestialische Aggression gegen die Ukraine gutheißen würden. Das gibt es so nicht. Es gibt einzelne militarisierte Gruppen, aber das ist etwas anderes. Das Problem liegt darin, dass die Menschen versuchen so zu tun, als würde sie das alles nichts angehen, als könnten sie einfach ihr Privatleben weiterleben, an das sie sich gewöhnt haben und das sie sich mit großer Mühe aufgebaut haben. Das dürfen wir nicht vergessen: Viele Russen machen gerade eine sehr schwere Erfahrung. Das Leben, das sie jetzt führen, haben sie sich wirklich lange, mit großem Aufwand und hohen Investitionen aufgebaut. Sie haben viele Jahre alles hineingesteckt, deswegen klammern sie sich jetzt so an diese Welt. 

    Im Großen und Ganzen ist das sogar nachvollziehbar, doch wenn man das konsequent betreibt, läuft man Gefahr, zum Instrument für alles Mögliche zu werden. Das scheint mir das Hauptproblem im gegenwärtigen Russland. Besonders deutlich wird das im Vergleich zu Belarus, denn dieser grauenhafte Krieg, in dem wir uns befinden, ist ein Krieg, in den nicht nur Russland und die Ukraine unmittelbar involviert sind, sondern natürlich auch Belarus. Aber der Vorteil bei den Belarussen ist, wenn man das so sagen kann, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts. 

    Woran liegt das? Daran, dass deren Leben schwerer und ärmer war?

    Ich denke, es liegt unter anderem einfach daran, dass es dort 2020 ein Moment der Solidarität gab, über das sehr viel gesprochen wurde, auch wenn es zu keinem entsprechenden politischen Resultat geführt hat. Aber es hat den Belarussen etwas Größeres gegeben. Deswegen verschließen sie in der gegenwärtigen Situation nicht die Augen, ziehen sich nicht in den Käfig des Privaten zurück. Ihnen ist zwar klar, dass sie wenig ausrichten können, aber sie tun nicht so, als seien sie nur Instrument und als ginge sie das alles nichts an. Das stellt, so scheint mir, einen sehr wichtigen Kontrast dar. 

    Russland wird aufs Schrecklichste verlieren

    Das war der erste Teil. Der zweite hängt, wie mir scheint, damit zusammen, richtig zu verstehen, was da gerade passiert. Es ist selbstverständlich kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Allein die Idee ist vollkommen absurd und irrsinnig. 

    Allein schon deswegen, weil Russland aufs Schrecklichste verlieren wird. Unendlich verlieren wird. Es wird in jedem Fall eine katastrophale Niederlage. Es ist kein positives Szenario denkbar. 

    Kannst du das genauer erklären?

    In jeder nur denkbaren Hinsicht wird das für Russland eine Katastrophe. Es tut weh, das zu sagen, aber Russland zerstreitet sich auf diese Art für immer mit den zwei Völkern, die ihm kulturell am nächsten stehen – mit den Ukrainern und den Belarussen. Russland verliert absolut alle engen Verbündeten und Freunde. Mit wem sollen wir denn noch befreundet sein? Wer auf diesem Planeten kommt denn noch infrage? Wir jagen uns in eine völlig sinnlose, ewige Einsamkeit, in die wir eigentlich überhaupt nicht hineingeraten wollen. Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals.

    Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals

    Was macht denn Russland in den letzten zwanzig Jahren? Es rennt der ganzen Welt hinterher und ruft: „Wir brauchen euch nicht! Wir kommen auch alleine klar!“ Das ist ein neurotisches Verhalten, das uns jetzt geradewegs in die Katastrophe führt. Ich glaube, eine Katastrophe wie diese hat es in Russland noch nie gegeben.

    Gehörst du zu den Leuten, die jetzt die Seiten der Geschichte übereinanderlegen und lauter Parallelen zum Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in Russland sehen?

    Oj, ich sehe sehr viele Parallelen, aber nicht zur russischen Geschichte, sondern zu der deutschen.

    Ach ja?

    Ja. Wir befinden uns in einer Situation, die in vielerlei Hinsicht an die 1920er und 1930er Jahre in Deutschland erinnert. Es gibt im Wesentlichen zwei historische Folien: das Regime von Napoleon III. in Frankreich 1848 bis 1870 und das, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geschah. In beiden Fällen sehen wir eine abrupte Einführung eines Wahlrechts, bei dem den Massen schließlich nur die Option bleibt, einen starken Anführer zu wählen, der faktisch die Befugnisse eines Monarchen besitzt. Sprich eine demokratisch gewählte Monarchie, eine Monarchie mit der Gunst der Massen. Genauso nannte es Napoleon III. Er wurde zum Präsidenten über das ganze Volk gewählt, zum ersten französischen Präsidenten: Ich bin ein Imperator, der regelmäßig Volksabstimmungen durchführt. Und was bekomme ich dafür? Ich bekomme die Garantie, dass … 

    … alle dich lieben.

    Ja, das Volk steht hinter mir, und was mache ich damit? Ich zeige es den Eliten, ich zeige es der Bürokratie, ich zeige es dem Volk, erzähle ihm, wer die wahre Macht hat. Er erhebt sich über das ganze System.

    In Russland sitzt der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief

    Die zweite wichtige Sache ist die historische Niederlage. Daraus resultieren Ressentiment, Revanchismus, Kränkung und Zorn. So war es in Frankreich, die Leute erinnerten sich durchaus an die Napoleonischen Kriege, und sie haben wieder einen Napoleon gewählt. Die Leute wollten einen neuen Napoleon, auch wenn es nicht derselbe [Napoleon Bonapartedek] war. Das gab es natürlich auch in Deutschland mit der verbreiteten Dolchstoßlegende und der [dieser zufolge von inneren Feinden verschuldeten – dek] Niederlage im Ersten Weltkrieg. Und jetzt beobachten wir das in Russland, wo der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief sitzt, wie sich jetzt zeigt. All diese Regime hatten irgendwann ein Wirtschaftsmodell für sich gefunden, das relativ erfolgreich war.

    Du meinst, dass Russland … also die UdSSR den Kalten Krieg verloren hat?

    Ich meine das nicht nur, es wäre doch auch merkwürdig nicht zu bemerken, dass dieser Rahmen irgendwann aufgedrängt wurde. Sagen wir, das Ende des Kalten Krieges hatte ein erzieherisches Element. Es gab eine Doktrin der Modernisierung, die implizierte, dass es den einen richtigen Entwicklungsweg gibt und die Länder, die von ihm abgewichen sind, auf die Schulbank müssen, damit ihnen die Lehrer aus dem Westen erklären, wie man es machen muss. Sie wurden also belehrt. Und zwar mit ganz aufrichtigen Absichten, weil man wollte, dass sie es endlich lernen, ihren Kinderschuhen entwachsen und das Gleiche aufbauen wie alle, weil es in Wirklichkeit nur einen richtigen Weg gibt. So etwas führt in jedem Land dazu, dass man sich wie ein Minderjähriger behandelt fühlt. Und erst recht in so einem riesigen, mächtigen Land wie Russland. Das erzeugt gleich ein Gefühl der Erniedrigung.

    Was Putin dann gemacht hat, ist dieses Gefühl endlos weiter anzufachen. Es war nicht ganz unbegründet, dieses Gefühl, aber jetzt ist es eine Emotion, die ganz Russland einfach verbrennt.

    Putin hat das Gefühl der Erniedrigung endlos weiter angefacht

    In dieser Hinsicht gibt es natürlich viele Parallelen zu Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Und die plebiszitären Regime, die dort jeweils entstanden, machten jedes Mal das Gleiche: Sie zerstören die Innenpolitik. Das heißt, sie schließen schon die Idee einer Opposition aus. Die Opposition als eine Größe, die im selben Land existiert, aufrichtig das Beste für dieses Land will und sich dabei radikal von den eigenen Überzeugungen unterscheidet. Diese Idee ist ihnen grundsätzlich fern, weil das in ihren Augen die Einheit zerstört. Es kann einfach keine Opposition geben.

    Weil es keine Opposition geben kann, wird jede politische Feindschaft externalisiert, das heißt, sie wird schlichtweg zur Konfrontation von außen erklärt. Es kann keine Opposition geben, also gibt es nur Verräter und innere Feinde. Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form.

    Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form

    All diese Regime nahmen das gleiche Ende. Sie überschätzten massiv die Bedrohung von außen. Sie bildeten sich eine Gefahr ein, wo im Grunde keine war. Sie verloren die Fähigkeit, mit anderen Staaten Bündnisse einzugehen. Und sie alle arbeiteten eifrig daran, eine mächtige militärische und wirtschaftliche Allianz gegen sich zu erschaffen. Mit enormem Tempo brachten sie Länder um Länder gegen sich auf, einten Staaten mit eigentlich ganz unterschiedlichen Interessen. Und dann fuhren sie gegen eine Betonmauer, indem sie sich in desaströse Militärkampagnen mit immensen Opfern stürzten.  


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  • Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Vor über einem Monat startete Russland den Angriffskrieg in der Ukraine. Die ganze Welt verfolgt heute quasi in Echtzeit die Kämpfe um Mariupol und Charkiw, sieht die Morde an der Zivilbevölkerung in Butscha. Und in Russland? Wie nehmen dort die Menschen die Ereignisse wahr – gerade auch angesichts der massiven Propaganda und Zensur? Wie wirkt sich all das auf die Umfragewerte aus?

    Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Umfrageinstituts Lewada-Zentrum, analysiert auf Riddle aktuelle Umfrageergebnisse, wonach mehr als 80 Prozent den Krieg in der Ukraine befürworten.



    Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Befragten den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine unterstützt. Dabei ist die Mehrheit – 53 Prozent – „eindeutig dafür“, während 28 Prozent angeben, „eher dafür“ zu sein. Rund 14 Prozent der Russen sind dagegen, weitere sechs Prozent wussten es nicht.

    Die Unterstützung ist groß, aber nicht homogen

    Etwa die Hälfte der Bevölkerung lässt sich zur Gruppe der eindeutigen Befürworter zählen – sie zweifeln nicht an der Richtigkeit des Geschehens, weisen Kritik an der russischen Führung sowie den Streitkräften zurück, und die Ereignisse erfüllen sie mit Stolz auf ihr Land. In dieser Gruppe ist die Haltung besonders entschlossen, die Befragten sind am ehesten bereit, das Ganze als einen „Kampf gegen Nationalisten“ zu sehen, als „notgedrungene Maßnahme“, „Präventivschlag“ und „Verteidigung gegen die NATO“. Sie stellen die Berichterstattung der staatlichen Medien praktisch nicht infrage, glauben bereitwillig den Erklärungen von Wladimir Putin, der in dieser Gruppe die größte Unterstützung hat. Die Befragten dieser Kategorie betonen, das Geschehen sei nichts anderes als eine „Spezialoperation“, weil „wir nichts erobern, sondern [die Ukraine – dek] von Nazis und Faschisten befreien“, weil dort sonst „alles dem Erdboden gleichgemacht und niemand überleben würde“ oder „weil Wladimir Wladimirowitsch das so sagt. Und ich glaube ihm.“

    Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen

    Unter den Befragten, die das Vorgehen des russischen Militärs „eher befürworten“, ist die Unterstützung weniger eindeutig, es gibt gewisse Vorbehalte: Im Vergleich zur ersten Gruppe werden hier doppelt so häufig Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen angesichts der Ereignisse genannt, das Gefühl von Stolz ist deutlich geringer ausgeprägt. Für diese Gruppe ist die „Spezialoperation“ in erster Linie durch den Wunsch motiviert, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Sie verfolgen die Ereignisse nur halb so oft, die Unterstützung für die Regierung ist hier, genau wie das Interesse an Politik insgesamt, geringer. In dieser Kategorie sind Aussagen wie diese typisch: „Ich würde das gerne nicht unterstützen, aber es muss sein, es gibt keinen anderen Ausweg mehr … Acht Jahre lang haben sie Luhansk und Donezk bombardiert … Mir wäre lieber, es gäbe keinen Krieg und die, die das Sagen haben, würden das Problem friedlich lösen … Aber es funktioniert nicht“, kommentierte eine Teilnehmerin bei der Umfrage im März ihre Antwort.

    Wie auch bei Wahlforschungen lässt sich auch hier ein großer Teil der Befragten zum sogenannten „Sumpf“ zählen: Typischerweise vertreten sie weniger eindeutige Ansichten und tendieren dazu, sich der vorherrschenden öffentlichen Meinung anzuschließen und der offiziellen Linie. Ein Teil tut das nach dem Motto: „Nicht, dass noch was passiert.“ Aber zu sagen, dass sie alle „in Wirklichkeit“ anders denken, eigentlich in der Opposition sind und nur Angst haben zu antworten, wäre falsch. Sie sind immer noch dafür, wenn auch mit Einschränkungen.

    Eine Generationenfrage?

    Unter den Gegnern der „Spezialoperation“ sind überproportional viele junge Menschen (obwohl es nicht nur die junge Generation ist), Menschen, die in Moskau und in anderen Metropolen leben, und solche, die sich über das Internet und Telegram-Kanäle informieren. In dieser Gruppe finden sich deutlich weniger ältere Menschen, Fernsehzuschauer und Putin-Anhänger. Das ist der Teil der russischen Bevölkerung, der weniger abhängig ist vom Staat, eine kritischere Einstellung gegenüber der russischen Regierung vertritt, gegen die Verfassungsänderungen 2020 gestimmt hat, die Opposition unterstützt und 2021 auf die Straße gegangen ist. Diese Menschen sind besser in die globale Welt integriert, sie haben Europa bereist und sind dem Westen gegenüber positiver eingestellt. Man kann also sagen, dass in der Haltung zur sogenannten „Spezialoperation“ im Grunde dieselben Widersprüche hervorgetreten sind, die in der russischen Gesellschaft schon lange bemerkbar sind.

    Für diejenigen, die nicht einverstanden sind mit den Ereignissen, kommt die Situation in der Ukraine einer Katastrophe gleich: Sie sprechen davon, dass man die menschlichen Opfer, den Tod von Zivilisten und die Zerstörung nicht hinnehmen dürfe; sie verurteilen die Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates. Vor allem junge Respondenten sprechen sich häufig grundsätzlich gegen jedes militärische Vorgehen aus. Den Konflikt mit der Ukraine und dem Westen empfinden sie als Zerstörung von Zukunftsperspektiven, persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Entwicklung des Landes als Ganzem, als Abgeschnittenwerden von der globalen Welt. Es ist kein Zufall, dass unter den Emigranten der neuen Welle so viele junge, politisch aktive, englischsprachige Russen sind, deren Arbeit nicht an den Staat gebunden war.

    Meinungsstabilität

    Die verfügbaren Daten zeigen im Verlauf, dass die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ anfangs geringer war: Sie lag etwa bei zwei Drittel (zwischen 65 und 68 Prozent). Bis zu einem Viertel der Befragten gab an, dagegen zu sein. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Haltungen in ihren Grundzügen bereits Mitte Februar, also noch vor dem Beginn des bewaffneten Konflikts, feststanden. Damals waren drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die USA und die Ukraine für die Eskalation verantwortlich seien, nur ein Drittel äußerte Sympathien für die Ukraine. Die Unterstützung für Wladimir Putin lag laut Umfragen Mitte Februar bei 71 Prozent (Ende März waren es schon 83 Prozent). 

    Diese Zahlen spiegeln das Verhältnis der zwei Lager wider, die sich in den Umfragen von Anfang März gezeigt haben: Zwei Drittel waren bereits einverstanden mit der offiziellen Interpretation der Ereignisse und unterstützten die „Spezialoperation“, rund ein Viertel war dagegen. Die Veränderungen in der öffentlichen Meinung innerhalb des letzten Monats sind sichtbar, aber nicht gravierend.

    Russland vom Westen umzingelt

    Zumindest teilweise erklärt sich diese Meinungsstabilität damit, dass sich die Nachrichten zu den Ereignissen in der Ukraine in ein längst feststehendes Weltbild der Befragten einfügen. Diese Vorstellungen hatten sich über Jahre durch politische Präferenzen, Alltagserfahrungen und die jeweils konsumierten Informationskanäle geformt. So besteht für einen Großteil der Befragten, vor allem innerhalb der älteren Generation, kein Zweifel daran, dass der Westen unter der Führung der USA schon lange versucht, Russland zu schwächen und mit Militärstützpunkten zu umzingeln. Durch das Prisma der russisch-amerikanischen Feindschaft wurden sowohl der Georgienkrieg 2008 als auch der Ukraine-Konflikt 2014, die Militäroperation in Syrien und jetzt die „Spezialoperation“ betrachtet. Junge Menschen und Großstädter, die das Internet nutzen, vertreten solche Ansichten weitaus seltener.

    Nachrichten aus der Ukraine, die sich in das bestehende Weltbild einfügen, werden bereitwillig akzeptiert. Alles, was dem widerspricht – egal, wie schrecklich die Nachrichten sein mögen –, wird kategorisch als Lüge und feindliche Propaganda abgetan. In dem Maße, wie sich der internationale Konflikt verschärft, spitzt sich die Logik von „Freund oder Feind“ in Bezug auf die russischen und die ausländischen Medien zu. 

    Propaganda und Zensur 

    Bezeichnend sind hier Aussagen von Teilnehmern der Fokusgruppen, die die Kampfhandlungen unterstützen: „Wenn man sich die ausländischen Fernsehsender so anschaut – an Stelle des Durchschnittsamerikaners würde ich auch sagen: Was macht Russland da? Ich meine, es gibt so viel Desinformation!“ „Gut, dass sie Echo Moskwy zugemacht haben … Diesen Dreck kann man sich ja nicht anhören … Das ist ja echt  eine Zombiekiste.“ 

    Vor dem Hintergrund der „Spezialoperation“ wächst das Vertrauen in die staatlichen Fernsehkanäle, weil „man jetzt wirklich offizielle Informationen braucht“. 2014 war die Situation ganz ähnlich. Unter solchen Bedingungen sind die Meinungen zu den Ereignissen sehr beständig und können sich  wohl kaum schnell ändern. Wenn unabhängige Medien gesperrt und Kritik an den russischen Streitkräften unter Strafe gestellt wird, verändert das nicht so sehr die öffentliche Meinung, sondern zementiert die bereits bestehende (schließlich benutzt ein Viertel der russischen Bevölkerung bereits VPN).

    Krim-Effekt 2.0

    Im März konsolidierte sich die öffentliche Meinung: Die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ nahm zu, während die Zahl ihrer Kritiker abnahm. Schon zu Jahresbeginn hatten wir erwartet, dass eine Militäraktion zu steigenden Zustimmungswerten für die Staatsorgane führen würde. Die Unterstützung für den Präsidenten, die Regierung, die Duma und die Regierungspartei wuchs (die Umfragewerte der anderen Parteien zeigten keine wesentliche Veränderung). All das ähnelt der Situation von 2014. Rasch wuchsen nach der Krim die Zustimmung für die Staatselite und das Vertrauen in den nächsten Tag sowie das Vertrauen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln würden.

    Rally-’round-the-Flag-Effekt

    Psychologen erklären, dass in bedrohlichen Situationen von außen, unter Sanktionen und steigendem internationalen Druck Schutzmechanismen aktiviert werden: Das Vertrauen in die Politik steigt, das soziale System wird gerechtfertigt – der sogenannte Rally-’round-the-Flag-Effekt tritt ein, moralische Verantwortung wird abgelehnt, und zwar mithilfe von Enthumanisierung („die Herrscher der anderen Länder sind durchgedreht“), Schuldzuweisung („sie sind selbst schuld“) und Abwälzen der Verantwortung („was können wir denn dafür, wir treffen doch nicht die Entscheidungen“). Unsere Umfragen zeigen, dass die Vorstellung, man könne „sowieso nichts ändern“, sowohl unter den Befürwortern als auch unter den Gegnern des Militäreinsatzes verbreitet ist. Dieses Gefühl erlaubt, das Geschehen nicht an sich heranzulassen, sich an die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, sich noch weiter ins Privatleben zurückzuziehen und von den Nachrichten über zivile Opfer und die Zerstörung ukrainischer Städte abzuschirmen.

    Die Zustimmungswerte waren vor dem Hintergrund der eskalierenden internationalen Spannungen bereits seit Ende letzten Jahres angestiegen. So lag die Zustimmung für den Präsidenten im November noch bei 63 Prozent, Mitte Februar bei 71 Prozent und im März bereits bei 83 Prozent. Dabei ist die Unterstützung des Regimes praktisch deckungsgleich mit der Unterstützung der „Spezialoperation“. Rund 90 Prozent von Wladimir Putins Anhängern befürworten auch die „Spezialoperation“, unter den Kritikern des Präsidenten sind es nur ein Drittel.

    „Jetzt müssen wir dahinterstehen“

    Die Unterstützung für den Präsidenten ist wiederum, genau wie die Unterstützung der „Spezialoperation“, nicht homogen. So geben rund 45 Prozent an, „absolut einverstanden“ mit dem Vorgehen des Präsidenten zu sein – das sind doppelt so viele wie noch im Januar. Ein fast genauso großer Teil (38 Prozent) ist „eher einverstanden“, wobei die Unterstützung weniger entschlossen ist. Aber der internationale Konflikt zwingt die Menschen dazu, Partei zu ergreifen. Oft hört man Aussagen wie: „Jetzt müssen wir dahinterstehen, in Kriegszeiten darf man nicht dagegen sein!“; „Ich bin nicht mit allem einverstanden … Meine Rente ist klein, unsere Lebensbedingungen sind … Viele Vergünstigungen kommen bei uns nicht an … Aber Putins Politik ist richtig, gegen Russland werden überall Intrigen geschmiedet“; „Im Nachhinein denke ich, dass man die Führung zu Unrecht mit Dreck übergossen hat. Sie haben schließlich ihre Arbeit gemacht. Peskow, Rogosin, Schoigu – alle hat man in den Schmutz gezogen, ständig haben sie ihre Datschen und Häuser gefilmt“ und so weiter. Genau wie vor acht Jahren führen der internationale Konflikt, der zunehmende Druck und die Sanktionen des Westens dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich um die Führung des Landes konsolidiert. Auch wenn es natürlich solche gibt, die ihre Unterstützung deklarieren, um auf Nummer sicher zu gehen.


    Die Euphorie von 2014 bleibt aus

    Aber es gibt auch Unterschiede zu 2014. Die wachsende Zustimmung wird nicht von Euphorie begleitet. So wurde die russische Gesellschaft angesichts der Krim von einer ganzen Reihe positiver Gefühle erfasst: Stolz, Freude und das Gefühl, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte. Lediglich drei Prozent sprachen von Besorgnis und Angst. Heute sind die Gefühle deutlich gemischter: Im März überwog unter den Befragten zwar der „Stolz auf das Land“, besonders in der Gruppe der absoluten Befürworter, rund ein Drittel der Befragten äußerte aber auch „Angst und Sorge“, und zwar nicht nur unter den Gegnern (wenn auch dort in höherem Ausmaß). Begeisterung und Freude angesichts der Ereignisse in der Ukraine empfinden nur marginale Gruppen. Aber auf das Ausmaß der Unterstützung insgesamt wirken sich diese Stimmungen nicht aus.

    Kann man diesen Zahlen trauen?

    Die hohen Zustimmungswerte für die sogenannte „Spezialoperation“ und die russische Regierung sorgten bereits für Streit, inwiefern man diesen Zahlen überhaupt glauben kann. Kritiker der Umfragen sprechen davon, dass die Angst und der Unwille zur Teilnahme an Umfragen unter dem Druck auf Andersdenkende, durch die Androhungen von Strafen für die Diskreditierung der Streitkräfte und andere repressive Maßnahmen innerhalb der letzten Wochen stark zugenommen hätten. Unsere Erhebungen konnten das bisher nicht belegen.

    Ein wichtiger Faktor für die Qualität von Meinungsumfragen ist die Erreichbarkeit bzw. der Anteil der erfolgreich durchgeführten Interviews. Um diesen Faktor zu bestimmen, greifen wir in unseren Umfragen auf die Methode der American Association for Public Opinion Research (AAPOR) zurück. Unseren Erhebungen zufolge hat sich dieser Faktor in den letzten Monaten weder bei Haustür- noch Telefonumfragen verändert. Die Situation der Feldforschung ist zum Teil angespannt, vereinzelt kommt es sogar zu Konflikten zwischen Befragten und Interviewern (vor allem, wenn sie unterschiedliche Positionen vertreten), aber die Arbeit geht weiter.

    Unsere Erfahrung zeigt, dass es schwer ist, an die ganz junge Generation heranzutreten, bei Telefonumfragen gibt es da eine zusätzliche Quote. Aber auch das ist kein neues Phänomen, und mithilfe einer Auswertung der Umfrageergebnisse nach Geschlecht, Alter und Bildungshintergrund lässt sich die Unterrepräsentation der Meinung von Jugendlichen ausgleichen. Von einem plötzlichen Anstieg der Angst unter den Befragten kann man zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht sprechen. Man muss die Situation weiterhin genau beobachten.

    Umfragen spiegeln nur das Bild wieder, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind

    Interessant sind die Versuche, die Aufrichtigkeit der Befragten mithilfe von Umfrageexperimenten zu messen. Aber mit der Interpretation der Ergebnisse muss man vorsichtig sein, es braucht weitere Untersuchungen. Auf den ersten Blick decken sich die Zahlen, die man mithilfe solcher Versuchsanordnungen erhält, mit denen der uneingeschränkten Unterstützung der Kampfhandlungen. Aber das bedeutet nicht, dass die „Unterstützung mit Einschränkungen“ auf Falschaussagen der Befragten beruht. Wie weiter oben geschildert, gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die die Menschen dazu bringen, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Alles auf die Angst zu schieben, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Abgesehen davon sollte man in Umfragen nicht die Antwort darauf suchen, was die Menschen „wirklich denken“. Meinungsumfragen erfassen nur das, was die Befragten bereit sind, dem Interviewer mitzuteilen – das heißt, sie spiegeln nur das Bild wider, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind.   

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  • RIA Nowosti: Programm zur „Entukrainisierung“?

    RIA Nowosti: Programm zur „Entukrainisierung“?

    Für den russischen Propagandisten Timofej Sergejzew ist das Problem klar: Die Ukrainer seien größtenteils „passive Nazis“. Lösung: Umerziehung, Repressionen und Zensur. Das ist, zusammengefasst, laut Sergejzew, Was Russland mit der Ukraine tun muss. Sein gleichnamiger Artikel, der am 3. April auf RIA Nowosti erschien – zeitgleich mit Bekanntwerden der Gräueltaten an Zivilisten in Butscha –, sorgt international für viel Aufsehen. 

    Für Manche ist es das Manifest des (missionarischen) Putinismus, andere sehen darin den ideologischen Leitfaden für den russischen Krieg gegen die Ukraine. Nicht zuletzt wird er auch als ein Programm für den Genozid an Ukrainern gelesen, zur „Endlösung der Ukrainerfrage“. Laut dem Leserzähler von RIA hatten den Text bis Mitte April schon fast anderthalb Millionen Menschen angeklickt (in der Zwischenzeit wurde der Zähler genullt).

    Wer aber ist Timofej Sergejzew? Wie wichtig ist er für das System Putin? Spricht er gar im Namen des Kreml? Wie wurde sein Text in Russland selbst rezipiert? Und in welchem Zusammenhang steht er zu den russischen Verbrechen in der Ukraine?

    dekoder bringt kontextualisierte Ausschnitte aus dem Text und Kommentare aus der Debatte russischer Liberaler in den sozialen Netzwerken.

    Das Veröffentlichungsdatum: In welchem Zusammenhang steht der Artikel zum Massaker in Butscha? 

    [bilingbox]Bereits im April letzten Jahres schrieben wir über die Unausweichlichkeit einer Entnazifizierung der Ukraine. Wir brauchen keine nazistische Bandera-Ukraine als Feind Russlands und Instrument des Westens, um Russland zu vernichten. Jetzt hat die Frage der Entnazifizierung eine praktische Dimension angenommen.
    Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein wesentlicher Teil der Bevölkerung – wahrscheinlich die Mehrheit – unter dem Einfluss des Nazi-Regimes steht und in seine Politik hineingezogen wird. Das heißt, wenn die Hypothese „das Volk ist gut – die Regierung böse“ nicht mehr greift. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik und all ihrer Maßnahmen, ihr Gegenstand ist die Tatsache selbst. ~~~Еще в апреле прошлого года мы писали о неизбежности денацификации Украины. Нацистская, бандеровская Украина, враг России и инструмент Запада по уничтожению России нам не нужна. Сегодня вопрос денацификации перешел в практическую плоскость.
    Денацификация необходима, когда значительная часть народа — вероятнее всего, его большинство — освоено и втянуто нацистским режимом в свою политику. То есть тогда, когда не работает гипотеза "народ хороший — власть плохая". Признание этого факта — основа политики денацификации, всех ее мероприятий, а сам факт и составляет ее предмет.[/bilingbox]

    So beginnt Sergejzews Artikel Was Russland mit der Ukraine tun muss, der nur wenige Tage nach der Aufdeckung der russischen Verbrechen in Butscha auf der Seite der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti erschienen ist. In welchem Zusammenhang steht der Artikel zum Massaker? Schiebt der Autor eine Roadmap hinterher oder liefert er eine Ideologie, um das Verbrechen zu rechtfertigen? Die offizielle Haltung des russischen Verteidigungsministeriums zu der Gräueltat von Butscha ist: Das sei alles vom Westen inszeniert, eine weitere „ukrainische Provokation“. 
    Vielleicht war das Vorgehen orchestriert, vielleicht nicht, vielleicht ist der Artikel Baustein der üblichen Desinformationsstrategie, die folgendem Muster entspricht: Es werden so viele (sich teilweise widersprechende) Geschichten zu einem Ereignis geliefert, dass Zweifel entstehen – am Ende erscheint dann nichts als wahr und alles als möglich. 

    Der Autor jedenfalls stellt keinen direkten Zusammenhang zu den Gräueltaten in Butscha her, er erwähnt die Ereignisse nicht. Er spricht vor allem davon, dass die Ukraine eine „totale Lustration“ brauche. Der im Russischen etablierte Begriff bezeichnet eine politische Säuberung belasteter Kader, benutzt wird er vor allem im liberalen Diskurs: historisch im Sinne der Aufarbeitung der sowjetischen Diktatur und aktuell in der Debatte um das Russland nach Putin
    Will Sergejzew den Begriff Lustration umpolen, gar Deutungshoheit darüber erlangen, indem er ihn, einmal auf den Kopf gestellt, in den offiziösen Diskurs einführt? Denn Sergejzew greift im Weiteren (ungewollt?) den liberalen russischen Diskurs auf, in dem es um die Frage geht, ob allein Mitglieder des Systems Putin sanktioniert werden sollen oder auch die gesamte Gesellschaft Russlands – allerdings kehrt er auch diese Debatte um, indem er sie auf die Ukraine anwendet

    [bilingbox]Neben der [ukrainischen – dek] Führungsspitze trägt die Schuld auch der Großteil der Bevölkerungsmasse, die zu passiven Nazis und Komplizen des Nazismus geworden ist. Sie haben das Nazi-Regime unterstützt und gefördert. Eine gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn man die unvermeidlichen Strapazen eines Krieges gegen das Nazi-System auf sich nimmt, der unter größter Vorsicht und Behutsamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird. Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repressionen (Unterdrückung) des nazistischen Gedankenguts und durch strenge Zensur nicht nur in der politischen Sphäre, sondern notwendigerweise auch in Kultur und Erziehung erreicht wird. ~~~Помимо верхушки, виновна и значительная часть народной массы, которая является пассивными нацистами, пособниками нацизма. Они поддерживали нацистскую власть и потакали ей. Справедливое наказание этой части населения возможно только как несение неизбежных тягот справедливой войны против нацистской системы, ведущейся по возможности бережно и осмотрительно в отношении гражданских лиц. Дальнейшая денацификация этой массы населения состоит в перевоспитании, которое достигается идеологическими репрессиями (подавлением) нацистских установок и жесткой цензурой: не только в политической сфере, но обязательно также в сфере культуры и образования.[/bilingbox]


    Was wird gesagt – und wie?

    Die Taktik der Verdrehung und Umpolung ist ein probates Mittel der russischen Außenpolitik: So sei etwa die Angliederung der Krim, wie Außenminister Lawrow schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ausführte, mit der deutschen Wiedervereinigung vergleichbar, bei der, so setzte er hinzu, habe allerdings nicht einmal ein Referendum stattgefunden.  

    Auch Sergejzew bedient sich offenbar dieser Umpolungstaktik. Journalist Andrej Loschak kommentiert:

    [bilingbox]Dieser Text ist die Krönung des Orwellschen Absurden, in das Russland sich tief eingegraben hat.

    Wir haben schon oft gehört, dass „Verbote“ jetzt als „Freiheit“ gelten und „Krieg“ als „Frieden“. Jetzt kommt ein neues Oxymoron dazu: „Entnazifizierung“ ist Nazismus – denn im Grunde schlägt der Autor des Artikels vor, auf den „befreiten“ Gebieten Konzentrationslager zu errichten, in denen die Ukrainer jahrzehntelang gewaltsam russifiziert werden sollen. Vergleichbares machen die Chinesen bereits seit vielen Jahren mit Uiguren und Tibetern. Die gewaltsame Russifizierung heißt im Artikel euphemistisch „Enteuropäisierung“. Die Ukrainer sollen offenbar alle Anzeichen der westlichen Zivilisation ablegen und werden wie die russischen Soldaten: Sie sollen plündern, saufen, stehlen, morden, den Zaren lieben, sich aus der Politik heraushalten, jedem wahnsinnigen Befehl ohne Widerspruch gehorchen und vor allem niemals, unter keinen Umständen, selbständig denken. Und wenn die Ukrainer das in zwanzig Jahren gelernt haben, dann wird man sie feierlich Russen nennen. ~~~Это произведение  – вершина оруэлловского абсурда, в который погрузилась Россия. Мы уже много слышали о том, что запреты – это свобода, а война – это мир, теперь новый оксюморон: денацификация – это нацизм. По сути, автор материала предлагает на "освобожденных" территориях строить концлагеря, где украинцев на протяжении десятилетий будут подвергать процессу насильственной русификации. Что-то похожее китайцы уже много лет делают с уйгурами и тибетцами. Насильственная русификация в статье элегантно названа "деевропеизацией". То есть, украинцам видимо предлагается избавиться от всех признаков западной цивилизации, дойти до такого же скотского состояния как российские солдаты-мародеры, бухать, грабить, убивать, любить царя, не лезть в политику, безропотно подчиняться любым безумным приказам и, главное, никогда и не при каких условиях не думать самостоятельно. Когда через 20 лет украинцы этому научатся, их можно будет торжественно назвать русскими.[/bilingbox]

    Auch der Historiker Andrej Subow sieht in Sergejzews Traktat ein Programm, …

    [bilingbox][…] einen Aufruf zum Genozid am ukrainischen Volk und zur Vernichtung der ukrainischen Kultur. Als Historiker war es meine Pflicht Mein Kampf und die Protokolle der Weisen von Zion zu lesen. Der bei RIA Nowosti am 5. April erschienene Artikel ist böser, verlogener und verbrecherischer als diese beiden. ~~~призыв к геноциду украинского народа и уничтожению украинской культуры. Мне по долгу историка приходилось читать и Майн Кампф и Протоколы сионских мудрецов. Статья, опубликованная в РИА Новости 5 апреля, злобней, лживей и преступней обоих этих одиозных текстов. [/bilingbox]


    Das Medium: Wer liest RIA Nowosti?

    RIA Nowosti ist Teil der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, die als eine wesentliche Säule der russischen Staatspropaganda gilt. Laut Similarweb ist die Website im Traffic-Ranking des Runet die Nummer Eins der Nachrichtenanbieter, monatliche Reichweite – rund 260 Millionen Klicks im März 2022, etwa 85 Prozent davon aus Russland. 

    Laut Umfragen vom April 2022 beziehen 70 Prozent der Menschen ihre Informationen allerdings vorwiegend aus dem Fernsehen, auch bei der Frage nach dem Medienvertrauen rangieren Onlinemedien (für 30 Prozent die primäre Nachrichtenquelle) weit abgeschlagen dahinter. Sicher dürfte sein, dass die Leser von Sergejzews neuestem Text nicht nur aus Russland stammen: Auch im Ausland – in der Ukraine, aber auch in Deutschland und den USA – fand er viel, wenn auch negative, Aufmerksamkeit. 


    Wer spricht? 

    Auf RIA Nowosti sind bislang seit 2014 rund 30 Artikel von Timofej Sergejzew veröffentlicht, keiner davon hatte je nur annähernd so viele Klicks wie der vom 3. April. Die meisten seiner Texte handeln von der Ukraine oder von Russland und seinem Verhältnis zu den (feindlich gesinnten) USA. Solche Texte variieren das Narrativ von der Ukraine als Söldner des Westens, die gemeinsam Russland schaden wollen.

    Tatsächlich ist das Jahr 2014 – das Jahr, in dem Russland die Krim angliederte und der Krieg im Osten der Ukraine begann – ein Schlüsseljahr der russischen Propaganda: In diesem Jahr sind zahlreiche neue Formate von Polit-Talkshows entstanden, bestehende Talkshows bekamen deutlich mehr Sendezeit, der beliebte (Sonntag-)Abend mit Wladimir Solowjow im Staatssender Rossija 1 erscheint seitdem täglich außer samstags. Die Ukraine ist entsprechend häufiges Thema in diesen Polit-Talkshows, die laut Umfragen von 60 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal wöchentlich geguckt werden. 
    Sergejzew ist unterschiedlichen Quellen zufolge Mitglied im Sinojew-Klub der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, aus dem die Polit-Talkshows oftmals ihre Gäste rekrutieren – und dürfte der russischen Öffentlichkeit eher aus dem omnipräsenten Staatsfernsehen bekannt sein.

    So listet Timofej Sergejzew in seiner Biographie zahlreiche Referenzen zur Ukraine: Als Polittechnologe soll er unter anderem 2004 das Wahlkampfteam von Viktor Janukowitsch beraten haben und 1999 im Wahlkampfteam von Leonid Kutschma gewesen sein. Er ist als Drehbuchautor des Films Matsch (2012) genannt. Der Spielfilm spielt im von der Wehrmacht okkupierten Kiew von 1942 – seine Ausstrahlung wurde in der Ukraine 2014 wegen einseitiger Darstellung und „russischer Propaganda“ verboten.  

    Außerdem, so suggerieren seine Autorenportraits, entstammt er der sogenannten Methodologen-Schule. Um die Methodologen ranken sich viele Mythen: Für die einen handelt es sich dabei um eine Denkschule, die den politischen Kurs Russlands bestimmt: zu den prominentesten Methodologen wird der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko gezählt, auch der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin und der ehemalige sogenannte Kreml-Chefideologe Wladislaw Surkow sollen dazu gehören. Die anderen halten sie für eine Art intransparente Sekte, über die sich nichts Konkretes sagen lässt, der aber durchaus einiges zugemutet werden könne. 

    Auch über die Philosophie der Methodologen gibt es keine einhellige Meinung: Manche halten sie für Scharlatanerie, andere verkürzen das Denkschema nicht selten auf eine Art Social Engineering. Nicht zuletzt wird den Methodologen auch das Konzept des sogenannten Russki Mir zugeschrieben. 


    Narrative und Tonalitäten: Worin liegt das propagandistische Potential einer „Entnazifierung”?

    In seiner ideologisierten Form wird das Kulturkonzept nicht selten auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt. Es betont die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur, der russischen Orthodoxie und eine gemeinsame ostslawische Identität. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Ideologie auch der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Der Kampf gegen das Nazi-Deutschland lässt sich vor diesem Hintergrund als eine Art Ursprungsmythos der sogenannten russischen Welt lesen. 

    Vielleicht knüpft Sergejzew hier an, wenn er in seinem Artikel knapp 90 Mal den Wortteil -nazi- benutzt, vowiegend im Zusammenhang mit der Formel Entnazifizierung der Ukraine. Da die Ukrainer für ihn eine Kollektivschuld tragen, müsse die Entnazifizierung total sein: In letzter Konsequenz, so schlussfolgert er, werde sie also eine Entukrainisierung sein müssen. Das Präfix Ent-/de- taucht insgesamt über 40 Mal auf, auch in analog oder parallel benutzten Begriffen der Enteuropäisierung und Entkolonialisierung. 

    „Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie. […] Die Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einfluß, wenn sie ständig wiederholt wird, und zwar möglichst mit denselben Ausdrücken.“ In Psychologie der Massen beschrieb der französische Denker Gustave Le Bon 1895 damit die Mittel, „um der Massenseele eine Idee einzuflößen“. Rezipiert wurde Le Bon auch im Nationalsozialismus, insgesamt wurde sein Werk laut einzelnen Historikern nicht selten als ein Leitfaden zur Wirkungssteigerung der Demagogie gelesen. 

    Sergejzews Artikel strotzt nur so vor Wiederholungen und haltlosen Behauptungen. Zentral ist dabei die Formel Nazismus

    Und tatsächlich lässt sich im Laufe des Krieges eine gewisse Begriffserweiterung in der russischen Propaganda feststellen: So sagte eine ihrer wichtigsten Protagonistinnen, die Chefredakteurin des staatlichen Auslandssenders Margarita Simonjan vor kurzem auf NTW: „Wir haben unterschätzt, wie tief der Nazismus die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hat.“ 

    Soziologe Grigori Judin hat schon früh vor einer solchen Ausdehnung des Begriffsinhalts gewarnt. Auf Twitter skizziert er, wie dies nun vor sich geht: 

    [bilingbox]Die anfängliche Sichtweise war, dass Nazis in der Ukraine die Macht ergriffen haben, während die Durchschnittsukrainer einfach Russen sind […]. Das hieß, dass diese Entnazifizierung durch einen Regimewechsel zu bewerkstelligen wäre und die Ukrainer befreit werden müssten. Offensichtlich ist dieses Konzept gescheitert, als die Ukrainer begannen, mutig Widerstand zu leisten. Eine ganz natürliche Schlussfolgerung ist, dass die Ukrainer offenbar schwer vom Nazismus infiziert sind.

    Also heißt Befreiung Säuberung.~~~The narrative mounted by Putin from the first days of war focuses on “de-nazification” of Ukraine. […] This meant “de-nazification” could be completed through regime change & Ukrainians should be liberated. Obviously, this conception failed when Ukrainians started resisting bravely. A natural conclusion from that: Ukrainians turned out to be deeply infected by Nazism.

    Therefore, liberation means purification.[/bilingbox]

    Eine solche Säuberung ist bei Sergejzew ein „gerechter Krieg“. Die orwellsch-anmutenden Umpolungen sind nicht seine Erfindung, sondern fester Bestandteil der langjährigen russischen Propaganda-Praxis. Demagogische Methoden wie wortgewaltige Behauptungen und Wiederholungen kann man auch bei den Propagandisten Wladimir Solowjow und Dimitri Kisseljow finden. Margarita Simonjan wiederum verbreitet die Behauptung, dass der Nazismus die gesamte ukrainische Gesellschaft durchdrungen habe. Was ist dann überhaupt neu an Sergejzews Artikel? Journalist Stanislaw Kutscher kommentiert:

    [bilingbox]Erstens rechtfertigt und legalisiert er in der Theorie jegliche Kriegsverbrechen, indem er 1) jeden zu einem Nazi erklärt, der eine Waffe in die Hand nimmt und 2) den Begriff „passive Nazis“ einführt, denen eine „gerechte Strafe“ gebührt und zu denen ein „Großteil der Volksmasse“ gehört. Wenn ein geschulter Patriot, der einen solchen Text gelesen hat, nicht einfach nur dokumentarische Beweise zu Gesicht bekommen, sondern nach Butscha geführt und dort mit der Nase auf die sterblichen Überreste friedlicher Bürger gestoßen würde, dann nennt er das Geschehene nicht Kriegsverbrechen, sondern gesetzmäßigen Teil des Kampfs mit dem passiven Nazismus.

    Zweitens kann dieser Text, der wie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Entnazifizierung der Ukraine geschrieben ist, ohne Weiteres als Anleitung zur Entnazifizierung einer jeden Gesellschaft gelesen werden, die tatsächlich mit dem Virus des Nazismus infiziert ist und einen Krieg im Namen einer menschenverachtenden Ideologie führt. […] Wer anderen eine Grube gräbt … Noch nie klang dieses Sprichwort passender und verheißungsvoller.~~~Во-первых, он по сути оправдывает и в теории легализует любые военные преступления, поскольку 1) объявляет нацистами всех, взявших в руки оружие и 2) вводит понятие "пассивных нацистов", которые подлежат "справедливому наказанию", и которыми является "значительная часть народной массы". Если "подкованному патриоту", прочитавшему такой текст, не просто показать документальные свидетельства, а вывезти в Бучу и ткнуть лицом в останки мирных жителей, он назовет случившееся не военным преступлением, а закономерной частью борьбы с пассивным нацизмом. Во-вторых, этот текст, написанный как пошаговая инструкция денацификации Украины, легко может быть использован как инструкция по денацификации любого общества, действительно зараженного вирусом нацизма и ведущего войну за человеконенавистническую идеологию. […] Не рой другому яму. Никогда еще эта поговорка не была столь уместной и не звучала столь зловеще.  [/bilingbox]


    Für wen spricht der Autor?

    Sie wirken „emotional unterstützend auf eine bereits vorherrschende Stimmung, die durch (…) Politiker geschaffen wurde und beeinflussen die öffentliche Meinung“ – so beschreibt Magdalena Kaltseis in ihrer Gnose Wesen und Auftrag der russischen Polit-Talkshows. Dies kann auch für einen Propaganda-Text wie den Timofej Sergejzews gelten. Er ist Ausdruck einer zunehmend enthemmten Rhetorik in Propaganda und Politik – die mit der verschärften kriegerischen Aggression, den Massakern in Butscha, Kramatorsk und Mariupol einhergeht. Ob Sergejzew dabei im Auftrag des Kreml spricht, sein Text auf Geheiß von oben entstand oder publiziert wurde, ist unklar und muss es bleiben. In jedem Fall ist er im Geist des Kreml verfasst.

    dekoder-Redaktion

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  • Was können wir denn dafür?

    Was können wir denn dafür?

    Ist das wirklich nur Putins Krieg? Inwiefern tragen auch gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger Russlands eine Mitschuld – solche, die mit der Politik im Land in der Regel gar nichts zu tun haben wollen? Mariupol, Butscha, Kramatorsk: Zeugnisse von Tod und Zerstörung, von immer neuen Gräueltaten in der Ukraine werfen diese Fragen stets aufs Neue auf.

    Anton Dolin fühlt sich derzeit an Ereignisse aus der Zeit der Jahrtausendwende erinnert, als aus dem jungen Premierminister Wladimir Putin plötzlich der neue Präsident des Landes wurde. Nach den wilden 1990er Jahren trat Putin als Garant für Stabilität auf. Der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag lautete: Der Kreml sorgt für wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. In einem vielbeachteten Kommentar auf Facebook schreibt der Journalist und Filmkritiker jedoch: Das Ungeheuerliche gab es bei Putin schon von Anfang an. Die kollektive Schuld, so Dolin, liegt darin, dass es toleriert wurde.

     

    Wo beginnt Putin? 
    Dort, wo er sein Ende gefunden hat. Genauer gesagt dort, wo er heute angekommen ist und uns alle hingeführt hat.

    Ich will vorausschicken: Ja, ich bin Filmkritiker und kein Politikanalyst. Doch es hat sich ergeben, dass ich von 1997 bis 2002 Korrespondent des Informationsdienstes von Echo Moskwy war. Im Pressepool von Putin – damals noch Premierminister und [nach Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 – dek] kommissarischer Präsident – reiste ich mit ihm durchs Land. Arbeitete nach der Explosion des Wohnhauses auf der Kaschirskoje Chaussee in den Trümmern. Berichtete über Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und erhielt sogar von der Zentralen Wahlkommission eine Urkunde für tüchtige Arbeit.  
    Was dann kam, sollte, wie mir scheint, allgemein bekannt sein. Doch aus irgendeinem Grund ist es nicht für alle offensichtlich, selbst jetzt nicht.

    Putins Macht und seine Politik stehen auf vier Fundamenten, die in den ersten beiden Jahren seines Aufstiegs gelegt wurden.

    1. Operation „Nachfolger“

    Wer durch eine „Spezialoperation“ Präsident wurde, wer nicht gewählt, sondern durch eine Verschwörung der Eliten eingesetzt wurde, der kann nicht an demokratische Wahlen glauben. Das und nur das ist der Grund für die Fälschungen und die Verachtung der Wähler seit über 20 Jahren.  

    2. Die Explosionen der Wohnhäuser 1999

    Wie gesagt, ich war dort. Natürlich sind Zeugen und Experten nicht dasselbe. Es fehlt mir an Informationen, um mit Sicherheit den FSB für diese Übeltat (Explosionen von Wohnhäusern in mehreren Städten mit über 300 Toten und etwa 2000 Verletzten) verantwortlich zu machen und nicht die tschetschenisch-arabischen Söldner unter der Führung von Emir Ibn al-Chattab. Doch die Geschichte mit dem Rjasaner Zucker („FSB-Übungen“, bei denen Agenten Säcke mit Hexogen in den Hausflur schleppten) konnte bis heute niemand überzeugend erklären. Naja, und an das Schicksal des Experten in dieser Angelegenheit – Alexander Litwinenko – können sich vermutlich alle erinnern.

    Aber versuchen wir mal uns nicht auf das „Wer ist schuld?” zu konzentrieren, sondern auf das „Wer hat davon profitiert?” Die Terroristen haben nichts gewonnen; es gab von ihnen keine Androhungen, sie haben keine Verantwortung übernommen und keinerlei Forderungen gestellt. Putin und der FSB jedoch hatten in der Folge verängstigte, geeinte Wähler, ein überzeugendes Motiv für den Zweiten Tschetschenienkrieg, sprunghaft in die Höhe geschnellte Umfragewerte für den Silowik-Premierminister [Putin – dek] und einen diskreditierten Moskauer Bürgermeister Lushkow, der als Hauptkonkurrent bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl galt. 
    Warum hielten über all die Jahre eigentlich viele klar denkende Menschen die Version „der FSB sprengt Wohnhäuser“ für verschwörungstheoretischen Quatsch? Etwa, weil derartige Übeltaten nicht ins Bild der korrupten Bürokraten-Gauner-Diebe passen? Genauso haben sie auch nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine angreift. „So einer ist Putin nicht.“ Nun ja. 
    (Ich erwarte mit Schrecken „ukrainische Terroranschläge“ in Russland. Von unseren Leuten.)

    3. Der Zweite Tschetschenienkrieg

    Den Emotionen der Massen, ihrem Schrecken und ihrer Rachsucht ein Ventil geben, den gordischen Knoten des unlösbaren Konflikts zerschlagen, na und einfach einen „kleinen siegreichen“ organisieren. Nach offiziellen Angaben gab es 1000 zivile Opfer – nach denen von Amnesty International 25.000. 

    Vieles ist wiederzuerkennen: Die Bombardierungen des dicht besiedelten Grosny, das praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Geheimhaltung der Verlustzahlen. Die strenge Kontrolle der Berichterstattung über den Konflikt in allen Medien. Das Verbot, Tschetschenen in der Presse zu Wort kommen zu lassen. Die Entmenschlichung des Feindes: Es gab keine Menschen, sondern ausschließlich „Kämpfer“, sie wurden nicht getötet, sondern „liquidiert”. Es war kein Krieg, sondern eine „antiterroristische Operation“. Und natürlich das von den Russen geliebte „im Klo abmurksen“.

    Ich erinnere mich gut an einen Streit mit einem ehemaligen Schulkameraden und Journalistenkollegen über diesen Krieg. „Es wurden dort tausende Menschen umgebracht!“, sagte ich. „Nicht Menschen, sondern Banditen-Gesindel“, parierte er kategorisch. Ich war erschüttert und erzählte ein paar Monate später auf dem Geburtstag eines Freundes einem anderen Kumpel (der heute erfolgreicher Kommunist und Anti-Putinist ist) von diesem Dialog. Der wiederum verwandelte meine Geschichte in eine Kolumne just über meine „Demokraten-Schizophrenie“. Jetzt erinnere ich mich, dass ich dort milde als „der gute Mensch aus einem schlechten Radiosender“ bezeichnet wurde. 
    Überhaupt etablierte und verbreitete sich der Ausdruck „Demokraten-Schizo“ genau in dieser Zeit. So nannte man die, die in den Tschetschenen Menschen sahen. 

    4. Die Zerschlagung von NTW

    Die Zerstörung des unabhängigen Fernsehsenders, der fähig war, Gegenkandidaten zur amtierenden Regierung wirksam zu unterstützen – das war der wichtigste Schritt des frühen Putins. Damals zeigte sich auch, dass sich Putin nicht im Geringsten von Demonstrationen und Protesten beeindrucken lässt. Plus seine Erklärung der Politik durch Wirtschaft: „ein Streit unter Wirtschaftssubjekten“ und basta. Damals begann der Weg, der im März 2022 mit der vollständigen Vernichtung aller Medien endete, die auch nur ein Deut an Unabhängigkeit besaßen.  

    All das gab es von Anfang an

    Nichts Neues. Kein bisschen. 
    Verachtung der Demokratie;
    Erbarmungslosigkeit gegenüber dem eigenen Volk;
    Entmenschlichung und Dämonisierung eines anderen Volkes;
    Hass auf die Meinungsfreiheit.
    Erstens, zweitens, drittens, viertens.
    All das gab es von Anfang an, als derart viele in Putin den vielversprechenden Jungpolitiker sehen wollten.

    Ich erinnere mich haargenau an einen Parteitag der Union der Rechten Kräfte im Vorfeld der Wahl (auch da bin ich gewesen), wo viele einflussreiche Liberale – die Mehrheit, wie es damals schien – dazu aufriefen, Putin zu unterstützen. Laut gegen ihn äußerte sich nur einer: der Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Jaja, ein „Demokraten-Schizo“. 

    Über Putins Evolution zu diskutieren hat keinen Sinn. Wichtig ist eine andere Frage: Warum hat die Gesellschaft (nicht nur die russische) mit all dem seinen Frieden gemacht und das als normal empfunden, was heute die ganze Welt in Grauen versetzt? 

    Hier ist eine mögliche Antwort auf die für viele Russen so quälende Frage: „Was können wir denn bitteschön dafür?“ Unsere Schuld liegt darin, dass vielen von uns aus diversen Gründen vor 20 Jahren zulässig schien, was heute ungeheuerlich scheint.
    (Und es scheint nicht nur so: Es ist ungeheuerlich.)

    Ich persönlich fühle mich schuldig dafür, dass ich 2001, nachdem ich all das gesehen hatte, nur abwinkte und entschied, Filmkritiker zu werden. Womöglich war das falsch.

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  • „Die Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen stoppen“

    „Die Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen stoppen“

    In einem russischen Gerichtssaal spricht ein junger Mann, ein Journalist. Im Prozess, der ihm gemacht wird, bleibt ihm das Schlusswort, um sich noch einmal zu den Vorwürfen zu äußern. Er entscheidet sich stattdessen – wie viele in Russland, die wissen, dass das Urteil zumeist schon im Vornherein feststeht – in dem Schlusswort über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. 

    Er spricht vieles offen aus, über das man in Russland aufgrund repressiver Gesetze nicht sprechen darf: Er nennt den Krieg einen Krieg, erzählt von bombardierten Krankenhäusern, von getöteten Zivilisten, eingeschlossenen Städten. 
    Der Journalist heißt Wladimir Metjolkin und er gehört zu Doxa, einer Studierendenzeitschrift in Moskau. Gemeinsam mit drei seiner Kollegen – Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch und Alla Gutnikowa (deren Schlusswort ebenfalls häufig geteilt wurde in Social Media) – hat er bereits fast ein Jahr Hausarrest und einen Gerichtsprozess hinter sich. Das Urteil soll am heutigen Dienstag, den 12. April 2022, gefällt werden. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Haft.


    Der Fall Doxa beginnt im Jahr 2021 – ein Jahr des Shifts in Russland, in dem der Druck gegen unabhängige Akteure und auch Medien immer stärker wurde. Das Vergehen der Doxa-Redakteure: Sie hatten in einem Video im Januar 2021 von politischem Druck an den Universitäten berichtet, hatten Drohungen thematisiert, Studierende könnten von der Uni fliegen, sofern sie es wagten, zu Unterstützerprotesten für Kremlkritiker Alexej Nawalny zu gehen, der damals nach seiner Nowitschok-Vergiftung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt war. 

    Dieses Video wurde ihnen als „verbrecherisch“ ausgelegt, als Protestaufruf mit „Gefahr für Leib und Leben“ von Minderjährigen. Dass sie seither von der russischen Justiz verfolgt werden, hat ihr Leben radikal verändert: Wer von ihnen noch an der Uni war, musste sie verlassen. Wer bereits in den Beruf eingestiegen war, hat den Job verloren. Während des Arrestes wurden pro Tag nur zwei Stunden Ausgang gewährt, begleitet von zahlreichen weiteren Verhören, wie die Doxa-Redaktion berichtete. 

    Das besagte Video beendete Doxa damals mit den Worten „Die Jugend sind wir, und wir werden gewinnen“. Während ihr Fall in den vergangenen Wochen auf das Urteil zulief, hat Russland einen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begonnen. 

    In seinem Schlusswort vor Gericht am 1. April spricht Doxa-Redakteur Wladimir Metjolkin darüber, wie die Zukunft der Jugend in Russland aus seiner Sicht mit der des ganzen Landes und dem Krieg im Nachbarland zusammenhängt. Dabei kommt er auf den Satz von damals zurück. dekoder hat sein Schlusswort in voller Länge übersetzt:


    Update vom 12. April 2022, 16 Uhr MEZ: Wie Mediazona mitteilt, lautet das Urteil 2 Jahre Sozialstunden; 3 Jahre lang dürfen die Vier außerdem nicht als Administratoren von Internetseiten fungieren.

    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa
    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa

    „Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt, doch die Jugend sind wir – und wir werden garantiert gewinnen“, so lautete der von Alla gesprochene Schlusssatz in unserem Video, das wir vor über einem Jahr veröffentlicht haben. Wegen des Videos wurde ein Verfahren gegen uns eingeleitet, und deshalb stehen wir heute hier in diesem Gerichtssaal. Der Satz besteht aus zwei Teilen, in meiner Rede möchte ich auf beide einzeln eingehen. 

    Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt. Die Metapher des Kriegs gegen die Jugend und deren Bedeutung bedarf eigentlich keiner langen Erklärung: Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft – man hat sie uns genommen. Wenn du jung und anständig bist, dich persönlich weiterentwickeln, einen guten Abschluss und ehrliche Arbeit willst, wenn du auch nur irgendwelche Ambitionen hast, wird dir geraten, Russland zu verlassen – je eher, desto besser. 

    Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft

    Heute, ein Jahr nach Prozessbeginn, können wir voller Wut und sogar Hass sagen, dass es um diese Dinge noch viel schlechter steht. Die Staatsmacht hat im Wortsinne einen Krieg erklärt. Es geht jetzt nicht mehr um den metaphorischen Krieg gegen die Jugend, sondern um einen bestialischen, zerstörerischen Krieg gegen die Ukraine und deren friedliche Bewohner. Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben. Ich hatte es auch vergessen und dieser Tatsache nicht mehr die nötige Bedeutung beigemessen. Doch jetzt erinnern sich alle, nachdem Russland am Morgen des 24. Februar nach einer irrsinnigen nationalistischen Rede von Wladimir Putin Kiew bombardiert hat.

    Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben

    Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hatte vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in sein Haus in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. 
    Die Staatsmacht hat Boris Semjonow den Krieg erklärt, einem 96-jährigen Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Er trägt einen Orden für die Befreiung Prags, wo er sich jetzt wieder als Geflüchteter befindet, weil er wegen der Bombardierung zur Flucht aus der Oblast Dnipropetrowsk gezwungen war. Dort wartet er auf eine Wohnung, obwohl ihm auch in Berlin Hilfe angeboten wurde, wo er in Ruhe seinen Lebensabend verbringen könnte.

    An dieser Stelle unterbricht die Richterin Anastassija Tatarulja den Angeklagten, aber er fährt fort.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird und in dem mehr als 90 Prozent aller Gebäude zerstört wurden. Die Einwohner von Mariupol sterben, haben kein Wasser und keine Nahrung, sie beerdigen ihre Angehörigen direkt in den Innenhöfen der Wohnhäuser, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. Sehen Sie sich die Fotos an, sie sind in internationalen Medien zahlreich zu finden. 

    Die Staatsmacht hat den Frauen und Kindern den Krieg erklärt. Russland bombardiert wahllos Wohngebiete und zerstört Schulen, Krankenhäuser, Geburtskliniken. Das bestätigen Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen auf der ganzen Welt. Täglich sehen wir massenhaft Fotos und Videos aus der Ukraine, wir können diesen Krieg regelrecht online beobachten. Nur einer scheint die Kriegsberichte immer noch in Aktendeckeln vorgelegt zu bekommen.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird

    Die Staatsmacht hat sogar jenen den Krieg erklärt, die diesen Krieg mit ihren Händen für sie führen müssen. An der Front landen unter anderem Wehrdienstleistende. Sie wollen nicht kämpfen, ergeben sich, landen in Gefangenschaft und führen keine Panzerangriffe durch, manche wissen nicht mal richtig, wie man das Kriegsgerät bedient. Die Soldaten werden chaotisch an verschiedene Frontabschnitte verteilt (wobei von einer Verkürzung der Frontlinie die Rede war, wollen wir hoffen, dass es so ist), sie sterben einen schrecklichen Tod – verbrennen bei lebendigem Leib in Panzerkolonnen. 

    In den ersten Tagen des Angriffs wussten russische Soldaten nicht einmal, wo sie waren und wohin sie fuhren – das belegen viele Protokolle und Zeugenberichte. Sie wurden schlichtweg zur Schlachtbank geschickt, ohne anständige Kleidung, Verpflegung oder Deckung.

    An dieser Stelle wird Metjolkin abermals von der Richterin unterbrochen. „Ich finde, es besteht sehr wohl ein direkter Zusammenhang, deswegen fahre ich fort“, erwidert er. 

    Ich kenne aus erster Hand den Bericht einer Frau, deren wehrdienstleistender Neffe in einem sowjetischen Panzer Baujahr 1974 schläft. Wir hören Berichte von Soldaten, deren Leichname nicht überführt und anständig beerdigt werden. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern. Die ukrainische Seite würde sie abholen lassen, aber Russland schweigt.

    Leichname der russischen Soldaten werden nicht überführt. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern

    Die Staatsmacht hat den Aktivisten und Journalisten den Krieg erklärt, die offen über die Ereignisse sprechen wollen, weil es unmöglich ist, darüber zu schweigen. In einem Jahr wird man uns fragen, was wir in dieser Zeit getan haben, wie wir versucht haben, es zu verhindern. Wir werden der nächsten Generation Rede und Antwort stehen müssen. Inzwischen sind die Repressionen in vollem Gang: Es laufen über 200 administrative und einige Strafverfahren. Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur. Die Staatsmacht versucht, uns weiterhin einzuschüchtern, indem sie unter anderem auf die Wiedereinführung der Todesstrafe anspielt. Es gibt die Menschen, die nicht schweigen, aber viele sind wir nicht.

    Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur

    Jetzt zum zweiten Teil des oben genannten Satzes. Die Jugend sind wir, und wir werden garantiert gewinnen. Was bedeutet das? Ich möchte weg von der gängigen Standardinterpretation dieser Worte als Generationenkonflikt, bei dem die Jungen immer die Alten ablösen, die Alten ausgemustert werden und dadurch vermeintlich alles besser werden soll. Das würde zu kurz greifen.

    Meiner Ansicht nach geht es bei diesen Worten darum, dass sich die Zukunft nicht aufhalten lässt. Wir wissen nicht, wie sie aussehen wird, momentan ist das schwer zu sagen. Aber das Putin-Regime wird zweifellos früher enden, als es der (noch Haupt-)Akteur will. Mit seinem Versuch, lebenslang Präsident zu sein, ruiniert er das ganze Land.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte – jener „tausendjährigen Geschichte“, wie sie die Propaganda so gerne nennt. Eine Grundannahme dieses Diskurses ist die Behauptung, Russland habe immer nur gerechte und Befreiungskriege geführt.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte

    Ich will mich nicht in historischen Details verlieren – die Fotos, die nach dem 24. Februar 2022 in Kiew, Mariupol und Cherson gemacht wurden, sprechen für sich. Sie genügen, um zu begreifen, dass das Narrativ von den Russen als Befreiern hinfällig geworden ist. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen – mit Streumunition und Minenbomben. Die Russen reagieren darauf wie sie können, aber sie können wenig. Dafür reagiert die Welt umso stärker. Das Leben in Russland hat sich seit dem Beginn des Krieges rasant verschlechtert, und das wird lange so bleiben. Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung – alles ist zerstört. Alles ändert sich im Lauf der Zeit, aber jetzt gerade beschleunigt ein Einzelner mit seinen wahnwitzigen Aktionen die Veränderungen massiv.

    Das Narrativ von den Russen als Befreiern ist hinfällig geworden. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen

    Zum Thema „Entnazifizierung“: Russland hat den Buchstaben Z als ein Symbol des Kriegs gewählt, in dem viele zu Recht ein halbes Hakenkreuz erkennen. In manchen Ländern will man dieses Zeichen bereits gesetzlich mit den Nazi-Symbolen gleichsetzen. Anders kann man es auch gar nicht nennen – ein neues Hakenkreuz, ein neuer Hitlergruß. In Z-Formation werden in Russland Studenten, Schüler und sogar Kindergartenkinder aufgestellt.    

    Die russischen Propagandisten haben die gesamten acht Jahre seit 2014 über Nazis in der Ukraine gewettert: Zuerst seien sie auf dem Maidan aufgetreten und dann plötzlich an die Macht gekommen. Man hat uns Bilder von Fackelzügen gezeigt, die tatsächlich gruselig aussahen. Aber wo sind diese ukrainischen Ultrarechten jetzt? Die vereinigten Rechten haben es mit gerade mal zwei Prozent bei den letzten Wahlen nicht einmal in die Rada geschafft. Einzelne nationalistische Veteranen des Kriegs in der Ostukraine konnten sich unter Poroschenko einen Platz in der Politik oder einen Posten in den Sicherheitsbehörden verschaffen, aber von einem maßgeblichen Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren kann nicht die Rede sein. Wolodymyr Selensky hatte bereits Kurs aufgenommen auf eine Versöhnung der ukrainischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerung des Landes.

    Wir brauchen eine Entnazifizierung und Dekolonialisierung Russlands

    Wir haben die ukrainischen Nationalisten schon sehr sehr weit überholt. Wir sind es, die eine Entnazifizierung und eine Dekolonialisierung Russlands brauchen. Und eine Absage an den imperialistischen Chauvinismus, an den Spott über Sprachen, Kulturen und Symbole anderer Länder und anderer Völker Russlands. Fehlende Empathie gegenüber deinen Nachbarn – das genau ist der Grund, warum Kriege beginnen. 

    Wir fahren nach Jerewan oder Tbilissi und erwarten, dass man dort Russisch mit uns spricht, erwarten einen Service wie in Moskau, erwarten, dass sich alle über uns freuen. Wir betrachten diese Orte als Scherben des großen Russland. Genau das ist imperialistisches Denken. Wie alle sehen, tut Russland seinen Nachbarländern nichts Gutes. Wir müssen viel mehr darüber reflektieren, was es heißt, Russen zu sein. Und wir müssen jetzt maximal streng mit uns selbst sein.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert, und nun hat unser Land einen Krieg entfacht, den allerschrecklichsten seiner Geschichte. Wir müssen diese Fehler beheben. Wir müssen einsehen, dass jetzt nichts wichtiger ist als die Politik. Politik, verstanden als eine Teilnahme am eigenen Leben, als Selbstbestimmung, als Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, als Sorge um das, was rundherum passiert. All das ist die Grundlage, auf der wir eine neue russische Gesellschaft aufbauen müssen. Die Flucht in die heimeligen Sphären von privaten Interessen und Konsum hat unsere autoritäre Gesellschaft in die Katastrophe geführt. Das muss aufhören und darf sich nie mehr wiederholen.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert

    Die Gemeinschaft der Aktivisten, Journalisten und Wissenschaftler, zu der ich mich zählen darf, weiß, was sie zu tun hat. Wir sind bereit, hart zu arbeiten, geduldig zu sein und zu hoffen – die Veränderungen werden kommen, aber wir müssen uns alle gemeinsam darauf vorbereiten. Und dafür müssen wir in Freiheit sein. 

    Ich möchte den letzten Satz des Videos ein bisschen korrigieren, Alla möge mir verzeihen, wir haben den Text ja, soweit ich mich erinnere, zusammen verfasst. Ich hätte ihn lieber so: Die Staatsmacht hat den friedlichen Menschen den Krieg erklärt und stellt jetzt eine massive Bedrohung dar. Aber die tatsächliche Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen garantiert stoppen.

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  • Totale Aufarbeitung?

    Totale Aufarbeitung?

    „Auch wenn es schrecklich klingt: Mir macht nicht so sehr der Krieg selbst Angst, sondern vielmehr wie er in Russland wahrgenommen wird.“ Auf diese Formel bringt der Politologe Wladimir Pastuchow den Rückhalt des Präsidenten Putin in der russischen Gesellschaft. Dieser liegt laut aktuellen Umfragen bei über 80 Prozent. Obwohl der Wert von Meinungsumfragen in autoritären Regimen strittig ist, ist für den Politologen damit implizit klar, dass dieser Rückhalt grundlegend ist für das System Putin – dass der Krieg erst dadurch möglich wurde.

    Zahlreiche Analysten haben den Kitt dieses Rückhalts in vergangenen Jahren als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. 

    Das dadurch entstandene Weltbild gelte als unumstößlich, meint Pastuchow. Aus diesem Grund müsse das Übel an der Wurzel gepackt werden: Jede Verbreitung von Gedanken, die irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen, müsse zum absoluten Tabu werden. Die ideologische Aufarbeitung müsse total sein.

    Systematische Einschränkung des Pluralismus zwecks Aufbau eines liberal-demokratischen Staates? Heiligt der Zweck die Mittel? Pastuchows Analyse sorgt in liberalen Kreisen Russlands für hitzige Diskussionen. Sein Text ist am 23. März in der Novaya Gazeta erschienen. Fünf Tage bevor die Zeitung bekannt gab, ihre Arbeit bis Ende des Kriegs einzustellen. 

    Es liegt mir fern, dem Präsidenten Plagiat vorzuwerfen. Aber neu ist an dem, was Putin heute sagt, nur die Tatsache, dass es Putin sagt. All diese Ideen sind Zersetzungsprodukte der kommunistischen Ideologie, die erst jahrzehntelang im Untergrund der sowjetischen Stagnation vor sich hin gerottet und dann nutzlos in den Hinterhöfen der „wilden 1990er“ herumgelegen haben.

    Nichts fällt einfach so vom Himmel. Die neue Paranormalität ist nicht das Resultat von Putins Fantasie. Die Mythologie der „Spezialoperation“ ist weder eine kreative Schöpfung Putins noch seiner Administration. Sie kam von außen in den Kreml hinein, wurde vom Zerrspiegel der russischen postkommunistischen Macht reflektiert und dann wieder in die Außenwelt zurückgeworfen – nämlich als das Konzept der Russischen Welt, die einem Stör ähnelt – und zwar nicht zweiten, sondern nur dritten Frischegrades.

    Die drei Quellen bzw. drei Bausteine des Putinismus

    Diese ziemlich flache Erdscheibe ruht – wie auf alten russischen Stichen – auf drei Walen: dem orthodoxen Fundamentalismus, der Slawophilie und dem Stalinismus (einer radikalen Version des russischen Bolschewismus). Schon die Aufzählung dieser „geistigen Wurzeln“ zeigt, dass man diese Ideologie nicht auf der Müllkippe gefunden hat (obwohl das vielen genau so vorkommt), sondern als Rutenbündel, dessen Wurzeln ganz tief, bis in die dunkelsten Keller der russischen Geisteskultur zurückreichen. Und ich glaube, genau aus diesem Grund hat die Propaganda dermaßen eingeschlagen.

    Aus dem Untergrund ins Lushniki-Stadion

    Die Perestroika war die Benefizgala einer „Neuauflage“ der russischen Westler. Alle anderen Geistesströmungen wurden zunächst in den Hintergrund geschoben und nach 1993 ganz in den Untergrund gedrängt. Dort degenerierten sie und zersplitterten zu Sekten: Gumiljow-Anhänger, Stalinisten, radikale Orthodoxe und andere. Sie hatten eigene Propheten wie Kurginjan, Dugin oder Prochanow (und noch viele, viele mehr), die sie als Heilige verehrten. Unter Druck geraten, begannen sich diese Geistesströmungen aktiv zu vermischen, und heraus kamen die bizarrsten, abwegigsten Kombinationen, zum Beispiel orthodoxe Stalinisten oder linke Eurasisten.

    Sie hätten noch jahrzehntelang so vor sich hinrotten können, aber Anfang des 21. Jahrhunderts fand sich ein Großabnehmer für diesen ganzen Sondermüll – in Person der neuen Macht.

    Parallel dazu war nämlich in der Politik ein anderer Prozess vonstatten gegangen: Eine kleine, aber eingeschworene Gruppe von „Petersburgern“ hatte kraft nur teilweise zufälliger Umstände fest die Zügel der Macht an sich gerissen und brauchte für ihre politischen Ambitionen dringend einen ideologischen Überbau. Da sie selbst alle Merkmale einer esoterischen politischen Sekte aufwies, tendierte sie naturgemäß zu einer sektiererischen Weltanschauung. Aus diesem Grund gab es von Anfang an eine gegenseitige Anziehung zwischen den „Petersburgern“ und dem „orthodoxen Untergrund“. Die Frucht dieser Liebe ist das Oxymoron der Putin-Ära: die „orthodoxen Tschekisten“ – und ihr Manifest, das zwischen 2005 und 2010 anonym herausgegebene mehrbändige Werk Projekt Russland.

    Bis 2012 blieb der „Geheimbund der Schwerter und Pflugscharen“ allerdings weitgehend unbekannt. Die Kontakte fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die außerehelichen Ideen, die aus ihnen geboren wurden, versuchte der Kreml nicht an die große Glocke zu hängen. Erst nach der gescheiterten Revolution von 2011 bis 2013 wurde der Schleier gelüftet. Den russischen Machthabern, die seit Anfang der 1990er Jahre nach einer Massenideologie gesucht hatten, wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit durch goldenen Sand gelaufen waren. Sie mussten nichts erfinden, es stand quasi alles schon bereit. Also hat der Kreml die „russischen Eurasier“ behutsam aus dem Dreck gefischt, sie gewaschen, gestriegelt und ihnen eine Krone aufgesetzt.

    Der Effekt übertraf die kühnsten Erwartungen. Das orthodox-slawophile Mantra, das in der russischen Geisteskultur tatsächlich nicht weniger tief verwurzelt ist als das Westlertum, schlug wie eine Granate ein beim Volk, das durch jahrzehntelanges Chaos zermürbt und durch Gewalt korrumpiert war und den Schock des plötzlichen Zusammenbruchs des Imperiums noch nicht überwunden hatte. In seiner dekadentesten, bis ins Absurde getriebenen Form trat der russische Eurasianismus aus dem Untergrund empor und geradewegs auf die Bühne von Lushniki.

    Das Symbol der Kreml-Religion

    Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kremlideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen. Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven.

    Die Überlegenheit der russischen Nation

    Wie die meisten anderen Theorien dieser Art basiert sie auf einer hypertrophierten Vorstellung von der Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der man Züge eines einzigartigen und unvergleichlichen historischen Subjekts verleiht. Diese These hat zwei Vektoren: einen äußeren und einen inneren. Der innere Vektor impliziert die Anerkennung des bedingungslosen Vorrangs der Nation vor dem Individuum. Der äußere – die Anerkennung einer absoluten Überlegenheit der russischen Nation gegenüber allen anderen Nationen und Völkern. In ihrer tragikomischsten Form kommt diese These in den Worten eines der wichtigsten Hofideologen [des ehemaligen Kulturministers Wladimir] Medinski zum Ausdruck, der behauptete, die Russen hätten ein zusätzliches Chromosom.

    Minderwertigkeit der anderen Nationen

    Einer der Eckpfeiler der neuen Ideologie ist die These, dass nur die russische Nation in der Lage sei, einen vollwertigen souveränen Staat zu bilden. Den meisten anderen Nationen spricht der Kreml diese Fähigkeit ab und betrachtet sie lediglich als „Stellvertreter“ der USA, die nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten. Besonders minderwertig sei in dieser Hinsicht die Ukraine, deren Staatlichkeit nach Meinung des Kreml künstlich sei und ausschließlich dank der Unterstützung von außen bestehe.

    Die Existenz eines natürlichen Feinds

    In der Vorstellung der Kremlideologien hat die russische Nation einen Blutfeind: die Angelsachsen. Wie es sich für einen mythischen Feind gehört, bilden auch die Angelsachsen eine mythische Kategorie. Wenn es sich dabei um die modernen Briten und, von ihnen abgeleitet, die Amerikaner handeln soll, dann sind das wohl eher Normannen, die seinerzeit die Angelsachsen auseinandergetrieben und assimiliert haben, aber wen kümmern schon die Details. Je weniger real die Angelsachsen sind, desto besser eignen sie sich als natürliche Feinde.

    Ihre Projektion innerhalb des Landes ist die „fünfte Kolonne“, die sich von einer politischen Kategorie nun zu einer ethnisch-kulturellen gewandelt hat: Das sind alle, die den Angelsachsen geistig nahestehen. Die Haupt-Handlanger der Angelsachsen sind jetzt den Umständen entsprechend die Ukrainer, aber das ist eine rein funktionale Entscheidung, an ihrer Stelle könnte jeder andere stehen.

    Die Ukraine als Heiliger Gral

    In der Tradition von Solschenizyn und anderen Eurasiern misst der Kreml der Kontrolle über die Ukraine besondere, mythische Bedeutung zu. Die von niemandem rational begründete These, dass das Russische Reich nicht existieren kann, wenn nicht die Ukraine dazugehört, wird als unbedingtes Axiom akzeptiert und ist grundlegend für alle geopolitischen Konstruktionen des Kreml. Die Ukraine ist nach seinem Verständnis sowohl heilige Messen wert als auch eine „Spezialoperation“, die man im Zentrum Europas als letzte und entscheidende Schlacht inszenieren kann.

    Das Recht auf Krieg

    Allein die Existenz eines heiligen Ziels rechtfertigt den Krieg als Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Beigemischt wird Nietzsche mit einer Prise Dostojewski: „Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht?“. In der Vorstellung des Kreml bedeutet „können“ sowohl „das Recht dazu haben“, als auch „müssen/sollen“. Die neue Ideologie ist in dieser Hinsicht eine Apotheose jenes Kults der Stärke, der jahrelang die esoterische Religion des Petersburger Clans war. Der Militarismus der neuen Ideologie ist keine Notwendigkeit, sondern ihr innerster Kern.

    Die Idee von der Normalität des Krieges

    Die Rehabilitation des Krieges nicht nur als mögliches, sondern als das wirksamste Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele ist die natürliche Fortsetzung der Philosophie der Gewalt. Die apokalyptisch-mythische Vorstellung, dass der Krieg ohnehin unvermeidlich ist, weil die USA ihn entfesseln würden, um ihren unabwendbaren finanziellen und moralischen Bankrott zu verhindern, verstärkt den eigenen Militarismus, und sogar den Willen, als Erster anzufangen, weil man sich davon irgendwelche illusorischen Vorteile ausrechnet.

    Die Macht der Ideologie 

    Der ohrenbetäubende Erfolg der militaristischen Propaganda, den wir heute von Moskau bis in die entlegensten Winkel des Landes beobachten können, ist keineswegs zufällig oder spontan. Er wurde nur möglich, weil der Kreml tatsächlich im Besitz einer umfassenden und perfekten „ideologischen Massenvernichtungswaffe“ ist. Die Ideologie des russischen Hypernationalismus hat es geschafft, die Eliten im Kreml zu vereinen, und zwar nicht von außen, sondern von innen heraus, nicht durch Furcht, sondern durch den Glauben. Ich vermute, dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich mit diesem Virus infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens.

    Dabei ist nicht gesagt, dass alle auf dieselbe primitive Weise glauben, in jener karikierten Form, in der die Solowjows und Kisseljows uns diese Irrlehre darbringen. Es kann auch eine ausgefeilte Philosophie sein. Diese neue Ideologie wird künftig bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen, die individuellen Unterschiede und Interessen der einzelnen Führer dagegen eine immer kleinere. Entsprechend werden der Militarismus und die Aggressivität des Regimes nur zunehmen. Es wird versuchen, sämtliche verfügbaren Räume auszufüllen, die man ihm lässt, solange, bis es auf eine andere Kraft stößt, die es nicht imstande ist zu bezwingen.             

    Wie holen wir Russland zurück?

    Mitte der 1990er Jahre veranstalteten die legendären [Wissenschafts-]Urgesteine, Saslawskaja und Schanin in Moskau die unter Intellektuellen sehr beliebte Reihe Wohin steuert Russland?. Bei diesen Treffen warnte ich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit davor, dass Russland absolut nicht dorthin steuere, wo die Anwesenden es haben wollten, und dass alles mit einer neuen UdSSR enden würde. Heute, da Russland schließlich genau dort angelangt ist, stellt sich eine neue Frage, und zwar, ob man es von dort zurückholen kann. Offen gesagt, Beispiele für eine erfolgreiche Rückkehr von diesem Ort mit drei oder sechs Buchstaben gibt es in der überschaubaren historischen Vergangenheit nur wenige, und wenn, dann kehrten die Betreffenden im Schlepptau eines fremden Panzers zurück.

    Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Der Zustand nämlich, in dem sich die russische Gesellschaft heute befindet. Wir beobachten einen emotionalen Flächenbrand, der nicht ewig andauern kann. 

    Es gibt zwei Szenarien, wie man diese Fackel zu einem Ewigen Licht machen könnte, doch beide sind im heutigen Russland nur schwer vorstellbar. 

    Im ersten Szenario wird die Flamme mit fremden Ressourcen genährt – so wie Nordkorea von China. Aber so viel kann China gar nicht schultern.

    Im zweiten Szenario kann man sich wärmen, indem man selbst Stück für Stück abbrennt – die Variante der stalinistischen Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert auf Kosten der ausgebeuteten russischen Bauernschaft betrieben wurde. Das Problem ist allerdings, dass alle Bauern schon vor hundert Jahren enteignet wurden und es in Russland niemanden mehr gibt, den man massenhaft ausrauben könnte. 

    Bleibt also nur die Option, relativ schnell (wenige Monate bis Jahre) auf diesem Scheiterhaufen des „kalten“ Bürgerkriegs zu verbrennen. Übrig bleibt: ein Aschehäuflein mit Resten schwelender ziviler Apathie. Ich kann nicht vorhersagen, wie genau das Regime unter dieser Asche begraben werden wird, aber genau dieses Szenario halte ich mittelfristig für das wahrscheinlichste. Wobei ich den nuklearen Staub, der aus dem Kremlfernsehen rieselt, jetzt mal ausklammere. Könnte natürlich auch sein, dass da jemand kollektiven Selbstmord begehen will, dann kann man ihn schlecht davon abhalten, aber Selbstmörder bauen keine Paläste

    Auf praktischer Ebene stellt sich bereits heute die Frage, wie wir Russland weniger anziehend machen, entmagnetisieren werden, wenn erstmal die Sektierer vom Kreml abgelassen haben. Der wichtigste Schluss, den die noch heißen Spuren nahelegen, ist folgender: So abstoßend die „russischen Typen“ auch sein mögen, die „russischen Ideen“ sind noch grauenerregender. 
    Das russische Volk lebt innerhalb einer totalitären Matrix, die sich von Epoche zu Epoche reproduziert. Diese Matrix wird von den russischen Ideen erzeugt. Wie viele Zähne hat man sich an der nie erfolgten Aufarbeitung in den 1990er Jahren ausgebissen, und noch mehr werden es bei der noch bevorstehenden Aufarbeitung der 2030er (oder vielleicht schon 2020er) Jahre sein. 
    Die ideologische Aufarbeitung muss total sein. Nachdem die russische Mentalität nach holistischen, mystischen und totalitären Gesinnungen regelrecht süchtig ist, wird man in Russland die Verbreitung von allen Ideen verbieten müssen, die sich ähnlich, symmetrisch oder identisch zu jenen verhalten, die in ihrer Steigerung zu einer Rechtfertigung der „Spezialoperation“ geführt haben. Jede Verbreitung von Gedanken, die direkt oder indirekt, unmittelbar oder mittelbar irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen – egal ob Orthodoxie, Kommunismus, Stalinismus, Nationalismus oder sonst irgendetwas –, jeder Versuch, solches Geistesgut in staatlichen oder außerstaatlichen Sphären zu verbreiten, muss ein absolutes Tabu werden. 
    Angesichts der Komplexität des Problems sind zuallererst zwei Maßnahmen zu ergreifen: 

    Entkirchlichung

    In Russland muss eine strikte Antiklerikalisierung durchgeführt werden, in erster Linie – aber nicht nur – durch eine umfassende und reale Trennung der Kirche als solcher und speziell der orthodoxen Kirche von Schule und Staat. Die russisch-orthodoxe Kirche muss als Institution, die sich mit ihrer Unterstützung und Rechtfertigung des Terrors endgültig diskreditiert hat, organisatorisch und ideologisch entstaatlicht werden. Sie muss sämtliche staatlichen Subventionen verlieren und ihrer Gemeinde überantwortet werden, die ihr Stimmrecht in kirchlichen Fragen zurückerhalten muss. Vielleicht entsteht dann anstelle der pyramidenförmigen Hierarchie der Russisch Orthodoxen Kirche ein echter demokratischer Kirchenverband, ein Zusammenschluss von freien Pfarreien, die sich selbst verwalten und ausschließlich über ihre Mitglieder finanzieren. 

    Entkommunisierung

    Im Land muss endlich eine vollständige und konsequente Entkommunisierung (und nicht nur Entstalinisierung) stattfinden. Die Propaganda kommunistischen Gedankenguts muss verboten, die Ideen selbst müssen als menschenverachtend entlarvt werden. Alle politischen Organisationen, die den Kommunismus offiziell predigen und irgendeine Form von Terror rechtfertigen, müssen verboten werden. Das gilt auch für alle zeitgenössischen Derivate des Kommunismus, einschließlich der eurasischen Utopien von Alexander Dugin und Alexander Prochanow, der neurussischen Passionen von Wladislaw Surkow, der Reenactments von Strelkow und alles, was auf dem Grabhügel des russischen Kommunismus sonst noch so blüht. 

    Kommt Ihnen das unrealistisch vor? Heute – ja. Morgen wird es Realität sein. Das Pendel der russischen Geschichte hat zu weit ausgeschlagen. Um es aus seiner gottverlassenen Lage wieder herauszuholen, braucht es harte, vielleicht sogar grausame Entscheidungen, die uns gestern noch unnötig und undenkbar erschienen. Die Zeit der halben Sachen ist vorbei. Wenn wir diese Entscheidungen treffen, müssen wir daran denken, dass es nicht so sehr die bösen Menschen, sondern böse Ideen waren, die Russland in diese historische Sackgasse getrieben haben. 

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  • Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

    Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

    Der Süden der Ukraine – ein halbmondförmiger Bogen zwischen den Hafenstädten Odessa und Mariupol sowie die nordöstlich davon gelegenen Gebiete Donezk und Luhansk – ist in Wladimir Putins verzerrtem Geschichtsbild russländische Erbmasse. Als er im April 2014 nach dem Ausbruch des Krieges im Osten der Ukraine plötzlich mit Bezug auf diese Gebiete von Noworossija (dt. Neurussland) zu reden begann, sagte der Begriff nur eingeweihten Spezialist:innen und Russlandhistoriker:innen etwas. Im Rückblick jedoch war diese Wortwahl ein erstes Indiz dafür, dass sich der Machthaber im Kreml auf einen historischen Feldzug begeben wollte. Worum handelt es sich dabei? Welche Geschichte hat diese Region? Wie kann diese Geschichte gelesen werden? Und welche Bedeutung kommt Noworossija als politischem Kampfbegriff zu? 

    Deutsche Karte von Noworossija von 1855 / Illustration © Wikipedia, gemeinfrei

    In seinem von der theoretischen Erörterung zum kriegstreibenden Pamphlet gewandelten Artikel Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer vom Juli 2021 bezeichnet der russische Präsident die Gebiete der heutigen Ukraine als „südwestliche Teile des russländischen Imperiums“ im 19. Jahrhundert. Sie hätten aus drei Teilen bestanden: Malorossija (dt. Kleinrussland), die Krim und Noworossija (dt. Neurussland).1 Malorossija ist eine historische, bis auf die byzantische Zeit zurückgehende Bezeichnung für die Gebiete links des Dnjepr sowie nach den Teilungen Polens auch der rechtsufrigen Ukraine. Noworossija dagegen ist ein Begriff mit vergleichsweise jüngerer Geschichte. Seit dem 18. Jahrhundert war das Gebiet von Noworossija ein sozial- und wirtschaftspolitisches Laboratorium für das russländische Imperium. Heute ist es eine Kampfvokabel, die von russischen Großmachtfantasien über das Territorium der souveränen Ukraine zeugt und dabei bewusst mit Verkürzungen und Halbwahrheiten operiert.

    Ausbau der imperialen Macht

    Die Gebiete der nördlichen Schwarzmeerküste wurden am Ende des 18. Jahrhunderts in gewaltsamen Eroberungszügen dem Osmanischen Reich entrissen. Mit dem Frieden von Küçuk-Kaynarca (1774) wurde das Schwarze Meer unter der Herrschaft von Katharina der Großen vom osmanischen Binnen- zum internationalen Gewässer und sein nördliches Ufer zum russländischen Einflussgebiet.2 Was die traditionelle russische Geschichtsschreibung oft euphemistisch als „Zum-Teil-Russlands-Werden“ oder „Aneignung“ beschreibt, war in Wirklichkeit der forcierte Aufbau einer militärischen Sicherungszone zur Festigung und zum Ausbau der eigenen imperialen Macht. Der Begriff Noworossija fügte sich in die imperiale Meistererzählung von der prometheischen Schaffenskraft der Zarin Katharina der Großen und ihres Statthalters, Grigori Potjomkin, ein: Demzufolge waren die Gebiete zwischen den Flüssen Terek im Nordkaukasus und Dnjestr – die westliche Grenze der heutigen Ukraine – weitgehend unbesiedelte Gebiete, die erst durch den Aufbau staatlicher Administration und durch die Gründung von Städten zu wirtschaftlichen und kulturellen Leuchttürmen werden konnten. 

    Diese Perspektive verstellt jedoch den Blick darauf, dass die Gebiete der Südukraine auch schon lange vor der russischen Eroberung besiedelt waren. Auf diesem Territorium lebten verschiedene nomadische und sesshafte Gesellschaften, die mitunter bereits staatliche oder proto-staatliche Formationen ausprägten. Dazu gehörten die turkstämmigen Chasaren, das Krim-Khanat und das Osmanische Reich. Der nördliche Teil am Unterlauf des Dnjepr war das Gebiet der Saporoger Kosaken. Sie bildeten im 17. Jahrhundert eine weitgehend autonome Staatsformation und suchten sich in wechselnden Allianzen zwischen Osmanischem und Russländischem Reich zu behaupten. 1775 entschied Katharina die Große, die Saporoger Sitsch – so hieß diese Staatsformation – gewaltsam zu zerschlagen und beauftragte Grigori Potjomkin mit dieser Aufgabe. Der Kosaken-Anführer, Petro Kalnyschewski, wurde auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer deportiert, wo sich in der Klosterfestung ein Gefängnis für politische Gegner befand, und das Eigentum der Sitsch konfisziert. Noworossija hatte bis zur gewaltsamen Einverleibung durch das Russische Reich also verschiedene Geschichten: eine ukrainische, osmanische, krimtatarische oder chasarische Geschichte. Eine nicht minder wichtige – die russische – kam hinzu und eröffnete ein weiteres Kapitel, das sich über ein Jahrhundert erstreckte. 

    Sozialpolitisches und ökonomisches Laboratorium Russlands

    Mit der Eingliederung der eroberten Gebiete wurde das Gouvernement Noworossija ab 1796 während sechs Jahren zu einer Verwaltungseinheit des Reichs. Nach 1802 blieb es ein Bestandteil im Namen des Gouvernements Neurussland und Bessarabien. In dieser Zeit wandelte sich die nördliche Schwarzmeerküste vom militärischen Frontgebiet zum sozialpolitischen und ökonomischen Laboratorium Russlands. Noworossija wurde nun zur Verheißung, zum Modell einer möglichen Entwicklung des gesamten Imperiums. 
    Noch Katharina die Große strebte gezielt die Ansiedlung von ausländischen Kolonisten an und gestand den lokalen Gouverneuren weitreichende Entscheidungsbefugnisse zu. Sie tolerierte, dass das Territorium zum Anziehungspunkt für entflohene Leibeigene wurde – auf dem Gebiet von Noworossija befanden sich wesentlich weniger Menschen in Leibeigenschaft als in den anderen Territorien des Reiches. Insbesondere die Hafenstädte, allen voran Odessa, erlebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Boom mit sprunghaftem Anstieg der Bevölkerungszahlen. Der florierende Handel zog Menschen unterschiedlicher Herkunft an. Die Bevölkerung von Noworossija war multiethnisch und in den Dörfern und Städten lebten Russen, Ukrainer, Griechen, Deutsche, Armenier, Italiener, Roma und viele andere Tür an Tür. Auf diese Weise entstanden hier weltoffene Orte des Austauschs, von dem das Imperium ökonomisch profitierte. In Noworossija wurde aus dem Getreide der Schwarzerdegebiete ein weltweit begehrtes Handelsgut, das die Staatskassen füllte und den Wohlstand des Reiches mehrte. Der Hof in Sankt Petersburg stimulierte diese einträgliche Einnahmequelle durch die Einrichtung von Freihafen-Systemen, die einen zollfreien Umschlag von Waren ermöglichten.3

    Diesen ersten Boom unterbrach der Krimkrieg jedoch auf abrupte Art und Weise. Russland kämpfte dabei auch gegen England und Frankreich, die in den Krieg an der Seite des Osmanischen Reiches eingetreten waren. Nach der militärischen Katastrophe, die dieser Krieg für Russland war, initiierte Alexander II. nicht nur die Großen Reformen, sondern setzte auch eine stärkere Anbindung der Gebiete von Noworossija an das imperiale Zentrum durch – mit weniger Entscheidungsbefugnisssen vor Ort. Mit der Auflösung des Generalgouvernements 1874 verschwand auch der Begriff Noworossija aus der offiziellen politischen Sprache. Das Gebiet hatte viel von seiner ursprünglichen Eigenständigkeit verloren und die lokale Administration wurde noch stärker in die ministeriale Bürokratie des Reiches eingegliedert. 
    Nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg stärkten die sowjetischen Machthaber durch ihre vom Paradigma der korenisazija (dt. Einwurzelung) geprägte Nationalitätenpolitik die „Ukrainisierung“ der neugegründeten Ukrainischen SSR. Um dieses Staatsgebilde – wenigstens an der Oberfläche – vom zaristisch-imperialen Konstrukt abzuheben, verboten die Bolschewiki den Gebrauch der Bezeichnungen Noworossija und Malorossija für die Gebiete der neu gegründeten Ukrainischen SSR.

    These einer „dreieinigen Nation“

    Die Rede von Noworossija und Malorossija, die Putin in seinem Artikel und in mehreren Fernsehansprachen bemühte, verweist nur in Teilen auf diesen historischen Kontext. Vielmehr handelt es sich um eine klare historisch-politische Position, die im 19. Jahrhundert entstand: Damals reagierten einflussreiche konservative Befürworter des von Petersburg regierten Vielvölkerreichs auf den entstehenden ukrainischen Nationalismus, indem sie die These einer „dreieinigen Nation“ bestehend aus Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen propagierten.4 Staatlichkeit sei dieser These zufolge nur im Verbund denkbar, und die Abspaltung einer Bevölkerungsgruppe bedrohe Russland als Ganzes. Diese Vorstellung teilte auch der russische Philosoph Iwan Iljin, der Russland als „jungfräulichen Körper“ betrachtete. Wer zu diesem Körper gehöre, das sei nicht Sache von Individuen, sondern die russische Kultur bringe „brüderliche Verbundenheit“ überall dort, wo Russland herrsche. Die Idee einer eigenständigen Ukraine war Iljin zutiefst fremd, und so wundert es nicht, dass Putin den seit den 1990er Jahren wiederentdeckten Denker zum Hausphilosophen machte und sich in seinen Ansprachen auf ihn bezog.5 
    Putin zufolge ist die Region um die Städte Charkiw (das nie Teil von Noworossija war), Luhansk, Donezk, Cherson, Mykolajiw und Odessa im 19. Jahrhundert nicht Teil der Ukraine gewesen, sondern erst in den 1920er Jahren von der sowjetischen Regierung an die Ukraine „gegeben“ worden. Russland habe diese Territorien aus verschiedenen Gründen „verloren“, die von Putin ungenannt bleiben.6 Mit dieser Aufzählung und der vermeintlich geschichtswissenschaftlich informierten Dreiteilung der Ukraine in die Gebiete Malorossija, Krim und Noworossija unterschlägt Putin nicht nur, dass auch andere Bezeichnungen für das historische Gebiet der Ukraine gepflegt wurden – so unterschied man zu bestimmten Zeiten beispielsweise auch zwischen linksufriger Malorossija und rechtsufriger Ukrajina, die Region um Charkiw war eine eigenständige Region namens Sloboda-Ukraine – sondern macht auch ganz konkret seinen Anspruch auf diese Region geltend. Dieser Gebrauch des Begriffs Noworossija reduziert die historische Komplexität dramatisch, indem er selektiv Episoden aus der Geschichte auswählt, aber von anderen schweigt. Diese verkürzte, ja mitunter verzerrte Sichtweise konstruiert eine Linearität der Geschichte, die eine russische Aggression gegen die Ukraine als Korrektur eines historischen Irrtums erscheinen lässt. Sie geht mutwillig über die heutige ukrainische Gesellschaft in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Lebenswirklichkeit hinweg und mutet ihr die Vergangenheit als gegebenes Schicksal zu. 

    Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas

    Um die Sprengkraft seiner auf ein „russländisches Erbe“ verkürzten revisionistischen Behauptungen muss Putin 2014 gewusst haben. Die pro-russischen Separatisten in den Gebieten Donezk und Luhansk griffen diesen neuen Sprachduktus auf und benannten die aus ihren Gebieten gebildete Konföderation als Föderativen Staat Noworossija. Sie hofften auf weitere Anschlüsse durch orchestrierte separatistische Bewegungen und die darauf folgenden Referenden zur Loslösung von der Ukraine. Allerdings blieben diese namentlich in Charkiw und Odessa aus. Im Minsker Abkommen einigten sich die Konfliktparteien darauf, Noworossija nicht mehr als Bezeichnung eines politischen Subjekts zu verwenden, um den Konfliktherd auf die durch eine Demarkationslinie fixierten Separatistengebiete zu begrenzen. Das Scheitern des Projekts Noworossija im Jahr 2014 zeigte der politischen Inanspruchnahme der Geschichte seine Grenzen auf: Entscheidend war damals, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in den ehemaligen Gebieten von Noworossija an ihrer Zugehörigkeit zur Ukraine und an der Unabhängigkeit dieses Staates festhalten wollte und keine Lust hatte, sich von Putin belehren zu lassen. Und auch 2022 scheint sich die Bevölkerung von Odessa und Charkiw vehement gegen einen Anschluss an Russland zu wehren.

    Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas verschwand aber nicht aus dem offiziellen politischen Diskurs. Putins Rede und der von ihm entfachte Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlichten erneut die toxische Kraft des Begriffs Noworossija, der die legitime Staatlichkeit der Ukraine in Frage stellt und es ermöglicht die Geschichte für die eigenen ideologischen Zwecke in Geiselhaft zu nehmen. 


    1. Putin, Wladimir (12.07.2021): On the Historical Unity of Russians and Ukrainians; Baumann, Fabian (2001): Einseitiger Einheitswunsch – Putins neueste Geschichtslektion, in: RGOW, 9/2001, S. 3-5 ↩︎
    2. Kappeler, Andreas (2014): Kleine Geschichte der Ukraine, München, S. 106-112 ↩︎
    3. King, Charles (2011): Odessa: Genius and Death in a City of Dreams, New York, S. 39f./70 ↩︎
    4. Miller, Alexei (2003): The Ukrainian Question: The Russian Empire and Nationalism in the Nineteenth Century, Budapest; Hillis, Faith (2013): Children of Rus’: Right-Bank Ukraine and the Invention of a Russian Nation, Ithaca ↩︎
    5. Snyder, Timothy (2018): The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America, New York, S. 23 ↩︎
    6. Direct Line with Wladimir Putin vom 17.4.2014 ↩︎

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    BYSTRO #36: Putinismus und die frühere Sowjetunion – ein Vergleich

    Russlands Präsident Wladimir Putin versucht, an die Großmachtrolle der Sowjetunion anzuknüpfen. Ihren Zusammenbruch bezeichnete er als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Außenpolitisch betrachtet er Belarus und die Ukraine als „russische Einflusssphäre“ – das eine Land wurde zum Aufmarschgebiet für russische Truppen, gegen das andere führt er Krieg, um sich Einfluss zu sichern. 
    Doch wie nah sind sich die politischen Systeme Russlands und der früheren Sowjetunion? Wo liegen Kontinuitäten und Parallelen in der Ideologie, wo sind zentrale Unterschiede? Was sind die spezifischen Charakteristika des politischen, des putinschen Regimes in Russland?
    Dem geht der Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder in einem Bystro mit sieben Fragen und Antworten nach.

    1. In Russland ist das politische System heute zugeschnitten auf den starken Mann im Kreml. Inwiefern ähnelt das den Strukturen der alten Sowjetunion, mit Generalsekretär und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Machtzentrale?

    2. In der früheren Sowjetunion war der Kommunismus die herrschende Ideologie. Ist das gegenwärtige Russland ideologisch getragen? Oder wurde das Vakuum anders gefüllt?

    3. Wo bedient sich Putin alter Politikstile aus Sowjetzeiten? Wo und inwiefern verhalten sich auch andere politische Akteure nach sowjetischen Mustern, wie zum Beispiel die Gouverneure in den Regionen? Und: wo nicht?

    4. Die Repression nimmt seit Jahren zu – lässt sich das mit einer Periode aus der Sowjetära vergleichen? Was sind ganz eigene Spezifika?

    5. Verbot von Memorial International, das Sperren und Schließen von Medien, die Festnahmen von tausenden Protestierenden – Wie viel sowjetisches Erbe steckt in einem solchen Umgang mit unabhängigen Akteuren und Kritikern?

    6. Was ist der Kern russischer Außenpolitik? Und beobachten Sie dabei einen Rückgriff auf Strategien aus der Sowjetära? 

    7. Die Sicherheitsstrukturen, allen voran der FSB, sind eine zentrale Stütze der Macht für Präsident Putin. Wie fest sind diese Eliten der Sicherheitsapparate heute verankert? Und wie wirkt sich das politisch beziehungsweise gesellschaftlich aus? 


    1. In Russland ist das politische System heute zugeschnitten auf den starken Mann im Kreml. Inwiefern ähnelt das den Strukturen der alten Sowjetunion, mit Generalsekretär und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als Machtzentrale? 

    Der Kreis der Entscheidungsträger ist heute viel kleiner als zu Sowjetzeiten nach Stalins Tod – selbst wenn es um den Generalsekretär der KPdSU immer einen Führerkult gegeben hat. Personalistische Politik, wie wir sie heute in Russland erleben, meint informelles Regieren, die Kompensation von politischer Programmatik durch eine Führungsperson (die Person als Programm), die Legitimation des Regimes und die Inszenierung von Macht über die Führungsperson Putin. Über den medialen Führerkult werden zudem autoritätshörige Mentalitäten mobilisiert. Die extreme Personalisierung hat zur Folge, dass es keine „Checks and Balances“ mehr gibt und das System anfällig für fehlerhafte oder erratische Entscheidungen ist. Informationen werden nicht mehr professionell verarbeitet, sondern gefiltert. Nach oben dringt nur durch, was dem Weltbild des Führers entspricht. Schon der verdeckte Krieg im Donbass im Frühjahr 2014 und der Versuch, das Krim-Szenario zu wiederholen, war ein Beispiel für ineffektive Vorbereitung und Durchführung. Erneut zeigt sich dies im Krieg gegen die Ukraine seit dem 24.2.2022:

    Wunschdenken und ein immer höherer Einsatz, um die widerspenstige Wirklichkeit den Wünschen anzupassen, bestimmen das Verhalten. Zu Sowjetzeiten gab es im Politbüro mehr Kontroversen als heute im Kreml. 
    Russland ist nicht zum sowjetischen Einparteiensystem mit dem garantierten Herrschaftsmonopol der KPdSU zurückgekehrt. Zu Sowjetzeiten dirigierte die Partei den Staat, heute dagegen hält sich die Exekutive dafür eine Partei, die nur als Wahlmaschine und Loyalitätsnachweis dient, aber keine politisch-programmatische Führungsrolle wahrnimmt.  
    Der Zugang zu Putin ist unter Corona-Bedingungen nochmals extrem eingeschränkt worden. Vermittelte Putin in seinen ersten beiden Amtszeiten noch zwischen verschiedenen Interessengruppen innerhalb des Kreml, so lässt sich jüngst eine immer stärkere Beratungsresistenz erkennen. Das hat allerdings auch zur Folge, dass hinter dem Rücken des Präsidenten die Spannungen insbesondere unter den Sicherheitsapparaten zunehmen. 

    2. In der früheren Sowjetunion war der Kommunismus die herrschende Ideologie. Ist das gegenwärtige Russland ideologisch getragen? Oder wurde das Vakuum anders gefüllt?

    Die Ideologie des politischen Regimes in Russland ist nicht mehr kommunistisch, sondern eine eklektische Mischung aus Staatsanbetung, Großmachtfantasien, Antiamerikanismus und Antiliberalismus, großrussischem Nationalismus, Orthodoxie und Militarismus. Weite Teile der russischen Eliten leben in einer Retro-Zukunft. Der Blick ist auf die Wiedererrichtung einer untergegangenen Welt gerichtet. Die Retro-Zukunft verhindert, dass Russland sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellt – dem Klimawandel, der Energiewende, der künstlichen Intelligenz, der Zukunft der Städte, der Massenmigration und dem Ende des Geldes, wie wir es kennen. 
    Im Kern handelt es sich um ein autoritäres Kontrollregime mit einem aggressiven Großmachtanspruch: Dieser Großmachtanspruch gründet sich auf die Atomwaffen, den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, die Vormachtstellung im eurasischen Raum und eine führende Rolle beim weltweiten Öl- und Gasexport. Einige Beobachter glauben, dass Russland schlicht verdecken will, dass China als vormaliges Entwicklungsland in drei Jahrzehnten Russland wirtschaftlich und technologisch gnadenlos abgehängt hat. Das Militär bleibt dabei der einzig verbliebene Ausdruck systemischer Wettbewerbsfähigkeit. 

    3. Wo bedient sich Putin alter Politikstile aus Sowjetzeiten? Wo und inwiefern verhalten sich auch andere politische Akteure nach sowjetischen Mustern, wie zum Beispiel die Gouverneure in den Regionen? Und: wo nicht? 

    Kontinuitäten zum sowjetischen Modus operandi sind nach der Jelzin-Ära reaktiviert worden. Dazu gehören der Ausbau der Macht der Sicherheitsapparate, die Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive, die Degradierung der Duma zum Akklamationsorgan und die Rehabilitierung der Sowjetgeschichte und ihrer Symbolik. Der Nationale Sicherheitsrat fungiert als Quasi-Politbüro. 
    Parallelen gibt es heute auch zum „bolschewistischen“ Verhaltenskodex: das heißt beim Rückgriff auf die Politik der Angst, der Repression, der Mobilisierung von Feindbildern und der Verwandlung der Innenpolitik in einen Abwehrkampf gegen überall vermutete Gefahren und Bedrohungen. Insbesondere seit der Rückkehr von Kremlkritiker Alexej Nawalny im Januar 2021 ging der Repressionsapparat flächendeckend gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, gegen politische Stiftungen und selbst Historiker vor, die sich der Verwandlung von Geschichte zur Staatsreligion verweigern. Noch massiver ist dies seit dem Krieg gegen die Ukraine, sei es bei den wenigen Antikriegsprotesten oder gegen die letzten unabhängigen Medien im Land, einige wurden geschlossen, zahlreiche Journalisten und auch andere unabhängige Akteure haben das Land verlassen.
    Anders als zu Sowjetzeiten müssen die Gouverneure heute auf Stimmungen in ihrer Region Rücksicht nehmen, was während der Corona-Pandemie etwa dazu führte, dass Regeln in den Regionen unterschiedlich umgesetzt werden. Und: Im stark monopolistisch und von Oligarchen geprägten Kapitalismus Russlands geben die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht mehr wie zu Sowjetzeiten vor, Herrschaft zugunsten der „Arbeiter und Bauern“ auszuüben; die Verquickung von öffentlichen Ämtern und privater Bereicherung wird sogar weitgehend offen ausgelebt, selbst wenn die Enthüllungen von Nawalny dann doch schmerzten.

    4. Die Repression nimmt seit Jahren zu – lässt sich das mit einer Periode aus der Sowjetära vergleichen? Was sind ganz eigene Spezifika?

    Die Repression und Radikalisierung des putinschen Regimes resultiert aus der Macht der Sicherheitsapparate, die mittlerweile eine „Carte blanche“ erhalten haben. Zu den Gründen der Radikalisierung gehören die Krise des Petro-Staat-Modells, die Polarisierung des öffentlichen Diskurses, die sprachlich-kulturelle Verwandlung von Politik in Krieg und die Militarisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Während zunächst auf eine apolitische Demobilisierung der Gesellschaft und den Appell an nationalpatriotische Mentalitäten gesetzt wurde, kulminiert im Krieg gegen die Ukraine eine nationalistische Mobilisierung. Politik wird nur noch als Krieg gedacht. Der Modus operandi des Kadyrow-Regimes in Tschetschenien – Auftragsmorde, Herrschaft durch Paramilitärs – breitet sich nun auch in ganz Russland aus. Zwar ist die Repression keinesfalls mit dem Terrorjahr 1937 vergleichbar, doch ist der Abschreckungseffekt hoch. Der Krieg gegen die Ukraine zwingt nun noch mehr als ohnehin schon entweder in die äußere oder in die innere Emigration, dies trifft mittlerweile sogar bisherige Systemgünstlinge, die bei Kritik ebenfalls nicht mehr sicher vor Repression sind. 

    Weil das politische System unter Putin als erstarrt gilt, werden häufig Parallelen zur Ära der Stagnation unter Breshnew gezogen. Im heutigen Russland gibt es allerdings noch beträchtliche finanzielle Rücklagen im Nationalen Wohlstandsfonds. Zudem sind die Selbstbereicherungsanreize für höhere Beamte heute weitaus größer. Infolge der neuen, harten Sanktionen und der fast umfassenden Isolation Russlands in den internationalen Beziehungen kann jedoch die bisherige Geschlossenheit der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten aufbrechen. 

    5. Verbot von Memorial International, das Sperren und Schließen von Medien, die Festnahmen von tausenden Protestierenden – Wie viel sowjetisches Erbe steckt in einem solchen Umgang mit unabhängigen Akteuren und Kritikern?

    Putin betreibt seit mehr als zehn Jahren eine Art präventiver Konterrevolution, um ernstzunehmende politische Konkurrenz klein zu halten. Deshalb wurde der begrenzte Pluralismus immer weiter eingeschränkt, der „elektorale Autoritarismus“, den es vor allem in den 2000er Jahren gab, hat sich zu einem offen-autoritären Regime entwickelt. 
    Das Jahr 2021 markiert auch deshalb eine neue Qualität, weil die Zulassung von Alternativkandidaten und Beobachtern zu bedeutenden Wahlen nicht mehr nur durch systematische Schikanen eingeschränkt, sondern faktisch abgeschafft wurde. Zur Reanimierung sowjetischer Muster gehört außerdem die umfassende Kontrolle des öffentlichen, ja sogar zunehmend des privaten Raumes. Das Regime unter Putin belebt die stalinistische Angst- und Repressionskultur wieder, überall werden Verräter, Spione, fünfte Kolonnen und Defätisten vermutet. 

    Zu den größten Gefahren für die Regimestabilität gehört es aus der Sicht des Kreml, wie zu Zeiten von Gorbatschow, einer nicht kontrollierbaren Regimeliberalisierung den Weg zu bereiten. So ist die Perestroika für das heutige offizielle Russland ein Schreckgespenst, ebenso ein „Maidan“ oder eine „farbige Revolution“, das heißt Massenproteste wie beim Arabischen Frühling, in der Ukraine, in Belarus oder jüngst in Kasachstan. Eine Mobilisierung auf der Straße, aber auch durch soziale Netzwerke, wie sie zum Beispiel von Nawalnys Team über Jahre hinweg noch gegen Widerstände und Hürden organisiert werden konnte, ist gegenwärtig nicht mehr möglich. Und doch dürften die Kriegsverluste in der Ukraine, die Verwüstungen und die Massenflucht sowie die Unfähigkeit, ein militärisches Besatzungsregime zu errichten, auf Russland zurückwirken. Selbst wenn das russische Militär sein Zerstörungswerk in der Ukraine fortsetzen kann, wird es ein Pyrrhussieg sein. 

    6. Was ist der Kern russischer Außenpolitik? Und beobachten Sie dabei einen Rückgriff auf Strategien aus der Sowjetära? 

    Der Repression nach innen entspricht die außenpolitische Aggressivität, die Androhung und Anwendung von Gewalt. Auch das zeigt der Angriff auf die Ukraine. Die Betriebsweisen im Innern und in den Außenbeziehungen nähern sich an. Die russische Elite sieht das Land dabei als eurasische Vormacht, als Gewinner des vermeintlichen Einflussverlustes der USA und der EU, aber auch als Bollwerk gegen islamischen Fundamentalismus. Russlands politische Führung sieht das globale Erstarken illiberaler beziehungsweise anti-demokratischer Regime als „Niedergang des Abendlandes“, als Vorzeichen eines historischen Sieges über den Westen, oder als verspätete Revanche für die Auflösung der UdSSR. Die Wahrnehmung des Westens als schwach, uneinig, scheinheilig, dekadent, letztlich nur materiell interessiert und auf Konfliktvermeidung bedacht hat Putins Aggression mit ermöglicht. Insofern ist Putins aggressive Außenpolitik nicht nur Reflex auf die Missachtung des Völkerrechts durch westliche Staaten (insbesondere im Irakkrieg), sondern auch einer Politik, die von Werten redete, aber oft genug den Interessen der Gas- und Ölindustrie sowie der Exporteure den Vorrang einräumte.

    Die russische Außenpolitik ist anti-liberal, aber nicht ideologisch-fundamentalistisch wie zu Sowjetzeiten. Kontinuitäten sind gleichwohl vielfältig: Dazu gehört etwa die Instrumentalisierung der Außenpolitik für innenpolitische Zwecke, die Fixierung auf das Feindbild USA und auf (vermeintliche) Einmischung der NATO-Länder in innere Angelegenheiten, der Nahe Osten als Einflusssphäre, die Gegnerschaft zu demokratischen Gesellschaften, die Begrenzung der Souveränität von „Verbündeten“ wie Belarus und das Schmieden von Allianzen mit den Gegnern der USA. 
    Dem Kreml geht es um exklusive Einflusszonen und um die Einhegung der NATO. Russland will einen „Cordon sanitaire“, eine Pufferzone. Dass frühere Vasallen aus dem Warschauer Vertrag zur NATO übergelaufen sind, dürften russische Sicherheitspolitiker als anhaltende Schmach empfinden. Die Vorstellung einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO dürfte einigen Silowiki noch gruseliger erscheinen als eine Destabilisierung nach dem Muster der Perestroika. 

    7. Die Sicherheitsstrukturen, allen voran der FSB, sind eine zentrale Stütze der Macht für Präsident Putin. Wie fest sind diese Eliten der Sicherheitsapparate heute verankert? Und wie wirkt sich das politisch beziehungsweise gesellschaftlich aus? 

    In vielen postsozialistischen Staaten hat es eine Säuberung, das heißt Entlassung von führenden Vertretern der Sicherheitsapparate oder zumindest eine normative Abkehr von den sozialistischen Repressionsorganen gegeben. In Russland jedoch ist dies sowohl personell, institutionell als auch vergangenheitspolitisch ausgeblieben. Vom KGB gibt es eine ungebrochene Kontinuitätslinie zum heutigen FSB. Die Silowiki und die Heerscharen an mittleren und höheren Staatsbediensteten sind die entscheidenden Träger des Systems Putin und der im Land verschärften Repression. Namhafte Kritiker des Präsidenten wurden am Anfang der Putin-Ära ins Exil getrieben (Beresowski 2000, Gussinski 2000), dann ins Gefängnis gesteckt (Chodorkowski 2003), der Föderalismus wurde umgehend abgeschafft, es folgten Morde oder versuchte Morde (Politkowskaja 2006, Litwinenko 2006, Estemirowa 2009, Nemzow 2015, Skripal 2018, Khangoshvili 2019, Nawalny 2020). Die politischen Morde sind teilweise von Schergen des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow ausgeführt worden, die formal jedoch dem russischen Innenministerium unterstehen. 
    Bei keinem dieser Morde wurde der ultimative Auftraggeber dingfest gemacht. Ob die Spur zu Putin führt, ob es eine Generalermächtigung gibt, unliebsame Opponenten umzubringen, oder ob die Sicherheitsorgane eigenmächtig handeln, wird erst durch Historiker entziffert werden können. Aber es ist das System, das politische Morde ermöglicht, Gelegenheiten schafft und stets eine rechtliche Ahndung hintertreibt. Das Erbe der Sowjetunion besteht dabei einerseits in der überproportionalen Rolle der Sicherheitsapparate im politischen System. Andererseits ist die zivile Kontrolle, die früher von der KPdSU wahrgenommen wurde, heute schwächer. Anders gesagt: Früher waren die Sicherheitsapparate ein Staat im Staat, heute sind sie der Staat. Eine Stalinisierung des politischen Systems unter der Einwirkung des Krieges ist wahrscheinlich: Die Sicherheitsapparate werden unter Druck gesetzt zu liefern, was der Diktator Putin von ihnen verlangt. Da dies unmöglich ist, werden voraussichtlich immer mehr Führungsoffiziere als Schuldige geopfert – oder abtrünnig werden. 

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autor: Andreas Heinemann-Grüder
    Veröffentlicht am 05.04.2022

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