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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wenn die Raketen fliegen – Fußball im Krieg

    Wenn die Raketen fliegen – Fußball im Krieg

    Als die erste Schockstarre nach Beginn des russischen Angriffskrieges überwunden war, fragte man sich in der Ukraine, wie es mit dem Fußball weitergehen könnte. Die Meisterschaften der Saison 2021/2022 wurden bekanntlich eingefroren. Die Entscheidung, den Ball trotz des Krieges wieder rollen zu lassen, begann im späten Frühjahr zu reifen. Die Entscheidung wurde auf höchster Ebene vorangetrieben. Wolodymyr Selensky sprach sich persönlich dafür aus, neue Meisterschaften anzusetzen. Am 23. und 24. August, dem Tag der Unabhängigkeit der Ukraine, ist es nun soweit, mit dem Start der höchsten Spielklasse des Landes.

    Allerdings gibt es viele Zweifel, Skeptiker und natürlich wichtige Fragen: Wie spielt man Fußball, wenn russische Raketen fliegen? Darf man in einem Krieg überhaupt Fußball spielen? Oder muss man sogar? Werden Fans zu den Spielen zugelassen? Was passiert, wenn es während des Spiels Luftalarm gibt? Haben die Vereine überhaupt noch genügend finanzielle Mittel, um das millionenschwere Fußballgeschäft aufrechtzuerhalten?

    All diesen Fragen und anderen widmet sich der ukrainische Sportjournalist Yuriy Konkevych in diesem Beitrag. Er erklärt, welche Debatten rund um den Wiederanpfiff geführt wurden und wie die Meisterschaft in der Zeit des Krieges sicher und reibungslos ablaufen soll. 

    Der Artikel entstand in einer Kooperation mit dem österreichischen Fußballmagazin ballesterer, in dessen September-Ausgabe eine kürzere Version dieses Beitrags erscheint. Er gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Am 23. August beginnt – trotz allem – die neue Saison der Premjer Liha, der höchsten Spielklasse im ukrainischen Fußball. Die Spiele werden in den heimatlichen Stadien ausgetragen. Die Zusammensetzung der Liga wie auch der Teams wird allerdings eine andere sein. Und die Spielbedingungen wurden an die Realitäten des Krieges angepasst.

    „Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie wir spielen werden. An jedem Ort der Ukraine kann jederzeit eine Rakete einschlagen. Kann gut sein, dass du losläufst und es nicht in den Luftschutzkeller schaffst.“ Diese Bedenken des Fußballers Olexandr Kutscherenko sind berechtigt. Den ganzen Sommer saß er am Steuer eines Transporters und fuhr in den Osten der Ukraine, um humanitäre Hilfsgüter zu verteilen, die Freunde, Fans und Fußballer gesammelt haben. „Aber ohne Fußball geht es auch nicht. Ich habe zwei Träume: Dass die Saison losgeht, und dass wir die Besatzer aus unserem Land jagen“, ergänzt Kutscherenko.

    Der Trainer Juri Wernydub ist der gleichen Ansicht. Sein Team von Sheriff Tiraspol aus Moldau spielte am 24. Februar in der Europaliga gegen Braga in Portugal. Als er vom Kriegsbeginn erfuhr, packte er seine Sachen, fuhr in die Ukraine zurück und ging als Artillerist an die Front. Im Juni nahm er seine Arbeit als Trainer wieder auf, nun allerdings in der Ukraine.

    Spieler sammeln Geld, Fans kämpfen an der Front 

    Kutscherenko ist einer der wenigen Fußballer, die der Front und den zivilen Stellen nicht nur mit Geld helfen, sondern sich auch in die Bewegung der Ehrenamtlichen eingeklinkt haben. Selbst als sich sein Team von Inhulez Petrowe, einem Premjer Liha-Verein aus der Zentralukraine, auf die Saison vorbereitete, versuchte Olexsandr noch, der Armee zu helfen.

    Erst der Schock, dann wird gehandelt, so leben die Ukrainer seit dem 24. Februar. Den Fans hat gefallen, wie fast alle prominenten Fußballer auf den Krieg reagierten. Namhafte Legionäre von europäischen Spitzenklubs: Ruslan Malinowski von Atalanta Bergamo, Andrij Jarmolenko von West Ham United, Olexandr Sintschenko, der jetzt bei Arsenal London spielt, oder Roman Jaremtschuk von Benfica Lissabon, sie alle sammelten Millionen Euro für die Ukraine und die Armee.

    Fußballlegende Andrij Schewtschenko ist aktuell Botschafter der Präsidentenstiftung United24, die im Ausland Spenden sammelt. Dynamo Kyjiw und Schachtar Donezk haben Dutzende internationale Benefizspiele veranstaltet, um Geld für die Armee zu sammeln, und dabei gleichzeitig die Spieler der ukrainischen Nationalmannschaft für die Playoff-Qualifikationsspiele zur WM 2022 fitgemacht.

    Viele Ultras kämpfen seit dem 24. Februar an der Front, einige sind gefallen. Beim Benefizspiel von ehemaligen Spielern des FK Wolyn aus Luzk in der Westukraine, dem ersten Spiel überhaupt seit November 2021, waren im Block der Ultras nicht mal zehn Fans anwesend. Bei diesem Spiel wurden Gelder zum Kauf von Kampfdrohnen gesammelt.

    Am emotionalsten waren die Spiele der Nationalmannschaft im Ausland. Die Blau-Gelben konnten zwar Schottland bezwingen, scheiterten dann aber im Finale um den letzten Platz für das Teilnehmerfeld bei der der WM in Katar an Wales. Es folgten drei Spiele in der Nations League. Überall dominierten die Nationalfarben in den Stadien, ukrainische Lieder wurden gesungen, und die Fans reisten aus ganz Europa an.

    Das Juri Gagarin-Stadion in Tschernihiw, zerstört durch russische Raketen / Foto © Facebook/desnafc

    Angesichts dieser einmütigen Reaktion ist das Verhalten einiger ukrainischer Spieler, die in Russland geblieben sind, besonders auffällig. Iwan Ordez, ein ehemaliger Spieler von Schachtar Donezk, verlängerte seinen Vertrag bei Dynamo Moskau, nahm allerdings eine Leihoption beim deutschen Bundesligisten VfL Bochum in Anspruch. Der ukrainische Rekordnationalspieler Anatoli Tymoschtschuk (144 Einsätze) hat sich mit keinem Wort zum Krieg geäußert, lebt weiterhin in Sankt Petersburg und arbeitet dort für Zenit. Der U-19-Europameister Wytali Wyzenez wurde wegen „antiukrainischer“ Äußerungen beim ukrainischen Krywbas Krywyj Rih gefeuert; fand aber schnell einen neuen Arbeitsplatz beim russischen Erstligisten Arsenal Tula. Jaroslaw Rakyzkyj, der immer wieder aufgrund seines mangelnden Patriotismus kritisiert wurde (er hatte bei Spielen der Nationalmannschaft prinzipiell nicht die Hymne mitgesungen), packte einige Tage nach Kriegsbeginn seine Sachen und ging nach Russland.

    Spiele unter Bomben: unterbrochen wegen Luftalarms 

    Als der erste Schock überwunden war, fragte man sich in der Ukraine, wie es mit dem Fußball weitergehen soll. Die Profiligen in der Ukraine waren stets mit Geldern von Oligarchen verquickt, und angesichts der riesigen Zerstörungen und des finanziellen Zusammenbruchs weigerten sich viele Klubpräsidenten, ihre Mittel für Fußball auszugeben.

    Aufgrund ihrer zerstörten Heimspielstätten haben sich Desna Tschernihiw und der FK Mariupol aus der ukrainischen Premjer Liha zurückgezogen. In Mariupol haben die Russen Asowstal zerbombt, das Stahlwerk, das Rinat Achmetow gehörte, dem Eigentümer und Präsidenten des großen FK Schachtar Donezk.

    Aufgrund der finanziellen Probleme der Vereinsbesitzer oder der zerstörten Infrastruktur fehlen der zweit- und dritthöchsten ukrainischen Liga (dem Namen nach die Erste und Zweite Ukrainische Liga) 20 bis 30 Prozent der Klubs. Einige Besitzer erklärten, sie würden ihr Engagement im Profifußball aussetzen, aber den Jugendfußball weiter unterstützen. Nach dem Sieg im Krieg würde man eine Rückkehr der Professionellen Fußballliga (PFL) der Ukraine, die die Erste und Zweite Liga organisiert und verwaltet, oder der Ukrainischen Premjer Liha (UPL) ermöglichen.

    Die Meisterschaft 2021/22 wurde bekanntlich abgebrochen, der Meistertitel nicht vergeben Die Entscheidung über einen Wiederbeginn der Premjer Liha reifte Ende März 2022 heran, als die russische Armee aus dem Kyjiwer Umland und dem Norden der Ukraine vertrieben wurde. Ein Teil der Vereinsbesitzer, die an den europäischen Wettbewerben teilnehmen wollten, erhoben die Forderung, die Meisterschaft in Polen oder der Türkei auszutragen. Es gab auch Stimmen, die kein Verständnis dafür zeigten, dass für Fußball Geld ausgegeben wird, wo doch die Armee dringend die Mittel benötige. Der Präsident von Agrobisnes Wolotschysk aus der Zweiten Liga hat sein Team sogar aufgelöst – „bis zum Sieg“. Bis zu zehn Spieler und Mitarbeiter des Klubs dienen in den ukrainischen Streitkräften.

    Ihor Dedyschyn, Geschäftsführer Sport von Ruch Lwiw, ist da weniger kategorisch. Er verweist die Gegner eines „Fußballs unter Bomben“ auf die Erfahrungen in Kroatien. „Anfang der 1990er Jahre, als sich das Land im Krieg befand, haben sie dort vier Jahre Fußball gespielt. Das war ein Weg, Zusammenhalt zu zeigen, sein Land zu unterstützen, Kroatien moralisch zu stärken“, erklärte Dedyschyn.

    Präsident Wolodymyr Selensky bestand bei einem Treffen mit Andrij Pawelko, dem Chef des Ukrainischen Fußballverbands, darauf, dass die Meisterschaft ausschließlich aus patriotischen Motiven in der Ukraine veranstaltet werden solle. Er gab zu verstehen, dass er die massenhafte Abwanderung von Spielern – Männern im wehrfähigen Alter –, ins Ausland nicht dulden werde. Pawelko erklärte: „Wir haben darüber gesprochen, welche Kraft der Fußball hat, indem er den Menschen hilft, an die Zukunft zu denken. Daher haben wir gemeinsam mit dem Präsidenten beschlossen, dass wir im August die ukrainische Meisterschaft wieder aufnehmen werden.“

    Für den Saisonstart der Ukrainischen Premjer Liha (UPL) wurde ein symbolisches Datum gewählt: der 24. August, der Tag der Unabhängigkeit der Ukraine. In der Premjer Liha treten wie vor dem Krieg 16 Teams an. Der Klub Mynaj aus dem westukrainischen Ush‘horod, der eigentlich hätte absteigen müssen, zog eine Wild Card und blieb in der UPL, während die Ligaplätze von Desna Tschernihiw und FK Mariupol an Metalist Charkiw (das von dem Milliardär Olexandr Jaroslawskyj wiederbelebt wurde), und an Krywbas Krywyj Rih gingen, das von der Verwaltung und Firmen in Krywyj Rih unterstützt wird. Es ist die Geburtsstadt von Präsident Selensky.

    Doch der Beschluss zu spielen und in einem Land, das sich im Krieg befindet, den Ligabetrieb tatsächlich wieder aufzunehmen, sind zwei unterschiedliche Dinge: Das Stadion von Desna Tschernihiw etwa wurde bei Angriffen der russischen Armee getroffen, das Stadion von Metalist Charkiw erlebte eine Welle von Explosionen und auch in Stadien in der Nähe von Kyjiw (in Hostomel und Borodjanka) gab es einige Einschläge. Die Russen haben die Fußballarena in Mariupol zerbombt, in Bachmut und Wolnowacha sind alle Sportanlagen zerstört. Die Liste ließe sich lange fortführen.

    In zehn Stadien haben die Behörden nun einen Spielbetrieb ohne Zuschauer genehmigt, so in den relativ sicheren Gebieten Kyjiw, Lwiw und Transkarpatien; für die Spiele gelten besondere Sicherheitsauflagen. Alle Personen, die am Ligabetrieb beteiligt sind, werden vom Wehrdienst freigestellt. Die Spiele müssen in Stadien stattfinden, die sich höchstens 500 Meter von einem Luftschutzraum entfernt befinden. Pro Spiel werden höchstens 280 Zuschauer zugelassen. Im Fall eines Luftalarms wird das Spiel unterbrochen und alle begeben sich in den Luftschutzkeller. Hält der Luftalarm länger als 60 Minuten an, wird die Begegnung am nächsten Tag zu Ende gespielt. Ist der Alarm relativ schnell vorbei, bekommen die Mannschaften zehn Minuten, um sich wieder warmzumachen, bevor das Spiel fortgesetzt wird.

    Fußball in Kriegszeiten: mehr Chancen für junge Spieler

    Zum zweiten Mal nach 2014 haben im Sommer dieses Jahres sehr viele Ausländer die UPL verlassen. Nicht nur ausländische Spieler, sondern auch Ukrainer, die zu Kriegsbeginn in Trainingslagern im Ausland waren und nicht mehr zurückgekehrt sind. Wer Glück hatte, kam bei einem europäischen Klub unter. Andere gingen in Länder, die fußballerisch eher exotisch anmuten, in asiatische Staaten, nach Kanada oder Indien. Einige beschäftigen sich statt mit Fußball nun mit Kryptowährungen.

    Skeptiker sagen dem ukrainischen Fußball vor allem eines voraus: seinen Zusammenbruch. Optimisten sehen in der aktuellen Situation eine Chance, sie prognostizieren einen Aufschwung im Kinder- und Jugendbereich.

    Die Wahrheit liege wohl eher in der Mitte, sagt Jaroslaw Wyschnjak, der Trainer von Kolos Kowaliwka. Nach 2014 haben einige Vereine eine sehr starke Jugendarbeit aufgebaut. Viele junge Spieler sind in Vereinen der UPL Stammspieler geworden oder ins Ausland gegangen. Ein Beispiel ist der 18-jährige Jehor Jarmoljuk, der beim englischen Klub Brentford FC einen Vertrag für die Premier League erhielt. „Viele haben zwar die Ukraine verlassen“, meint Wyschnjak, „aber schauen Sie nur, was für Trainer geblieben sind: Juri Wernydub, Roman Hrygortschuk, Mircea Lucescu, Igor Jovićević, Wiktor Skrypnyk. Die wissen, wie man mit jungen Spielern arbeiten muss, deshalb wird es bald neue Spieler geben, auf die wir stolz sein können.“

    Wyschnjak ist Cheftrainer des FK Kolos aus dem Dorf Kowaliwka im Kyjiwer Gebiet. Das Team rangiert in der Premjer Liha im Mittelfeld. Experten schätzen, dass die Spiele von Kolos und sieben bis acht weiterer Vereine entscheidend dafür sein werden, wie sich das Fußballinteresse der Ukrainer in Zeiten des Krieges entwickelt. Die Qualität des Fußballs könnte nachlassen, daher rücken nicht Preise und das Niveau der Spieler in den Vordergrund, sondern die Entscheidungen von Trainern und Managern. „Die Gehälter sind erheblich zurückgegangen, die Nachfrage nach guten ukrainischen Spielern ist gestiegen, und die Manager mit der größten Weitsicht könnten zu dem Schluss kommen, dass man selbst in Kriegszeiten neue Spieler aufbauen kann, die nach dem Krieg Ablösesummen einbringen“, meint der Fußballkommentator Wiktor Wazko.

    Meisterschaft der Skandale

    Eine Eigenheit aus früheren Zeiten hat der ukrainische Fußball allerdings auch jetzt noch beibehalten: die Skandale.

    Im März richtete sich die Wut der Fans gegen die Brüder Ihor und Hrygori Surkis, die Bosse von Dynamo Kyjiw. Medien hatten berichtet, dass sie 17 Millionen US-Dollar, eine russische Staatsangehörige und zwei Männer im wehrfähigen Alter mit dem Kleinbus außer Landes gebracht hatten. Hrygori Surkis kam daraufhin zurück, allerdings nur, um seine Uhrensammlung abzuholen.

    Im Sommer sorgte dann Schachtar Donezk Aufregung: Anstelle des Italieners Roberto De Zerbi übernahm der Kroate Igor Jovićević das Team, obwohl letzterer zuvor mehrfach seine Treue gegenüber Dnipro-1 verkündet hatte. Zusätzlich entschied sich Schachtar, gegen die FIFA vors Sportgericht zu ziehen, um 50 Millionen Euro Entschädigung einzufordern. Der Grund seien die neuen Transferregeln für die UPL: Die FIFA hatte es nach dem 24. Februar ausländischen Spielern in der UPL erlaubt, die Verträge mit ihren Klubs auszusetzen und auch mitten in der Saison den Verein zu wechseln. Das war ein Schlag für jene Vereine, die vor allem auf ausländische Spieler setzen, zu denen eben auch Schachtar gehört. Der Verein aus Donezk hatte im Februar 14 Ausländer unter Vertrag, von denen er sich nun trennen musste und dabei erhebliche Geldsummen verlor. „Wir hatten keine Zeit, die Spieler zu verkaufen. Die potenziellen Käufer und auch die Agenten der Spieler mussten einfach nur den 30. Juni abwarten, um keine Ablöse an den Verein zahlen zu müssen“, erklärt Serhij Palkin, Generaldirektor von Schachtar, den Grund für die Klage.

    Der neue Mannschaftsbus von Schachtar Donezk / Foto ©  facebook.com/fcshakhtar
    Der neue Mannschaftsbus von Schachtar Donezk / Foto © facebook.com/fcshakhtar

    All diese Herausforderungen, die der Krieg mit sich bringt, könnten den ukrainischen Fußball um Jahrzehnte zurückwerfen. Dringender denn je ist jetzt eine schnelle Reaktion des Ukrainischen Fußballverbands (UAF) gefragt. Dem steht seit 2015 Andrij Pawelko vor. Er übernahm das Amt unter dem Eindruck unzufriedener Fans, die forderten, den Fußball zu reformieren, die Korruption zu beseitigen und den Einfluss der Oligarchen einzuhegen. 

    Stattdessen ist es Pawelko gelungen, vor allem seine Macht zu zementieren. Neben der Leitung des ukrainischen Fußballs hatte er lange auch den Vorsitz im Haushaltsausschuss des Parlaments inne, und zwar für die Partei von Ex-Präsident Petro Poroschenko. In dieser Zeit hat er die Vorsitzenden der Fußball-Regionalverbände abgesetzt und dort seine Vertrauten installiert. Nach dem Sieg von Wolodymyr Selenskyj zeigte er sich auch dem neuen Präsidenten gegenüber loyal.

    Am 5. März sollte ein neuer Präsident des ukrainischen Verbandes gewählt werden, doch wegen der Kriegsereignisse wurde der Verbandskongress abgesagt. Eine spannende Wahl war eh nicht zu erwarten: einen Gegenkandidaten zu Pawelko gab es nicht. Aufgrund einer Satzungsänderung ist für eine außerordentliche Neuwahl des Verbandspräsidenten oder die Nominierung eines Kandidaten eine Zweidrittelmehrheit der Teilnehmer erforderlich. Die ist derzeit schlicht unrealistisch.

    „Pawelko ist unser Lukaschenko“, scherzt der ukrainische Journalist Michail Sliwakowskyj. Sein Kollege Roberto Morales ist überzeugt, dass Pawelko deshalb eine Wiederwahl braucht, damit er im Exekutivkomitee der UEFA bleiben kann. Wenn er bis Dezember nicht wiedergewählt wird, könnte er seinen Posten verlieren.

    Unterdessen nutzt Russland den Fußball, um seine imperialen Ideen zu verfolgen. Im Juli sprach Odes Bajsultanow, stellvertretender Sportminister Russlands, über Pläne, einen Ligawettbewerb mit Vereinen von der besetzten Halbinsel Krim, aus den sogenannten Volksrepubliken im Donbass, den besetzten Teilen der Gebiete Cherson und Saporishshja sowie aus Abchasien und Südossetien zu veranstalten. Den Russen ist klar, dass sie sich damit weitere Sanktionen der UEFA einhandeln könnten, daher wird diese Sonderliga für „befreundete Republiken“ in einem Format angekündigt, das keine russische Beteiligung vorsieht. Die Liga soll 2023 starten, doch zuvor haben sie mit dem Widerstand der ukrainischen Armee zu rechnen.

    Autor: Yuriy Konkevych
    Übersetzer: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 23.08.2022

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  • „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    Russlands Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Köpfen der Menschen geführt. Das Politische schneidet dabei so scharf ins Private ein, dass ganze Familien zerbrechen. Seit der Invasion passiert das in Russland zigfach, noch mehr als das ohnehin schon seit 2014 und dem Krieg im Donbass der Fall war. Diese Kluft verläuft entlang der offiziellen Linie der russischen Führung, zwischen Eltern und ihren Kindern, unter Geschwistern, ja sogar Eheleuten. Der bekannte russische Journalist Andrej Loschak hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht: Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch). Er wurde auf YouTube veröffentlicht, eine der wenigen Nischen, in der in Russland noch kritische Standpunkte zum Krieg zu finden sind. 

    Mit Loschak hat die ukrainische Journalistin Anna Filimonowa, Herausgeberin des Online-Magazins Majak, für Holod über seinen Film gesprochen – über Mütter, die Putin alles glauben, das Klammern an Mythen und die letzten Chancen des Zweifelns. 



    Hier gibt es die Doku Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch) mit englischen Untertiteln

    Anna Filimonowa: Ich wollte Sie eigentlich zunächst fragen, seit wann Sie sich für das Thema Ukraine interessieren. Doch in Ihrer Dokumentation Rasryw swjasi geht es im Grunde gar nicht um die Ukraine, oder?

    Andrej Loschak: Das ist heute schwer zu trennen – es ist nicht das erste Mal, dass Russland in die Ukraine einmarschiert und dort einen Krieg beginnt. Leider hängt die Situation in der Ukraine jetzt davon ab, was die Russen dazu denken und fühlen. Da gibt es eine direkte Verbindung: Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein. Und für mich als Journalist, der immer mit dem russischen Kontext gearbeitet hat, lag es in der Natur der Sache, etwas darüber zu machen, wie das alles in Russland wahrgenommen wird. Allein schon, weil ich viel weniger davon verstehe, wie es die Ukrainer wahrnehmen.

    Die Idee mit der Kluft zwischen Familienmitgliedern hatte ich eigentlich seit 2014. Schon damals hat die Krim die Gesellschaft stark polarisiert. Wobei es jetzt, wie mir scheint, mehr Menschen gibt, die gegen den Krieg sind – oder zumindest zweifeln. Weil sie diesmal nicht mit irgendwelchen Märchen über grüne Männchen durchkommen und von Anfang an alles schiefgelaufen ist. Die Menschen sehen, dass das eine blutige, schwerwiegende, furchtbare Geschichte ist, sodass trotz allem Zweifel aufkommen.  

    Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein

    Ich habe mir diese Mütter in Ihrem Film angesehen und hatte den Eindruck, dass für sie allein schon der Gedanke unerträglich ist, dass ein russischer Soldat vergewaltigen, plündern und Zivilisten töten kann. Sie schieben diese Vorstellung weit von sich – das kann nicht wahr sein, das ist Fake. Meines Erachtens ist das ein sehr wichtiger Aspekt, denn er zeigt, dass nicht alles Menschliche in ihnen abgestorben ist.   

    Natürlich. Für mich ist genau das der Knackpunkt des Films: Eigentlich sehen wir ganz normale Menschen. Das heißt, sie sagen ziemlich ungeheuerliche Sachen, aber wir sehen auch, dass sie liebende Eltern, Ehemänner und dergleichen sind. Das war der Grund, warum ich familiäre Beziehungen zum Thema machte – die sind immer sehr menschlich: Man sieht lebendige Gefühle, Leiden, Freude etc. Auch hier. Aber wenn sie über das zu sprechen anfangen, was in der Ukraine passiert, verlieren sie ihre Menschlichkeit irgendwie. Ob sie jetzt Zombies sind oder Unmenschen – irgendetwas stimmt mit ihnen nicht. Ihre Gedanken sind nicht ihre Gedanken. Als ob sie nicht mit eigenen Worten sprechen würden. Ihre Stimmen, die Intonation, ihr Gesichtsausdruck – an allem sieht man, dass das nicht ganz sie sind. Als würde etwas von ihnen Besitz ergreifen, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Das ist wahrscheinlich etwas Psychologisches oder Psychiatrisches.

    Die Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird

    Wenn sie den Gedanken zulassen würden, dass die Russen das alles wirklich machen, dass sie auf fremdem Territorium Menschen umbringen, dann wäre das sehr schlimm für sie, sehr schockierend. Mit diesem Gedanken will die Mehrheit der Menschen, nach allem zu urteilen, einfach nicht leben.      

    Diese Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles gut ist, dass Putin unser Präsident, unser nationaler Leader ist, dass er gegen Feinde der Heimat kämpft, gegen den Westen, der uns zerstören will. Ihnen schien, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird. Es ist sehr schwer, das zu glauben, es ist sehr schwer, das zu akzeptieren. Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe, die sein Bewusstsein ihm hinwirft. „Unsere Soldaten sind zu so etwas schlichtweg nicht imstande.“ Wirklich nicht? Haben Sie gesehen, was sie in Tschetschenien angerichtet haben?

    Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe

    Ich habe Bücher über einfache Leute und über Soldaten im Dritten Reich gelesen, die ungeheuerliche Verbrechen begingen, aber bis dahin ganz normale Bürger waren. In ihren Verhörprotokollen ging es darum, wie sie sich verhalten haben und warum sie sich so verhalten haben. Sie sagten, sie wollten dazugehören. Alle machen das, soll ich etwa nicht? Bin ich etwa keiner von ihnen? Bin ich denn schwach, bin ich feige? Nein, ich will auch dabei sein. Man will nicht in der Minderheit sein – das macht Angst. Wenn man zur Mehrheit gehört, fühlt man sich irgendwie wohler. Und dann zimmert man sich seine Realität zurecht: Unsere Soldaten würden das nie tun. Punkt. Sie glauben das ja wirklich. Es ist nicht so, dass sie mich zynisch hinters Licht führen wollten, sondern sie glauben das. 

    Ihr Film wurde in Tbilisi öffentlich gezeigt, und die Zuschauer lachten an den Stellen, wo Befürworter des Kriegs sprachen. Hat Sie das beeindruckt?

    Ich habe davon gehört, dass die Leute gelacht haben, ja. Und meine Redakteurin Darina Lukutina sagte, dass das wie eine Schutzreaktion klang, ein sehr nervöses Lachen. Ich habe im Grunde kein Problem damit, wenn jemand über Dummheit oder logische Ungereimtheiten lacht – davon gibt es in den Antworten jener, die für den Krieg sind, genug, und ich habe bewusst versucht, sie herauszustellen.   

    Es gibt da auch einen interessanten Effekt. Sie übernehmen quasi irgendwelche Formeln aus dem Fernsehen oder woher auch immer. Doch wenn man weiterbohrt und versucht, in die Tiefe zu gehen, fangen sie an, sich zu widersprechen und zu stammeln wie Studenten bei einer Prüfung, für die sie nicht gelernt haben. Das zu zeigen, war mir wichtig. Wie Menschen, die sich vor der Realität verstecken, einfach das glauben, was ihnen die Propaganda vorgaukelt. Aber die Propaganda benimmt sich oft seltsam – wenn sie etwas richtig verschissen haben, dann verbreiten sie einfach tonnenweise unterschiedliche Versionen und überfluten den Informationsraum mit Dreck. So wie bei Butscha. So kriegt man das Gefühl, dass alle lügen, und glaubt niemandem mehr – auch den Ukrainern nicht. 

    Sie sind Menschen, normale Bürger, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, auf keinen Fall

    Ich glaube nicht, dass das Publikum aus Herzlosigkeit gelacht hat. Und ich wollte meine Protagonisten auch nicht karikieren und lächerlich machen. Ich wollte, dass die Zuschauer in ihnen Menschen sehen. Weil das alles sehr komplex ist, sie sind nicht einfach irgendwelche Trolle oder Orks. Sie sind Menschen, normale Leute, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, das auf keinen Fall.

    Sie sprechen davon, wie brüchig ihre Haltung ist. Wobei es unmöglich ist, sie von etwas anderem zu überzeugen.

    Das ist deswegen unmöglich, weil es ein Glaube ist und sich somit außerhalb jeglicher Logik befindet: Es ist absurd, also glaube ich.

    In Ihrem Film spricht eine Psychotherapeutin über eine narzisstische Spaltung: ein beklemmendes Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, das man mit einem Gefühl von Grandiosität bekämpft. Das wird als narzisstischer Schutz bezeichnet. Mit der Mutter dieser Psychotherapeutin hatte ich am meisten Mitgefühl, weil sie so vertrauensselig in dieser Falle sitzt und inständig glaubt, für das Gute zu sein, aber in Wirklichkeit auf der Seite des Bösen steht. Was alle anderen betrifft, kommt natürlich so ein Gefühl auf, wo man auf Revanche hofft: Ich warte auf den Moment, wenn ihr endlich die Wahrheit erfahrt. So einen Film würde ich mir gern anschauen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das je passieren wird.  

    Ja, ich träume auch davon, das zu sehen. Nicht aus Schadenfreude – für mich als jemanden, der immer noch russischer Patriot ist und dem Land  nur das Beste wünscht, ist es wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung. Das würde ich gern noch erleben. Denn solange mindestens die Hälfte des Landes in einem realitätsfremden Zombie-Zustand verharrt, wird in diesem Land nichts besser werden. Und das ist eine echte Bedrohung für die ganze Welt.

    Es ist wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung

    Ich weiß nicht, was die Soldaten denken. Ich würde ja gern eine Methode erfinden, wie ich in die Köpfe jener Leute hineinkriechen kann, die die Kriegsverbrechen verübt haben. Die Protagonisten von Rasryw swjasi kann man als Opfer betrachten – sie wurden gehirngewaschen, für dies und jenes drohen Haftstrafen, sie haben Angst und all das. Aber sie sind nicht direkt an Kriegsverbrechen beteiligt. Doch die, die im Krieg sind – ich würde nur zu gern wissen, was in ihnen vorgeht, was sie antreibt zu tun, was sie tun.  

    Verfolgen Sie weiterhin, was mit Ihren Protagonisten passiert? Diejenigen, die in Russland leben und gegen den Krieg sind, gehen ja bestimmt ein Risiko ein. Hat sich in ihrem Leben etwas verändert?

    Noch scheint alles relativ okay zu sein. Bis auf ein paar nervenaufreibende Anrufe ist bisher nichts passiert. Es sah zwar so aus, als gäbe es [für die staatliche Willkür] überhaupt kein Halten mehr, aber vielleicht doch. Den Leuten wird nicht einfach gekündigt, nur weil sie im Film sagen, dass sie gegen den Krieg sind. Mehr sagen sie ja nicht, sie sagen nichts Strafbares. Nur: Wir wollen keinen Krieg. 

    Halten Sie es für möglich, dass Sie nie mehr nach Russland zurückkehren können?

    Ja. Wahrscheinlich ist mir das noch nicht sehr bewusst, aber ich will nicht so wie die Protagonisten in meinem Film sein und mich an irgendwelche illusorischen Konstrukte klammern. Man muss sich deutlich bewusst machen, dass diese Möglichkeit besteht. Die Erfahrung früherer Migrationswellen zeigt, dass sich das jahrzehntelang hinziehen kann. 

    Noch habe ich keine nostalgischen Anfälle von Heimweh, weil diese Erfahrung ja noch ganz frisch ist. Später wird das schon noch kommen, aber darum geht es nicht. Das Problem ist, dass mein Beruf mit Russland verbunden ist. Das ist das, wo ich mich halbwegs kompetent fühle: Ich kann Geschichten aus der russischen Pampa erzählen, über Russland und die russische Mentalität. Mich haben die Paradoxa dieser Mentalität immer interessiert, und damit habe ich gearbeitet. Ich kannte die Antworten nicht, aber ich wusste, welche Fragen ich stellen will. Jetzt muss ich mich wohl irgendwie umorientieren. Hinfahren [nach Russland] wird kaum gehen, dabei mache ich hauptsächlich Reportagen: Man fährt an den Ort, in die Gegend, und unterhält sich mit den Leuten dort. Wie es für mich jetzt ohne dieses Land weitergehen soll, das ist die große Frage.   

    Wie es für mich jetzt ohne Russland weitergehen soll, das ist die große Frage

    Wahrscheinlich wird sich mit der Zeit der Kontext ändern, es werden andere Interessen dazukommen. Aber ich stelle mir auch die Frage: Wozu machst du das? Weil ich eigentlich schon die russische Zielgruppe vor Augen hatte. Für wen soll ich sonst arbeiten, wenn nicht für sie? Wenn die Verbindungen jetzt endgültig abreißen – wenn das Internet abgedreht wird oder einfach bei jedem, der irgendetwas aus dem Ausland anklickt, sofort Genosse Major anklopft. Das ist denkbar, es geht in diese Richtung, ich bin darauf gefasst. Aber es macht mich fertig.    

    Ich kann die Ukrainer nicht dazu bewegen, mit den Russen mitzufühlen, aber ich glaube, wir vergessen manchmal, dass ihr euer Land verliert. Wir verlieren unser Land nicht. Es stimmt, uns droht der Tod, aber was uns bleibt, ist unser Land. 

    Ja, das ist ein grundlegender Unterschied. Ihr habt ein Land, in das ihr zurückkehren könnt. Also, natürlich müsst ihr euch erstmal von dieser Horde befreien, aber dann könnt ihr zurückkehren und aufbauen. Und ihr wisst, was ihr bauen wollt und wie. Bei uns herrscht absolute Ungewissheit. Vor uns liegt die Finsternis, ansonsten sieht man nichts mehr.          

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    Russland liefert derzeit deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, berief sich zwischenzeitlich auf „höhere Gewalt“ und mehrmals auf Wartungsarbeiten. Zahlreiche europäische Politiker halten das für Vorwände und Taktik mit dem Kalkül: Der Westen solle gezwungen werden, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen, um im Gegenzug im nächsten Winter nicht zu frieren. Seit diesem Dienstag gilt ein Notfallplan der EU, um Gas sorgsamer zu verbrauchen und für den Fall eventueller Lieferstopps vorzusorgen.

    Besonders abhängig vom russischen Gas ist und bleibt Deutschland. Entgegen der erhitzten deutschen Debatte, lässt sich eine schwere Gaskrise laut Experten für diesen Winter – jedenfalls mit rechtzeitigen Sparmaßnahmen – noch abwenden. Deutsche Gasspeicher sind im Moment mehr als 70 Prozent gefüllt, 90 sollten es werden, so das angestrebte Ziel.  

    Was auf der anderen Seite das Erdöl angeht: Die Preise sind schon massiv gestiegen, die EU will ihre russischen Importe bis Jahresende um rund 90 Prozent reduzieren. 

    Doch welche Folgen haben Sanktionen und Gas-Lieferstopps eigentlich für Russland selbst? Immerhin speist sich der russische Staatshaushalt größtenteils aus Rohstoffexporten, die wiederum größtenteils nach Westeuropa gehen. Wird diese Geldquelle wirklich versiegen? Verfolgt Russland Pläne, um das zu kompensieren? Wenn ja, wie erfolgversprechend sind diese Ansätze? Und woher kommt das Geld für den Krieg gegen die Ukraine?

    Darüber hat The New Times-Chefredakteurin Yevgenia Albats mit dem Öl- und Gasmarkt-Experten Michail Krutichin und dem Wirtschaftsjournalisten Wladimir Gurewitsch gesprochen. 

    Yevgenia Albats: Wie stark sinken die Staatseinnahmen durch das europäische Embargo auf russisches Erdöl?

    Wladimir Gurewitsch: Im Moment kommen etwas mehr als 50,3 Prozent unserer Haushaltseinnahmen aus dem Erdgas- oder Erdölgeschäft. Dieser Anteil ändert sich ständig durch Ölpreisschwankungen. Das ist ein wichtiger, doch nicht der einzige Indikator. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hat eine viel größere Bedeutung für unsere Wirtschaft. Denn aus den Gewinnen der Erdöl- und Erdgasunternehmen und der erdölverarbeitenden Industrie (die Gewinnsteuer liegt bei 20 Prozent) fließen 17 Prozent in die Haushalte der Regionen. Wenn diese Unternehmen plötzlich weniger produzieren, dann ist klar, wohin das führt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Das sind Unternehmen, in denen die Menschen, selbst die einfachen Arbeiter, ganz gut verdienen. In diesen Unternehmen arbeiten hunderttausende Menschen. Wenn ihre Löhne sinken oder ein Teil entlassen werden muss, führt auch das zu geringeren Einnahmen in den Haushalten der Regionen. Zudem gehen weniger Sozialversicherungsbeiträge ein.

    Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie

    Punkt drei: Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie – Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transportwesen, Baugewerbe. Wenn sie da, mal angenommen, 150 Millionen Tonnen im Jahr weniger fördern, dann stagnieren auch die Aufträge in all diesen Branchen. Insofern geht es also bei weitem nicht nur um die Mindereinnahmen im föderalen Haushalt.

    Können wir diese Mindereinnahmen nicht wenigstens teilweise kompensieren? Der Export nach Indien soll sich um das Vierfache erhöht haben …

    Michail Krutichin: Indien reduziert die Importe aktuell bereits wieder.

    W.G.: China ebenfalls.

    M.K.: Und zwar gravierend, die Hoffnungen waren wohl nicht ganz gerechtfertigt. Daher sollten wir uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht. Das Erdöl aus Russland zu exportieren, zumal mit dem riesigen Rabatt von 30 Prozent, das bedeutet kolossale Anstrengungen, Aufwendungen, Ausgaben für Transport und so weiter. Auch besteht die Gefahr, dass das russische Erdöl und andere Flüssigtransporte aufgrund der Sanktionen nicht mehr versicherbar sind. Daher ist Indien so zurückhaltend bei Erhöhungen der Erdölimporte aus Russland. 

    Wir sollten uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht

    Für den Staatshaushalt gibt es verschiedene Überlegungen. Wenn die Erdölförderung um 56 Prozent fällt – die Förderung lag im vergangenen Jahr bei 524 bis 526 Millionen Tonnen, wenn also 250 bis 260 oder gar 300 Millionen verschwinden, dann ist das ein schwerer Schlag für die Einnahmen. Wenn wir sagen, dass 50 Prozent aus Erdöl- und Erdgaseinnahmen in den Staatshaushalt fließen, dann bezieht sich das auf drei Steuerarten: die Abbausteuer für Bodenschätze, die Ausfuhrsteuer und die Energiesteuer für Kraftstoffe. Und was ist mit den [Staatseinnahmen – dek] durch die Gewinnausschüttungen der Erdölunternehmen? Und mit dem erwähnten Einnahmerückgang  der Regionalhaushalte und mit dem sinkenden Steueraufkommen durch Rückgang der Lohnsteuereinnahmen? Und das ist noch nicht alles. Tatsächlich sprechen wir insgesamt von 70 Prozent des Staatshaushalts. Wenn wir die Erdölförderung also halbieren, was bleibt dann noch vom Staatshaushalt?

    Das genau zu beziffern ist unmöglich, weil wir weder die künftigen Preise kennen noch konkrete Zahlen, wie die Sanktionen wirklich umgesetzt werden und wie stark Russland die Erdölförderung zurückfährt. Aber es wird auf jeden Fall sehr viel.

    Und was geschieht mit den Erdölanlagen, wenn die Förderung derart stark reduziert werden muss?

    M.K.: Ja, das ist den Erdölunternehmen sehr wohl bewusst. Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen oder welche antasten, die erst kürzlich erschlossen wurden. Wer wird heute investieren, wenn der Gewinn erst in 10 bis 15 Jahren zu erwarten ist? Und wer weiß schon, was in diesen 10 bis 15 Jahren noch alles passiert? 

    Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen

    Erfahrung mit der Stilllegung von Bohrlöchern haben wir schon aus der Zeit, als die Förderung durch Vorgaben der OPEC+ eingeschränkt werden musste. Damals wurde vor allem die Förderung aus Quellen mit niedrigem Ertrag gedrosselt, also es wurden die ineffektivsten Bohrlöcher stillgelegt. Jetzt muss man aber weitergehen, sie schließen oder konservieren. Unter russischen Bedingungen ist das schwierig, denn ein Teil der Ölquellen befindet sich im hohen Norden. Dort sind die Bohrlöcher anderthalb bis zwei Kilometer tief. Wenn dieser Flüssigkeitspfahl einfriert, bilden sich gigantische Pfropfen, die man später nur unter Aufwendung hoher Kosten wieder entkonservieren kann, gegebenenfalls muss man komplett neu bohren.  

    Halten wir also fest, der Einnahmeausfall im Staatshaushalt durch das Öl-Embargo kann etwa 30 Prozent betragen – liege ich richtig?

    M.K.: Sogar mehr.

    Gut, also 30 bis 40 Prozent. Gleichzeitig lese ich letzte Woche in der Financial Times und im Economist, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Europa reduziert, dass Europa in Panik aufkommt, weil es zu erfrieren fürchtet. Gibt es denn auf russisches Gas noch keine Sanktionen?

    M.K.: Auf Gas gibt es keine Sanktionen. Selbst im 7. Sanktionspaket, das die EU gerade vorbereitet, ist keine Rede von Gas. Der Gazprom-Konzern hat aber gegenüber vier europäischen Abnehmern höhere Gewalt geltend gemacht. Aus Gründen, auf die man keinen Einfluss habe, könne man die Verpflichtungen gegenüber den Kunden nicht erfüllen. 

    Europa wurde der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa unabhängig von russischem Gas zu sein plant

    Was bedeutet das? Ich habe versucht zu verstehen, ob es für solche außergewöhnlichen Umstände irgendwelche unüberwindbaren Faktoren im technischen oder wirtschaftlichen Bereich gibt. Ich habe keine gefunden.

    Europa wurde also der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa in zwei bis fünf Jahren unabhängig von russischem Gas zu sein plant. Nun läuft eine Art Wettlauf. Die russische Regierung meint: ‚Wenn ihr so mit uns umgeht, zeigen wir euch mal, wie es ohne russisches Gas aussieht. Und so drehen wir euch unter einem passenden Vorwand – in unserem Fall höhere Gewalt – den Gashahn zu.‘

    Wenn ich Sie richtig verstehe, dann zeigt Russland Europa den Mittelfinger: Ihr wollt uns drohen? Hier hast du die Granate, Faschist – wie wir in der Kindheit sagten. Dennoch berührt all das unsere Staatseinnahmen. Wenn wir Europa geißeln, ist das vermutlich schmerzhaft für Europa, doch was wird aus unserem Haushalt? Das Erdöl fließt nicht, und da begrenzen wir auch noch selbst den Gasexport? Und wohin soll all das Gas gepumpt werden, das durch alle diese unendlichen Pipelines fließt, Jamal, TurkStream und wie sie alle heißen. 

    M.K.: Das kommt dem Mord an Gazprom gleich: Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur. Es bleibt nur eine kleine Pipeline über die Türkei auf den Balkan, die aus politischen Gründen ebenfalls geschlossen werden kann. Nach China haben wir eine Rohrleitung, durch die vergangenes Jahr 10 Milliarden Kubikmeter Gas geflossen sind. Das ist die Sila Sibiri, die bis 2025 ihr Maximum erreichen und bis zu 38 Milliarden Kubikmeter liefern soll. Die Chinesen haben einer Mehrabnahme von 10 Milliarden Kubikmetern zugestimmt. Was mit den restlichen fast 20 Milliarden ist, ist unklar.

    Das kommt dem Mord an Gazprom gleich. Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat. Nach dem Motto: Ich hab das alles durchkalkuliert. Er sagte, wir würden die Gasleitungen in den Westen mit denen im Osten verbinden und den Gasstrom von Asien Richtung Europa und von Europa Richtung Asien beliebig umschalten, je nachdem, was für uns vom Preis her gerade günstiger ist. Doch das funktioniert so nicht. Alle Rohre führen nach Europa, so viele Rohre, mehr als Europa benötigt. Es gibt aber keine Pipeline, die das Gazprom-Gas von der Jamal-Halbinsel, wo es neue Vorkommen und gute Fördermengen gibt, nach Asien transportieren kann. 

    Um diese Lagerstätten mit China zu verbinden, um eine Pipeline mit einer Kapazität von 100 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu bauen, braucht es 10 bis 15 Jahre. Der Präsident denkt aber, wie es mir scheint, dass er das gleich morgen erledigen kann. Er hat Gazprom öffentlich angewiesen: ‚Ich habe Gazprom den Auftrag erteilt, umgehend die Infrastruktur für den Transport von Gas in die asiatische Richtung zu organisieren.‘ Wie soll das umgehend möglich sein? Wie lange wird ein solcher Bau dauern?

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat

    Zudem werden die Chinesen nicht so viel Gas abnehmen. Es hat so viele Gespräche mit den Chinesen gekostet, um sie von Sila Sibiri zu überzeugen und von den 10 Milliarden Kubikmetern aus den Förderstätten im Fernen Osten. Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht aber in keinem chinesischen Plan. In keiner Berechnung, in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen chinesischen Plan gibt es diese Pipeline. Deshalb richtet seine Illusion großen Schaden an: Kommt, jetzt wischen wir Europa eins aus. Da geht dann allerdings auch Gazprom bei drauf  …

    W.G.: Wenn es keine Lieferungen mehr nach Europa gibt, dann bliebe letztlich nur China als Abnehmer von Pipeline-Gas, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eine weitere theoretische Variante ist die Umwandlung in Flüssigerdgas und die Verschiffung über den Arktischen Ozean. Dazu müsste man, ähnlich wie der Erdgasförderer Nowatek, eine große Menge an Flüssigerdgas-Fabriken wie Jamal LNG oder Arctic LNG 2 bauen. Und Absatzmärkte finden.

    Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht in keinem chinesischen Plan

    Allerdings ist es ein großes Problem, für solche Mengen an Flüssigerdgas Abnehmer zu finden. Zudem haben die bestehenden LNG -Terminals Probleme bei der Produktion. Das sind sehr große, komplexe und teure Anlagen, und das alles unter arktischen Bedingungen. Nach dem [sanktionsbedingten –  dek] Weggang der wichtigsten Zulieferer und vieler Beteiligter gibt es bereits heute Probleme mit der Fertigstellung des von Nowatek begonnenen Arctic LNG 2. Eine klare Antwort auf die Frage, wie die nicht gelieferte Technologie ersetzt und wie der technische Betrieb laufen soll, gibt es nicht. Das gesamte Gas aus den Pipelines in Flüssigerdgas umzuwandeln, ist also sehr problematisch, und ich sehe keine Lösung dafür. 

    Deshalb denke ich, man setzt letztlich die Hoffnung darauf, dass die Europäer einknicken. Wenn sie mit ihrer spärlichen Ration dasitzen und der Winter nicht so mild wird wie der letzte – dann werden sie bestimmt um Lieferungen bitten. Ich denke, das ist das Kalkül.

    Herr Gurewitsch, noch einmal: Putin geißelt Europa, gleichzeitig aber den russischen Staatshaushalt. Wie stark werden die Einnahmen im russischen Staatsbudget sinken, wenn neben Erdöl auch kein Erdgas mehr geliefert wird? Was wird stattdessen geliefert? Wir haben Phosphate, Düngemittel …

    W.G.: Wir haben Landwirtschaft …

    Ja, vielleicht Weizen. Wie stark reduzieren sich die Staatseinnahmen?

    M.K.: Ich kann das nicht zusammenzählen. Sehen Sie, auch auf den Kohleexport in den Westen wird ein Embargo eingeführt. Zwar würde China Kohle kaufen, doch wie soll sie dorthin kommen – mit Zeppelinen? Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons, Transportkapazitäten auf dieser Strecke – nichts … Sie ist komplett ausgelastet, da kann man nichts erhöhen. Irgendjemand sagte, man könne Öl auf der Schiene nach China befördern. Wie soll das gehen? Dort fährt schon Kohle und was sonst noch alles. Es ist völlig dicht.

    Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons oder Transportkapazitäten auf dieser Strecke – gibt es nicht … Sie ist komplett ausgelastet

    W.G.: Das betrifft auch die Getreidewirtschaft. Häfen und Terminals – nicht unproblematisch. 

    M.K.: Richtig, auch die Häfen kommen nicht nach. Und selbst wenn man aus den Häfen im Fernen Osten zusätzlich Erdöl oder Erdölprodukte nach China liefern möchte – wie kommen die in den Hafen? Auch auf der Schiene. Denn die Pipeline, die bis zur Kosmino-Bucht führt, arbeitet am Anschlag, da kann man nicht noch mehr durchleiten. 

    Es ist einfach ein absolut apokalyptisches Szenario. Denken Sie, Russland ist tatsächlich bereit zu einem Lieferstopp, nur um Europa zu bestrafen?

    M.K.: Ich denke das tatsächlich, bislang deutet alles darauf hin. Die Bestrebungen, Gazproms Marktstellung in Europa zu zerstören, gibt es ja nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das hat alles viel früher begonnen. Die Ukraine war der größte Abnehmer für russisches Gas. Dieser Markt wurde schrittweise zerstört. Danach wurden weitere europäische Märkte für russisches Gas vernichtet. Und schließlich sind sie da angekommen, wo sie jetzt sind – bei der Berufung auf höhere Gewalt: ‚Wir werden euch überhaupt kein Gas mehr liefern.‘

    Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man sich bei den Bjudshetniki holen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen

    Einen Moment, Herr Gurewitsch, aber auch der Krieg muss doch irgendwie finanziert werden. Laut Daten von Sergej Gurijew verdient die Russische Föderation eine Milliarde Dollar am Tag mit Erdöl, wovon sie die Hälfte für den Krieg ausgibt.

    M.K.: Das ist komplizierter, wie sich gezeigt hat. Wenn wir nämlich in Russland für Öl, Gas, Kohle und Diamanten ausländische Währung bekommen, muss mit dieser Auslandswährung ja etwas geschehen. Unser Import ist aber dermaßen gesunken, dass er nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen ist. Wir können also nichts mit den Devisen anfangen. Daher ist die einzige Hoffnung, dass wir noch genug Rubel haben. Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man bei den Bjudshetniki abziehen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen.

    W.G.: Wenn der Rubel fällt, füllt sich automatisch der Staatshaushalt. Denn dann bringt sogar eine geringere Menge an exportiertem Gas und Öl konvertiert in Rubel mehr Einnahmen als jetzt.

    Es gibt also zwei offensichtliche Schlussfolgerungen. Erstens, das russische Sozialsystem, das Gesundheitssystem und überhaupt die Bjudshetniki müssen auf spärliche Einkünfte vorbereitet sein, da nicht nur embargobedingt die Erdöleinnahmen fehlen werden, sondern auch Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Zweitens können wir festhalten, dass Russland Europa den Gaskrieg erklärt hat. 

    M.K.: Außerdem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur der Export von Erdgas und Erdöl, sondern auch der von Gold, Diamanten und Kohle den Bach runtergeht.

    Wir müssen also den Gürtel enger schnallen.

    W.G.: Ich würde es so formulieren: Wenn alles so kommt, wie wir es hier beschrieben haben, dann bedeutet das für uns tatsächlich einschneidende finanzielle Verluste und Verluste im Staatshaushalt. Wegen der aktuell anomal hohen Rohstoffpreise gibt es jetzt noch einen Puffer. 

    Das Technologieembargo ist auf lange Sicht, viel bedeutsamer. Da gibt es viel mehr Probleme

    Ein viel größeres Problem [als das mit den Rohstoffexporten – dek] sehe ich im Bereich Technologie [die sanktionsbedingt nicht mehr importiert werden kann – dek]. Das ist auf lange Sicht, auch strategisch, viel bedeutsamer. Und da gibt es viel mehr Probleme.
    Denn: Von den Erdöl- und Erdgasexporten nach China und Indien kann man natürlich leben, nicht im Wohlstand, aber es ist möglich. Wie wir aber mit dem technologischen Embargo überleben sollen, das wird uns in den nächsten Jahren sehr viel mehr beschäftigen.

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    „Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

    Wie viele russische Soldaten sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gefallen? Woher stammen sie? Und führt die große Zahl der Toten zu einem Umdenken in der russischen Gesellschaft gegenüber der offiziellen Darstellung einer „militärischen Spezialoperation“?  

    Was die Gefallenen angeht, so gibt es kaum offizielle Zahlen. Das russische Verteidigungsministerium hält sich weitgehend bedeckt. Nur zwei Mal wurden Angaben gemacht: Am 2. und am 25. März wurden 498 beziehungsweise 1351 Tote vermeldet. Es sind spärliche Zahlen, an denen schon mit Blick auf die Propaganda Zweifel mehr als berechtigt sind. Experten wie Sönke Neitzel gehen von einer vielfach höheren Zahl aus. Der Militärhistoriker hält beispielsweise US-Angaben von bis zu 15.000 für plausibel.

    Die Redaktionen von Mediazona und BBC versuchen sich mit Recherchen über Soziale Netzwerke ein genaueres Bild zu machen, haben bis Ende Juli mehr als 5100 Tote aus den Reihen des russischen Militärs identifizieren können.

    Dafür sind auch Berichte in Regionalmedien wichtig. Sie sind es, die vor Ort recherchieren, zu Beerdigungen gehen, bei Verwandten nachfragen und sich dabei von lokalen Behörden nicht einschüchtern lassen. Ein solches Medium ist Ljudi Baikala aus Irkutsk. Das Online-Magazin, seit April im russischen Internet blockiert, berichtet über den Krieg und die Beerdigungen in Russland – auch, nachdem Dutzende russische Journalisten wegen des neuen Zensurgesetzes ins Exil gegangen sind. Was ihnen hilft: Es gebe deutlich mehr Spenden, wie Chefredakteurin Olga Mutowina der The New Times sagte. Um ihr Magazin  trotz Websperre weiter lesen zu können, hätten viele russische Leser VPN installiert. 

    Oftmals haben Angehörige der Toten erst von den Journalisten erfahren, dass ihre Söhne in der Ukraine eingesetzt wurden oder in Gefangenschaft geraten sind – und aus Angst dennoch jede Kommunikation mit den Medien verweigert, wie Ljudi Baikala-Redakteurin Jelena Trifonowa in einem Interview erzählt.

    Für die folgende Reportage ist Trifonowa zu einer Trauerfeier in einer Turnhalle von Ulan-Ude gegangen, in den Sportkomplex Lukodrom, dort hat sie auch zur Frage recherchiert, „die in jeder Küche der Republik diskutiert wird“: Warum fallen in der Ukraine so viele Männer aus Burjatien? 
    Denn die verfügbaren Daten zeigen: Die meisten Soldaten kamen bisher aus den ärmsten Regionen Russlands, allen voran aus dem nordkaukasischen Dagestan und aus der Teilrepublik Burjatien (im Südosten Sibiriens). Armut und Perspektivlosigkeit führt sie oft zu einem Vertrag mit der Armee, die in diesen Regionen häufig der einzig stabile Arbeitgeber ist. Aus den beiden – sehr viel wohlhabenderen – Metropolen Moskau und Sankt Petersburg gab es dagegen bisher die wenigsten Toten. 

    Trifonowas Reportage zeigt, wie Trauerfeiern für tote Soldaten in Russland ablaufen, wie offizielle Amtsträger im Angesicht der Gräuel, des Massakers von Butscha und all der zerbombten ukrainischen Städte wie Mariupol und Charkiw in jenem Lukodrom verkünden: „Sie sind nicht umsonst gestorben.“ Und dass viele Menschen selbst dann keine Zweifel bekommen, wenn sie, wie in Ulan-Ude, am Sarg mit dem eigenen Sohn oder Enkel stehen. 

    Das Lukodrom wurde vor einem Jahr fertig gebaut. Mit seinem gelben Dach und der Fassade aus weiß-blauen Platten sieht man es inmitten der windschiefen Holzbaracken mit Plumpsklos schon von Weitem. Es ist in Burjatien das wichtigste Zentrum für Bogenschießen – ein Nationalsport, der sehr beliebt ist. Hier trainiert der Nachwuchs, hier finden Wettkämpfe statt, zu denen Sportler aus der Umgebung und anderen Städten anreisen.

    Seit Anfang März werden in der großen Halle des Lukodrom Trauerfeiern für die in der Ukraine gefallenen Soldaten abgehalten. Die Kindermannschaften haben in dieser Zeit nicht aufgehört zu trainieren. Sie tun das gleich nebenan, im angrenzenden Gebäudeteil. Von der Tür zu den Trainingsräumen ist die Tür, aus der die Särge herausgetragen werden, nur wenige Meter entfernt.   

    „Die Eltern sind nicht erfreut darüber, dass die Sportanlage als Trauerhalle umgenutzt wird“, sagt Tatjana, deren Sohn hier Bogenschießen lernt. „Kürzlich hat es dort, wo die Kinder trainieren, auch begonnen, nach Tod zu riechen. Alles hier war von Leichengeruch durchdrungen.“

    Das Lukodrom steht direkt an einer Straße, die Verkehrspolizei hat die Zufahrt zum Gebäude abgesperrt. Am Eingang stehen noch keine Polizisten, aber zwei Tage später werden auch hier welche positioniert sein. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die für die Organisation der Zeremonie zuständig sind, begrüßen die Trauergäste. Sie fragen: „Von wem möchten Sie sich verabschieden?“

    Die regionalen Medien haben berichtet, dass am Montag, den 28. März, im Lukodrom eine Trauerfeier für einen Soldaten anberaumt ist – für Naidal Zyrenow. Doch zur angesetzten Zeit stehen vier Särge in der Sporthalle. 
    An den Särgen sind weder Schilder noch Fotos. Wer in welchem Sarg liegt, erklären die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. 

    Im ersten liegt der 24-jährige Naidal Zyrenow, KWN-Mannschaftskapitän seiner Schule und Schüler des Jahres 2016. Er war Sanitäter. Naidals Hände sind auf der Brust seiner grauen Uniformjacke übereinander gelegt. Eine Hand ist bandagiert. 
    Im zweiten liegt der 35-jährige Bulat Odojew, der in der fünften Panzerbrigade gedient hat und eine schwangere Frau und eine Tochter hinterlässt. „Alle fragten ihn: Wozu? Aber er sagte immer: Soll ich denn meine Kameraden im Stich lassen?“, erzählt Olga, die Frau seines Cousins. 
    Im dritten liegt Shargal Daschijew, 38. Er hinterlässt ebenfalls eine schwangere Frau und zwei Töchter. 
    Im vierten liegt der 20-jährige Wladislaw Kokorin, der im Kinderheim aufwuchs und dann in eine Pflegefamilie kam. 

    An jedem Sarg stehen Verwandte. Nur bei Wladislaw fast niemand. 

    Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft

    Die Särge stehen in jenem Teil der Halle, wo sonst Kinder mit Pfeil und Bogen um die Wette schießen. Jetzt sitzen Trauergäste auf den Zuschauerbänken. Ein Teil von ihnen muss stehen, es gibt zu wenig Sitzplätze. Die große Halle der Sportanlage ist brechend voll, mindestens 600 Menschen sind gekommen.
    An den Kopfenden der Särge stehen Soldaten stramm. Die Rücken gerade, die an Riemen hängenden Maschinengewehre an die Brust gedrückt. Mit ihren jungen Gesichtern wirken sie wie Oberschüler bei der Ehrenwache am Ewigen Feuer. Manche der Soldaten weinen. Die Tränen dürfen sie nicht abwischen, so laufen sie die Wangen herunter. 

    Zwischen den Särgen und den Menschen, die sich verabschieden wollen, steht ein Tisch. An dem sitzen vier buddhistische Lamas in ihrer bordeauxroten Tracht, Chubsahan genannt. Drei der Gefallenen waren Buddhisten, sie werden nach buddhistischem Ritual bestattet. Auch ein orthodoxer Priester ist anwesend, doch hält er für Wladislaw Kokorin keine Begräbnisfeier ab, sondern steht etwas abseits mit Beamten. 

    Vor den Lamas steht ein mit rot-gelben Fransen verziertes Gefäß mit einer Pfauenfeder auf dem Tisch, und auf einem Stück roten Stoffs liegt ein offenes Buch. Daraus lesen die Lamas tibetische Trauergesänge. Und eine Sula steht auf dem Tisch, ein buddhistisches Lämpchen mit einer Flamme. Auf einem Kupfertellerchen glimmt Räucherwerk. 
    Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Die Toten müssen über weite Strecken transportiert werden, manchmal vergeht zwischen Tod und Beerdigung ein ganzer Monat oder sogar zwei. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft. 
    Die Nacken der Lamas schaukeln im Takt ihrer Gesänge. Durch die kurzen Stoppel ihrer schwarzen und grauen Haare schimmern unzählige Narben auf ihrer Kopfhaut. 

    Ohne ihre Gebete zu unterbrechen, stehen die Lamas auf und beginnen, rund um die Särge herumzugehen – das buddhistische Trauerritual geht dem Ende zu. Alle die möchten, treten noch einmal an die Verstorbenen heran und verabschieden sich. Auch sie umrunden den Sarg, berühren dabei eine Sekunde lang die Schuhe des Toten oder die Sargwand.
    Weinen ist nicht zu hören. Buddhisten dürfen bei Bestattungen nicht weinen und sollen überhaupt nicht allzu sehr um ihre Verstorbenen trauern. Nach dem Tod muss die Seele ihren Weg über den Himmel nehmen und nach 49 Tagen in einem neuen Körper zur Welt kommen. Tränen versperren dem Toten den Weg und lassen ihn nicht ziehen.

    Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände

    Am nächsten Tag werden Amgalan Tudupow und Eduard Shidjajew verabschiedet. Am übernächsten wieder zwei: der 23-jährige Bator Dondokow und Anton Chatchejew. „Die Eltern eines Gefallenen haben uns angesprochen und gesagt: ‚Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände‘“, erzählt eine Verwandte von Bator Dondokow.
    Zusammen mit einem weiteren Soldaten, der in seinem Heimatdorf bestattet wird, sind es im Laufe einer Woche zehn Bestattungen. 

    Nach der Zeremonie beginnt einer Trauerkundgebung.
    „Sie sind nicht umsonst gestorben“, sagt der Vizepräsident der Republik, Bair Zyrenow, zuerst auf Russisch, dann auf Burjatisch. „Sie sind für Russlands Größe gestorben. Für das Ende des Blutvergießens in der Ukraine.“
    „Sie sind gefallen, als sie die freie Zukunft unseres Landes verteidigten“, sagt der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow.
    „Niemand hat Russland jemals besiegt. Und niemand wird es je besiegen!“, sagt Zyren Dorshijew, Vizesprecher des Burjatischen Volkschurals
    „Die Fallschirmspringer haben ihren letzten Sprung in den Himmel getan. Der Schmerz ist groß. In ewiger Erinnerung“, sagt der Statthalter des Kommandanten der 11. Luftsturmbrigade, Unterleutnant Witali Laskow. Denselben Satz mit dem letzten Sprung hatte er einen Monat zuvor bei der ersten Versammlung gesagt.   

    Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen. Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen

    In der Halle steht ein Dutzend Polizisten. Sie achten darauf, dass niemand fotografiert oder Videoaufnahmen macht. 

    Etwa 15 Minuten nach Beginn der Zeremonie tritt ein Polizist an die Journalisten heran.
    „Wer sind Sie?“
    „Presse.“
    „Hier ist Fotografieren und Filmen verboten. Sie müssen sich eine Genehmigung des Organisators besorgen.“
    Die Organisation der Trauerfeiern obliegt Larissa Stepanowa, der stellvertretenden Vorsteherin des Sowjetski-Bezirks von Ulan-Ude, zuständig für Soziales. Sie bespricht gerade lebhaft etwas mit dem Bürgermeister.
    „Nein, hier ist Filmen verboten. Nein, kein Kommentar“, sagt sie zu unserer Frage, wie oft hier Bestattungen stattfänden. Vollkommen unerwartet schluchzt Frau Stepanowa auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Wissen Sie, wie viele dieser Trauerfeiern ich schon organisiert habe … Und mein Sohn ist auch dort … in der Ukraine.“  

    Der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow, und der Vizesprecher des Volkschurals, Zyren Dorshijew, lehnen einen Kommentar ab.
    Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen.

    Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen, dort nehmen sie unsere personenbezogenen Daten auf.

    „Wenn Sie noch mal filmen, nehmen wir Sie mit auf die Wache.“
    Aus der windschiefen Holzbaracke neben dem Lukodrom torkelt ein Mann in einer schmutzigen Jacke heraus, er riecht nach Schnaps.
    „Wissen Sie zufällig, wie oft im Lukodrom Bestattungen stattfinden?“, frage ich ihn.
    „Hey, mich braucht ihr nicht zu filmen!“ Er winkt mit den Armen, als wollte er mich verscheuchen. „Spione wie euch erkenn ich von Weitem. War selbst beim Geheimdienst.“  

    ‚Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber‘, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht 

    Am 26. April umfasst die Liste, die Ljudi Baikala führt, 102 gefallene Soldaten aus Burjatien. Sie alle haben in der Republik gedient oder sind dort geboren. Ihren Tod haben entweder Verwandte oder regionale Behörden gemeldet, oder es waren Journalisten von Ljudi Baikala bei ihrer Bestattung anwesend. 
    Die Republik steht bei der Anzahl der Verluste an zweiter Stelle. Mehr gefallene Soldaten verzeichnet nur Dagestan. Mediazona (in der Russischen Föderation als ausländischer Agent gesperrt) zufolge waren es zu dem Zeitpunkt, als es in Dagestan 125 waren, in Burjatien 85. Bewohner Moskaus oder Sankt Petersburgs, wo fast zwölf Prozent der Bevölkerung Russlands leben, scheinen in der Statistik der Gefallenen fast keine auf. [Die Zahlen sind aus dem Erscheinungszeitraum des Textes bei Ljudi Bajkala vom April 2022; aktuelle Zahlen, soweit bekannt, stehen in der Heranführung zu diesem Text – dek]
           
    Seit März werden die Namen der Gefallenen in Burjatien nur in Bezirkszeitungen oder Sozialen Netzwerken veröffentlicht. 
    Auf der Website der Regionalverwaltung findet man keine Informationen zur Zahl der Verluste. Der Militärkommissar der Oblast Irkutsk, Jewgeni Fushenko, sagte, er wolle die Zahl der Verluste nicht angeben, sie sei nicht wirklich „nennenswert“. Der Militärkommissar der Region Krasnojarsk, Andrej Lyssenko, antwortete, es sei „unanständig und ungehörig, nach der Statistik zu fragen“. Niemandem seien in Burjatien öffentlich Fragen zum Ausmaß der Verluste gestellt worden. 
    „Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber“, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht. Sie möchte nicht namentlich genannt werden. „Selbst wenn wir darüber schreiben, führt das nur zu Tränen und Skandalen.“

    Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen 

    Eine andere Journalistin hat versucht, die Verwandten eines gefallenen Soldaten zu kontaktieren. Diese haben beim Militär um Erlaubnis zu dem Gespräch angefragt. Am selben Abend teilte ihr der Chefredakteur ihrer Zeitung mit, er habe einen behördlichen Anruf erhalten mit der Anweisung, nicht mit Angehörigen zu sprechen. „Bei diesem Thema herrscht ein ungeschriebenes Verbot“, fügt unsere Gesprächspartnerin hinzu.

    Shambo Chozajew, Arzt in einer Klinik für traditionelle östliche Medizin in Ulan-Ude, beerdigt am 28. März seinen Neffen Sorigto Chozajew. Er erklärt uns: Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen. „Ukrainische Hacker stehlen Informationen und machen daraus Fakes, das haben uns die vom Militär gesagt.“   
    Wie die „ukrainischen Hacker“ die „Daten“ verwenden sollen, weiß Chozajew nicht genau. Vor ein paar Tagen hat seine Frau auf Viber eine Nachricht von einer unbekannten Nummer mit einer Beileidsbekundung zum Tod ihres Neffen erhalten. Shambo und seiner Frau gefiel das nicht. Oft gehen bei Verwandten Beschimpfungen von ukrainischen Nummern ein. So etwas schreiben ukrainische User auch unter fast jeden Post in Sozialen Netzwerken, in dem es um den Tod russischer Soldaten geht.

    Als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen

    Am 19. April hat das Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht, den Zugang zu Daten der Verwandten von gefallenen Soldaten zu beschränken. In einem Video über die Rückkehr von Truppen aus der Ukraine sind die Gesichter sowohl der Soldaten als auch ihrer Verwandten verpixelt.   

    Naidal Zyrenow, Bulat Odojew, Wladislaw Kokorin und Shargal Daschijew werden aus dem Lukodrom hinaus auf den Südfriedhof gefahren, an den Stadtrand von Ulan-Ude. Der Trauerzug ist einen Kilometer lang. In dem Augenblick, als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen mit der Aufschrift „Bestattungsdienst“ ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen.   

    Gefallene Soldaten werden entweder hier auf dem Südfriedhof beerdigt oder in ihren Heimatstädten beziehungsweise -dörfern. Das entscheiden ihre Verwandten. Am Rand des Südfriedhofs hat das Verteidigungsministerium seinen eigenen Bereich. Seit Ende Februar sind 27 Gräber dazugekommen. Noch einmal 15 sind ausgehoben, und die Totengräber arbeiten an weiteren. 
    „Wir sollen bis morgen zwei Reihen fertigstellen, es wird wieder ein Flugzeug mit Gefallenen erwartet“, erklärt Dimitri, der hier Gräber aushebt. Es fehlen noch sechs Gräber, bis die beiden Reihen voll sind. „Man kann nicht sagen, dass viel mehr als sonst beerdigt werden“, fügt Dimitri hinzu. „So zwei oder drei Soldaten pro Tag. Während der Pandemie waren es 15 am Tag. Da hatten wir wirklich zu tun.“

    Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. ‚Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.‘ 

    Die Frage, warum so viele Burjaten umkommen, wird in jeder Küche der Region diskutiert. Manchmal dringt der Unmut nach außen.
    „Was glauben Sie, warum so viele Soldaten aus Burjatien fallen?“, sagt Jekaterina, die Schwester des gefallenen Michail Garmajew. „Es gibt überhaupt keine Arbeit, daher werden die Jungs Vertragssoldaten.“ Dasselbe sagen andere Angehörige. Michail Garmajew interessierte sich als Jugendlicher fürs Theater und zeichnete. Nach dem Wehrdienst fing er zusammen mit seinem Bruder bei einer Firma an, die Alarmanlagen installierte. Er verdiente 10.000 bis 20.000 Rubel. Nach etwa zwei Jahren kündigte er und wurde Vertragssoldat. 
    Der Bruder, Alexander, arbeitet immer noch bei dieser Firma. Jetzt bezieht er „ein normales Gehalt, 30.000 bis 35.000&ldquo. Er arbeitet in Schichten und ist fast nie zu Hause. 

    Amgalan Tudupow hat an der Burjatischen Staatlichen Universität Sport studiert. Er unterrichtete Sport an einer Schule. „Alles hat er mit den Kindern gemacht, Skifahren, Basketball. Er hatte seine Arbeit gern“, sagt seine Mutter Zyrema Tudupowa. Aber sein Gehalt lag bei 7000 Rubel. Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. „Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.“ Dort bekam er sofort 40.000 bis 50.000 Rubel. „Er war so froh und so glücklich“, erinnert sich Zyrema. „,Mama, sie nehmen mich!‘ Früher haben sie nicht alle genommen, jetzt schon.“

    Der Dienst gefiel Amgalan, obwohl er sagte, dass „die Arbeit schwer“ sei. Er kam immer spät nach Hause. Ganz früh am Morgen, gegen drei oder vier, stand er auf und fuhr wieder los. „Ich sagte zu ihm: ‚Vielleicht lässt du es doch lieber?‘“, erzählt Zyrema. „Aber er meinte: ‚Und wie soll ich dann die Kinder durchfüttern?‘“
    Die Soldaten, die in die Ukraine mussten, sagen anonym, dass sie mindestens 250.000 Rubel im Monat bekommen.

    2020 stand Burjatien bezüglich Lebensqualität von den 85 Föderationssubjekten auf dem 81. Platz. Die angrenzende Oblast Irkutsk landete auf Platz 55. Laut offizieller Statistik der Republik hatten 20 Prozent der Einwohner im Jahr 2020 ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums. 2013 waren das 17,5 Prozent gewesen. 2019 schnitt Ulan-Ude bei einem Vergleich der Lebensqualität in 78 Städten mit über 250.000 Einwohnern am schlechtesten ab. 

    Öffentlich zugänglichen Informationen zufolge verfügt die Republik über 15 Militäreinheiten. Die Zahl der Vertragssoldaten ist nicht bekannt. 2015 wurde von einer Verdoppelung berichtet. Damals war geplant, die Zahl im östlichen Militärbezirk um 26.000 Soldaten aufzustocken. 2020 schlossen weitere 1300 Soldaten einen Vertrag ab, 2021 noch einmal 600.     

    Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht‘

    Am 28. März, dem Tag, an dem auf dem Südfriedhof die vier jungen Männer begraben werden, findet im Dorf Alla die Trauerfeier für den 22-jährigen Sorigto Chozajew statt. Seine Familie ist 2014 nach Ulan-Ude gezogen, hat jedoch beschlossen, Sorigto in seinem Heimatdorf zu bestatten. „Dort sind schöne Berge, sauberes Wasser. Dort ist die Nabelschnur, über die er mit der Erde verbunden ist“, sagt der Onkel des Verstorbenen, Shambo Chozajew.

    Sorigto war das älteste von drei Kindern. Er hat in einer technischen Berufsschule programmieren gelernt, ging zur Armee und wurde Vertragssoldat. Bei der 11. Sturmbrigade saß er an den Geschützen und hat in Syrien gekämpft. Er hinterlässt seine Eltern, seinen Bruder und seine kleine Schwester, die in die zweite Klasse geht.  
    Am 25. Februar ist er gefallen, begraben wurde er am 28. März. „Wir wurden als erste zur Identifizierung geholt“, sagt Shambo Chozajew. „Fünf aus der Stadt und zehn vom Dorf lagen im Leichenschauhaus. Unserer war am stärksten verbrannt. Man musste ein genetisches Gutachten machen, darum wurde er so lange nicht bestattet.“ 
    Als auf dem Friedhof den Verwandten das Wort gegeben wurde, hat Shambo sich beim Militär bedankt: „Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht. Zwölf Stunden Flug bis Ulan-Ude. 450 Kilometer bis Alla, eine ganze Nacht im Bus. ‚Wir lassen die Unseren nicht im Stich‘ – das sind keine leeren Worte‘“, so erzählt uns Shambo von seiner Abschiedsrede.   

    Shambo sagt, es seien jetzt viele aus Alla in der Ukraine, aus manchen Familien sogar zwei Söhne auf einmal. Bei der Trauerfeier für Sorigto haben viele geweint – sie mussten an die eigenen Söhne denken. 

    „Wenn man sagt‚ gegen den ‚[von Roskomnadsor verbotenes Wort]‘, dann ist das schlecht, das ist eine Verneinung“, fügt Shambo hinzu. „Man muss sagen ‚für den Frieden‘. Wir sind alle für den Frieden. Ich rechtfertige keinen [von Roskomnadsor verbotenes Wort], aber es ist dieselbe Situation wie 1941, derselbe Faschismus. Ich habe nicht alle Informationen, aber das weiß ich.“    

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    Zensierte Medien – Journalisten in Gefahr

    Fototagebuch aus Kyjiw

    „Man hat das Gefühl, das Leben eines Menschen ist nichts wert“

    „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    Entfesselte Gewalt als Norm

    „Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus“

  • Bilder vom Krieg #6

    Bilder vom Krieg #6

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lisa Bukreyeva

     

    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva
    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva

     

    Lisa Bukreyeva
    „Krieg ändert alles“

    [bilingbox]Krieg ändert alles. Er berührt alles, was du gewohnt bist und kennst. Die Stadt ändert sich, als würden ihr Zähne wachsen. Ich habe mein ganzes Leben in Kyjiw gelebt, doch hat es niemals so desolat und aggressiv gewirkt. Viele Kontrollposten, Gräben, Panzersperren und Sandsäcke. Überall. Ich spürte, dass Kyjiw bereit war zum Kampf.

    Krieg ist die schrecklichste Erscheinungsform des Menschseins. Kein Film, kein Buch, kein Foto kann den Schrecken dessen vermitteln, was da geschieht. Selbst ein Mensch, der es erlebt, ist sich nicht des gesamten Schmerzes bewusst, denn es ist unmöglich, damit zu leben. Doch ich denke, eine Künstlerin kann und sollte darüber sprechen, meine Arbeit ist dokumentarisch, aber auch emotional.
    Gleichzeitig denke ich, dass Fotografie Herzen berühren kann. Haben Sie Fotos aus Butscha oder Mariupol oder Asowstal gesehen? Jedes Mal, wenn ich die Namen dieser Städte ausspreche, habe ich diese Bilder vor Augen. Brauchen wir ein solches Foto? Ganz, ganz sicher. Das Mindeste, was es schafft: Es fängt ein, wie fragil die Menschlichkeit ist.

    In jedem Fall ist Fotografie subjektiv. Wir können diesen Krieg auf einer politischen Ebene gewinnen, doch wir werden ihn nie in den Köpfen der Russen gewinnen. Sie werden weiter nach einem Genozid lechzen. Daher ist eine Brücke zwischen unseren Kulturen unmöglich. Und es gab nie eine. Die Ukrainer sind immer zu dieser Freundschaft gezwungen worden, unsere Identität und Kultur wurden dabei ausradiert.

    Seit Beginn von Russlands Großinvasion bin ich in Kyjiw. Und bin immer noch hier. Ich glaube, meine Erfahrung gleicht der anderer Ukrainer. Es ist ein grenzenloser Schmerz und Schrecken. Die Zeit steht still. Es ist immer noch der 24. Februar, der 25. Februar beginnt erst, wenn der letzte russische Soldat unser Land verlassen hat.

    Es ist auch nicht einfach zu fotografieren, denn hinter jedem Einschussloch in einer Mauer, einem Zaun oder einem Fenster verbirgt sich Tragik. Dann triffst du Menschen, die die Besatzung überlebt haben, du unterhältst dich mit ihnen, und in ihren Augen spiegelt sich der gesamte Horror dessen, was sie durchgemacht haben.~~~War changes everything. It touches absolutely everything you are used to. The city is changing, it’s like his teeth are growing. I’ve lived my whole life in Kyiv, but he’s never looked so desolate and aggressive. Many checkpoints, trenches, anti-tank hedgehogs and sandbags. They were literally everywhere. It felt like Kyiv was ready to fight.

    War is the most terrible manifestation of humanity. No film, book or photograph can convey the horror of what is happening. Even the person living in it is not fully aware of all this pain, because it is impossible to live with it. But I think an artist can and should talk about it, and my work is documentary, but it’s also emotional. 
    At the same time I believe that the photograph is capable of breaking hearts. Have you seen pictures from Bucha or Mariupol, Azovstal? Every time I say the names of these cities I have before my eyes these shots. Do we need such a photo? Absolutely sure. At the very least, it encapsulates how fragile humanity is. 

    In any case, photography is subjective. We can win this war at the political level, but we will never win it in the minds of the Russians. They will still be hungry for genocide. So no bridges between our cultures are possible. And they never existed. Ukrainians have always been forced into this friendship, while erasing our identity and culture. 

    Since the beginning of Russia’s full-scale invasion, I have been in Kiev. And I’m still here. I think my experience is similar to other Ukrainians. It’s endless pain and horror. Time has stopped for us, we still have the 24th of February, and the 25th will come when the last Russian soldier leaves our land.

    It’s not easy to take pictures either, because behind every bullet hole in the fence or window is tragedy. Then you meet the people who survived the occupation, you talk to them, and all the horror they’ve been through is reflected in their eyes.[/bilingbox]

    LISA BUKREYEVA

    geboren 1993, lebt und arbeitet seit 2019 als Fotografin in Kyjiw

    AUSZEICHNUNGEN

    2021 Italian Street Photography festival |finalist
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL | Gewinnerin der Kategorie Street Art Photo 
    2021 PEP New Talents | shortlist
    2022 Baku Street Photography festival 

    AUSSTELLUNGEN 

    2022 Nulid Gallery, Island
    2022 PEP, Kommunale Galerie, Berlin
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL
    2020 ICP Concerned, New York, USA
    2019 Kyiv Photo Fair, Ukraine

    VERÖFFENTLICHUNGEN u. a. in The New York Magazine, Der Spiegel, Die Zeit, Blind, Bird In Flight u.v.m.

    BÜCHER

    2021 ICP Concerned. Global Images for Global Crisis
    2021 Ukraine XYZ


    Foto: ​​Lisa Bukreyeva
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 27.07.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #4

    Bilder vom Krieg #5

  • Cancel Culture im Namen des „Z“

    Cancel Culture im Namen des „Z“

    Ich beteilige mich nicht am Krieg, so lautete der Titel des Theaterstücks, das am Moskauer Gogol Center am 29. Juni aufgeführt wurde. Dann fiel der Vorhang. Es war der letzte – für das Gogol Center selbst. Die Moskauer Stadtverwaltung tauschte den künstlerischen Leiter aus, gab dem Haus wieder seinen alten Namen Gogol Theater, wollte aber nicht von „Schließung“ sprechen.

    Zum experimentellen und schließlich international ausgezeichneten und renommierten Gogol Center war das Theater 2012 geworden, als Kirill Serebrennikow die Leitung übernahm. So viel künstlerische Freiheit jedoch währte nicht lange, 2017 wurde Serebrennikow verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Im Juni 2020 wurde er wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder schuldig gesprochen und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. 2022 hat Serebrennikow Russland verlassen. Im Mai eröffnete der Wettbewerb in Cannes mit seinem Film Tchaikovsky's Wife. Dabei sprach sich Serebrennikow nicht nur gegen den Krieg aus, sondern auch gegen ein Verbot russischer Kultur. Außerdem forderte er, den Oligarchen Roman Abramowitsch wieder von der EU-Sanktionsliste zu nehmen – was ihm heftige Kritik einbrachte.

    Um Konzertabsagen und „Verbote“ russischer Kultur im Ausland ist in Russland eine Diskussion entbrannt. Michail Piotrowski etwa, Direktor der Sankt Petersburger Eremitage, heizte diese kürzlich in einem Interview mit der staatlichen Rossijskaja Gaseta an – das die Zeitschrift Osteuropa ins Deutsche übersetzt hat: Darin bezeichnete er den „Angriff auf unsere Kultur“ als „Abziehbild von dem, was zu Sowjetzeiten bei uns los war“. 

    Solche Kritik greift Alexander Baunow auf, bis zum Angriffskrieg in der Ukraine Chefredakteur von Carnegie.ru, und fragt: Wer ist es tatsächlich, der heute die russische Kultur zerstört?

    Viele finden es seltsam, über die Schließung eines Theaters zu weinen, während woanders Theater zerbombt werden. Dennoch wissen wir alle, dass der Angriff auf das Gogol Center von denselben Leuten initiiert und unterstützt wird wie der Angriff auf Mariupol, wobei das Gogol Center schon früher angegriffen wurde. Der Fall Serebrennikow war offenbar nur die Probe für die folgenden Schließungen, Verbannungen, Bombardierungen und Angriffe.

    Wenn man sich anschaut, wie die russischen Politiker bei ihrer Suche nach Vorwürfen gegen Feinde und Kampfziele mit Schaum vor dem Mund zwischen Faschisten, der NATO, den Angelsachsen und Transpersonen wechseln, fällt auf, dass sie sich neuerdings für die Wörter Cancelling und Cancel Culture begeistern. Im Namen der Kultur, in der alles erlaubt ist, kämpfen sie nun für die Freiheit und gegen „die Verbotskultur“.

    Ein Ende ist nicht in Sicht

    Dieser Kampf begann schon Ende Februar mit der Schließung von Grisha Bruskins Einzelausstellung in der Tretjakowka, als man es weltweit noch gar nicht geschafft hatte, auch nur eine einzige russische Ausstellung abzusagen. Und an dem Tag, an dem das Gogol Center und noch drei weitere Theater geschlossen wurden, erreichte der Kampf seinen vermeintlichen Höhepunkt – vermeintlich, weil das Ende noch nicht in Sicht ist. Uns erwarten noch die Entfernung russischer und ausländischer Bücher aus den Buchhandlungen, die Änderung der Lehrpläne, Verbote von Konzerten, Filme, die im Giftschrank landen, Kunsträte und Samisdat. 

    Paul McCartneys Songtitel ‚Back in the USSR‘ war offenbar prophetisch

    Die karnevaleske Verbrennung von Sorokins Büchern durch die Jugendorganisation Naschi 2004 im Park beim Bolschoi Theater erwies sich im Nachhinein als genauso prophetisch wie Sorokins Bücher selbst. Insofern ist es nicht überraschend, dass wir in einem Land leben, in dem es kein Gogol Center geben kann. Wir leben in einem Land, in dem Grebenschtschikow und DDT wieder zu Musikern geworden sind, die man nur in Privatwohnungen hören, und in das Paul McCartney erneut nicht einreisen kann. Wäre die Verbreitung von Musik, wie damals, vom Plattenverkauf abhängig, würden diese Platten längst nicht mehr verkauft. Auch Paul McCartneys Songtitel Back in the USSR war offenbar prophetisch. Denn streng genommen wird die Sowjethaftigkeit nicht anhand der Flaggenfarbe bestimmt, sondern genau daran: Sind die Beatles und ein Gogol Center dort möglich? Die Antwort ist: negativ. 

    Dieses Moskau und dieses Land gibt es nicht mehr

    Das Gogol Center ist natürlich der Ort, an dem ich häufiger war als an jedem anderen Ort in Moskau in den letzten zehn Jahren, und es ist ein weiterer Beweis dafür, dass es dieses Moskau (und dieses Land) nicht mehr gibt. Menschen, die in Nostalgie nach der realen (oder meistens eher imaginären) Sowjetunion schwelgen, klagen gern, unsichtbare Feinde hätten ihnen ihr Land gestohlen, und sind blind dafür, dass sie selbst einigen Dutzend Millionen ziemlich konkreter Menschen das Land gestohlen haben. Vielleicht sogar der Mehrheit – hieß es doch, dass es vor dem Krieg nicht nur ein paar Exoten gut ging, sondern tatsächlich der Mehrheit. Aber jetzt heißt es plötzlich, ohne den Krieg sei es ihnen schlecht gegangen. Wobei sich ein paar gerade sehr darüber freuen, wie sie sich am unsichtbaren Feind rächen, indem sie ihren Mitbürgern geliebte Dinge wegnehmen.

    Unauflöslicher Widerspruch

    Die Zerstörung der russischen Kultur in Russland geschieht unter Wehklagen über die ach so schlimme Cancel Culture gegen alles Freie und Russische, und wird begleitet von eifrigen Gesprächen über Importsubstitution. Der unauflösliche Widerspruch liegt auf der Hand. Stellen Sie sich mal ein Konstruktionsbüro oder eine Fabrik vor, wo erfolgreiche, konkurrenzfähige Autos produziert werden, die bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet werden und auf dem inländischen und internationalen Markt gefragt sind. Genau so eine Fabrik war, wenn man so will, das Gogol Center, und so ein Industriezweig war das russische Theater. Seltsamerweise sind wir es gewohnt, herausragend im Ballett zu sein, dabei waren wir in den letzten Jahren im Theater nicht weniger erfolgreich. Und während man darüber spricht, dass die Russen vom internationalen Markt ausgeschlossen werden, nur weil sie Russen sind, macht man jetzt eben jene Fabrik dicht, die auf dem Markt ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Das ist es nämlich, was gerade mit dem Gogol Center und dem gesamten Theater geschieht – einem der wenigen Industriezweige, die auf internationalem Niveau konkurrenzfähig waren.

    Das unsichtbare Z um den Hals

    Und das geschieht nicht wegen der Qualität des Produkts, sondern wegen des stereotypen Denkens im Obkom (ein echter Kerl fährt einen Moskwitsch), und weil die Erzeuger und die Käufer dieses Produkts sich niemals ein unsichtbares oder ein sichtbares Z um den Hals hängen würden. 

    Aber das gilt auch für alle anderen Industriezweige: Es wird keinen technischen Fortschritt oder sonst irgendeinen Durchbruch in Russland geben, solange das wesentliche Kriterium nicht das Wissen oder die Kompetenz eines Menschen ist, und auch nicht, was er herstellt. Sondern nur, ob er willens ist, sich den letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets umzuhängen. 

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  • „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    Seit dem Eurovision Song Contest 2020 sind Little Big auch außerhalb Russlands populär: Little Big sollte in dem Jahr Russland vertreten mit dem Song Uno. Der ESC 2020 fand nicht statt, wegen Corona, Uno eroberte dennoch die europäischen Zuschauerherzen und wurde zum meistgeklickten Video auf dem offiziellen ESC-Youtube-Kanal mit mehr als 250 Millionen Aufrufen. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit auch im Ausland, als Little Big am 24. Juni aus dem Exil in den USA heraus ihren neuesten Clip veröffentlichten: Generation Cancellation, ein Antikriegssong: „War is not over. Stop war in Ukraine. Stop wars worldwide. No one deserves war“ haben sie auf Youtube unter das Video geschrieben.

    Am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hatte Little Big-Sänger Ilja Prussikin auf seinem Instagram-Account folgendes Bild gepostet: ein schwarzes Quadrat, darauf in weißen Lettern die Aufschrift No War, Нет Войне. Im März hat die Band Russland schließlich verlassen, über Dubai sind sie nach Los Angeles geflogen. 

    Im aktuellen Videoclip finden Little Big nun plakative Antikriegsbilder: Ein Kind, das einen Hotdog überreicht bekommt – mit Rakete statt Würstchen. Der Nachrichtensprecher der Sendung Fake News sitzt auf der Toilette – deren Abwasser direkt in die Köpfe der Zuschauer gespült wird. 
    Auch andere russische Bands und Musiker protestieren gegen Russlands Krieg in der Ukraine: Der Hiphop-Star Oxxxymiron etwa hat Russland ebenfalls verlassen. Gegen Juri Schewtschuk, berühmter Sänger der Band DDT, wurde nach einem Auftritt in Ufa außerdem ein Verfahren eingeleitet wegen „Diskreditierung der russischen Armee“, was auch ein Konzertverbot mit sich bringt.

    Das unabhängige russische Online-Medium Holod hat mit Ilja Prussikin, dem Sänger von Little Big, gesprochen: über Kritik an dem Clip von russischer wie ukrainischer Seite und darüber, ob man Kunst und Politik überhaupt voneinander trennen kann und soll.

    Holod: Hattet ihr die Wahl, ob ihr in Russland bleibt oder nicht?

    Ilja Prussikin: Natürlich nicht.
     
    Habt ihr für euer Anti-Kriegsposting [am 24. Februar auf Instagram dek] von der Regierung eins auf den Deckel gekriegt?

    Es gab Anrufe, Andeutungen. Vielleicht waren es nur Pranks, gab es damals viele, aber sie sagten: „Löschen.“ Ich sagte, ich lösche es nicht.
     
    Hattet ihr Zweifel wegen des Postings?

    Nein. Viele wollen jetzt behaupten, der Krieg in der Ukraine sei nicht so eindeutig, aber WTF, was heißt da nicht eindeutig?! Die Regierung der Russischen Föderation hat beschlossen, ein souveränes Land anzugreifen. In der Propaganda heißt es immer: „Vielleicht wollte die Ukraine uns angreifen?“ Hätten sie uns angegriffen, hätten wir uns verteidigt. Aber das hier ist eine komplett andere Situation. 
     
    Am 24. Juni habt ihr den Clip zu eurem Song Generation Cancellation veröffentlicht. Hattet ihr die Idee dazu sofort nach Kriegsbeginn?

    Ich glaube, wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen und hatten auch gleich die Idee zu dem Clip. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen. Im März landeten wir in den USA und haben im Grunde sofort den Clip gedreht. 

    Wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen

    Er kam erst jetzt raus, weil die Grafik Russen gemacht haben, die sich jetzt über die ganze Welt verteilt haben. Für Sachen, die normalerweise einen Tag dauern, haben wir zwei Wochen gebraucht.       
     

     
    Gab es nach dem Clip Drohungen, Bot-Angriffe, Anrufe bei euren Verwandten? 

    Komischerweise nicht. Nur die Kremlbots haben alle Fotos unserer Vokalistin Sonja Tajurskaja [auf Instagram] gemeldet. Das ist ihre Lieblingsmethode.  
    Und die Medien haben das Thema breitgetreten, ob man uns die Staatsbürgerschaft entziehen soll (gemeint ist der Vorschlag von Produzent Iossif Prigoshin, den Bandmitgliedern von Little Big die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen – Anm. Holod). 

    Wenn ich in Amerika bin, bin ich schon ein ‚ausländischer Agent‘

    Dann sagte Prigoshin, er habe das nie gesagt, das sei eine Erfindung der Medien. Von Galkin und „ausländischen Agenten“ haben sie auch geschrieben, so: „Sie hassen ja ihr Heimatland, nehmen wir ihnen doch die Staatsbürgerschaft weg!“ Das können die Behörden, wissen wir doch. Sie haben ja auch diesen Scheißparagrafen [mit den „ausländischen Agenten“] gemacht. Was soll der Dreck? Heute kann man schon wegen „Einflüssen aus dem Ausland“ als „ausländischer Agent“ gelten. Wenn ich also in Amerika bin, bin ich schon ein „ausländischer Agent“!
     
    Haben euch manche der Kollegen, die in Russland geblieben sind, Respekt ausgedrückt für euren Clip und eure Ausreise?

    Ja, sehr viele. Gott sei Dank hab ich keinen einzigen Bekannten oder Freund, der geschrieben hätte: „Hör mal, Alter, das ist doch kein Krieg, das ist eine militärische Spezialoperation.“

    Krieg ist ein Horror, der mit nichts zu rechtfertigen ist. Ich habe schon hundertmal gesagt, ich bin der reinste Humanist. Da ist Gott, der ist ephemer, und da ist das menschliche Leben – das ist real. Und es gibt nichts Wichtigeres und nichts Heiligeres. Meine Freunde sind derselben Meinung.

    Die Ukrainer haben euren Clip sehr kritisiert. Es gab ein langes Video, in dem es hieß, der Clip zu Generation Cancellation sei  zu unkonkret.

    Ein Clip ist ein Kunstwerk. Es gibt etwas, das nennt man Kunst. Da gibt es zum Beispiel ein Bild, und jeder sieht darin, was er sehen will. Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder? Wir haben uns heute diese Kritik angesehen, der Autor hat sich nicht mal die Mühe gemacht, unsere Pressetexte zu lesen und alles, was wir über den Krieg sagen.         

    Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder?

    Wir positionieren den Clip als Manifest gegen den Krieg. Wir wollen die ganze Welt erreichen, weil der Krieg in der Ukraine nicht der einzige ist. Und unsere Position zu diesem Krieg, den die Regierung der RF angefangen hat, steht in den Begleittexten, in den Pressemitteilungen und so weiter. Das eine ist die Kunst, das andere das politische Statement. Es wäre ja banal, zu singen, dass Putin den Krieg begonnen hat. Das wären Tschastuschki. 

    Im Clip gibt es eine Szene über Fake News, die als Scheiße in die Köpfe gepumpt werden. Der Autor in dem Video fragt: „Wieso steht das nicht auf Russisch da?“ Ja, weil das doch keiner auf der Welt verstehen würde, außer dir und uns. Er produziert selber Fake News, stellt eine erfundene Bedeutung als real hin, aber wir haben es anders gemeint. 

    Russische Musikkritiker haben außerdem geschrieben, dass ihr mit dem Weißen Haus am Ende des Clips andeuten wollt, dass Amerika an allem schuld sei. 

    Google mal das Weiße Haus und google mal Putins Palast! Im Clip geht es um Putins Palast. Und überhaupt, Kunst darf nicht konkret sein, dafür ist es ja Kunst.

    Das ist übrigens der häufigste Vorwurf von Kritikern und Publikum an Künstler – ihr trennt angeblich die Politik von der Kunst. 

    Wir haben ein Manifest gegen den Krieg gemacht. Ist es bedeutungslos, nur weil wir keine Namen nennen, keine Beteiligten, keine Parolen? Das ist doch beknackt! Das ist dann keine Kunst, sondern eine Ansammlung von Fakten. Wozu soll ich dann noch Musik machen, da schreib ich doch lieber ein Buch darüber, wie das alles passiert ist, und wer ein Arschloch ist und wer die Guten sind? Deswegen haben wir dieses Manifest gegen den Krieg gemacht und unsere Position in allen Medien – in ukrainischen, russischen, amerikanischen, englischen – ganz klar formuliert.   

    Wenn einer sagt: ‚Das ist keine Kunst, das ist Scheiße‘ – kein Problem

    Ich will es gar nicht allen recht machen. Es ging mir [mit dem Clip] nicht darum, dass mich die Ukrainer lieb haben. Mir ist schon klar, dass sie mir böse sein werden, weil ich nicht genug getan habe. Ich werde ihnen das auch niemals vorwerfen, denn sie werden mit Raketen beschossen. Aber ich werde so handeln und so kämpfen, wie ich es für richtig halte. Wenn sich irgendwelche Musiker nicht zum Krieg äußern, dann hab ich deswegen nichts gegen sie. Ich habe mich geäußert! Ich habe mich positioniert und habe Kunst gemacht. Wenn einer sagt: „Das ist keine Kunst, das ist Scheiße“ – kein Problem. Tja, ich bin Künstler, ich sehe das so.  

    Wenn wir schon von Kunst und Krieg sprechen: Manche ignorieren, was derzeit passiert, gar nicht mal aus politischen Überlegungen oder aus Angst, sondern weil sie finden, dass es ohnehin schon genug schweren Content gibt.

    Ich kann keinem was vorwerfen, das fände ich schlechten Stil. Ich mag es selber nicht, wenn mir jemand sagt, dass ich dort oder da zu wenig den Mund aufgemacht habe. Ich weiß, was ich tun will und wie, und ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt. Es steht mir doch nicht zu, jemandem vorzuschreiben, ob er sich äußert oder nicht. Ich hab doch nicht das Recht, mich in das Leben eines anderen Menschen einzumischen. Genauso wie Putin und die Regierung der RF nicht das Recht haben, sich in die Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen.

    Und was soll mit Künstlern passieren, die in Z-Konzerten für den Krieg auftreten?

    Von denen will ich nichts wissen, ich will sie und das, was sie machen, nicht sehen. 

    Vielleicht sind auch manche von Little Big enttäuscht, weil ihr nicht das sagt, was sie sich wünschen würden?

    Die Leute sind eher enttäuscht, weil sie glauben, wir haben die Hosen voll davor, im Clip konkret den Krieg in der Ukraine zu nennen. Alter, wir haben ihn ja konkret genannt [im Pressetext]. Sollen wir das im Clip überall drunter schreiben? Versteht ihr überhaupt irgendwas von Kunst?

    Ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt

    Ich glaube, die Enttäuschung hat einen anderen Grund, da geht es nicht um unsere Haltung. Unsere Haltung ist eindeutig und klar. Und sie ist überall, wir verstecken sie nicht, sie ist in allen Medien frei zugänglich, sogar die beschissenen Propagandamedien haben geschrieben, dass wir gegen den Krieg und gegen die Regierung der RF auftreten.  

    Macht ihr noch weitere Antikriegsvideos und Manifeste?

    Wir haben einen Song, der heißt Refugees, den haben wir so Anfang April aufgenommen. Da geht es um Flüchtlinge. Ein sehr trauriger Song, richtig Abfuck. Aber das wird keiner unserer klassischen Tracks, sondern was anderes.   

    Seid ihr im Westen irgendwie auf Ablehnung gestoßen?

    Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, in Amerika gar nicht. Dort cancelt niemand russische Kultur. In New York laufen Theaterstücke mit Baryschnikow und einem ukrainischen Regisseur. Allen ist klar, dass die Russen nicht Putin sind. Es gibt natürlich Leute, die den Krieg unterstützen, aber das ist deren Scheißproblem, nicht unseres.  

    Fühlt ihr euch verantwortlich für das, was passiert?

    Ich fühle mich verantwortlich dafür, dass wir alle Kriege ignoriert haben und dachten: „Gehen halt irgendwelche Libyer drauf, na und.“ Aber warum sollte ich die Verantwortung übernehmen für Leute, die keine Ahnung haben, was sie mit dem Land machen sollen, die stehlen und rauben? Ich kenne keinen einzigen Menschen, der Putin und Einiges Russland wählen würde. Auch ich habe meine Pflicht erfüllt – ich habe sie nicht gewählt. 

    In diesem Kontext hat man euch an eure alten Video-Blogs im Rahmen des Projekts Danke, Eva! erinnert, das vom Kreml gesponsert wurde.

    Wir wussten das damals nicht [dass Danke, Eva! von der Regierung finanziert wurde]. Das lief nicht länger als ein Jahr und ich habe da die regierungskritische Gaffi-Gaf-Show gemacht. Juri Degtjarew (der Gründer von Danke, Eva! – Anm. Holod) ist ein genialer Verkäufer, der hat den Behörden diesen Scheiß angedreht, wo sie selbst gedisst werden. Weiß der Geier, wie er das geschafft hat. Wer glaubt, dass ich was im Auftrag der Regierung gemacht habe, braucht sich nur diese Videos anzusehen – dann haut es euch krass weg. Mehr gibt’s da nicht zu sagen. 

    Wollt ihr euch in Zukunft als Band aus Los Angeles positionieren?

    Wir sind Russen, daran gibt’s nichts zu rütteln. Auch wenn wir 300 Jahre hier leben – sollte es irgendwann ein krasses Mittel gegen Altwerden geben – sind wir immer noch Russen. Und ich liebe mein Land, ich liebe mein Zuhause, auch wenn ich den Staat hasse. Was soll man da machen! Damit müssen wir leben, mit dieser verfickten Scheiße!      

    Plant ihr euer Leben auch nur einen Monat voraus?

    Wir sind momentan einfach nur fertig. Wir wissen, dass wir ein neues Leben anfangen, dass wir nicht mehr so leicht zurück können. Ich glaube, in unserem Fall ist es unmöglich, irgendwas zu planen. Wir leben wie die Kinder. Wie nach der Uni, wo du dir denkst: „Was jetzt? Gehen wir halt ins Studio und nehmen was auf.“ So war meine Kindheit. Wir tun, was wir tun, und was kommt, das kommt. Nur so.

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