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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #8

    Bilder vom Krieg #8

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Anastasia Taylor-Lind

    Anna Dedowa, 75, am Grab ihres Sohnes, der sich versehentlich mit einer Handgranate getötet hat, die er in der Nähe seines Hauses in Optyne, einem Dorf in der Region Donezk, gefunden hatte. Dieser Besuch am Grab im Jahr 2019, der von einem dort ansässigen Aktivisten organisiert wurde, ist ein seltenes Ereignis für sie. Denn der Friedhof liegt zwischen Awdijiwka und Donezk und ist wegen der Kämpfe und Landminen kaum zugänglich. Opytne, Juli 2019 / Foto © Anastasia Taylor-Lind

    Anastasia Taylor-Lind
    „Diese Menschen haben auch ein Leben jenseits des Krieges“

    [bilingbox]Ich arbeite jetzt seit acht Jahren im Donbass, immer zusammen mit der Autorin Alisa Sopova, die aus der Stadt Donezk stammt. Wir haben uns 2014 in Swjatohirsk kennengelernt, als Alisa dort als Übersetzerin arbeitete. Mittlerweile lebt sie in den USA und promoviert in Anthropologie an der Princeton Universität.
    Ich bin die Autorin dieser Fotografie und im Grunde ist Alisa die Co-Autorin, da wir unsere Berichterstattung für das Projekt 5K from the frontline immer zusammen gemacht haben. Derzeit ist es im Imperial War Museum in Manchester ausgestellt und wird im Februar 2023 nach London wandern.

    Die letzten fünf Jahre haben wir immer wieder dieselben Familien und Gemeinden besucht, die manchmal nur 30 Meter von militärischen Stellungen entfernt lebten. Die meisten Menschen, die wir kennen, sind inzwischen von zu Hause geflohen und zu Binnenflüchtlingen geworden. Einige Männer sind zur Armee gegangen.

    Das Bild von Anna ist aus dem Jahr 2019. Es war ihr erster Besuch am Grab ihres Sohnes. Der Sohn hatte eine Granate in seinem Garten gefunden, sie aufgehoben und wurde getötet. Der Friedhof selbst liegt inmitten eines Minenfelds. Tatsächlich gelangt man nur über eine schlammige Straße und dann über ein schwer vermintes Feld nach Opytne.

    Ich habe mehrere Menschen fotografiert, die gekommen waren, um die Gräber zu besuchen und zu pflegen. Wir haben uns dann entschieden, uns auf die Geschichte von Anna zu konzentrieren. Typischerweise fängt Alisa an, eine Geschichte zu schreiben, dann zeige ich ihr die Fotos und dann kombinieren wir die Wörter und Fotos und publizieren sie in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #5Kfromthefrontline.

    Wie immer bei kreativer Zusammenarbeit, ist die Urheberschaft von Text und Fotos eher fluide. Außerdem haben wir zwei Perspektiven: die Innensicht und die Außensicht.

    Ich lebe in einem Land, wo meine Familie seit einer Generation nicht direkt betroffen ist von Krieg. Mich interessiert sehr, wie wir Geschichten vom Krieg erzählen können auf eine Art, die Menschen bewegt, die das nie erlebt haben: Wie können wir Menschen helfen sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Krieg heute hierher kommen würde, auf die Straße draußen vor meinem Fenster? Welche Dinge würde ich mitnehmen, wie würde auch mein Hund ins Auto passen? Zum Beispiel.

    Alisa dagegen kommt aus der Stadt Donezk, musste 2014 zu Beginn des Konflikts fliehen und lebt jetzt in einem anderen Land. Aus dieser Perspektive, treibt sie – und im Ergebnis auch mich – die Frage um, wie wir diese Menschen respektvoll und nicht als andersartig zeigen können? Sobald der Krieg irgendwo hinkommt, wird das Leben der Menschen ziemlich schnell unangenehm und hässlich, doch das heißt nicht, dass wir die Menschen so zeigen müssen. Sie sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern auch Menschen mit einer Biographie und einem Leben jenseits des Krieges.

    Auch hinsichtlich unseres Publikums gibt es Dualität: Diese Bilder sollen von  Menschen betrachtet werden, die nicht wissen, was und wie Krieg ist. Aber wir wollen auch, dass die Menschen auf unseren Fotos diese Bilder sehen und sich darin wiedererkennen. 

    Fotografen können keine Kriege beenden. Aber natürlich spielen sie eine Rolle darin, besonders die Fotojournalisten. Letzten Monat war ich in einem Pressebüro in Charkiw und einer der Pressereferenten sagte mir, dass seit der russischen Invasion mehr als 7000 Presseakkreditierungen ausgegeben worden seien. Das ist nicht genug. Wir brauchen mehr als 7000 Journalisten, die die Geschichten erzählen, was in dem Land geschieht. So funktioniert das natürlich nicht – aber wenn man jede kleine Siedlung, die angegriffen wurde, nehmen und einen Fotografen, einen Schriftsteller und einen Fernsehjournalisten dorthin schicken würde, hätten wir nicht genug Journalisten. Es gibt so viele wichtige Geschichten zu dokumentieren – für die Nachrichten und als historische Dokumente.~~~„These are people with lives that extend beyond the events of war“

    I’ve been working in Donbas for eight years, always together with writer Alisa Sopova, who is herself from Donetsk city. We met in 2014 in Sviatohirsk back when Alisa was working as a translator. She now lives in the United States where she is finishing an anthropology PHD at Princeton University.

    I am the author of this photograph and Alisa is the co-author since we made all our reporting together for this project 5K from the frontline. It is currently exhibited at the Imperial War Museum in Manchester and touring to London in February 2023.
    Over the last five years we visited the same families and communities who lived sometimes as close as 50 meters from military positions. The largest battle in Europe since WW2 is currently taking place in Donbas. Most of the people we know have fled their homes and become IDPs. Some men have joined the military.  
    This picture of Anna is from 2019. It was the first time she’s visited her son’s grave. Her son found a grenade in his garden, picked it up, and was killed. And the graveyard itself lies in a minefield. In fact, you had to drive along a mud track, through a field that is heavily mined, in order to get to Opytne itself. 

    I photographed different people visiting and cleaning the graves, and we decided to focus on the story of Anna. Typically Alisa starts writing stories and then I show her the photographs and we match up these words and photographs to publish on social media with the hashtag #5Kfromthefrontline.

    As with all creative collaborations, in terms of authorship over the text and the photographs, there is some fluidity. And we have two perspectives: the insider and the outsider. 
    I live in a country where war hasn’t directly affected my family for one generation. And I am very interested in how we can tell war stories in a way that is engaging for people who’ve never experienced it. How we can help people imagine, what it might be like if war arrived here today, on the street outside my window? What of my things would I pick up and carry with me, how would I get the dog in the car too? for example.

    Whereas Alisa is from Donetsk city and had to flee at the start of the conflict in 2014 and now lives in another country. From that perspective, what she thinks very carefully about – and as a result, I do too – is how do we represent these people in a way that’s respectful and not othering? As soon as war arrives in a place, people’s lives become miserable and ugly pretty quickly, but that doesn’t mean we have to depict individuals in that way. They are not only victims of war, but also a person with a biography and a life that extends beyond the events of that war. 
    There’s also duality in terms of our audience: We want people who don’t know what war is like to see the pictures, but we also want the people in our photographs to see them and to recognize themselves in these images.

    Photographers can’t stop wars. But they certainly have a part to play in them, especially photojournalism. I was at a press office in Kharkiv last month and one of the press officers told me there have been more than 7000 journalist accreditations given out since the full scale Russian invasion. It’s not enough. We need more than 7000 journalists to tell the stories of what is happening in the country. I mean, of course, it doesn’t work like this but if you took every small settlement that had been attacked and assigned one photographer and one writer and one TV journalist to go there, we don’t have enough journalists. There are so many important stories to record – for the news and as historical documents.[/bilingbox]

    ANASTASIA TAYLOR-LIND

    ist eine britisch-schwedische Fotojournalistin, die über Frauen, Krieg und Gewalt berichtet. Sie fotografiert für das National Geographic Magazine, sie ist TED Fellow und Harvard Nieman Fellow 2016. Anastasia schreibt Gedichte über aktuelle Konflikte und über Erfahrungen, die sie nicht fotografieren kann. 

    BÜCHER UND AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
    UPCOMING  – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, London (ab 07.02.2023)
    ONGOING – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, Manchester (14.10.22-02.01.23)
    2022 – One Language [Gedichtband]
    2014 – MAIDAN – Portraits from the Black Square 

    PUBLIKATIONEN u.a. in National Geographic Magazine, Time, The New Yorker, The Wall Street Journal, The Guardian, Die Zeit.


    Foto: Anastasia Taylor-Lind
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Textprotokoll: dekoder-Redaktion
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf/dekoder
    Veröffentlicht am 20.10.2022

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  • „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    Bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine galt Russland Teilen der Linken weltweit als globale Friedensmacht. Putin war in dieser Erzählung eine Art Fahnenträger des Kampfs gegen den US-amerikanischen Imperialismus und die NATO. Mit einem starken Staat und angeblich starken Gewerkschaftsbewegungen habe Russland demnach außerdem gegen den neoliberalen Mainstream und die Vormacht der globalen Konzerne gekämpft. Nicht selten wurde Russland so als ein Gegenentwurf zur imperialistischen, militaristischen und kapitalistischen Grundordnung des Westens verstanden.

    Mit dem 24. Februar 2022 scheint sich unter vielen linken Bewegungen weltweit ein Umdenken abzuzeichnen. Auch die deutsche Partei Die Linke hat den russischen Angriff auf die Ukraine „aufs Schärfste“ verurteilt. An dem klaren Nein zu Waffenlieferungen wird gerüttelt. Gleichzeitig fordern Bundestagsabgeordnete wie Klaus Ernst das Ende der Sanktionen, Sahra Wagenknecht wittert einen „beispiellosen Wirtschaftskrieg“ gegen Russland, während andere zu Verhandlungen aufrufen – ohne jedoch an Russland zu appellieren, seine Truppen zurückzuziehen.

    Viele Linke weltweit würden immer noch einem verzerrten Russland-Bild anhängen, kritisiert der ukrainische Sozialist Taras Bilous. Für den Territorialverteidiger ist klar, dass man dabei den „Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten“ sollte, dass die Gründe dahinter komplexer sind. 

    Im Interview mit Meduza kritisiert Bilous Klischees über Russland und die Ukraine im Westen und ruft zu einem Kampf für eine „Demokratisierung der Weltordnung“ auf.

    In Russland weiß man ziemlich wenig darüber, wie die ukrainische Politik aufgebaut ist, normalerweise wird das Thema nur im Kontext „prorussisch – prowestlich“ diskutiert. Erklären Sie uns bitte, welchen Platz Sie und Sozialny Ruch [dt. „Soziale Bewegung“] darin einnehmen.

    Hier muss man zunächst sagen, dass es in der Ukraine genau wie in Russland eine systemische und eine nicht-systemische Politik gibt.

    Da ist einerseits die Politik, die im Parlament und im Fernsehen stattfindet – das sind Parteien, die von Oligarchen gesponsert werden. Dann gab es – und gibt es teilweise noch – die alten Linksparteien wie die KPU. Ob man sie links nennt oder nicht, ist ein Thema für sich, aber sie hatten in vergangenen Jahren überhaupt keinen Einfluss mehr. Sie haben ihre Wählerschaft schon vor dem Maidan und den Gesetzen zur Entkommunisierung verloren, und als sie dann noch die repressiven Gesetze von Janukowitsch unterstützten, wanderten auch die Mitglieder massenweise ab.

    Eine Ebene darunter gibt es die Zivilgesellschaft. Auch da gibt es Parteien, aber die haben sich von unten gebildet und schaffen es normalerweise nicht ins Parlament.

    Der realistischste Weg für Aktivisten, ins Parlament zu kommen, ist über Listen von Politikern wie Swjatoslaw Wakartschuk. Wir haben versucht, unsere Partei registrieren zu lassen, aber es stellte sich heraus, dass das mit unseren bürokratischen und finanziellen Ressourcen zu schwierig ist. Andererseits schaffen es die Parteien, die im Parlament sitzen, in der Regel nicht, die Leute auf der Straße zu mobilisieren. Wie zum Beispiel die Partei Batkiwschtschina von Julia Timoschenko, die einfach Fahnenträger engagierte und bezahlte Demos veranstaltete. Genau wie die Partei der Regionen und die ganzen anderen. Aktivistische Organisationen kommen zwar nicht in die Regierung, aber dafür sind sie imstande, von unten Druck auf sie auszuüben.

    Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt

    Die russischen Polittechnologen, die die Wahlen in der Ukraine vor Ort beobachtet haben, dachten, sie hätten unsere Politik verstanden – zumindest die, die vor Selensky da war; seit seiner Präsidentschaft hat sich vieles verändert. Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt, darunter das der Freiwilligen-Organisationen, die seit Beginn des Krieges [2014] gegründet wurden. Ja, ein Teil von ihnen ging aus bereits bestehenden zivilgesellschaftlichen Institutionen hervor, aber viele wurden quasi von Null auf von einfachen Menschen und regionalen Leadern aufgebaut, die davor überhaupt nichts mit Politik zu tun hatten. Das haben die russischen Polittechnologen nicht kapiert.

    Was genau machen Sie, oder besser gesagt, was haben Sie bis zum Krieg gemacht?

    Mein Linksaktivismus hat auf dem Maidan begonnen: Zwischen 2014 und 2019 war ich im Rahmen der Projekte Neuer Donbass und Gemeinsam bauen wir die Ukraine auf sowie mit anderen Freiwilligeninitiativen im Donbass unterwegs, beteiligte mich am Wiederaufbau von Schulen und anderen Gebäuden, die durch die Kampfhandlungen zerstört wurden, arbeitete mit Kindern. Und weil sich meine Tätigkeit mehr und mehr vom Aktivismus auf den redaktionellen Bereich verlagerte, habe ich angefangen, Artikel zum Thema Donbass zu schreiben. Zum Beispiel über den Luftangriff auf das regionale Verwaltungsgebäude der Oblast Luhansk – ein Thema, das in der ukrainischen Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert wird; offiziell wurde dementiert, dass der Angriff von ukrainischer Seite erfolgt sein könnte. Dann gab es einen weiteren [Angriff] auf die Ortschaft Stanyzja Luhanska (bei dem zwölf Zivilisten getötet wurden – Anm. Meduza), für die in all den Jahren niemand die Verantwortung übernommen hat. Ich habe viel zum Thema der zivilen Opfer des Kriegs im Donbass auf beiden Seiten geschrieben.

    Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet

    Aber alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht. Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet. Unter den heuchlerischen Rufen vom „Genozid an der Donbass-Bevölkerung“, mit denen der Einmarsch gerechtfertigt wurde, vernichtete die russische Armee Sewerodonezk, Popasna, Mariupol und all die anderen Städte im Donbass. Sie warfen den Ukrainern vor, die Minsker Vereinbarungen nicht zu erfüllen, und schwiegen über die eigenen Verstöße. Jetzt sagen sie, der Westen sei bereit, „bis zum letzten Ukrainer“ zu kämpfen, und mobilisieren selbst zwangsweise die Männer in der LNR/DNR, um sie als Kanonenfutter an die Front zu schicken.

    Alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht

    Was unsere Organisation Sozialny Ruch [kurz: Sozruch – dek] angeht, so beschäftigen wir uns im weitesten Sinn mit sozialen Fragen. Der Leiter der Organisation Witali Dudin ist Jurist für Arbeitsrecht. Manche unserer Aktivisten arbeiten in Gewerkschaften. Ein paar Monate vor dem Einmarsch haben wir beispielsweise in Kyjiw eine Demo gegen die Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr veranstaltet. Wenn wir nicht selbst etwas organisieren, arbeiten wir mit anderen Gruppierungen zusammen – wir unterstützen zum Beispiel Umwelt- oder feministische Initiativen und nehmen an den Märschen zum 8. März teil. Außerdem haben wir in Kyjiw Gedenkveranstaltungen für Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa durchgeführt.

    Auf einer dieser Veranstaltungen sind Sie mit einem Plakat erschienen, auf dem stand: „Löst das Asow-Regiment auf“.

    Daran erinnern sich die Leute bis heute. Ehrlich gesagt, wenn ich gewusst hätte, was dieses Jahr passiert, dann ich bin mir nicht sicher, ob ich das gemacht hätte. Das Asow-Regiment wurde 2014 von Leuten gegründet, die zumindest in der Vergangenheit neonazistische Ansichten vertreten hatten. Aber schon 2014 waren bei weitem nicht alle Asow-Kämpfer Neonazis, um so weniger in den Jahren danach, als die Führung gewechselt hatte und sich viele junge Leute einfach deshalb anschlossen, weil das eine der einsatzfähigsten Einheiten in der Ukraine war. Die russische Propaganda kann heute so viele Bilder von einzelnen Kämpfern mit [neonazistischen] Tattoos zeigen, wie sie will, aber zum Regiment gehören über tausend Soldaten, darunter sind Menschen mit ganz unterschiedlichen Ansichten.

    Was genau sind die Stereotype über die Ukraine, gegen die Sie ankämpfen?

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen – ungefähr von „alles furchtbar“ bis „finden wir ganz gut“. Es gibt Stalinisten – über die braucht man nicht zu reden, da ist alles klar. Obwohl es auch da ganz vernünftige gibt. Mich hat eine stalinistische Partei in Indien überrascht, die die russische Aggression gegen die Ukraine mithilfe von Stalin-Zitaten kritisiert hat.

    Aber für mich sind die Fälle wichtiger, in denen Menschen mit vermeintlich progressiven Ansichten, von denen man eigentlich Unterstützung oder wenigstens eine adäquate Position erwarten würde … zum Beispiel [Noam] Chomsky oder [Jeremy] Corbyn … Eine offene Unterstützung Russlands ist aber eine Randerscheinung, und wenn, dann findet man sie eher in Lateinamerika als im Westen. Im Westen trifft man öfter auf eine quasi neutrale Position – wir verurteilen den Krieg als solches, aber auch nicht mehr.

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen

    Das ist zum Beispiel die DiEM25, eine Organisation, die von Yanis Varoufakis ins Leben gerufen wurde. Oder die Progressive Internationale, die auf ihre Initiative hin gemeinsam mit einzelnen Mitgliedern des Teams von Bernie Sanders gegründet wurde. Als der Krieg losging, erklärten die polnische Linkspartei Razem [dt. „Gemeinsam“] und unsere Zeitschrift den Austritt aus dieser Vereinigung. Deren Position ist nämlich: Krieg ist sehr schlecht, wir rufen zu Verhandlungen und einem schnellstmöglichen Ende der Kampfhandlungen auf.

    Das nächste Level [linker Positionen] ist es, die russische Aggression offen zu verurteilen und einen Rückzug der Truppen bis an die Grenzen vor dem 24. Februar zu fordern, aber keine Waffenlieferungen [an die Ukraine] zu unterstützen. Das ist ja schön und gut, aber – was dann? Mit welchen Mitteln will man [diese Ziele] erreichen? Das ist die Position von Die Linke, aber die schwankt – [die Jugendorganisation] unterstützt die Waffenlieferungen bereits, obwohl die offizielle Position der Partei immer noch dagegen ist.

    Überhaupt sind die Stimmungen im linken Milieu stark abhängig vom jeweiligen Land. Die skandinavischen Linken haben sehr schnell die richtige Position eingenommen – sowohl die Sozialdemokraten als auch die Radikalen. Sie verhalten sich viel adäquater als die südeuropäischen Linken – Griechenland und Italien sind da ganz schlimm. Im deutschsprachigen Raum macht sich der Generationenkonflikt stark bemerkbar – wie man am Beispiel der Linkspartei sieht, in der die Jugend für die Waffenlieferungen ist; nicht ausnahmslos natürlich, aber bei der älteren Generation sieht es damit viel schlechter aus. In den englischsprachigen Ländern gibt es einen solchen Riss eher nicht.

    Die Stimmungen im linken Milieu sind stark abhängig vom jeweiligen Land

    Was die Stereotype angeht, zum Beispiel, dass der Maidan ein von den USA unterstützter rechter Putsch war, beinahe ein faschistischer Staatsstreich und dergleichen. Da fragt man sich, ob diese Leute überhaupt ein adäquates Bild von der Ukraine und von Russland haben. Manchen ist vielleicht klar, dass Russland ein kapitalistischer Staat mit einem reaktionären Regime ist, sie hegen aber unter dem Einfluss von Russia Today gewisse Illusionen, dass es in Russland angeblich eine starke Gewerkschaftsbewegung gebe. Na ja, und so Sachen halt.  

    In Diskussionen mit westlichen Linken höre ich oft das Argument, dass die NATO während des Kalten Krieges die Ultrarechten unterstützt und benutzt hätte. Aber der Kalte Krieg ist seit 30 Jahren vorbei, und gerade das Beispiel, dass sich die USA in Syrien mit den sozialistischen syrischen Kurden verbündet haben und nicht mit irgendwelchen anderen Kräften, zeigt meiner Meinung nach, wie weit sich die US-amerikanische Außenpolitik mittlerweile von der Logik des Kalten Kriegs entfernt hat. Gleichzeitig ignorieren diese Linken die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat.   

    Dann kommen sie noch auf solche Ideen, dass das ukrainische Regime die Linken unterdrücken würde. Das ist ein Problem für sich – den westlichen Linken zu erklären, dass es, wenn sie Parteinamen wie Progressive Sozialistische Partei der Ukraine lesen, sich um etwas ganz anderes handelt, als sie erwarten würden. Diese Natalja Witrenko (Parteichefin der Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine) hat mit Alexander Dugin zusammengearbeitet, die beiden führten eine offen rassistische Wahlkampagne. Jedenfalls gingen alle Parteien mit vermeintlich linken Namen, die verboten wurden, in diese Richtung.  

    Diese Linken ignorieren die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat

    Die westlichen Linken kritisieren an der Ukraine zum Beispiel oft den politischen Einfluss der Oligarchen. Aber was für praktische Schlüsse ziehen sie daraus? Ich weiß selbst sehr gut, dass in der Ukraine eine schlechte Regierung mit einer neoliberalen Politik an der Macht ist. Wir haben vor dem Krieg dagegen gekämpft, wir müssen auch jetzt dagegen kämpfen – etwa, wenn die Arbeitsrechte beschnitten werden sollen. Mir sind viele Defizite der ukrainischen Gesellschaft, der Staatsmacht und der Politik bewusst, aber das heißt ja nicht, dass man die Verteidigung gegen die russische Aggression nicht unterstützen soll. 

    Aber woher kommen diese Klischees? Ist das alles der Einfluss der russischen Propaganda, oder gibt es noch weitere Faktoren? Russia Today hat sich ja bekanntlich gezielt auf diese Gruppe konzentriert – viele ihrer Frontmänner waren linke Aktivisten, sie hatten etliche Medienprojekte wie Podcasts, die sich konkret an ein linkes Publikum im Westen richteten. 

    Ich glaube, man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten. Ein markantes Beispiel ist Slavoj Žižek. Bis vor Kurzem schrieb er auf Russia Today Texte über Edward Snowden usw. Nach dem 24. Februar hat er jede Zusammenarbeit mit RT eingestellt und nimmt jetzt durchaus sinnvolle Positionen [bezüglich der Ukraine – Anm. Meduza] ein. 

    Man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten

    Das Schlimmste, was die russische Propaganda anrichtet, ist, dass sie ein verzerrtes Bild der postsowjetischen Realität vermittelt. Dazu haben die westlichen Linken weder eigene Erfahrungen noch Informationsquellen oder ein Verständnis davon, was hier passiert. Und weil sie den Mainstream-Medien nicht vertrauen, landen sie oft bei der russischen Propaganda als Hauptinformationsquelle. 

    Doch die westlichen Linken brauchen kein Russia Today, um den amerikanischen Imperialismus, die Hegemonie, die unipolare Welt und die NATO abzulehnen. Sie haben genug eigene Gründe dafür. Die ältere Generation hat oft schon zur Zeit des Kalten Krieges an den Protesten gegen den Vietnamkrieg oder andere Operationen der USA teilgenommen, die jüngere hat sich angesichts des Irak-Kriegs formiert. Wobei viele die Idee einer multipolaren Welt ganz unkritisch sehen, anstatt sich zu überlegen, wie man die Weltordnung demokratisieren könnte. Für sie wird ihre NATO-Gegnerschaft einfach zu einem Teil ihrer Identität, statt dass sie ein konkretes politisches Problem angehen und im Rahmen einer linken Strategie zu lösen versuchen. Sogar die, die die Ukraine und Waffenlieferungen einhellig unterstützen, unterscheiden sich manchmal nur dadurch, dass sie für die Auflösung unterschiedlicher militärischer Allianzen eintreten, unter anderem der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). 

    Na gut, angenommen, man löst die NATO auf und auch die OVKS, was ist dann eine Alternative in der internationalen Politik und wie verhindert man dann, dass die starken Staaten den schwächeren ihren Willen aufzwingen? Der Sicherheitsgarant der osteuropäischen Staaten ist ihre NATO-Mitgliedschaft, der von Armenien – seine Mitgliedschaft in der OVKS. Ich bin selbst kein Fan der NATO, ich finde, dass Militärbündnisse, in denen imperialistische Staaten dominieren, kein gutes Instrumentarium zur Aufrechterhaltung der weltweiten Sicherheit sind. Aber das heißt nicht, dass die NATO einfach irgendein globales Übel ist.   

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen

    Dahinter steckt meiner Vermutung nach ein Problem mit der geopolitischen Logik. Jemand hat mir zum Beispiel klipp und klar geschrieben, dass wir Russland als Gegengewicht zu den USA brauchen. In dieser Logik der Opposition wird aber eigentlich Putins Regime, solange es besteht, die NATO noch zusätzlich stärken, wie wir an den Folgen der Invasion in der Ukraine sehen. 

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen, und dafür kann man Widersprüche zwischen verschiedenen Ländern nutzen. Aber eine multipolare Welt, in der jeder imperialistische Staat seine Einflusssphäre hat und seine imperialistische Politik fährt – das ist eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Das kann uns wirklich gestohlen bleiben.    

    Eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein

    Diese Denkweise rührt wohl hauptsächlich daher, dass die Linken in den letzten Jahrzehnten auf dem absteigenden Ast waren, was nicht förderlich war für ihr politisches Denken und ihre Strategien. Das merkt man sogar an jenen, die [bezüglich der Ukraine] eine sinnvollere Position einnehmen. Sogar viele unserer Partner im Westen verschwenden mehr Zeit damit, die richtige Haltung zu finden und andere zu überzeugen, als sich zu überlegen, was man praktisch tun könnte, um auf die Situation Einfluss zu nehmen.  

    Zum Beispiel finde ich, eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein. Aber viele wollen das überhaupt nicht diskutieren, weil die UNO eben ein Gremium ist, in dem imperialistische Staaten dominieren. Tja, aber was ist die Alternative?

    Wie schätzen Sie das Potenzial der russischen Antikriegsbewegung ein? 

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann. Aber dann haben sie gesehen, dass stattdessen manche anfangen, gesellschaftliche Tendenzen in der Ukraine zu kritisieren – vor etwa einem Monat hat sich ein Schriftsteller darüber beschwert, dass die Ukrainer die russische Kultur abschaffen und Puschkin-Denkmäler stürzen (gemeint ist ein Kommentar von Leonid Bershidski in The Washington Post – Anm. Meduza). Aber mit so etwas sollte sich die russische Intelligenzija heute überhaupt nicht beschäftigen. So werden sie die Situation ganz bestimmt nicht zum Besseren wenden. Wenn sie Zugang zu westlichen Medien haben, sollten sie den lieber dazu nutzen, die westliche Öffentlichkeit von einer mutigeren und entschiedeneren Handlungsweise zu überzeugen. Wenn die Ukrainer Waffen fordern, ist das sowieso klar, was sonst, aber wenn die russische Opposition Waffen fordert, hat das einen ganz anderen Effekt.

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann

    Ich weiß natürlich, dass die politischen Perspektiven von jemandem, der sich so äußert, in Russland gleich Null sind. Doch seit dem 24. Februar hängen sämtliche Perspektiven einer Demokratisierung Russlands von der militärischen Niederlage Russlands ab und davon, wie schnell das passiert. Auch als Deutschland mit den Waffenlieferungen monatelang gezögert hat, waren es die Russen, die das hätten beschleunigen können. Ich weiß, dass es manche versucht haben, aber für die Ukrainer war das zu wenig. Das wäre wirklich notwendiger gewesen als Texte darüber, wie die Ukrainer Puschkin verunglimpfen. Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch. 

    Statt die Folgen des Kriegs zu beklagen, sollten wir lieber versuchen, das Problem an der Wurzel zu packen. Wer ukrainischen Flüchtlingen hilft, ist toll, keine Frage. Das ist eine sehr wichtige Arbeit, die irgendjemand machen muss, und wer sie macht, darf nicht einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt sein. Innerhalb der ganzen russischen Antikriegsbewegung ist für mich der Feministische Antimilitaristische Widerstand das positivste Beispiel, weil sie völlig frei sind von imperialistischen Komplexen aller Art. 

    Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch

    Andererseits verstehe ich, dass ihre Tätigkeit in Russland jetzt nicht sehr effektiv ist. Proteste können in Russland momentan nur die Zahlen der politischen Gefangenen erhöhen, der Nutzen ist überschaubar. Deswegen sollte die Frage, wie man sich unter konkreten Bedingungen verhält, lieber von denen beantwortet werden, die sich unter diesen Bedingungen befinden. Etwas anderes sind die Anarchisten, die auf den Eisenbahnschienen Sabotage betreiben. Ich weiß schon, dass es nicht viele sind, die sich zu solchen Aktionen entschließen, aber bislang ist das eine der besten Methoden, das Ende dieses Kriegs zu beschleunigen, weil das unmittelbar auf Russlands Kampffähigkeiten einwirkt. 

    Mir scheint, viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird. Da geht es gar nicht um Selensky – der ist in diesem Punkt nur Erfüllungsgehilfe des Volkes. Nach dem, was Russland angerichtet hat, ist die absolute Mehrheit der Ukrainer gegen Zugeständnisse. Sie bereiten sich schon auf einen Winter ohne Gas und Strom vor. Dass die Fortsetzung des Krieges weitere Verluste bedeuten wird, ist allen klar, aber die Ukraine ist bereit, bis zum Sieg zu kämpfen.

    Viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird

    Russland kann nicht siegen, und der einzige Grund, warum dieser Krieg weiter andauert, ist, dass da so ein erbärmlicher Zwerg in seinem Bunker nicht zugeben kann, dass er es mit dem Befehl zum Einmarsch in die Ukraine verbockt hat. Wenn Russland verliert, verliert er die Macht, und diesen Moment schiebt er hinaus, indem er sein Land in einen immer größeren Abgrund zieht. Je früher aber Russland seine Niederlage anerkennt und seine Truppen abzieht, desto besser ist es für die Russen.

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    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    An den Grenzübergängen Russlands zu Estland und Lettland bilden sich derzeit lange Schlangen von Flüchtenden, die teilweise tagelang bei Minusgraden ausharren müssen: Es sind ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die aus den von Russland annektierten Gebieten kommen. 
    Meduza hat mit einzelnen von ihnen gesprochen – und auch mit Helferinnen und Helfern, die sich dort inzwischen eingefunden haben. Diese Augenzeugen schildern katastrophale Zustände auf russischer Seite und ein absichtliches Hinauszögern seitens der russischen Grenzbehörden. 

    Wie das litauische Portal Delfi informiert, wurden am Donnerstag, 6. Oktober, einzelne Wohnungen von freiwilligen Helfern in der Oblast Pskow durchsucht. Delfi sowie Spiegel Online berichten außerdem über zahlreiche Zurückweisungen ukrainischer Flüchtlinge aus den von Russland besetzten Gebieten auf estnischer Seite. 


    „Grenzübergang Kunitschina Gora (Bezirk Petschorski, Oblast Pskow). Ukrainer. Vermutlich sind warme Speisen und Getränke willkommen, ebenso Heizöfen.“ / © Telegram-Kanal Pskowskaja Realnost

    „Wir haben begriffen, dass sie uns für Vieh halten“

    Andrej, ukrainischer Flüchtling (Name auf seinen Wunsch geändert)

     

    Es gab für uns nur noch einen Weg [aus den russisch besetzten ukrainischen Gebieten] in die Ukraine – über Wassiliwka in der Oblast Saporishshja. Er wurde kurz vor dem 23. September und den Pseudoreferenden geschlossen. Männer zwischen 18 und 35 Jahren durften nicht mehr [aus der Oblast] ausreisen. Wir vermuteten, dass sie [die russischen Behörden] als nächstes anfangen würden, die Männer einzukassieren [zu mobilisieren], und beschlossen, lieber nicht darauf zu warten. Manche gehen auf die Krim, aber in Russland ist es unheimlich – da gibt es mehr Militärs als normale Menschen.

    Ich bin mit meiner Frau und unserem Kind am 25. September aus dem besetzten Gebiet [in der Oblast Saporishshja] auf die Krim ausgereist, von dort aus sind wir nach Sankt Petersburg und dann weiter nach Iwangorod [an der russisch-estnischen Grenze – dek], wo wir andere ukrainische Flüchtlinge kennengelernt haben.

    Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch

    Am 30. September kamen wir am Grenzübergang an. [In der Schlange] standen ungefähr zehn Leute. Wir dachten: „Super, dann sind wir schnell durch.“ Dann stellte sich heraus, dass die Russen wollten, dass sich die Leute der Reihe nach in Listen eintragen und schon 60 vor uns draufstehen. Die Listen werden eingesammelt, die Personalien in eine Datenbank eingetragen und die Menschen der Reihe nach aufgerufen. Alle diese 60 Menschen waren am 29. September angekommen, nur acht waren an diesem Tag durchgelassen worden. Um es gleich zu sagen: Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch, sechs bis acht Menschen alle vier bis sechs Stunden.

    Selbst wenn du mit einem kleinen Kind anstehst, wirst du nicht vorgelassen. Ich blieb an der Grenze, um Wache zu schieben – die Lage veränderte sich alle 15 Minuten. Meine Frau und unser Kind habe ich ins Hotel geschickt, in dem auch die anderen Familien wohnten.

    Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad

    Russen und Esten passieren die Grenze innerhalb von fünf Minuten. Einer [der Russen] stellte sich in die Schlange mit den Flüchtenden und regte sich auf: „Was ist denn hier los? Muss ich jetzt hier anstehen?“ Er fluchte. Die Grenzbeamtin zeigte auf die Schlange mit den Russen und sagte zu ihm: „Beruhigen Sie sich mal, da stehen die normalen Leute.“ Da begriffen wir, dass sie uns für Vieh halten. Außerdem waren alle, die [im Kontrollpunkt] saßen, durchgefroren und erkältet. Wir wurden [einfach so] nach draußen gejagt, zum Beispiel weil sie um vier oder sechs Uhr morgens die Böden wischen mussten. Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad. Es war kalt. Dazu [kommen] der Stress und die weite Reise.

    Sie nehmen dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm

    Alle mussten durch die Filtration [auf russischer Seite]. Erst saßen wir im Kontrollpunkt und warteten, dass wir drankamen. Sie nahmen uns die Pässe ab, überprüften sie und holten uns [dann], um unsere Fingerabdrücke zu nehmen. Etwa alle vier Stunden wurden sechs bis sieben Leute aus der Liste [für die Filtration] abgeholt, nicht mehr. Um nicht getrennt zu werden, fragten [Familienangehörige, die nicht alle auf einer Liste standen], ob sie zusammen durchgehen können. Die Grenzbeamten verneinten und sagten, sie würden die vorlassen, die alleine anstehen. Also mussten die Familien Leute vorlassen und weitere vier bis sechs Stunden warten, bis sie an die Reihe kamen.

    In der Filtrationszone nehmen sie dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm. Keine Ahnung, wo sie überall reingeguckt haben, vielleicht haben sie es auch verwanzt – es ist alles möglich. Wir bekamen unsere Handys nach 15 bis 30 Minuten wieder, andere erst nach mehreren Stunden.

    Sie sagen Dinge wie: ‚Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?‘

    Nachdem dir das Handy abgenommen wurde, geht es zum Verhör. Sie wollen wissen: „Was ist bei Ihnen los? Wie war Ihr Leben in der Ukraine vor diesen ganzen Ereignissen? Warum wollen Sie nicht in Russland bleiben?“ Sie fragen nach den Eltern, Schwestern, Brüdern. Sagen Dinge wie: „Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?“ Stellen provokante Fragen. Manche wurden gefragt: „Wie finden Sie unseren Präsidenten?“ Naja, diesen Putin. Am Ende wurden wir durchgelassen.

    Die estnische Grenze passierten wir innerhalb von 30 Minuten. Jetzt sind wir in Estland. In den Nachrichten lese ich, dass sie in Melitopol und Cherson schon die Männer einkassieren [im Zuge der Mobilmachung – dek]. In die Ukraine wollen wir erst zurück, wenn es wieder ruhig ist. Meine Familie hat Angst vor den Explosionen, bei uns [in der Stadt] wird täglich geschossen. Im Moment überlegen wir, wohin wir jetzt fahren.


    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    Anna, freiwillige Helferin an den russischen Kontrollpunkten Kunitschina Gora und Schumilkino an der russisch-estnischen Grenze

    Die Menschen, nicht nur Flüchtlinge, fahren zwischen den Grenzübergängen hin und her, stellen sich in verschiedenen Schlangen an und schauen, wo die Umstände besser sind. Es gibt viele Autofahrer und Fußgänger. Ganze Busladungen kommen an. Die Anzahl der Menschen [an den Grenzübergängen] ändert sich ständig, aber es sind immer mindestens 300 bis 400. Es ist ganz unterschiedlich, [allein] in Schumilkino haben wir [einmal] etwa 1000 Menschen gezählt. Manchmal kommt zum Beispiel ein Bus von der Krim, setzt die Leute irgendwo im Nichts [an der Grenze] ab, und sie stellen sich alle auf einmal an.

    Diese Situation hat sich vor anderthalb Wochen angebahnt. Den Notruf bekamen wir am Mittwoch, 28. September: Es wurde von riesigen Schlangen berichtet, vor allem Fußgänger. Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig. Als wir mit der ersten Partie humanitärer Hilfe ankamen, gab es unter den Wartenden bereits Menschen, die seit über drei Tagen anstanden.

    Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig

    Manche kommen auch mit privaten Fuhrunternehmen. Einige mieten für einen Aufpreis einen Bus, der sie an die Grenze bringt und dann zwei Tage dort steht – da drin können sie sich wenigstens aufwärmen und schlafen. Auf der anderen Seite wartet entsprechend ein zweiter [Bus eines europäischen Unternehmens], aber wer [vorher] wie lange [an der Grenze] stehen muss, weiß niemand.

    Seit Donnerstag, 29. September, helfen wir den [Flüchtlingen] aktiv. Wir arbeiten in fünf Richtungen: warmes Essen und Heißgetränke, warme Kleidung, Schutz vor Regen, Übernachtungsmöglichkeit und Evakuierung auf anderem Weg.

    Als klar wurde, dass wir es nicht [allein als Freiwillige] schaffen, gingen wir an die Öffentlichkeit und riefen die Leute zur Mithilfe auf. Jetzt gibt es Menschen, die sich organisieren und [Lebensmittel an die Grenze] bringen. Viele von ihnen helfen schon lange, aber plötzlich waren viel mehr Ressourcen nötig als früher.

    Vor Müdigkeit und Kälte sind die Kinder in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber. Die Freiwilligen und andere Einwohner [der umliegenden Städte] nehmen die Menschen bei sich auf, damit sie sich aufwärmen können, in erster Linie Frauen mit Kindern. Aber auch wenn jemand anderes um Hilfe bittet, versucht man ihm zu helfen. Manche haben Angst, zu uns nach Hause zu fahren, um dort zu übernachten, aber dann beruhigen sie die Leute, die schon bei uns waren oder ihre Angehörigen mitgeschickt haben.

    Die Kinder sind in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber

    Ich habe das Gefühl, dass die [städtischen und regionalen] Behörden nicht wollen, dass die einfachen Bewohner zu viel von den Ereignissen mitbekommen. Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden. Es handelte sich um ältere Menschen. Eine Frau starb in Petschory [Oblast Pskow, in der Nähe der estnischen Grenze – dek], den Tod einer anderen Frau meldete ein Mann aus der Schlange in Ubylinka [an der russisch-lettischen Grenze – dek]. Wo der dritte Fall war, weiß ich nicht mehr. Ein anderer Mann erlitt einen epileptischen Anfall und wurde mit dem Krankenwagen geholt. Und das sind nur die Fälle, von denen wir wissen.    

    Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden

    Viele [Flüchtende aus der Ukraine] bedanken sich und sind verwundert, dass es in Russland Freiwillige gibt. Trotz der vielen Arbeit unterstützen wir uns gegenseitig. Wir umarmen uns oft. Wenn sie weinen, muss ich auch weinen. Die Möglichkeit, ihnen zu helfen, ist für mich das ganze halbe Jahr schon eine echte Rettung. Jetzt ist der Strom der Menschen dünner geworden und die Lage hat sich etwas stabilisiert. 

    Sehr oft arbeiten die Flüchtenden, denen wir hier helfen, später als Freiwillige, wenn sie auf der anderen Seite der Grenze sind. Angehörige von Leuten, die es herausgeschafft haben, fragen uns, wie sie für uns Geld spenden oder sonst helfen können. Es gibt Menschen, die nie gedacht hätten, dass jemand einen Unbekannten ins Haus lassen könnte, um zu helfen.

    Das ist ein Ozean aus Wahnsinn, in dem die Menschen sich verzweifelt abstrampeln. Plötzlich findet einer jemandes Hand und hält sie. Alle klammern sich aneinander und es bildet sich ein stabiles Floß. Dadurch helfen die Menschen, das Menschliche zu bewahren und sich im Kampf mit den Schrecken des Krieges über Wasser zu halten. Leider ist der Preis, der für eine solche Entwicklung und ein solches gegenseitiges Verständnis, für die Idee von Freiwilligenarbeit und gegenseitiger Hilfe gezahlt werden musste, viel zu hoch.


    „Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann“


    Alina, Flüchtende. Aus dem von Russland besetzten Cherson hat sie ihr Weg über die Krim nach Sankt Petersburg geführt. Sie hat die russisch-estnische Grenze bei Iwangorod überquert.

    Wir [meine Familie und ich] konnten bis zuletzt nicht weg. Alle dachten, dass sich etwas ändern würde. Alle sagten mir: „Fahr doch, was sitzt du hier noch rum?!“. Wir konnten uns nicht durchringen. Das Entscheidende war dann das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig. Uns war klar: Wenn das Referendum stattfindet und so abläuft, wie es die andere Seite [Russland] will, dann wird hierher [nach Cherson] keiner [von uns] zurückkehren.

    Das Entscheidende war das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig

    [An der russisch-estnischen Grenze] versuchten wir herauszufinden, wer der letzte [in der Schlange] ist. Als Antwort wurden wir in eine Liste eingetragen. Dann fragten wir, wie viele abgefertigt werden. Sie sagten, dass heute bisher nur zwei durchgelassen wurden. Die Schlange ist hundert Menschen lang; es ist schon nach Mittag. Da wurde uns klar, wie lange wir hier stehen müssen.

    Es gibt sehr viele Kinder und Rentner. Das Einzige, was uns gefreut hat, war, dass Männer und Frauen über 60 außer der Reihe durchgelassen wurden. Wenn aber ein Mann oder eine Frau über 60 mit ihren Kindern unterwegs ist, die, sagen wir mal, 40 Jahre alt sind, dann bleiben sie bei ihren Kindern, weil sich niemand in einer solchen Situation trennen will. Ein weiteres Problem sind die Kinder, [an der Grenze] gibt es Winzlinge von drei Monaten.

    Ein Problem sind die Kinder, es gibt Winzlinge von drei Monaten

    Ich weiß nicht, warum das so ist, aber an Toiletten fehlt es am russischen Grenzübergang völlig. Die gibt es dort auf dem Gelände einfach nicht. Vielleicht gibt es im Gebäude eine; die Mitarbeiter brauchen sie wohl. Doch für Besucher, für Wartevolk wie uns, gibt es keine. Ich habe mitbekommen, wie eine Frau eine Mitarbeiterin danach fragte. Die antwortete: „Wir haben hervorragende Bio-Toiletten, gehen Sie zum Gewässer [beim Grenzübergang] oder in die Büsche.“ Nebenan steht noch ein verlassenes Gebäude, mit dem wir uns in dieser Hinsicht „vertraut“ gemacht haben; früher gab es dort irgendein Geschäft, doch hängt da jetzt ein Schild: „geschlossen“.

    Weil uns der Bus einfach abgesetzt hat [und wieder weggefahren ist], haben wir an der Grenze entweder auf der Straße gestanden oder waren im Gebäude. Vielen Dank an die Frauen, die dort arbeiten. Sie kamen und sagten: „Frauen und Kinder, kommen Sie und wärmen Sie sich auf. Die Männer bleiben auf der Straße, weil nicht genug Platz ist.“ In das kleine Zimmer passten aber nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke. Wir haben auf den Fensterbänken gesessen, auf dem Boden, auf den Koffern.

    In das kleine Zimmer passten nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke

    Eine Nacht mussten wir draußen verbringen. Auf der Bank konnte man nicht sitzen, da war der Wind zu kalt, der vom Wasser herüberwehte. Also versuchst du, dichter am Gebäude zu sitzen, dort ist es ein klein bisschen wärmer. Da störst du die Leute, die mit ihren Koffern herauskommen, denn du versperrst den Weg. Ich hätte natürlich [ab und zu] in dieses Zimmer gehen können, aber da gab es absolut keinen Platz. Ich stellte mich neben die Tür, um mir die Hände zu wärmen, dann ging ich wieder weg.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer

    Es gab überhaupt kein Wasser [am Grenzübergang]. Wir haben es in der Stadt gekauft, als wir das, was wir mitgebracht hatten, leergetrunken hatten. Und die Freiwilligen haben geholfen; sie brachten Wasser in Plastikflaschen und heißes Wasser. Essen hatten wir zuvor schon bekommen, aber die Freiwilligen brachten auch Bouillon, Gebäck, Kuchen und Printen vorbei.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer. Du weißt: Was auch passiert, sie helfen dir von A bis Z, selbst nachts. Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann.


    „Die Lage hat sich seit Beginn der ‚Referenden‘ bis zum Anschlag zugespitzt“

    Iwan, Freiwilliger an der russisch-lettischen Grenze (Name auf seinen Wunsch geändert)

    Wenn es früher nur an zwei Grenzübergängen Schlangen gab (in Buratschki und Ubylinka), kommt es in den letzten zwei Wochen nun überall zum Kollaps. 

    Die Lage mit den Schlangen an den fünf Grenzübergängen im Gebiet Pskow hat sich seit Beginn der „Referenden“ bis zum Anschlag zugespitzt. Die fahren selbständig oder gegen Bezahlung mit Hilfe von privaten Fuhrunternehmen zu den Grenzübergängen für Fußgänger. Während Neue ankommen, sind ihre „Vorgänger“ noch nicht rüber [über die Grenze]. Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten; manchmal werden [nur] drei, vier Autos pro Tag abgefertigt.

    Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten

    In Iwangorod hat sich eine Zwei-Tage-Schlange aufgelöst, das bedeutet aber nicht, dass sich nicht wieder eine bildet. Anscheinend haben die Mitarbeiter des russischen Zolls nach dem Selbstmordversuch [eines ukrainischen Flüchtlings] dann schneller gearbeitet. Diejenigen, die Schlange stehen, sagen allerdings, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten. Dabei warten viele dort, fast alles Flüchtende. Russen mit Touristenvisa werden nicht rausgelassen, wer aber aus geschäftlichen, familiären oder arbeitstechnischen Gründen oder wegen Immobilienangelegenheiten ein Visum hat, wird recht zügig abgefertigt. Sie kommen dabei vor den Flüchtenden an die Reihe.

    Diejenigen, die Schlange stehen, sagen, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten

    Neben dem Grenzübergang können keine Zelte oder Stellen zum Aufwärmen errichtet werden, weil das Grenzgebiet ist. Die Leute, die Mitgefühl haben, können sich nicht darum kümmern, weil das [Errichten solcher Stellen] verboten ist. Diejenigen, die den Flüchtenden helfen wollen, haben nicht genug Kraft, um „den Brand zu löschen“: Es gibt zu wenig Freiwillige und sehr viele Flüchtende. Nicht weit vom russisch-estnischen Übergang Kunitschina Gora gibt es wenigstens das Mariä-Entschlafungs-Kloster in Petschory. Es wird erzählt, dass die Flüchtenden dort mit Essen versorgt wurden, aber jetzt wohl nicht mehr. Im Großen und Ganzen gibt es nichts, wo die Menschen hinkönnen – all diese Grenzübergänge liegen praktisch auf der grünen Wiese.

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  • „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    Juri Dud ist einer der bekanntesten russischen YouTuber, der in seiner Sendung vDud zunächst vor allem Musikgrößen, schnell aber auch Akteure aus unterschiedlichsten – auch politischen – Lagern vor die Kamera holte. Inzwischen ist auch Juri Dud zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. YouTube ist in Russland allerdings nicht blockiert, seine Sendung erreicht Aufrufe in Millionenhöhe. 

    Über acht Millionen Aufrufe verzeichnet auch das Interview, das Dud im August mit Alexander Baunow führte. Der ehemalige Diplomat Baunow war Chefredakteur von Carnegie.ru, des russischen Onlinemediums vom Moskauer Zentrum des US-amerikanischen ThinkTanks Carnegie. Das Zentrum musste am 8. April seinen Betrieb einstellen, die Seite Carnegie.ru funktioniert seitdem nur noch als Archiv. Zuvor waren dort Experten ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung zu Wort gekommen. 

    Kurz nach dem 24. Februar hat auch Alexander Baunow Russland verlassen und lebt nun im Exil. Im Interview mit Juri Dud spricht er darüber, wie Russland in den Autoritarismus schlitterte, warum Putin teilweise auch im Westen Zuspruch findet, und gibt Antwort auf die Schlüsselfrage des postsowjetischen Russlands: W tschom sila? Worin liegt die Kraft?

    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung." – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung
    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung.“ – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung

    Juri Dud: 2001 war Wladimir Putin hier [in Griechenland]. Du warst damals Mitarbeiter der russischen Botschaft in Athen und hast die Rede geschrieben, die er gehalten hat. Du sagtest, dass etwa 80 Prozent des Textes aus deiner Feder stammen. Zwei Zitate: „Wir … haben den Autoritarismus in seiner schweren Form durchlebt und eine Immunität gegen ideologische Unfreiheit entwickelt, eine Immunität, die auch für die alten Demokratien von Nutzen sein kann. In den vergangenen zehn Jahren haben wir einen schwierigen Weg zurückgelegt und die einzigartige Erfahrung gesammelt, wie man einen Staat und ein politisches Leben aufbaut. Das russische Volk hat einen demokratischen Staat aufgebaut. Der Mechanismus der freien Wahlen funktioniert auf allen Ebenen. Die Grundfesten des Föderalismus sind erstarkt. Russland hat eine Zivilgesellschaft bekommen.“ Und das zweite Zitat: „Ohne Demokratie, ohne die konsequente Integration in globale Prozesse können wir uns heute eine erfolgreiche Zukunft für Russland nicht vorstellen.“ Wie klingt das für dich jetzt, 21 Jahre später? 

    Alexander Baunow: Wie das wunderschöne Russland der Zukunft. Ich habe mich geirrt, wir beide haben uns geirrt … Ich glaube, dass er in dem Moment das gesagt hat, was er denkt, denn niemand hätte ihn dazu gebracht, etwas zu sagen, das er nicht denkt. Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung. 

    Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung

    Vor 20 Jahren dachte ich, die „autoritäre Impfung“ wäre zuverlässig, eine Spritze, die dich so etwas nie wiederholen lässt. Aber offenbar stimmt das nicht, im Gegenteil, die Menschen gehen aus autoritären Perioden mit einem gebrochenen Willen zur Diskussion hervor. Sie werden leider nicht geimpft, sondern vergiftet. Das eine ist eine Impfung, das andere eine Überdosis, der Körper muss gegen das Mittel ankämpfen, weil das Immunsystem nicht mehr dagegen ankommt. Offenbar hat es unser Immunsystem nicht geschafft. Die Dosis war zu hoch.

    Stimmt es, dass Putin hier [in Griechenland] ziemlich populär ist?

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen. Diese Funktion erfreut sich in der ganzen nicht-westlichen Welt großer Beliebtheit.
    Der Reichtum auf der Welt ist ungleich verteilt. Der Teil der Welt, der ärmer ist als der andere, sucht eine Erklärung dafür. Die Erklärung besteht meistens in einem: Wir sind besser. Die Zynischeren, Dreisteren, die ohne Werte – haben uns betrogen, sie haben uns irgendwo unterwegs geschnitten und überholt. Und jetzt beuten sie uns aus. Es braucht jemanden, der die Situation wieder geradebiegt. Jemanden, der den Reichen erklärt, dass sie zwar die Macht haben, aber wir die Wahrheit. Das macht Putin weltweit so populär – es geht darum, dass da jemand kommt, ein Land, das „denen“ in unserem Namen sagt: Ihr seid nicht reicher als wir, weil ihr besser seid, sondern schlechter.

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen

    Das hatte merkwürdige Auswirkungen. Denn diese Position ist sehr attraktiv für jemanden, der gelobt werden möchte. Und schauen wir uns den frühen Putin an: Wo sucht er dieses Lob? Natürlich im Westen. Er gratuliert Bush zum Wahlsieg, schließt Militärstützpunkte. Und auf der anderen Seite haben wir die linke Intelligenz in Griechenland oder Frankreich, in Lateinamerika, in der arabischen Welt und die sagt ihm: „Wie konntet ihr Russen das mit der Großmacht so vergeigen? Ihr wart doch das Gegengewicht zu diesen Amerikanern, jetzt kennen die gar nichts mehr, wir können uns gar nicht retten. Wie konnte das nur passieren?“

    Dann kommen noch die aus Osteuropa, traumatisiert durch die Teilung Polens, die Besetzung des Baltikums, den Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die sagen: „Die Russen sind grausam, wir kennen sie gut. Jede russische Staatsmacht ist böse. Holt sie nicht zu uns in den Westen. Rettet uns vor ihnen. Stellt lieber die Berliner Mauer weiter östlich wieder auf.“

    Und schließlich gibt es noch die Inder, Chinesen, Griechen … die Bevölkerung der ärmeren, nicht-westlichen Entwicklungsländer, die sagen: „Wo bleibt ihr denn? Wir vermissen euch!“ Und drängen in diese Richtung. Und wenn du, sagen wir mal, eine Position auf dem Globus suchst, die dich von der Masse abhebt, die dich wichtig macht, bedeutend, deine Eitelkeit befriedigt, die Eitelkeit deines Landes, deiner Nation, dann lässt du dich allmählich, Stück für Stück davon überzeugen, dass dir das selbst auch gefällt. Aber die Hauptsache ist, es gibt jemanden, der überzeugt werden will, und du fängst an, auf diese globale Nachfrage zu reagieren.

    Dann ist also der Hauptgrund für Putins Beliebtheit, dass er sich auf Kosten von Komfort und Sicherheit des eigenen Volkes gegen Amerika stellt?

    Es gibt einen guten Marker, der das veranschaulicht. Wenn man zwei Balken in Umfrage-Grafiken miteinander vergleicht, sieht man, dass nicht Russland populär ist, sondern Putin in seiner Funktion als Gegenspieler des Westens. Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Finden Sie Russland als Land gut? Nein, nein und nochmal nein. Putin als Gegengewicht zum Westen, als jemand, der es quasi im Namen der Wahrheit auf sich nimmt, diese verlogenen, verfressenen [Westler] zu bestrafen, ist beliebt, aber in Russland leben wollen wir nicht.

    Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Nein, nein und nochmal nein

    In den 1990er Jahren diskutierten wir mit den Griechen, die sagten: „Warum ist eure Supermacht auseinandergefallen, wie konntet ihr das so verkacken?“. Was haben wir bitteschön verkackt? Wir mussten für Essen anstehen, versteht ihr das denn nicht? Das will nicht in deren Kopf, dass wir vielleicht ein Gegenpol zu Amerika waren und die Welt bipolar, aber das alles auf Kosten des Sowjetmenschen, der für Lebensmittel Schlange stand.

    Ich möchte mit dir über die russische Diplomatie sprechen. Wie beurteilst du das, was jetzt daraus geworden ist?

    Unser Thema ist ja: Wir wollen so sein wie Amerika, ebenbürtig. Sie haben Belgrad bombardiert, auch wir können Städte bombardieren, sie sind im Irak einmarschiert, auch wir können irgendwo einmarschieren. Aber schauen wir uns den diplomatischen Hintergrund bei dieser Geschichte an. Ein Großteil der Welt war sich einig, dass Milošević und Hussein schlecht sind. Du kannst sie gut finden, zu Opfern erklären, das ist deine Sache, aber die Vorbereitungen liefen so ab, dass der größte Teil der Welt sie für böse hielt. Jetzt behauptet die russische Diplomatie steif und fest, die Regierung in Kyjiw sei illegitim und habe die Macht in der Ukraine durch einen Staatsstreich an sich gerissen. Wer auf der Welt außer Russland denkt das? Ich habe das Gefühl, die russische Diplomatie ist nicht einmal selbst davon überzeugt, denn seit den Ereignissen von 2014 wurden [in der Ukraine] mindestens zwei Mal Präsidentschafts- und Parlamentswahlen durchgeführt. Es ist also eine gewählte Regierung. Das ist das Eine. 
    Das Andere: Als die Amerikaner in den Irak und in Jugoslawien einmarschierten, standen große internationale Koalitionen hinter ihnen. Du kannst diese Kriege schlimm finden, sogar schrecklich, aber das waren ganz reale alliierte Mächte, eine reale Koalition aus zahlreichen legitimen, voneinander unabhängigen (in manchen Punkten vielleicht nicht, aber dennoch) Staaten.

    Und der Erfolg der Diplomatie bemisst sich danach, wie viele Verbündete du hast?

    Ja, Verbündete und Freunde. Russland hat heute keine Verbündeten, höchstens Fans. Russland ist eine Art Gladiator, oder vielmehr ein Zirkusathlet in der Manege. Und es verwechselt die Anfeuerungsrufe der Masse mit einer Allianz.

    Es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen

    Wir haben gesagt, dass die Dritte Welt, die Entwicklungsländer, die linke Intelligenz in Italien, Spanien, Griechenland, Lateinamerika den USA den Stinkefinger zeigen will, und sie dasjenige Land anfeuert, dessen Leader sich dazu erdreistet. Aber in Wirklichkeit sehen wir, dass die Griechen geschockt sind – denn es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen. Und hierin unterscheiden wir uns von den Griechen, Italienern und Spaniern: Sie haben Mitgefühl, echte Empathie. Sie leiden wirklich mit.

    Und wir nicht?

    Ich glaube, nein. Ich meine nicht die Intelligenzija mit ihrem Feingeist, sondern den durchschnittlichen Fernsehzuschauer. Der durchschnittliche Fernsehzuschauer hat oft nicht einmal mit seinem Landsmann Mitleid, der vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Rückholung der ureigenen russischen Gebiete erfordert es eben, dass wir unsere ureigenen russischen Menschen opfern. Was soll’s, wir haben schon Schlimmeres gesehen. Aber die Griechen haben Mitgefühl mit den Leidenden. Deshalb: Stinkefinger hin oder her, aber wenn sie sehen, wie das in Wirklichkeit ist, wie Amerika im Osten der Ukraine bestraft wird, dann heißen sie das nicht gut. Man sollte die Fan-Stimmung in den nicht-westlichen Ländern nicht überbewerten. Das sind keine Stimmungen von Alliierten, das sieht man sehr gut an den formell Verbündeten Russlands in der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.

    Außerdem hat sich niemand für den Krieg ausgesprochen, abgesehen von Lukaschenko. 

    Ja, und der ist sowieso schon involviert. Von seinem Gebiet aus sind ja die Truppen im Norden der Ukraine eingefallen. Alle anderen sind nicht für den Krieg. Erstens beteiligen sie sich nicht, zweitens halten sie sich möglichst raus. Drittens reißen sie sich nicht mal besonders darum, wirtschaftlich zu helfen.

    Du hast gesagt, in Russland assoziiert man Demokratie mit Entbehrungen, weil mit der Demokratie damals die hungrigen 1990er ins Land zogen. Verstehe ich dein Konzept richtig, dass daran auch der Westen schuld ist, weil man es versäumt hat, für das postsowjetische Russland eine Art Marschall-Plan zu machen?

    Ich würde nicht von Schuld sprechen, ich würde es Kurzsichtigkeit nennen. Der Erste Weltkrieg wurde mit einem bezüglich Deutschland, Ungarn und Österreich nicht sehr vorausschauenden Frieden beendet. Die Weimarer Republik, die Teilung Ungarns, wie das alles gelöst wurde, das erzeugte für Jahre im Voraus revanchistische Stimmungen und versetzte nicht nur irgendwelchen Imperialisten einen Stich, sondern den Durchschnittsbevölkerungen von Österreich, Deutschland und Ungarn. Wenn wir das sagen, rechtfertigen wir nicht den Nationalsozialismus, sondern versuchen die Gründe zu verstehen, warum in Deutschland gerade diese Kräfte an die Macht kamen.

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte. Es gab zwar die eine oder andere Geste, irgendwelche Versuche der Beteiligung, der Einbeziehung Russlands in den Klub der großen westlichen Staaten, ein paar Respektserweisungen, von der finanziellen Unterstützung durch den IWF mal abgesehen, all das gab es sehr wohl. Aber offenbar fehlte die Konsequenz und die strategische Dimension. 

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte

    Das heißt, Russland verschwand als Bedrohung. Gott sei Dank. Es verschwand und war vergessen. Idealerweise hätte man dafür sorgen müssen, dass die Demontage des sowjetischen Imperiums und die Errichtung einer Mehrparteien-Demokratie mit einem wirtschaftlichen Wachstum einhergehen. 

    Was hätte es dafür gebraucht? Einfach einen landesweiten Geldregen?

    Das mit dem Geldregen wäre auch schwierig gewesen … Na ja, irgendwas hätte man sich überlegen müssen. Es hätte ein paar relativ naheliegende Dinge gegeben. Zumindest die Staatsschulden hätte man erlassen können, die ja in den 1990ern abgestottert wurden. 

    Aber da wird wieder abgewogen: Ist es euch eher schade ums Geld oder habt ihr eher Angst, dass sich alles zum Schlechten wendet? Damals war es ihnen schade ums Geld, und Angst hatten sie keine. Hätten sie geahnt, was aus Russland in den nächsten 30 Jahren wird, wären sie freigiebiger gewesen. Damals wollten sie einfach kein Geld in ein nebulöses, undurchschaubares Land fließen lassen, in dem es sich irgendwie in Luft auflösen, in den Tschetschenienkrieg gesteckt oder sonstwie gestohlen werden konnte. Und überhaupt, vor allem: wozu? Der Feind war ja entschärft. Und man hatte nicht das Gefühl, dass dieser Feind wieder gefährlich werden könnte. Das war kurzsichtig. 

    Wenn wir in die Gegenwart zurückkehren, dann gibt es einen plausiblen Plan für die Ukrainer. Zwar schon mit ein paar verwaschenen Konturen, doch was sagt der Westen zur Ukraine? Erstens werden wir euch helfen, euren Staat vor der kompletten Zerstörung durch den mächtigen Nachbarn zu bewahren. 
    Zweitens werden wir euch so gut es geht helfen, vor allem die nach dem 24. Februar 2022 besetzten Gebiete zurückzuerobern. Des Weiteren werden wir …

    … euch Geld geben … 

    … euch Geld geben für den Wiederaufbau oder die Russen dazu zwingen, euch Geld für den Wiederaufbau zu geben. Und wir verleihen euch jetzt sofort den EU-Kandidatenstatus, geben euch damit einen Riesenvorschuss. Und wieder – auch jetzt wieder: kein Plan für Russland. 

    ‚Und dann sehen wir weiter‘ ist kein Plan.

    Was bekommt Russland zu hören? Erst mal müsst ihr raus aus der Ukraine. Okay, gut. Ihr müsst Reue zeigen. Alles andere wird von der Radikalität der Emotionen jener abhängen, die diesen ganzen Horror beobachten: Ihr werdet drei Generationen Buße tun, ihr werdet zwei Generationen Buße tun, ihr werdet eine Generation Buße tun. Buße ist das Eine, aber ein Plan für ein übles Land ist etwas anderes. Dass Russland etwas sehr Böses tut, daran besteht kein Zweifel. Das ist eine Feststellung. Und was ist der nächste Schritt? Für die Ukraine gibt es nämlich klar formulierte Vorschläge. Für Russland nur: Stürzen wir Putin, Putin wird sterben, Putin muss weg, und dann sehen wir weiter. „Und dann sehen wir weiter“ ist kein Plan.

    Was meinst du, was erwartet Wladimir Putin? Was für eine Zukunft?

    Ich glaube, wenn er keine ernsten gesundheitlichen Probleme hat, dann erwarten ihn ein paar Jahre ausklingende Herrschaft über dieses isolierte, aufgepeitschte Russland. 

    Hast du eine Antwort auf die Frage, was nach ihm kommt?

    Nach ihm kommt die Modernisierung. Entweder plötzlich oder allmählich. Weil er künstlich die Zeit anhält. Sie zieht sich in die Länge, danach werden wir sie einholen müssen. Dieser aufgepeitschte Zustand ist sehr erschöpfend, sowohl für die Bevölkerung als auch für die Elite. Denn dieser Zustand bedeutet, dass der Preis jeder falschen Entscheidung sehr hoch ist. Du und ich, wir sind sozusagen unabhängige Menschen, mit unabhängigen Berufen. Unser Kriterium ist der Erfolg, auf die eine oder andere Art.
    Das Kriterium eines Menschen, der Teil des Systems ist, ist es, keins auf den Deckel zu kriegen. Davon ausgehend trifft er seine Entscheidungen. Deswegen heißt es, innerhalb des Systems wird Eigeninitiative bestraft. Und wann erhöhen sich die Chancen, von oben eins auf den Deckel zu kriegen? Natürlich in einer aufgeheizten Situation, weil der Preis für einen Fehler dann steigt, der repressive Faktor ebenfalls erhöht wird und die Brutalität der Repressionen zunimmt. Auch die Elite einer aufgepeitschten Nation leidet: Sie wird härter kritisiert, trägt mehr Verantwortung, und auch hier ist der Preis für falsche Entscheidungen höher. Auch die Elite ist lieber entspannt. 

    Du hast Russland verlassen. Wann war das?

    Ich habe Russland Ende Februar verlassen. Das war zunächst eine geplante Reise, ich musste nach Kasachstan und kam dann zurück nach Moskau. Nach meiner Rückkehr bemerkte ich, dass ich mich nicht sehr wohl fühle in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden. Aus zwei Gründen: Erstens entsteht eine Dissonanz zwischen dem Alltag, dem normalen Leben, und jenem abnormalen Verhalten, das sich das eigene Land erlaubt. Ich glaube, viele sind vor dieser Dissonanz geflüchtet, wenigstens für ein paar Wochen, um mit sich ins Reine zu kommen. 

    Ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden

    Und zweitens: Es ist ein Raum ohne Regeln, weil das Gefühl von Berechenbarkeit komplett verschwunden ist, seit unser Staat diese zwar angekündigte, aber trotzdem ungeahnte Tat begangen hat. Und wenn du siehst, dass dein Staat nach logischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf das eigene Wohlergehen und das Glück seiner Bevölkerung unberechenbar agiert, dann fühlst du dich extrem unsicher. Einfach, weil du in einem Raum landest, in dem es keine Regeln gibt und keine rote Linien. Weil die wichtigste rote Linie, na ja, abgesehen von der atomaren, im Grunde schon überschritten ist.

    Meine letzte Frage: Worin liegt die Kraft?

    In der Liebe. 

    Warum?

    Na ja … Freiheit ohne Liebe ist zu Furchtbarem fähig, Bildung ohne Liebe führt zu keinen richtigen Entscheidungen, Intellekt ohne Liebe ist auch nur eine kalte Maschine. Das wäre meine durchaus evangelistische Antwort … 
    In der Antike gab es eine geistige Klammer – die Ilias. Darin gibt es eine […] Episode, in der Hektor getötet wird und sein Vater Priamos sich als Hirte verkleidet und den verfeindeten Achilles in seinem Schiffslager aufsucht. Er tritt an seinen Feind Achilles heran und bittet ihn um die Leiche seines Sohnes. Diese Leiche hat Achilles gerade geschändet. Also, da kommt dieser Vater, Oberhaupt des feindlichen Staates wohlgemerkt, den Achilles eigentlich sofort verhaften und töten lassen müsste. Aber nicht nur, dass Achilles Priamos nicht tötet, sondern er händigt ihm auch die Leiche aus und begleitet ihn voller Mitgefühl von seinem Lager zurück in die feindliche Stadt. 
    Das Erste, was ein griechischer Junge oder ein griechisches Mädchen also lernt, wenn er oder sie diesen fundamentalen Text, dieses Kernstück ihrer Kultur liest, ist, dass ihre Feinde Menschen sind, mit denen man mitfühlen kann, die genauso lieben, denen man sogar helfen muss und die mit einem selbst auf derselben ontologischen Stufe stehen. Kein „wir sind die Guten, die Fremden sind böse“, kein „wir haben die fiesen Trojaner besiegt und können das jederzeit wiederholen und feiern jedes Jahr den Sieg“. Die Botschaft dieses grundlegenden Textes lautet: Auch wenn du einen Feind hast, weißt du, wer er ist. 

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  • Russland und die Türkei

    Russland und die Türkei

    „Keine Pakte mit den Türken besprechen“, wies der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten im Jahre 1936 ernüchternd seinen Botschafter in Ankara an.1 Moskau schien enttäuscht: In einem Militärabkommen wollte die junge Sowjetunion „die Verbundenheit“ zwischen beiden Staaten klarer definieren. Zumal sie der Türkei mit dem Vertrag von Montreux gerade erst ermöglicht hatte, wieder Souveränität über den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen zu erlangen. Doch Ankara war nicht bereit, eine so exklusive Partnerschaft mit Moskau einzugehen. Die Unterstützung der Briten im östlichen Mittelmeer schien Atatürk wohl wichtiger. 

    Diese Episode von 1936 zeigt bereits eine Art Beziehungsmuster: Diplomatische Balanceakte bei einer insgesamt westlichen Orientierung sind bis heute fester Bestandteil der türkischen Russland- wie auch der gesamten Außenpolitik.

    Dass die sicherheitspolitische Verankerung Ankaras fest im Westen liegt, wurde vor allem 1952 deutlich: Damals trat die Türkei nicht zuletzt deshalb der NATO bei, weil Stalin Gebietsforderungen an die Türkei stellte.2 Doch schon im März 1953 schickte die Türkei einen offiziellen Vertreter zur Beisetzung Stalins – als einziges Land aus dem nichtsowjetischen Block überhaupt. So entstand eine besondere Partnerschaft zwischen einem NATO-Mitglied und der Sowjetunion. 

    Bis heute zieht sich diese Besonderheit fort: Auch der russische Überfall auf die Ukraine tut der Beziehung offenbar keinen Abbruch. Zwar sind das NATO-Mitglied Türkei und Russland durch die Frontlinie getrennt, die unter Putin und Erdogan entstandenen intensiven Beziehungen werden nichtsdestotrotz weiter gepflegt. Doch so eng die Partnerschaft auch geworden ist – sie ist keine strategische Allianz, sondern eher eine problemlösende Partnerschaft. 

    Syrien: Krise der Vertrautheit 

    Das Moskau-Ankara-Verhältnis basiert nicht auf Vertrauen, sondern auf Vertrautheit. Dass Russland und die Türkei miteinander vertraut wurden, dazu hat im Wesentlichen der Bürgerkrieg in Syrien beigetragen. Angefangen hat diese Vertrautheit mit einem Zerwürfnis: Als am 24. November 2015 die türkische Luftwaffe einen russischen Kampfjet an der syrisch-türkischen Grenze abgeschossen hatte, verhängte Russland Sanktionen gegen die Türkei. Wichtige türkische Wirtschaftszweige wie etwa Tourismus, Bauwesen und Einzelhandel mussten dabei leiden. Die Lehre für Ankara daraus war, dass der Abbruch der Beziehungen zu Moskau mit hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden ist. 

    Putin wiederum bezeichnete den Vorfall vom 24. November 2015 als einen „Dolchstoß“. Entscheidend für diese Reaktion des Kreml war allerdings, dass Erdogan sich nach dem Abschuss nicht direkt an Putin, sondern an die NATO gewandt hatte.3 Dabei sei Moskau auf Anfrage der türkischen Führung bereit gewesen, in den für die Türkei „sehr sensiblen Fragen“ mit Ankara zu kooperieren, selbst wenn diese Fragen „nicht in den Kontext des Völkerrechts passen“, so Putin. 

    Die Initiative zu einer Normalisierung der Beziehungen ergriff die Türkei im Sommer 2016, doch auch Moskau brauchte wieder eine enge Partnerschaft mit Ankara. Diese ermöglichte Russland beispielsweise auch, die Gaspipeline TurkStream zu realisieren – im Grunde ein Ersatz für das Gazprom-Projekt South Stream, das unter anderem an Spannungen mit der EU nach der Krim-Annexion 2014 gescheitert war. 

    Die Wiederaufnahme des Dialogs ermöglichte der Türkei wiederum die Durchführung einer Militäroperationen in Syrien. Nun war die Türkei mithilfe Russlands in der Lage, dem Projekt einer erweiterten Autonomie unter kurdischer Führung in Syrien entgegenzuwirken, die zum wichtigsten Sicherheitsproblem Ankaras geworden war. Doch auch Russland nutzte die wiederbelebte Partnerschaft und etablierte in Zusammenarbeit mit der Türkei den Astana-Prozess für Syrien – der erst dadurch Legitimität erhielt, dass der Teilnehmer Türkei enge Verbindungen zu oppositionellen Kräften in Syrien pflegt.

    Bergkarabach: solidarische Spezialoperation 

    Die Türkei unterstützt Rebellengruppen, die Assad stürzen wollen, Russland versucht wiederum, Assad an der Macht zu halten – dennoch kooperieren beide Staaten in Syrien. Auch im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach standen Moskau und Ankara im Herbst 2020 auf unterschiedlichen Seiten des Konfliktes. Die Türkei kündigte an, Aserbaidschan „sowohl auf dem Feld als auch am Verhandlungstisch“ zu unterstützen. Russland ist über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) Armeniens Verbündeter. 

    Aus den Kriegshandlungen hielt sich Russland jedoch raus, weil – wie Putin mehrmals betonte – der Krieg nicht auf dem Territorium Armeniens stattgefunden habe. Bei der Zurückhaltung Moskaus spielte allerdings auch das angespannte Verhältnis zur Regierung Armeniens unter Premierminister Nikol Paschinjan eine Rolle, der 2018 infolge von Protesten an die Macht gekommen war. Aus Sicht Russlands ist dieser Regimewechsel das Resultat einer vom Westen gesteuerten Farbrevolution gewesen, mit der Russlands Einfluss in Armenien unterminiert werden sollte.4 

    Ankaras Schützenhilfe für Aserbaidschan war wohl unter anderem dem Kalkül geschuldet, dass die Türkei sich dadurch genauso eine politische Mittlerrolle schaffen könnte, wie schon in Syrien.5 Am Verhandlungstisch dominierte allerdings Moskau: Der 44-Tage-Krieg um Bergkarabach endete am 10. November 2022 mit einer „Erklärung über einen Waffenstillstand“, unterzeichnet von Aserbaidschans Präsident Alijew, Armeniens Premierminister Paschinjan und Russlands Präsident Putin. 

    Da der Kreml den Südkaukasus als eine „Zone privilegierter Interessen“ Russlands betrachtet, schauten einige kremlnahe Experten in Russland kritisch auf das militärische Engagement Ankaras in Bergkarabach: Andrej Kortunow etwa, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten, warnte Erdogan, dass er sich „auf russischem Minenfeld“ befinde.6 Auch das Potenzial einer „pantürkischen Wiederbelebung“ von turksprachigen Ländern – Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan und Turkmenistan – und auch von turksprachigen nationalistischen Gruppen innerhalb Russlands sahen einige Experten als besorgniserregend an.7 

    Die militärische Einmischung Erdogans im postsowjetischen Raum schien den russischen Präsidenten allerdings nicht zu stören. Im Gegenteil, am 22. Oktober 2020 bezeichnete Putin seinen türkischen Amtskollegen als flexiblen Partner, mit dem man „nicht nur angenehm, sondern auch sicher“ arbeiten könne.8 Insbesondere hob Putin das autonome Agieren der Türkei bei der Fertigstellung der Gaspipeline TurkStream sowie beim Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 lobend hervor. Vor allem das S-400 hatte im Westen für heftige Irritationen gesorgt. Da es sich nicht opera­tiv in die NATO-Systeme einfügen lässt, erntete Ankara schon im Vorfeld der Lieferung im Juli 2019 massive Kritik aus den USA und von anderen NATO-Partnern. Wenn Putin also das autonome Agieren Ankaras lobte, dann lobte er im Grunde die Rolle der Türkei als Störenfried im Westen – eine Rolle, die gewissermaßen auch deutlich wurde, als die Türkei im Sommer 2022 zunächst die NATO-Mitgliedschaft für Finnland und Schweden blockierte.

    Das problematische Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen ist für Russland jedoch eher ein Zusatznutzen. Die enge Partnerschaft ergibt sich vor allem aus handfesten eigenen Interessen, die nicht selten auch komplementär sind. So sind auch die Ergebnisse des Krieges im Südkaukasus im Herbst 2020 für beide Länder von Vorteil: Russland hat sein Ziel erreicht, in Bergkarabach eine eigene Friedenstruppe zu stationieren und ist damit nun im gesamten Südkaukasus – Armenien, Aserbaidschan und de facto in Georgien – militärisch präsent. Der Türkei wiederum eröffnet sich die Aussicht auf die Schaffung des Korridors, der bereits 1999/2000 auf der Agenda Ankaras und Bakus stand: Dieser soll die Türkei durch die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan in Armenien mit Aserbaidschan verbinden und somit auch Ankara einen Zugang zur Kaspischen Region und zu Zentralasien verschaffen. Auch Russland ist nicht unbedingt gegen diesen Transportkorridor, vorausgesetzt er bleibt unter Moskaus Kontrolle, so wie es im November 2020 in der Erklärung zum Waffenstillstand vereinbart wurde. 

    Auch vor diesem Hintergrund sucht nun die armenische Führung unter Paschinjan, insbesondere nach der erneuten Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan im September 2022, alternative Schutzmächte wie etwa die USA und Frankreich, um sich damit gegen das Dreieck Baku-Ankara-Moskau zu wenden. 

    Ukraine: strategische Duldung 

    Geostrategische Überlegungen bestimmen auch die türkische Ukraine-Politik, wenngleich unter anderen Vorzeichen: Ankara ist ein lautstarker Verfechter der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine. Kyjiw ist für Ankara ein unverzichtbarer Partner am Schwarzen Meer: „Die Ukraine ist wie ein Damm, der weiteren russischen Einfluss und Druck in der Region aufhält“, sagte ein türkischer Beamter gegenüber Middle East Eye.9 

    Von allen gemeinsamen Grenzregionen war das Schwarze Meer in der Geschichte der türkisch-russischen Beziehungen der sensibelste Bereich. Die Halbinsel Krim war ein Eckpfeiler des osmanisch-russischen Kampfes um die Vorherrschaft in der Region, den die Osmanen 1774 gegen das Russische Reich verloren. Später fühlten sich die Sowjets nie wohl mit Ankaras Kontrolle über die Meerengen, die das Schwarze Meer mit der Ägäis und dem Mittelmeer verbindet. In der Zeit nach dem Kalten Krieg haben die Türkei und Russland jedoch einen Weg gefunden, am Schwarzen Meer zusammenzuarbeiten, wobei Ankara stets versucht, einen diplomatischen Balanceakt zwischen Russland und seinen NATO-Verbündeten zu vollführen.

    Dieses Lavieren ist auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zu beobachten. Vier Tage nach Kriegsbeginn hat die Türkei in Berufung auf den Vertrag von Montreux eine Durchfahrt von Kriegsschiffen durch die Meerengen im Schwarzen Meer untersagt. Dies betrifft sowohl die Anrainer- als auch die Nichtanrainer-Staaten, sprich Russland und die NATO. 

    Der Balanceakt zwischen der Ukraine und Russland ist für die Türkei zwar einträglich, aber auch nicht unproblematisch. Einerseits wurde die strategische Partnerschaft Ankaras mit Kyjiw etwa von der Getreidefrage überschattet.10 Zur Geduldsprobe wurde dabei beispielsweise im Juli 2022, dass Russland mutmaßlich ukrainisches Getreide aus dem besetzten Hafen Berdjansk in die Türkei verschifft hat und Ankara trotz Aufforderung aus Kyjiw zurückhaltend blieb bei der Untersuchung der Schiffe.11 Andererseits aber ist Ankara ein wichtiger Rüstungslieferant der Ukraine, eine besondere Rolle dabei spielen die türkischen Drohnen Bayraktar TB2, die in der Ukraine zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands gegen Russland geworden sind. 

    Trotz türkischer Waffenlieferungen an die Ukraine betrachtet Moskau Ankara als einen „selbstverständlichen Vermittler“.12 Auch vor diesem Hintergrund scheint der Kreml immer bereit dazu beizutragen, die Türkei als regionale Macht zu stärken und die Sichtbarkeit der Türkei auf internationaler Bühne zu erhöhen. So war auch die Verlegung der russischen und ukrainischen Verhandlungsdelegationen von Belarus in die Türkei im März 2022 sicherlich kein Zufall.13 Für die in Istanbul am 22. Juli unterzeichneten Vereinbarungen für den Transport russischen und ukrainischen Getreides im Schwarzen Meer war ebenfalls die Zusage Moskaus zentral. 

    Grenzen der Partnerschaft 

    Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist der Wert der Türkei für den Kreml deutlich gestiegen. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaft. Als einziges NATO-Mitglied hat sich Ankara nicht den vom Westen verhängten Sanktionen gegen Moskau angeschlossen. Abgeschnitten vom westlichen Know-How beabsichtigt Russland nun, die Handelsbeziehungen mit der Türkei auszubauen. Doch auch für die Türkei ist die Zusammenarbeit mit Russland im Energie-, Tourismus-, Handels- und Bausektor schwer verzichtbar. 

    Bei der russisch-türkischen Partnerschaft geht es allerdings nicht nur um Wirtschaft. Die Beziehungen sind seit 2016 immer enger geworden und erstrecken sich auch auf regionales Konfliktmanagement, Nukleartechnologie und komplexe Waffensysteme. Wenn das Gleichgewicht in einem dieser Bereiche gestört ist, kann dies durchaus auf andere Bereiche übergreifen, einschließlich regionaler Konflikte, insbesondere im Nahen Osten und im Südkaukasus.

    Im engen Verhältnis zwischen Moskau und Ankara spielt die jeweilige Entfremdung vom Westen14 ebenfalls eine Rolle. Eine antiwestliche Allianz aus den beiden Ländern ist aber nur sehr schwer vorstellbar: Der Ukraine-Krieg zeigt, dass Russland bereit ist, die Beziehungen zum Westen komplett abzubrechen. Die Türkei ist es nicht: Denn die Bindung zum Westen über die NATO-Mitgliedschaft erlaubt es dem Land unter anderem, mit Russland einen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Russland ist für die Türkei somit kein Orbit und auch kein Zweck – es ist schlicht ein Instrument, mit dem Ankara seine eigenen Interessen nicht zuletzt gegenüber dem Westen durchsetzen kann. Aus der Perspektive Ankaras bedeutet also mehr Osten nicht unbedingt weniger Westen.


    1. Işçi, Onur (2020): Yardstick of Friendship: Soviet-Turkish Relations and the Montreux Convention of 1936 ↩︎
    2. Özkan, Behlül (2020): The 1945 Turkish-Soviet Crisis ↩︎
    3. kremlin.ru (2015): Bol’šaja press-konferencija Vladimira Putina ↩︎
    4. Isachenko, Daria (2020): Türkei-Russland-Partnerschaft im Krieg um Bergkarabach ↩︎
    5. globalaffairs.com: Choteli kak v Sirii. Pojdёt li Rossija na sdelku po Karabachu s Turciej? ↩︎
    6. russiancouncil.ru (2020): Redžep Ėrdogan na russkom minnom pole ↩︎
    7. vedomosti.ru (2020): Kak Rossija proigrala vo vtoroj karabachskoj vojne ↩︎
    8. kremlin.ru (2020): Meeting of the Valdai Discussion Club ↩︎
    9. Middle East Eye (2022): Ukraine conflict: Why it really matters to Turkey ↩︎
    10. atlanticcouncil.org (2022): Grain drain: Why Turkey can’t afford to ignore Russian grain smuggling from Ukraine ↩︎
    11. nzz.ch (2022): Wie Russland ukrainisches Getreide aus der Ukraine stiehlt und welche zwielichtige Rolle die Türkei dabei spielt ↩︎
    12. globalaffairs.ru (2022): Estestvennyj mediator Turcija ↩︎
    13. t.me/Česnakov (2022): Stambul’skij format ↩︎
    14. Dalay, Galip (2022): Deciphering Turkey’s Geopolitical Balancing and Anti-Westernism in Its Relations with Russia ↩︎

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  • Repression in Zahlen

    Repression in Zahlen

    Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ändert auch Russland selbst: Mit der Aggression nach Außen nimmt auch die Repression im Inneren zu. Dies belegen nicht zuletzt die Zahlen, die die Menschenrechtsorganisation OWD-Info permanent aufbereitet und im August in einem eigenen Report vorgestellt hat. Diesen hat das Exilmedium Meduza zusammengefasst und konstatiert: „Im Land wurde eine de facto-Diktatur errichtet“.

    Die Menschenrechtsorganisation OWD-Info bietet seit 2011 direkten Beistand und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und politische Repressionen. 2021 haben russische Behörden die Seite von OWD-Info blockiert und die NGO auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. 

    Das ist der aktuelle Stand [27.09.2022] der Festnahmen, den OWD-Info bei Protesten in ganz Russland zählte, nachdem Wladimir Putin in einer Fernsehansprache am 21. September die „Teilmobilmachung“ verkündet hatte. 

     

    Vom 24. Februar bis zum 17. August 2022 wurden laut OWD-Info in Russland insgesamt mindestens 16.437 Personen bei Antikriegs-Demonstrationen festgenommen. Dabei kann es sich um größere öffentliche Kundgebungen oder auch um Einzelproteste gehandelt haben. 62 Festnahmen erfolgten allerdings nach solchen Aktionen, 138 aufgrund von Antikriegs-Posts in Sozialen Netzwerken und 118 wegen „Antikriegs-Symbolik“.

    Mit Stand vom 24. September zählt OWD-Info 282 Angeklagte in Prozessen gegen Kriegsgegner, bis zum 24. August waren es 224. Die Menschenrechtsorganisation listet außerdem einzeln auf, nach welchen Paragraphen die Anklagen jeweils erfolgten. Einer der Angeklagten ist etwa der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg Jewgeni Roisman.

    Wenn es um Verfahren wegen „Diskreditierung der Armee“ geht, stützt sich OWD-Info auf Daten von Mediazona. Demzufolge gab es im ersten halben Jahr seit Beginn des Angriffskriegs insgesamt 3807 Verfahren nach dem verschärften Paragraphen. Die meisten davon in den ersten drei Monaten.

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    „Ich wünsche Putins Russland aufrichtig eine Niederlage“

    Zitat #14: „Putin eskaliert den russischen Krieg in der Ukraine“

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    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

  • Bilder vom Krieg #7

    Bilder vom Krieg #7

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Julia Kochetova

    Das Länderkennzeichen UA eines von russischen Kalibr-Raketen zerstörten Autos in Winnyzja. „Es hatte zwei Meter vom Haus meiner Eltern geparkt”, schreibt die Fotografin. / Foto © Julia Kochetova, Winnyzja, Juli 2022
    Das Länderkennzeichen UA eines von russischen Kalibr-Raketen zerstörten Autos in Winnyzja. „Es hatte zwei Meter vom Haus meiner Eltern geparkt”, schreibt die Fotografin. / Foto © Julia Kochetova, Winnyzja, Juli 2022

    JULIA KOCHETOVA
    „Der Krieg hat ein konkretes Gesicht. Es kann nicht allgemein sein“

    [bilingbox]Ich war auf dem Weg in den Donbas, als ich auf Telegram von Explosionen in Winnyzja las. Ich rief meine Mutter an und sie sagte: „Alle Fenster sind zersprungen.“ Das war einer der dunkelsten Tage meines Lebens und eines der schwierigsten Gespräche. 27 Menschen auf dem Platz wurden von einer russischen Kalibr-Rakete getötet. Darunter waren drei Kinder.

    Wir fuhren neun Stunden, um aus Winnyzja zu berichten, und am Morgen nach dem Einschlag machte ich dieses Bild. Ich habe es zwei Meter vom Haus meiner Eltern entfernt aufgenommen. Das Auto hatte direkt daneben in der Wynnytschenka-Straße geparkt.

    Es war ein „close call“, wie wir Reporter zu sagen pflegen. Buchstäblich von zu Hause zu berichten – das ist keine leichte Aufgabe. Vielleicht empfindet ein Chirurg etwas Ähnliches, wenn er einen Verwandten operiert. Man muss in etwas hineinschneiden, das man liebt. 

    Das Ukraine-Länderkennzeichen inmitten lilafarbener Glassplitter im Auto – das erinnert an das, was wir als Nation empfinden: Tod, Ruinen, Zerstörung, Kämpfe, Verluste und Siege. Doch nichts konnte mein Land auslöschen. Selbst, wenn der Krieg so nah ist, selbst wenn er zu nah ist.

    Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein

    Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein – ich glaube nicht an Kunst ohne einen Autor oder eine Autorin, die dahinter steht; und ich glaube nicht an Kunst ohne Politik. Ich berichte als Ukrainerin aus der Kriegszone und das zeichnet mich aus: Mein Bild ist ein Foto, aufgenommen von dem Mädchen aus diesem Hof, neben dem vier Raketen heruntergekommen sind. Es kann nicht außerhalb meiner persönlichen Erfahrung liegen, es kann nicht gleichgültig sein, nicht nicht-subjektiv.

    Meine Kriegserfahrung ähnelt der Kriegserfahrung meines Landes. Ich habe erst von der Revolution berichtet, weil meine Kamera meine stärkste Waffe ist. Dann begann Russland seinen hybriden Krieg auf der Krim – ich habe über die Annexion berichtet. Dann marschierte Russland in den Donbas ein – ich begann darüber zu berichten. Russlands nächste offene Invasion folgte, und acht Jahre später packe ich wieder Objektive und Verbandspäckchen. Dazu gehören der Verlust mir nahestehender Personen, Kollegen, posttraumatische Zustände, wir sagen „bis bald“ ohne die Sicherheit, dass wir uns lebendig wiedersehen.

    Ich bin ein offener Mensch und teile intime Dinge – denn ich glaube, dass der Krieg ein konkretes Gesicht hat. Es kann nicht allgemein sein. Hinter Zahlen wie „10 Millionen Geflüchtete, 9000 in Kampf getötete ukrainische Soldaten, 383 getötete Kinder, 742 Verletzte“ stehen konkrete Menschen und ihre Geschichten. Du darfst die Geschichten der Menschen erzählen, die Grenze dessen, was du zeigen darfst, hängt davon ab, wer du bist.

    Meinen Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt

    Ich habe erlebt, dass sich Reporter in der Ukraine (meistens Ausländer) unangemessen verhielten, ohne Respekt meinem Volk gegenüber, was zu zusätzlichen Traumatisierungen führt – da kann ich nur schreien. Im Krieg musst du Schmerz und Tod respektvoll begegnen, speziell, wenn du die Erlaubnis hast, Zeuge zu sein und es zu zeigen.

    Kunst muss immer laut sein. Vor allem dann, wenn das Artilleriefeuer so laut ist.

    Nein, ich bin nicht interessiert und glaube nicht an Brücken zu Russland. Ich würde mir wünschen, diese Frage bliebe auf Jahrzehnte irrelevant, und Raschismus, koloniale Politik und die von den Russen begangenen Kriegsverbrechen würden jegliche Wege in die zivilisierte Welt kappen. Wir kämpfen und sterben für unsere Freiheit und auch für die der übrigen Welt.

    Früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen

    Mein Leben hat sich stark verändert – früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen. Das Motiv ist ein anderes, die Umstände, der Rhythmus und ich persönlich auch – ich war reich beschenkt und habe seit 2014 aufgrund des Krieges viel verloren. Meine Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt.

    Bedaure ich etwas? Nein, niemals, das ist mein Weg, das ist der Weg meines Landes und fotografieren und beschreiben sollten ihn Stimmen von hier. Ich bin froh, dass ich meine noch habe.~~~I was on the road to Donbas when I read about explosions in Vynnytsia on Telegram. I called my mom and she said: “All the windows are shattered“. One of the darkest days I had so far and one of the toughest talks. 27 people were killed on the square cause of the Russian “Kalibr” missile. Among them – 3 kids. We drove 9 hours to report from Vinnytsya and I took this picture the next morning after the hit. 

    This picture was made 2 meters from my parent’s home. The car was parked next to it on Vynnychenka Street.
    It was a “close call”, as we usually say among reporters. To report literally from your homeplace – it’s not an easy task. Maybe a surgeon feels something close to that while operating on a relative. You literally need to cut something you love. 

    This “UA” sign in a mess of violet glass fragments inside the car – reminds what we experience as a nation – death, ruins, destruction, fights, losses and victories – but nothing could erase my country. Even when war is so close, even when it’s too close. 

    As a photographer, you should stay sharp and honest – I don’t believe in art without the author behind it, and I don’t believe in the art without policy. I’m reporting from the war zone as a Ukrainian, and it highlights me. My picture is a photo made by the girl from this yard, next to which four missiles have fallen. It can’t be outside of my personal experience, it can’t be indifferent, and non-subjective. 

    My war experience is similar to the war experience of my country. I was covering revolution, cause my camera was the strongest weapon I have. Then Russia started the hybrid war in Crimea – I was covering the annexation. Then Russia invaded in Donbas – I started to report. Russia invaded openly again and 8 years after I’m packing my lenses and IFAK again.  All inclusive, unfortunately – losing the closest, colleagues, dealing with post-trauma, saying “see you later” without confidence that you will meet again alive. 

    I’m an open person and share intimate things – cause I believe that war has an exact face. It can’t be general, behind numbers – “10 millions refugees”, “9 thousands Ukrainian soldiers killed in action”, “383 kids killed, 742 wounded” – behind that – exact people and their stories. You are allowed to tell people’s stories, the boundaries depend on who you are. 
    I faced inappropriate behavior of reporters in Ukraine (mostly, foreigners), with additional traumatization and zero respect for my people – that’s something that I jelling about. In war, you should be respectful for pain and death, especially if you are allowed to witness it and share.

    Art should always stay loud. Especially if the artillery duel is so loud.

    No, I’m not interested and don’t believe in any bridges like that with Russia. I wish this question would be not relevant for decades and Rashism, colonial policy and war crimes committed by Russians cut any possible paths to the civilized world. We are fighting and dying for our freedom and for this world as well. 


    My life has changed a lot – I’ve photographed portraits before, and now I’m photographing funerals.
    The object has changed, the circumstances, the rhythm, and me personally – I was gifted and lost a lot because of this war since 2014. My vision and professional path are shaped via war. Do I have any regrets? No, never, that’s my way, that’s the way of my country and it should be written and photographed by a local voice. 
    I’m glad to still have mine.[/bilingbox]

    JULIA KOCHETOVA

    geboren 1993 in Winnyzja, aufgewachsen in Kyjiw, arbeitet als Fotojournalistin und Dokumentarfilmerin. Sie hat Journalismus in Kyjiw studiert und war Teilnehmerin der IDFAcademy (Niederlande).
    Seit dem 24. Februar 2022 führt sie auf Instagram ein visuelles Tagebuch, „weil ich wirklich ans Geschichtenerzählen aus erster Hand glaube“.
     
    AUSSTELLUNGEN (Auswahl)
     
    2022 – Gruppenausstellung URGENCY! Ukraine, Bronx Documentary Center, New York, USA
    2022 – Gruppenausstellung The Captured House, Brüssel, Berlin, Amsterdam, Paris, Rom
    2020 – Civilians, Veteran Hub, Kyjiw, Ukraine
    2019 – Femm in East, Invogue Art, Odessa, Ukraine
    2016 – 2017 Gruppenausstellung RAW: A History of Changes in Ukrainians and in the Ukrainian Armed Forces, Kyjiw, Paris, New York
    2015 – Gruppenausstellung Ukraine 24. War&Peace, Los Angeles, New York
    2015 – Gruppenausstellung Conflict zone: Ukraine, Chicago, USA
    2014 – Gruppenausstellung Maidan, Kyjiw, Ukraine
    2014 – Gruppenausstellung Together we are Ukraine, Washington DC, USA
    2014 – Gruppenausstellung Ukrainian Crisis, London, UK
     
    BÜCHER
     
    2017 – Voice of War
    2017 – RAW. Story of changes of Ukrainians and army, kuratiert von Yaroslav Hrytsak and Donald Weber

    PUBLIKATIONEN in internationalen Medien, darunter Vice News, Der Spiegel, Zeit, Bloomberg, Vanity Fair.
     


    Foto: ​​Julia Kochetova
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 16.09.2022

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  • „Wozu? Damit andere Angst haben!“

    „Wozu? Damit andere Angst haben!“

    Ein Moskauer Gericht hat den Journalisten Iwan Safronow am 5. September 2022 zu 22 Jahren Haft im Straflager verurteilt – wegen angeblichen „Hochverrats“. Safronow, der zunächst mehrere Jahre als Journalist, für Vedomosti und Kommersant geschrieben hatte, spezialisiert auf Militär und Raumfahrt, arbeitete zuletzt bei der Raumfahrtbehörde Roskosmos. Er war bereits 2020 festgenommen worden, ihm wurde vorgeworfen, Staatsgeheimnisse an ausländische Geheimdienste weitergegeben zu haben. Beobachter kritisierten die Vorwürfe gegen ihn von Anfang an als konstruiert, Safronow weigerte sich bis zuletzt, seine Schuld einzugestehen. Bereits Safronows Vater war Militärexperte und Kommersant-Journalist, er kam 2007 unter ungeklärten Umständen ums Lebens, laut offizieller Quellen soll er Selbstmord begangen haben – was seine Familie bis heute bezweifelt.

    Der Fall Safronow wird von unabhängigen Beobachtern in größeren Zusammenhang mit dem repressiven Vorgehen des Staates gegen kremlkritische Stimmen gestellt. Am Tag des Urteils gegen Safronow wurde der Novaya Gazeta die Drucklizenz entzogen, kurz zuvor waren zahlreiche weitere Journalisten zu sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Das extrem hohe Strafmaß im Fall Safronow löste nun Entsetzen aus. Meduza sammelt Reaktionen von Kollegen, Weggefährten, Juristen, Menschenrechtlern, Politikern …

    „Die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie scheinen“
    Ekaterina Schulmann, Politologin

    22 Jahre Straflager unter verschärften Haftbedingungen plus 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Geldstrafe und zwei Jahre eingeschränkte Freiheit nach Entlassung aus der Haft. Doch irgendetwas sagt mir, dass er das nicht absitzen wird – denn weder der Emir noch der Esel leben ewig, und die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie zunächst scheinen.

     

    „Auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort“
    Ilja Krassilschtschik, Leiter des Projekts Slushba poddershki, ehemaliger Herausgeber von Meduza

    Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin, dass die Gerechtigkeit triumphieren wird. Wie viele Jahre ich das schon glaube. Aber mit jedem Mal, mit jedem Prozess, mit jedem Krieg verstehe ich weniger, was für die gerecht ist. Es scheint, dass es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt, auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen.

     

    „Eine demonstrativ grausame Strafe“
    Pawel Tschikow, Jurist, Leiter der Menschenrechtsorganisation AGORA

    Ehrlich gesagt, habe ich wegen Hochverrats keine Urteile zu mehr als 20 Jahren gefunden. Es muss einem bewusst sein, dass Artikel 275 des Strafgesetzbuchs [für Hochverrat] eine Höchststrafe von 20 Jahren vorsieht. Iwan Safronow wurde zu mehr Jahren verurteilt, weil er für zwei Aspekte schuldig erklärt wurde, die jeweils einzeln mit Strafen belegt wurden. So kam das endgültige Strafmaß durch teilweises oder vollständiges Aufsummieren zustande.
    Das Strafmaß wegen Hochverrats war schon immer hoch. Aber in den letzten Jahren steigt es immer weiter an. Waren es vor zehn Jahren noch sechs bis neun Jahre, liegen die Urteile in den letzten fünf Jahren bei 12 bis 15 Jahren Haft. […]
    Iwan Safronow erhielt eine absurd hohe Strafe, eine demonstrativ grausame Strafe – entsprechend der heutigen Realität in Russland.

     

    „Dieses Urteil ist ein Signal an alle Kriegsberichterstatter“
    Galina Arapowa, Direktorin des Mass Media Defence Center, zitiert in Republic

    Mir scheint, in Safronows konkretem Fall besteht das Problem auch darin, dass dieses Urteil der gesamten Medienszene demonstrieren soll, dass das Thema Krieg, genauer Kriegsindustrie und Raumfahrt, ein Tabu ist. Es ist ein Signal an alle Journalisten, dass man sich von diesen Themen fernhalten muss, ansonsten handelt man sich schnell 22 Jahre Haft ein. 
    Außerdem ist es ein Signal an die Kriegskorrespondenten und Analysten, dass sie nichts anderes über dieses Thema schreiben dürfen als das, was in den Pressemitteilungen von Roskosmos und Verteidigungsministerium verlautbart wird. 
    Und das ist tatsächlich ein wirkliches Elend, denn es bedeutet, dass ein großer Teil des Staatshaushalts tabu ist für Diskussion, Analyse und Medienberichterstattung.

     

    „Iwan sagte, dass er niemals weggehen würde“
    Taissija Bekbulatowa, Chefredakteurin des Onlinemediums Holod

    Ich weiß noch, dass Wanja [Safronow] ein paar Jahre vor seiner Verhaftung bemerkt hat, dass er beschattet wurde. Er wusste nicht, womit das zusammenhing. Ich fragte ihn damals, ob er nicht lieber ausreisen möchte, aber er sagte, dass er niemals weggehen würde, ungeachtet aller Risiken, denn dies sei sein Land und hier sei seine Familie.

     

    Erst der Vater, nun der Sohn
    Lisa Focht, Korrespondentin der russischen BBC

    Iwan Safronow hat heute 22 Jahre bekommen. Da finde ich keine Worte. Wie soll man verstehen, wie Iwans Angehörige damit umgehen – zum Beispiel die Mutter, die zunächst ihren Mann verloren hat und jetzt zuschauen muss, wie man ihren Sohn für ein Vierteljahrhundert hinter Gitter bringt. 

     

    „Dieser Kannibalismus wird niemals vergessen“
    Leonid Wolkow, Politiker und Mitstreiter von Alexej Nawalny zu 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen

    Im Jahr 2015 bekam Wassja Fjodorowitsch, ein Jurist aus Jekaterinburg und Anführer einer Bande, die Usbeken und Tadshiken tötete, 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen. Es ging damals um ungefähr 40 Morde, von denen 14 Morde und 5 Mordversuche vom Gericht bewiesen wurden.
    Jetzt kämpft er womöglich in der Ukraine. Und kriegt am Ende auch noch einen Orden von Putin (ich hoffe, posthum).
    Safronow wird seine Strafe nicht absitzen. Das wird alles sehr viel früher vorbei sein. Aber der Kannibalismus dieser Unmenschen, die 24 Jahre forderten und ihm 22 Jahre gegeben haben, die sich diesen „Fall“ ausgedacht und ihn vor Gericht gebracht haben – das ist alles schon dokumentiert und wird niemals vergessen.

     

    „Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen“
    Jewgeni Popow, stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik

    Als Journalist schockieren mich diese Zahlen. Aber die Beschuldigung wiegt schwer. Ich hoffe, dass das erst der Anfang ist. Die Verteidigung hat angekündigt, dass sie das Urteil anfechten und all ihre Argumente vorbringen wird. Sollte auch nur die geringste Hoffnung bestehen, dass Iwan unschuldig ist, sollte es Chancen und Argumente geben, dann bin ich sicher, dass diese in höheren Instanzen umgesetzt werden. Natürlich ist die Zahl riesig, einfach unglaublich.

    Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen und erst recht nicht um mich werfen mit Begriffen wie „Repression“. Ich hoffe, wir werden die Argumente der Ermittlungen zu sehen bekommen, allerdings werden die Chancen immer kleiner.

     

    „Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein“
    Witali Jegorow, Gründer des YouTube-Projekts Otkryty kosmos

    Wir sind Iwan Safronow

    Wanjas Pech war es, dass er einem Geheimdienst-Oberst über den Weg gelaufen ist … Oder war es sein Glück? Er ist schon erlöst, keine schnelle Eingreiftruppe wird sich mehr auf ihn stürzen, er muss sich von den Ermittlern keine Drohungen anhören, was Verwandte und Freunde betrifft, muss nicht mit seinem Gewissen darüber verhandeln, was besser ist: Geständnis und 12 Jahre oder Ehre und 22 Jahre. Jetzt hat er zu essen und staatliche Garantien über eine stabile Zukunft für mehr als 20 Jahre. Etwas, was die Mehrheit der Bürger in Russland nicht hat. Vielleicht sogar niemand. 

    Weiß jemand, was die Spürhunde heute machen, die den Fall Safronow geleitet haben? Glaubt jemand, dass diese tollen Leute mit kaltem Herz und heißem Kopf in Rente auf die Krim gegangen sind, um dort Gemüse anzubauen mit dem Gefühl erfüllter Pflichten? Bei wem werden morgen Speznas-Einheiten auf dem Balkon landen? Wessen vom Staatsanwalt verfasstes Urteil wird am nächsten Morgen mit nüchterner Stimme vom Richter verlesen?

    Diese Maschine, die Wanja gefressen hat, ist nicht niedergestreckt, sie hat den Hals noch nicht voll und ist noch nicht zum Stehen gekommen. Ihre Schräubchen tun weiter ihre Arbeit, denn sie brauchen neue Titel, Auszeichnungen, KPI [Key Performance Indicators – dek]. Sie brauchen uns. […]

    Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein.

    Auch du.

    Und ich.

    Ich will nichts anheizen, keine Angst machen und niemandem drohen. Ich verkünde nur Fakten. Akzeptiert sie als Realität und trefft eure Entscheidung. Solange es auf eurem Balkon noch ruhig ist.

     

    „Ist das schon 1937 oder kommt das noch?“
    Irina Jakutenko, Wissenschaftsjournalistin

    Iwan Safronow hat 22 Jahre bekommen. In 22 Jahren kann man geboren werden, die Schule durchlaufen, ein Studium abschließen, einen Job beginnen, seine erste Liebe treffen, heiraten und sogar ein Kind kriegen. Das ist ein ganzes Leben. Dazu noch 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Strafe, damit auch die Eltern ihre Freude haben. Freunde des Vergleichens: Ist das schon 1937, das Jahr des Großen Terrors, oder kommt das noch? 

     

    „Zum ********“
    Alexej Ponomarjow, Musiker und Podcast-Redakteur

    Wanja Safronow hat 22 Jahre Strafkolonie bekommen für einen fingierten Fall von „Hochverrat“. Vor 22 Jahren habe ich die Schule abgeschlossen, die Wanja und ich gemeinsam besuchten. Zum ******** [Durchdrehen], verdammt noch mal. 

     

    „Es geht um Rache des Staates“
    Nikita Mogutin, Journalist

    22 Jahre für Iwan Safronow – dabei geht es nicht um Gerichtsbarkeit und nicht um den Kampf für Gerechtigkeit. 22 Jahre unter verschärften Haftbedingungen für einen Journalisten, für seine berufliche Tätigkeit – dabei geht es um die prinzipielle Rachsucht des russischen Staates. Dabei geht es um die Niederlage des Systems im Sommer 2019, als sie den Fall Iwan Golunow fingierten [dem Meduza-Journalisten wurde ein Drogendelikt untergeschoben – dek]. Unter Druck [großer Proteste und Solidaritätsbekundungen – dek] musste das System zurückweichen, Iwan kam frei, die Anakonda musste ihre Beute wieder herauswürgen.

    Umso entscheidender war es nicht nachzugeben im Fall Safronow. Wer auch immer hinter diesen fingierten Vorwürfen stand – der Inlands– oder der Auslandsgeheimdienst – sie rächten sich für ihre demütigende Niederlage. Schon 2019 haben wir darüber gesprochen, dass es „schrecklich sein wird, der nächste Journalist zu sein“, denn der würde nicht freigelassen und nicht gerettet. „Für dich selbst und für Wanka“.

    Genau deswegen geht es bei den 22 Jahren für den Journalisten Safronow um die Rache der gedemütigten Elite, eine Rache an jedem, der sich damals für Wanja Golunow einsetzte, eine grundlegende Antwort jedem, der dachte, dass die öffentliche Meinung in Russland irgendetwas beeinflusst.

     

    „Eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen“
    Borislaw Koslowski, Wissenschaftsjournalist und Autor

    Wenn Safronow frei kommt, ist er 54 Jahre alt. 

    Er ist 8 Jahre jünger als ich, der Kerl ist Jahrgang 1990.

    Über die Stichhaltigkeit der Anklage kann man bei Projekt nachlesen – teilt den Link nicht, wenn ihr in Russland seid, dafür könnt ihr auch eingebuchtet werden, weil Projekt „unerwünschte Organisation“ ist. 

    Der Slogan „Freiheit für Safronow“ scheint mir selten unsinnig – er sieht aus wie ein Appell an jene, die über Safronows Freiheit verfügen, also an eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen. Das heißt, die gehen gerade ihrer üblichen Beschäftigung nach und zermalmen von Slowjansk bis Mykolajiw massenhaft lebendige Menschen zu Hackfleisch und sollen nun irgendwie mal kurz Pause machen, um Safronow freizulassen.

    Stattdessen wünsche ich Safronow, Jaschin [der wegen Verbreitung angeblicher „Fakes“ über die russische Armee in Haft ist – dek] und Nawalny nur eines: dass sie den Moment erleben, wenn irgendwer diese ganzen blutrünstigen Untoten mit Putin an der Spitze unschädlich macht. Und die Frage nach ihrer Freiheit klärt sich von alleine. Bis dahin wird sie sich leider überhaupt nicht klären.

     

    „Wozu? Damit andere Angst haben“
    Njuta Federmesser, Vorsitzende des Fonds für Hospiz-Unterstützung Wera (dt. Glaube)

    22 Jahre.

    Und es ist sinnlos zu fragen: Wofür? Denn wie immer ist die richtige Frage: Wozu? Damit andere Angst haben.

    Vor was Angst haben? Vor allem und allen. Sich selbst, ihrem Schatten, ihren Verwandten, Freunden, Vorgesetzten und Untergebenen, ihrem Spiegelbild, ihren Kindern, ihren eigenen Worten und Gedanken.

    Wozu? Um zu herrschen – nicht auf Grund von Intellekt und Kompetenz, sondern auf Grund von menschlicher Angst. Die Geschichte zeigt, dass diese Methode funktioniert. Für eine begrenzte Zeit. 

    Weitere Themen

    Schluss mit lustig

    Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“

    „Dieser Status ist wie eine schwere Krankheit“

    „Wir sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein Volk“

    Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Golunow ist frei – und jetzt?!

  • Kanonenfutter: „Wenn sie sterben – umso besser“

    Kanonenfutter: „Wenn sie sterben – umso besser“

    Wie hoch sind die menschlichen Verluste auf Seiten Russlands? Offizielle Zahlen zu Gefallenen in der „Spezialoperation“, die in Russland von Gesetz wegen nicht als Krieg bezeichnet werden darf, werden seit März nicht mehr veröffentlicht. Doch Schätzungen zufolge sind etwa 80.000 russische Soldaten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verwundet oder getötet worden. In den Straßen größerer russischer Städte wirbt derweil das private Militärunternehmen TschWK Wagner mit Plakaten um neue Söldner. Einige Söldnertruppen bestehen laut Recherche der Novaya Gazeta Europe zu etwa einem Drittel aus verurteilten Straftätern und Vorbestraften, manche Rekrutierer versprechen den Bewerbern Straferlass.

    Diese „verdeckte Mobilisierung“, so schreibt die Novaya Gazeta Europe, laufe auf vollen Touren. Die weiterhin im Land arbeitenden Korrespondenten der Zeitung haben dazu verdeckt recherchiert und auch mit Militärexperten gesprochen, um herauszufinden, wie die Rekrutierung funktioniert und welche Ausbildung die Söldner bekommen, bevor es an die Front geht. In ihrer umfangreichen Recherche gibt die Novaya detailliert Einblick in ein „zynisches und unmenschliches System“ der Söldneranwerbung in Russland.

    Achmat  

    Alexander (Name geändert) hat ein Drittel seines Lebens hinter Gittern verbracht – aufgrund „schwerer Vergehen“ und „besonders schwerer Straftaten“. Dieses Mal fand er sich jedoch ein paar Monate nach seiner Entlassung aus der Haft in der Nähe der Stadt Rubishne in der Oblast Luhansk wieder, in den Reihen des Freiwilligenbataillons Achmat – und unter Beschuss der ukrainischen Armee. Sein „Diensteinsatz“ fiel auf März und April, als bei Sewerodonezk eine der blutigsten Schlachten des Krieges ausgetragen wurde. 

     „Dass sie Freiwillige suchen, wusste ich von einem Bekannten beim FSB. Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Irgendwann haben sich unsere Wege getrennt, aber nach meiner Entlassung schickte er mir einen Link: Hier, da suchen sie Freiwillige“, erzählt Alexander.

    Nach seiner Entlassung aus der Strafkolonie wurde Alexander unter „administrative Kontrolle“ gestellt: Das ist ein System zur strengen Überwachung ehemaliger Häftlinge. Man kann ihnen zum Beispiel verbieten, nachts aus dem Haus zu gehen, die Region zu verlassen oder an Massenveranstaltungen teilzunehmen. Außerdem werden sie verpflichtet, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, und die Silowiki können sie ganz legal beschatten. Laut Alexanders Aussage hinderten ihn diese Auflagen daran, Arbeit zu finden und sich um seine betagte Mutter zu kümmern. Er beschloss also, in die tschetschenische Stadt Gudermes zu fahren – es hieß, man könne dort seine Probleme mit dem Gesetz lösen, wenn man im Gegenzug dafür in den Krieg zieht.

    In Gudermes werden auf dem Gelände der Russischen Speznas-Universität die Freiwilligen des Achmat-Regiments für den Krieg in der Ukraine ausgebildet. Mit Kampferfahrung dauert die Express-Ausbildung ein bis drei Tage, ohne – sieben bis zehn. Die Anforderungen an die Kandidaten sind minimal: Sie müssen zwischen 20 und 49 Jahre alt sein und fit genug, um täglich mit Gepäck Fußmärsche von sieben Kilometern zu bewältigen.

    „Mein Hauptmotiv für den Kriegseinsatz war es, nicht mehr überwacht zu werden, damit ich in Ruhe in diesem Land leben kann. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht, indem sie mir verboten, nachts rauszugehen, mir ständig Tagesarrest verpassen wollten und es mir unmöglich machten zu arbeiten“, sagt Alexander. Beim Achmat versicherte man ihm, dass „jedes Problem mit dem Staat lösbar“ sei – die tschetschenischen Behörden können dein Strafregister in Absprache mit den Silowiki in anderen Regionen löschen.

    In Gudermes verbrachte unser Gesprächspartner zehn Tage. In der „Universität“ (eine private Organisation, die an den Achmat-Kadyrow-Fonds gekoppelt ist) lernt man, wie man ein Maschinengewehr hält und lädt, übt Schießpositionen sowie das schnelle Wechseln des Magazins und erfährt etwas über taktische Medizin und Kartografie. Außerdem werden die Rekruten auf ihr Aggressionspotential hin überprüft.

    „Die Aggressivität wurde ganz praktisch gemessen – sie haben geguckt, wie sich jemand im Team verhält, wenn man ihn provoziert. Wenn sich einer als Weichei entpuppte, also als nicht kampftauglich, wurde er einfach nach Hause geschickt“, berichtet Alexander. Der Gesundheitszustand interessierte die Anwerber dabei kaum – unser Gesprächspartner wurde trotz Hepatitis C aufgenommen.

    Zu den „Absolventen“ von Gudermes gehören Leute mit ganz unterschiedlichen Biografien: Söldner der Gruppe Wagner, OMON-Leute, ehemalige Häftlinge. Jeder Dritte war vorbestraft.

    „Nach zehn Tagen wurden wir über die Donezker Volksrepublik nach Sewerodonezk geflogen. Jeder bekam 300.000 Rubel [im März/April 2022 rund 3000 Euro] und Tarnkleidung. Kampfstiefel und Schutzwesten mussten wir uns selbst kaufen. Wer das Geld sparen wollte, zog sie direkt von den Ukropy ab, wenn wir ihre Stellungen einnahmen.“

    Laut unserem Interviewpartner hatten die Freiwilligentrupps während der Kämpfe um Sewerodonezk keine richtige Verbindung zu der regulären Armee. Dadurch sei es immer wieder zu „friendly fire“ und Unstimmigkeiten mit der Volksmiliz der DNR gekommen.

    Um den 20. Mai marschierten die Achmatowzy in Rubishne ein. Zu diesem Zeitpunkt war von dem Regiment nur noch ein Drittel übrig. „Fast alle wurden getötet, ich selbst habe es durch ein Wunder aus der Kampfzone herausgeschafft. Es war, als würden sie uns einfach als Kanonenfutter da reinwerfen, bis zum letzten Mann“, erzählt der Ex-Söldner.

    Alexander beschloss zu desertieren. Er nahm ein paar Granaten als Souvenir mit und tauchte in Russland unter. Um seine Geschichte zu erzählen, ruft uns Alexander nachts an, manchmal stark alkoholisiert – wegen der Folgen seiner Kriegsverletzungen kann er nicht schlafen, und weil er sich eigenmächtig vom Einsatzort entfernt hat, hat er Angst, zum Arzt zu gehen.

    Nach dem Vorbild in Tschetschenien haben auch andere Regionen Bataillone gebildet 

    Für das Achmat-Regiment, in dessen Reihen Alexander gekämpft hat, hatte Dimitri Kisseljow im Staatsfernsehen zur besten Sendezeit Werbung gemacht. Es hat in diesem Krieg berüchtigte Bekanntheit erlangt. Wegen der vielen inszenierten PR-Videos werden Kadyrows Kämpfer auch als „TikTok-Armee“ bezeichnet. Nach Aussage der ukrainischen Seite kämpfen ethnische Tschetschenen in der Regel in den hinteren Reihen der Angriffsbataillone. Nichtsdestotrotz soll vor allem das Achmat-Regiment an der brutalen Folterung ukrainischer Kriegsgefangener und dem Massaker an der Zivilbevölkerung in Butscha beteiligt gewesen sein.

    Nach dem Vorbild Tschetscheniens haben auch andere Regionen begonnen, Bataillone zu bilden, die Eigennamen tragen und zwischen 150 und 400 Mann stark sind. Insgesamt haben wir 52 Bataillone in 33 Regionen gezählt, die bereits an der Front sind oder gerade gebildet werden. Ausgehend von dieser Zahl könnten so insgesamt 9500 bis 20.000 Mann rekrutiert werden.

    „Diese Dinge entwickeln sich in Russland meist hybrid. Eine Region – in diesem Fall war es Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow – bietet ein Modell an. Daraufhin, auch um sich vor dem Kreml verdient zu machen, fangen Gouverneure in anderen Regionen an, dem Beispiel zu folgen. Genauso war es diesmal“, sagt Politologe Iwan Preobrashenski.

    Der Kreml geht laut Preobrashenski davon aus, dass die Bataillone aus Häftlingen und sozialen Randgruppen bestehen, die als Kanonenfutter an der Frontlinie „utilisiert“ würden oder als „Hilfspolizisten“ auf den okkupierten Gebieten bleiben. Doch in Wirklichkeit berge die Situation das Risiko, dass es nach dem Krieg zu separatistischen Stimmungen kommt.

    Parallel zum Staat werden die Freiwilligen auch von anderen Strukturen angeworben, die offensichtlich oder verdeckt mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung stehen. Wir haben über zehn verschiedene Organisationen gezählt, die miteinander um die Rekruten konkurrieren. Wir haben diese Einheiten nach formalen Merkmalen in verschiedene Gruppen unterteilt: Es gibt die, die direkt dem Verteidigungsministerium unterstellt sind und die, die einer privaten Militäreinheit oder gar den Strukturen der sogenannten LNR und DNR unterstehen. 

    „Verdeckte Mobilisierung“: Söldner statt Soldaten

    Die massenhafte Anwerbung von Söldnern und Freiwilligen ist Teil der sogenannten „verdeckten Mobilisierung“. Eine offizielle Zwangsmobilisierung kann der Staat aus politischen Gründen nicht ausrufen – das würde zu massenhafter Wehrdienstverweigerung, wachsender Korruption unter den Mitarbeitern der Musterungsbehörden und in der Folge zu massenhafter Unzufriedenheit unter den Bürgern führen, erklärt Militärexperte Juri Fjodorow.

    Fjodorow geht davon aus, dass in der Ukraine bis zu 10.000 Söldner kämpfen. Das wären rund zehn Prozent des Gesamtkontingents der russischen Streitkräfte. Militärexperte Pawel Lusin schätzt die Zahl der Söldner und Freiwilligen in den verschiedenen „nicht-regulären“ Einheiten auf etwa 15.000 bis 20.000 Mann.

    Der Staat verfolgt mit dem Anwerben von Söldnern drei Ziele, meint der Experte: „Kanonenfutter“ zu kumulieren, „überflüssige“ Personen loszuwerden, die theoretisch die Waffe gegen die Macht erheben könnten (wie z. B. die Primorskije Partisany, die 2010 Mitarbeiter des Innenministeriums angegriffen hatten), und ein Gegengewicht zu den Streitkräften zu bilden.

    Die strengsten Aufnahmekriterien herrschen bei zwei Privateinheiten (Private Military Company, PMC): Redut und Wagner (obwohl Wagner wegen des zunehmenden Mangels an potentiellen Bewerbern seine Ansprüche allmählich herunterschraubt: Das maximale Alter wurde von 45 auf 52 angehoben, Wehrdienst geleistet zu haben ist keine Voraussetzung mehr, Vorstrafen werden in Kauf genommen). Beide PMCs stehen implizit in Verbindung zum Staat. Die Gruppe Wagner wird von Putins Vertrautem, dem Unternehmer Jewgeni Prigoshin finanziert, Redut wird mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung gebracht.

    Kämpfer mit weniger Kampferfahrung wenden sich an die Freiwilligenunion des Donbass unter der Führung des Duma-Abgeordneten Alexander Borodai oder die Russische Legion des Ex-Nationalbolschewisten Sergej Fomtschenkow. Die Freiwilligen dieser Einheiten werden offiziell als Reservisten der Armeereserve des Landes registriert, dem BARS, der dem Verteidigungsministerium untersteht. Eigentlich sollen die Barsiki, wie sie genannt werden, auf den Blockposten eingesetzt werden und Konvois bewachen, also im Hinterland dienen. Aber faktisch landen diese Bataillone oft direkt an der Front.

    Die Miliz-Einheiten der selbsternannten LNR und DNR schließlich nehmen so gut wie jeden „Bewerber“ auf. Allerdings verspricht man ihnen dort weder Geld noch Ausrüstung. Für den Dienst gibt es die russische Staatsbürgerschaft oder die der DNR.
    „Der Kreml hat Angst vor der Armee, davor, dass ein neuer Shukow, ein neuer Lebed, Rochlin oder meinetwegen Troschew kommen könnten (Аlso bekannte, populäre Generäle, die zu einer eigenständigen politischen Macht werden könnten – Anm. d. Novaya Gazeta Europe). Die Fragmentierung der militärischen Macht ist ein charakteristischer Zug aller autoritären Regime“, so Pawel Lusin.

    Die Freiwilligenunion des Donbass (SDD)

    „Begreifen Sie überhaupt, wohin Sie da gehen? Was dort passieren kann? Haben Sie alle Risiken gut abgewogen?“

    Wir rufen bei der Freiwilligenunion des Donbass (SDD) an. Unser „Freiwilliger“ ist 23 Jahre alt, er hat bereits gedient und will an die Front. Doch die Anwerberin Anastassija versucht überraschend, ihn davon abzuhalten.

    „Das Mindestalter ist 23, ja, aber eigentlich wollen wir keine Kinder im Bataillon sehen“, sagt Anastassija. „Denken Sie an Ihre Mutter …“
    „Ich denke immer an meine Mutter.“

    „Wie viele Kinder haben Sie?“, fragt die Anwerberin weiter.
    „Keine.“
    „Aber Russland braucht Kinder! Wir haben eine demografische Krise im Land! Vielleicht kümmern Sie sich lieber darum?“

    Schließlich gibt sie aber nach. Die Freiwilligenunion des Donbass schließt mit den Freiwilligen offizielle Verträge des Verteidigungsministeriums. Die Mindestlaufzeit beträgt zwei Monate. Als Gehalt winken einem einfachen Soldaten 205.000 Rubel [heute 3400 Euro]  pro Monat, außerdem staatliche Zahlungen im Fall von Verwundung oder Tod. Wenn der Staat einen „fallen lässt“, heißt es, werde man helfen, das Versprochene „rauszuboxen“.

    Militärexperte Pawel Lusin nimmt an, dass die Freiwilligenunion des Donbass an den FSB angegliedert ist. Aber faktisch werden die Freiwilligen in den Bataillonen der Reservearmee registriert. Das Verteidigungsministerium hatte bereits im Herbst 2021 angefangen, Reservisten zu rekrutieren.
    „[Die Freiwilligen] sind meistens Leute über 40“, berichtet der Kommandeur des Bataillons Grom (BARS 20) Alexej Naliwaiko mit dem Rufnamen Ratibor.

    Anforderungen an die Freiwilligen der BARS gibt es fast keine. In ihren Reihen kämpfen laut Ratibor auch Opas – ab 60 aufwärts. Für diese Infanterie-Bataillone sind weder Panzer, Kriegsgerät noch Artillerie vorgesehen, nur eine Mörsereinheit. Die Freiwilligen kämpfen nicht autonom wie 2014. In der Regel werden die Bataillone der BARS einer regulären Armeeeinheit angeschlossen und von professionellen Militärs kommandiert.

    Von den Anwerbern, aber auch von den Söldnern selbst, werden die Barsiki offen als Kanonenfutter bezeichnet. Vielleicht hat uns Anastassija deshalb so nachdrücklich davon abgeraten, in das Bataillon einzutreten.

    Einfacher kommt man nur noch in die Einheiten der selbsternannten Republiken – Sparta oder Pjatnaschka. Hier wird man mit ukrainischem, russischem Pass, den Pässen der LNR, DNR oder der ehemaligen Sowjetstaaten aufgenommen, unabhängig davon, welche Probleme oder Dokumente man hat. Dafür gibt es auch null Garantien.

    Freiwillige müssen auf eigene Faust bis Donezk kommen. Auch die Ausrüstung bezahlen sie selbst. „Die Versorgung ist schlecht, für Schutzwesten und Helme gibt es Wartelisten“, heißt es ganz offen bei der Organisation Drugaja Rossija von Eduard Limonow, die Söldner für den Pjatnaschka-Bataillon rekrutiert. Das Kommando über die Einheit hat Achra Awidsba, Rufname Abchas.

    „Offiziell läuft alles über die DNR. Das Geld kommt aus Donezk. Kann sein, dass es damit und mit den zugesicherten Garantien Probleme gibt, das will ich nicht leugnen. Besser, man klärt alle finanziellen Fragen selbst. Garantien bei Verwundung oder Tod gibt es keine.“

    Ausgebildet werden die Freiwilligen innerhalb von zehn Tagen direkt in Donezk – „es ist halt Krieg.“ Laut Aussage von Experten sind es vor allem die schlecht ausgerüsteten Truppen der LNR und DNR, die die größten Verluste davontragen.

    Söldner-Suche über soziale Netzwerke

    Wir beschließen, die Einheiten, die in sozialen Netzwerken Freiwillige anwerben, abzutelefonieren und die Vertragsbedingungen herauszufinden. Unsere Basisgeschichte ist die: junger Mann von 27 Jahren, militärische Ausbildung – Schütze, Erfahrung als Vertragssoldat – zwei Jahre. Manchmal erwähnen wir noch eine offene Vorstrafe, um zu erfahren, ob man sie durch den Kriegseinsatz in der Ukraine „löschen“ kann.

    In der Regel reicht diese Basisinformation aus, um unsere Fragen zu beantworten und eine Einladung zum Treffpunkt zu bekommen. Das kann ein Hotel, ein Truppenübungsplatz, ein Rathaus oder sogar ein Privathaus sein, wie beim Bataillon Weterany. Die Anwerber teilen uns mit, dass die Papiere der potentiellen Freiwilligen direkt vor Ort überprüft würden.

    Die Anforderungen an die Kandidaten unterscheiden sich je nach Einheit. Die Kriterien sind Alter, Staatsbürgerschaft, Kampferfahrung und Vorstrafen. Dabei stehen die Headhunter oft in Konkurrenz zueinander und werben sich die Kandidaten gegenseitig ab.

    Redut

    Redut ist eine der größten inoffiziellen Formationen in diesem Krieg. Laut Berichten von Meduza waren es vor allem Redut-Truppen, die als erste PMC an der Front waren und am 24. Februar aus der LNR, DNR und Belarus in die Ukraine einmarschiert sind.

    Unmittelbar hinter der PMC Redut stehen hochrangige Generäle des Verteidigungsministeriums. Darüber berichteten (damals hieß die PMC Redut noch Schtschit) die Novaya Gazeta, Meduza und Ura.ru. „Der Vertrag wird mit der PMC geschlossen. Aber wir unterstehen dem Verteidigungsministerium“, erklärt am Telefon Timofei Bormin, der Redut-Anwerber mit dem Rufnamen Kescha.

    Das Gehalt bekommen die Redut-Kämpfer einmal im Monat ausgezahlt – bar auf die Hand, in Dollar. Bei Bedarf kann man sie gleich vor Ort umtauschen oder auf sein Konto überweisen. „Es gibt auch Kompensationen: Bei Verwundung 5000 bis 20.000 Dollar. Bei Grus 200 bis 60.000 Dollar“, sagt Kescha.

    Zum Vergleich: Die offiziellen Zahlungen bei Verwundung oder Tod sind um ein Vielfaches höher. Armeeangehörige oder Kämpfer der Rosgwardija bekommen bis zu 6 Millionen Rubel [derzeit rund 100.000 Euro – dek], wenn sie verletzt sind, und die Angehörigen 12,5 Mio. Rubel [derzeit etwa 200.000 Euro – dek], wenn der Armeeangehörige stirbt.

    Ein Teil der Ausrüstung (Kleidung, Schlafsack, Rucksack, Geschirr) kommt von Redut. Aber alles andere – Einsatz-, Schutzwesten und so weiter – bezahlen die Söldner selbst. In der Regel kostet sie das um die 700 Dollar.

    Für den Staat ist es günstig, Söldner anzuheuern. Sie gehen nicht in die offizielle Verluststatistik ein (die seit Ende März nicht mehr aktualisiert wurde), viele von ihnen bekommen weder die staatlichen Auszahlungen im Todesfall noch eine kostenlose Reha, kostenlosen Wohnraum oder sonstige Vergünstigungen für Armeeangehörige.

    Russitsch und Russische Reichslegion

    Zuweilen kämpft man an der Front gegen die „Nazis“ paradoxerweise in rechtsextremen Einheiten. Freiwillige werden unter anderem auch von der Russischen Reichslegion und dem Bataillon Russitsch rekrutiert.

    „Ich bin ein Nazi. Reiße auch mal die Hand hoch“, sagt Alexej Miltschakow im Interview mit dem Nationalisten Jegor Proswirnin.

    Miltschakow, Kommandant von Russitsch, wurde 2011 für ein Video auf VKontakte bekannt, in dem er einen Welpen grausam tötet und dann isst. Im Grunde hat er nie einen Hehl aus seinen Ansichten gemacht. 

    „Wenn du einen Menschen umbringst, spürst du: a) Jagdeifer (wer noch nie auf der Jagd war – versucht es mal) und b), dass es jetzt ein Problem weniger gibt“, brüstet er sich im selben Interview.  

    Die Reichslegion wird faktisch von Denis Garijew angeführt. Das Motto der Bewegung ist: Gott. Zar. Nation. 

    „Die angekündigte Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine sehen wir skeptisch. Für uns ist das ein Glaubenskrieg. Wenn wir diesen Krieg verlieren, wird die russisch-orthodoxe Kirche von Malorossija ausgelöscht. Das passiert schon. Die Kirchen werden bereits zu Unionen zusammengeschlossen. Es heißt schon, dass im Fall eines Sieges der Ukraine die russisch-orthodoxe Kirche ausgemerzt wird“, erklärt Denis Garijew in einem Video zur Mobilisierung seiner Anhänger. Als wir die Rekrutierer der Legion nach der Bezahlung fragen, kommt zurück, bei ihnen „geht es nicht um Geld“, und dann folgt Stille. 

    Sowohl die Reichslegion als auch Russitsch waren von Anfang an am Krieg im Donbass beteiligt – seit 2014. In beiden Formationen ist Nationalität ein Aufnahmekriterium – es werden nur Russen genommen. Bei der Legion vor allem Orthodoxe und Kriegsveteranen. 

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    Den Bedingungen der Freiwilligenrekrutierung nach zu urteilen, sieht der heutige Krieg nicht so aus, als hätten sich die Streitkräfte viele Jahre darauf vorbereitet. Situationen, in denen Grundwehrdiener, die gerade mal ein MG richtig halten können, ohne jede Vorbereitung an die Front geschickt werden, waren charakteristisch für die Verteidigung im Zweiten Weltkrieg und den im Chaos der 1990er beginnenden Ersten Tschetschenienkrieg. Die Freiwilligen sehen sich zudem häufig dazu gezwungen, sich auf eigene Kosten einzukleiden. Im Fall einer Verwundung bleiben die Entschädigungszahlungen oft aus, genauso wie das „Bestattungsgeld“ für die Familie. 

    Ja, freiwillige Soldaten kommen in Militärspitäler. Ihnen wird Erste Hilfe geleistet. Aber Anspruch auf hochwertige Prothesen oder Rehabilitation haben sie aus staatlicher Sicht keinen. 

    [Begünstigungen für Veteranen] sind Peanuts im Vergleich zu den sozialen Begünstigungen, die Berufsmilitärs zustehen. Diese müssen lange ausgebildet und mit Kleidung und Waffen ausgestattet werden. Sie gehen früh in Rente. Wenn sie fallen, beziehen ihre Familien eine Hinterbliebenenrente. Und die Kinder haben ohne Aufnahmeprüfung das Recht auf Hochschulbildung.

    „Das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. Die Söldner haben keine Garantie auf solche sozialen Begünstigungen“, sagt Militärexperte Pawel Lusin. „In der Armee müssen sie diese Soldaten einkleiden und ernähren, sie mit Funkgeräten und Drohnen ausstatten. Viele Truppen – viele Veteranen. Aber hier rekrutiert man tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser.“

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