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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Nichthumanitäre Hilfe

    Nichthumanitäre Hilfe

    Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine sind im Runet tausende Spendenaufrufe zur Finanzierung der russischen Streitkräfte erschienen. Neben Medikamenten und warmer Kleidung bitten die Verfasser dieser Spendenaufrufe auch um Geld für den Kauf von Drohnen, Nachtsichtgeräten, Helmen, Zielfernrohren und Zubehör für Handfeuerwaffen. 

    Wer sind diese Leute, die Geld für militärische Ausrüstung sammeln – und was treibt sie an? Eine Recherche des Internet-Mediums The Insider, unterstützt von dekoder (mit engl. UT).

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    FAQ #8: Warum regt sich in Russland so wenig Protest?

    Wörterbuch des Krieges

    Recht auf Zerstörung

    Mörder mit Tapferkeitsorden

  • Bilder vom Krieg #10

    Bilder vom Krieg #10

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Maxim Dondyuk

    Dieser Junge war eines der ersten Kinder, die Opfer der russischen Bombenangriffe auf Kyjiw wurden. Seine Eltern und seine Schwester kamen während eines Bombenangriffs ums Leben. Der Junge wurde schwer verwundet ins Kinderkrankenhaus gebracht. Da die Ärzte seinen Namen zunächst nicht kannten, führten sie den Patienten als „Unbekannter #1“ / Foto © Maxim Dondyuk, 28.02.2022, Kyjiw

    Maxim Dondyuk
    „Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden“

    [bilingbox]Es war die zweite Nacht, nachdem Russland seinen großflächigen Angriffskrieg begonnen hatte, als dieses Foto entstand. Es zeigt das erste Kind in Kyjiw, das Opfer der russischen Bombenangriffe wurde. Der Junge, sechs Jahre alt, geriet im Zentrum von Kyjiw unter Bombardement, er war zusammen mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner Schwester im Auto. Seine gesamte Familie starb noch vor Ort. Der Junge wurde auf die Intensivstation gebracht. Er hatte keine Dokumente bei sich, da seine Eltern direkt in die Leichenhalle eines ganz anderen Krankenhauses gebracht worden waren. Keiner kannte den Namen des Jungen oder sein Alter, so nannte man ihn einfach „Unbekannter #1“. 

    Der Arzt wollte erst nicht, dass ich dieses Foto mache. Aber ich sagte: Wir müssen das zeigen. Wir müssen zeigen, was Russland tut. Sie töten nicht nur Soldaten in diesem Krieg, sondern auch Familien und Kinder. Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden. Als der Arzt die Decke abnahm, sah der Junge aus wie Christus. Es war so symbolisch. Erst nach ein paar Tagen teilten mir die Ärzte mit, dass er Semjon hieß und am Tag, nachdem ich das Foto gemacht hatte, verstorben war. Für mich zeigt dieses Bild das Gesicht des Krieges.

    Manchmal fragen mich Leute, warum ich mich entschieden habe, Kriegsfotograf zu sein. Die Wahrheit ist, dass ich keiner bin und auch nie einer sein wollte. Aber dies ist mein Land, und ich habe das Gefühl, es ist meine Pflicht, diesen historischen Moment einzufangen für die Gegenwart und für die Zukunft. Es ist sehr schwer, den Krieg zu dokumentieren, wenn er in deinem Land stattfindet, in deiner Stadt, wenn deine Freunde dabei ums Leben gekommen sind, wenn Russland deine Stadt eingenommen hat, wenn du all das siehst. Es ist völlig anders, als wenn du von einem anderen Land in einen Krieg kommst und dann wieder zurückkehrst.
    Du fühlst dich traurig, du spürst Aggression sogar gegenüber der ganzen Welt. Warum passiert uns das, warum macht irgendein großes Land einfach, was auch immer es möchte, und das nun schon seit fast einem Jahr. Und all dieser Schmerz, all diese Gefühle, sie wiegen sehr schwer, sie sind zerstörerisch. Ich lege meine Gefühle in die Fotografie. All diese Erfahrungen – Wut, Angst, Enttäuschung, Schmerz, Tränen, Freude. So werden Fotografien mit Leben gefüllt. Je mehr Gefühle du erfährst, desto stärker wird deine Kunst, sei es Fotografie, Malerei, Literatur oder Musik. Deswegen kann objektiver Fotojournalismus, der jede Subjektivität und jegliche Gefühle leugnet, sehr oft einfach langweilig sein – informativ, aber ohne emotionalen Aspekt.

    Meistens nutze ich zwei unterschiedliche Bildsprachen, um den Krieg abzubilden. Für mein persönliches Projekt, ein Buch oder Ausstellungen, verwende ich eine poetische, wenn man so will ästhetischere Bildsprache. So können die Menschen in das Bild eintauchen, eine längere Zeit darüber sinnieren. Ich möchte, dass sie nachdenken, sich etwas vorstellen, wahrnehmen. Denken Sie mal an Schlachtenbilder in Museen – die eignen sich nicht für schnelles Draufgucken. 
    Aber wenn ich für eine Zeitschrift arbeite, dann versuche ich zu schockieren. Denn die Leser haben nur eine Sekunde und ich versuche, einfach – BAMM, sie zu stoppen, zum Innehalten zu bewegen. Es soll wie ein Schrei sein, mittels der Farbe oder der Bildkomposition.~~~It was the second night after Russia started the full-scale invasion when I took this picture. It shows the first affected child in Kyiv from bomb attacks by Russia. He, a child 6 years old, fell under the shelling in the center of Kyiv, in the car with his father, mother, and sister. His whole family died right there. The boy was taken to intensive care. He was without documents since his parents were sent immediately to the morgue, to a completely different hospital. No one knew the boy’s name or his age, that’s why he was simply called the “Unknown #1”. First, the doctor didn’t want me to take this picture. But I said, we have to show this. We have to show what Russia is doing, killing not only soldiers but also families and children in this war. This boy stands for thousands of children being killed. When the doctor removed the blanket, the child looked like Christ. It was so symbolic. Only after a couple of days, the doctor told me, his name was Semyon, and he passed away the day after I took this picture. To me, this picture shows the face of war. 

    Sometimes people ask me why I decided to be a war photographer. The truth is I’m not and never intended to be. But this is my country now and I feel that this is my duty to capture this historical moment for the present and the future. It is very difficult to document the war when it happened in your country, in your city, when your friends died, when Russia captured your city, when you see all this. It’s completely different than when you come to war from another country and then return back. You feel sad, you even feel aggression towards the whole world, why this happened to us, why some big country is doing whatever it wants and has been doing it for almost a year now. And all this pain, all these emotions, they are very heavy, they are destructive. I put my emotions into photography. All that I experience – anger, fear, disappointment, pain, tears, joy. Thus, photographs are filled with life. The more you experience any feelings, the stronger your art, whether it be photography, paintings, literature, or music. That’s why very often objective photojournalism, which denies subjectivity, and emotions, can be simply boring, informative, but without an emotional aspect.

    Mostly I use two different visual languages covering the war. For my personal project, for the book or exhibitions, I use more poetic, aesthetic (if you want so) language, so people could immerse in the photograph, and contemplate it for a long period of time, I want them to think, to imagine, to perceive. Think of battle scenes in museums – these are not for a rush viewing. But working for a magazine, I try to shock because their readers have only 1 second and I try to just, boom, make them stop. It should be like screaming, with color or with some composure.[/bilingbox]

    Foto: Maxim Dondyuk
    Gesprächsprotokoll und Übersetzung aus dem Englischen: Tamina Kutscher
    Konzept und Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 21.02.2023

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  • Deutschrap und der russische Krieg gegen die Ukraine

    Deutschrap und der russische Krieg gegen die Ukraine

    2018/2019 erlebte der Deutschrap eine Wende. Der Musiker Capital Bra brachte innerhalb von 12 Monaten 13 Nummer-eins-Chart-Hits in Deutschland, Österreich und der Schweiz heraus. Damit ist er bislang der populärste Musiker im Deutschland des 21. Jahrhunderts, sein YouTube-Kanal hatte bis Ende 2022 über 1,3 Milliarden Aufrufe. Mit Capital Bra ist Deutschrap im Mainstream angekommen und wird von Millionen gehört, gestreamt, gekauft. Capital Bra und andere Deutschrapper ukrainischer oder russischer Herkunft, wie etwa Olexesh, verhandeln in ihren Lyrics hybride Identitäten, die irgendwo zwischen Ukrainer, Russe, „Russki Kanak“, Slawe, Berliner, Frankfurter etc. zu verorten sind. Solch teils changierende Verortungen wirken auch, wenn es um Russlands Angriffskrieg in der Ukraine geht.

    Capital Bra heißt eigentlich Wladislaw Balowazki und wurde 1994 in Russland geboren. Seine Familie zog kurz nach seiner Geburt in die Ukraine und von da aus einige Jahre später nach Deutschland. Aufgewachsen in Berlin-Hohenschönhausen, begann Capital Bra 2016 seine kommerzielle Karriere als Rapper. Sein Weg bis zum kommerziellen Erfolg und dem Status des erfolgreichsten Musikers Deutschlands begann jedoch früher. 

    Kein Krieg in der Ukraine oder „Scheiß auf die Amis, guck, wie Putin unser Land verteidigt“

    Bras Herkunft war dabei immer ein Thema seiner Lyrics. Nach der Annexion der Krim durch russische Truppen brachte er Ende März 2014 die Single Kein Krieg in Ukraine!1 heraus. Bis heute wurde das Video auf YouTube 2,3 Millionen Mal angeklickt. Was anfangs als ein klares Statement erscheint, lässt beim genauen Hinschauen Interpretationsspielraum zu:

    „Bitte hört mir zu, mehr verlang‘ ich nicht, // Ich erklär‘ euch den Konflikt aus ’ner andren Sicht, // Wir Ukrainer, wir wollten nie mit Russland Streit, // Doch die Amis provozieren aus dem Hinterhalt, // Politiker, die für alle Menschen reden, // Es geht um Geld und Macht, uns geht’s um Menschenleben, // Russische Panzer, die in mein Land einfahr’n, // Du siehst Tote vor dem Maidan“. 

    Einerseits wird hier der Einmarsch russischer Truppen kritisiert, andererseits werden die Gründe dafür nicht in der Politik des Kreml gesucht, sondern die USA als geheimer Kriegstreiber dargestellt. Weiter im Text wird es konkreter:

    „Ah, und sie reden nicht, sie schicken Militär, // Ein Kampf zwischen Gut und Böse, aber wer ist wer? // Und ihr erkennt das nicht, wir sind uns einig, // Scheiß auf die Amis, guck, wie Putin unser Land verteidigt, // Sie lügen in den Medien und ihr fallt drauf rein, // Guck, wie zwei Mächte unser Land aufteil’n“. 

    Dass Capital Bra sich als Ukrainer identifiziert, steht außer Frage, denn der Musiker betont es immer wieder in seinen Tracks:

    „Priwet Germanija, Bra! Alemania, Bra! // Ukrainer – ja sam mafija!“ (Song Falsche Gesichter auf dem Album Kuku Bra (2016),

    „Stabiler Ukrainer, bald Großverdiener“ (Braun, Gelb, Lila auf Kuku Bra (2016)),

     „Ich bin Ukrainer, fick Amerikaner“ (Intro auf Blyat (2017) oder

    „Ich bin Ukrainer, // Ich trag‘ keine Grillz“ (Makarov Komplex II auf CB7 (2020). 

    Trotz dieser Selbstidentifikation als Ukrainer sind für den Rapper positive Bezüge zu Wladimir Putin in Lyrics, dem Layout einzelner Alben und in Interviews kein Widerspruch. Am Tag der großflächigen Invasion Russlands in die Ukraine, dem 24. Februar 2022, postete der Rapper auf seinem Instagram-Account mit über vier Millionen Follower*innen folgendes Bild: zwei Hände, die eine Friedenstaube symbolisieren und jeweils in den Nationalfarben der Ukraine und Russlands in Erscheinung treten.2 Die Fans interpretieren es in der Kommentarspalte unterschiedlich – manche sehen darin „nur“ den Frieden, manche posten das pro-russische Symbol des Krieges – den Buchstaben „Z“, manche schämen sich für Capital Bra als Ukrainer.    

    Grenzenloser Frieden unter besonderen Bedingungen  

    Am 2. März 2022 brachte Capital Bra zusammen mit den Rappern Kontra K und Kalazh44 die Single Stop Wars heraus. Damit starteten die Musiker auch eine Plattform, auf der ihre Fans Geld an die Ukraine, aber auch Syrien, den Jemen, Äthiopien und den Irak, spenden können.3 

    „Wenn plötzlich alle schießen, // Die gleichen Menschen, nur die Waffen sind verschieden, // Vielleicht ’ne andre Flagge, aber die gleiche Sprache, // Jeder Ukru, jeder Russe checkt doch, was ich sage, // Aber ich kann’s nicht versteh’n, // Zwischen uns noch nie Grenzen geseh’n, // Aber plötzlich gibt es Grenzen, // Plötzlich fliegen Bomben auf die Menschen.“

    Der Text der Single bringt  zweifelhafte Aussagen an die Hörer*innen: Denn die acht Zeilen bedienen das Narrativ Putins, mit dem der Politiker unter anderem den Krieg rechtfertigt. Capital Bra singt davon, dass Ukrainer*innen und Russ*innen „die gleichen Menschen“ seien, die gleiche Sprache sprächen, womit höchstwahrscheinlich das Russische gemeint ist. Dazu kommen die Personenbezeichnungen Ukru und Russe. Während Russe hier neutral ist, könnte Ukru als eine Ableitung vom russischen Ukr oder Ukrop gedeutet werden. Beide Bezeichnungen sind herablassende Bezeichnungen für Ukrainer*innen und werden im gleichen semantischen Spektrum verortet, wie Ukrofaschisty. Die Begriffe sind auch ein fester Bestandteil pro-russischer Memes über die Ukraine im russischsprachigen Internet.4   

    Bras Feat bei der Single Stop Wars ist Kalazh44 (bürgerlicher Name Christian Streitsov); der Neuköllner Rapper hat ebenfalls einen ukrainischen Hintergrund. Etwa sieben Wochen nach der gemeinsamen Single brachte Kalazh44 das Album District13 heraus, auf dem unter anderem ein Featuring mit Capital Bra mit dabei ist. Keine Politik heißt das Lied. Auch wenn die Musiker gerade zwei Monate zuvor zahlreiche politische Aussagen in Stop Wars getroffen haben, heißt es Ende April 2022 in der Hauptzeile der Hook5: „Keine Politik, mach ma‘ keine Politik, Bra, // Mach ma‘ keine Politik.“ 

    Die Ukraine zwischen „dem Slawenreich“ und Nostalgie 

    Ein weiterer Rapper und eine Deutschrapgröße, die beim Thema des russischen Krieges gegen die Ukraine eine Rolle spielt, ist Olexesh (bürgerlicher Name Oleksij Kosarev). Olexesh ist der erste Deutschrapper mit slawischem Hintergrund, der kommerziellen Erfolg erlangte. Bis heute hat er sechs Alben herausgebracht, erhielt 2017 das HipHop.de Award als Bester Live-Act national, seine Videos haben bis über 100 Millionen Views auf YouTube

    Geboren wurde der Musiker 1988 in Kyjiw, aufgewachsen ist er in und um Darmstadt. Wie Capital Bra identifiziert sich auch Olexesh als Ukrainer:

    „Ein slawischer Mann, // Ukrainer mit Plattschädel“ (Geblendet von Strassen auf Authentic Athletic, 2012), 

    „Meine Herkunft: Ukraine“ (Meine Stadt auf Authentic Athletic, 2012) oder

    „Ukrainer oder Russe, // Viele sagen das ist gleich, // Konflikte im Knast, das slawische Reich“ (So läuft es bei uns auf Masta, 2015).

    Im Gegensatz zu Capital Bra setzt Olexesh Ukrainer*innen und Russ*innen jedoch nicht gleich, sondern erwähnt beiläufig, dass Außenstehende zwischen ihnen keinen Unterschied sehen. Auffällig ist bei Olexesh jedoch auch die Rolle des „Slawen-Seins“, denn er spricht nicht nur von sich als Slawen, sondern auch von einem Slawischen Reich. Ob es eine Metapher für seine Wahrnehmung der Herkunftsstruktur von Insassen deutscher JVAs, Ausdruck einer hybriden Post-Ost-Identität (die sich üblicher Weise aber gerade nicht an ethnischen Merkmalen festmacht) oder ein Bezug zum Panslawismus ist, bleibt allerdings unklar. 

    Am 26. Februar 2022 postete Olexesh auf seinem Instagram-Account mit über 800.000 Follower*innen ein eindeutiges pro-ukrainisches Zeichen: Ein Foto mit einem Kind, das im Weizenfeld steht, darüber der blaue Himmel, das Kind hält die ukrainische Flagge in der Hand.6 Am 5. März veröffentlichte er jedoch die Single Mama Ukraina, Papa Russia. In dem Lied heißt es: 

    „Mama Ukraina, Papa Russia, // Dasselbe Blut in uns, denn jeder kocht mit Wasser, // Ich will kein Gas, ich will Freiheit für die Schtrassa, // Fick Politik, Militär, stoppt die Panzer […] Scheiß Leben, bleib‘ stabil, fick‘ ich Politik, // Denn am Ende sind wir alle von ’nem Präsident gefickt, // Mann, ich vermisse meine Heimat, bald bin ich zurück, // Und dann wird jeder Stein wieder auf sein’n Platz gerückt“. 

    Durch das Single-Cover mit dem Hochzeitsfoto seiner Eltern könnte der Eindruck entstehen, es geht tatsächlich um die Mutter und den Vater von Olexesh, dabei hat er doch in vergangenen Jahren in diversen Interviews zur Sprache gebracht, dass sein Vater aus Belarus und seine Mutter aus der Ukraine stamme. Es bleibt also ungeklärt, warum der Vater des auktorialen Ichs in dem Lied zum Russen wurde. Die Assoziation der Ukraine mit einer Frau könnte in erster Linie direkt auf die Mutter von Olexesh weisen, jedoch auch auf das grammatikalische Geschlecht des Ländernamens im Deutschen oder schließlich auch auf die Darstellung Putins von der Ukraine als einer Krassawiza (dt. Schönheit). Eine endgültige Antwort auf die Frage der Auslegung wird es wohl nicht geben, jedoch bleibt die Erkenntnis, dass das Verhältnis von Olexesh zur Ukraine im Vergleich zu Capital Bra eher von Nostalgie geprägt ist, was durch das Intro des Liedes gestärkt wird, in dem die Stimme seiner Großmutter zu hören ist: „Und doch ist es gut, dass ihr damals weggefahren seid“, sagt sie auf Russisch über die Migration Olexeshs und seiner Mutter nach Deutschland.   

    Frieden unter russischer Flagge?      

    Es bleibt ein Phänomen des Deutschrap, dass sich Rapper mit ukrainischem Hintergrund zwar als Ukrainer identifizieren, die Ukraine gleichzeitig aber auch mit Russland und auch Belarus gleichsetzen. Gleichzeitig wollen die Rapper sich von Politik distanzieren, doch treffen sie dabei immer wieder politische Aussagen – auch bewusst: So setzen sie auf Social Media Zeichen gegen den russischen Krieg in der Ukraine, relativieren dabei aber gleichzeitig die russische Aggression, indem sie etwa die Auslöser des Krieges in Verschwörungsmythen suchen (zum Beispiel USA als geheimer Kriegstreiber). Sie wollen den Frieden, doch vor allem Capital Bra besingt in seinen Songs eher einen Frieden unter russischer Flagge. Dieser Aspekt scheint auch dann im Informationsfluss unterzugehen, wenn deutsche Medien die Antikriegs-Statements der Rapper positiv bewerten.7 


    1. youtube.com: Capital – kein Krieg in Ukraine ↩︎
    2. instagram.com: Capital Bra: Pray for Peace ↩︎
    3. stopwars.com: Kontra K, Capital Bra ↩︎
    4. wikireality.ru: Ukry ↩︎
    5. Refrain in Rap-Kultur ↩︎
    6. instagram.com: olexesh: Stop the War ↩︎
    7. z. B. musikexpress.de: Krieg in der Ukraine: Capital Bra und Kontra K droppen solidarischen Track „Stop Wars“ ↩︎

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    Playlist: Best of Protest

    „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    Russki Rock

    Alles wäre gut, wären da nicht diese Amis

    Oxxxymiron

    Protestmusik

  • Bilder vom Krieg #9

    Bilder vom Krieg #9

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin

    Links: Nach massiven Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur in der Ukraine kommt es im gesamten Land immer wieder zu Stromausfällen und Ausfällen der Wasserversorgung. Kyjiw, 24.11.2022. Rechts: Denys. Kyjiw, 04.12.2022. Fotos © Vsevolod Kazarin und Sebastian Wells/Ostkreuz

    SEBASTIAN WELLS
    „Es hat sich nicht richtig angefühlt, zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen“

    Seit meiner ersten Reise nach Kyjiw im April 2022 ist die Stadt wie zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Es ging mir darum, die Ukraine und den Krieg besser zu verstehen und herauszufinden, welche Rolle ich als Fotograf in einer solchen Situation haben kann – dabei wollte ich auf keinen Fall in Kampfgebiete. Ich konnte viele Menschen kennenlernen und Freundschaften schließen. Zum Beispiel mit Vsevolod Kazarin, mit dem ich dieses Foto von Denys zusammen aufgenommen habe, und auch fast alle anderen Bilder, die in der Ukraine entstanden sind. Denys ist inzwischen 25 Jahre alt und kommt aus Donezk. 2016 floh er als Teenager aus der Stadt. Doch er wollte sie nicht sang- und klanglos verlassen, sagt er. Zusammen mit einem Freund, einer blauen und einer gelben Spraydose und einer Gesichtsmaske bewaffnet, lief er um 4 Uhr morgens zum Lenin-Denkmal im Stadtzentrum. Auf einem der am besten bewachten Orte der Stadt sprühten die beiden eine ukrainische Flagge auf den Sockel der großen Statue. Die beiden rannten zu einem Taxi, fuhren zum Bahnhof und erst nach Charkiw, dann nach Kyjiw. 

    „Wir waren naive Jugendliche“, sagt er dazu heute. „Erst im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie gefährlich das war.“ Sie filmten ihre Aktion, die ein YouTube-Hit wurde – was für Denys zweifelsohne harte Konsequenzen seitens der russischen Besatzungsverwaltung haben könnte, würde er jetzt nach Donezk zurückkehren. Dann war er ganz allein in Kyjiw – im Winter, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Netzwerk. Fünf Jahre brauchte er, um in der Hauptstadt anzukommen. Heute hat er einen Vintage-Laden und ein Tattoo-Studio im Zentrum von Kyjiw. Von seiner Mutter, die noch in Donezk wohnt, hört er, dass sie dort nur noch einmal in der Woche Wasser haben und dass fast keine Männer mehr arbeiten, weil die meisten im Militär sind – oder bereits an der Front gestorben.

    Während meiner Reisen nach Kyjiw habe ich nicht viel fotografiert, aber dafür umso mehr gelernt. Vor allem über die vielseitige Kunstgeschichte des Landes, die in den Breitengraden, in denen ich aufgewachsen bin, fast keine Rolle spielt – obwohl einst im selben Ostblock befindlich.

    Es hat sich oft nicht richtig angefühlt, den Alltag zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen. Aus der Zusammenarbeit mit Vsevolod ist ein Magazin entstanden: soлomiya. Wir wollten eine Publikation machen, die sowohl für Ukrainer*innen als auch für Menschen in mittel- und westeuropäischen Ländern interessant ist. Das verbindende Mittel dabei ist der Fokus auf junge Menschen und künstlerische Ausdrucksformen. Inzwischen machen wir ein Crowdfunding für die zweite Ausgabe. Ein positives Gefühl in einem ansonsten durch und durch grässlichen Krieg.

     

     

    SEBASTIAN WELLS
    Sebastian Wells ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Als Mitglied des Berliner Fotografenkollektivs Ostkreuz und Künstler der Galerie Springer. Er arbeitet im Auftrag und an eigenen Projekten als Dokumentarfotograf. Er studierte Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin, der FH Bielefeld und der KASK School of Arts in Gent.

    VSEVOLOD KAZARIN
    Vsevolod Kazarin ist ein junger Fotograf, der an künstlerischen, redaktionellen und kommerziellen Projekten arbeitet. Er wurde in der Region Luhansk geboren und wuchs in einem Vorort von Kyjiw auf, wo er derzeit lebt. Nach einem Bachelor-Abschluss in Fotografie an der Kyiv National University of Culture and Arts arbeitete er hauptsächlich in der Modefotografie

    GEMEINSAME AUSSTELLUNGEN 
    2022 Artist Talk and Group Exhibition, soлomiya № 1, Galerie Springer, Berlin
    2022 Group Exhibition, soлomiya № 1, Feldfünf Projekträume, Berlin


    Fotos: Sebastian Wells/Ostkreuz, Vsevolod Kazarin
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Veröffentlicht am 12.01.2023

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #4

    Bilder vom Krieg #5

    Bilder vom Krieg #6

    Bilder vom Krieg #7

    Bilder vom Krieg #8

  • Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Auch an den Neujahrsfeiertagen gehen russische Angriffe auf die Ukraine unvermindert weiter. Seine traditionelle Neujahrsansprache hat Wladimir Putin in diesem Jahr entgegen der Tradition nicht vor dem Kreml gehalten, sondern im Kreis von Soldatinnen und Soldaten der russischen Armee. Putin hatte sie im südlichen Militärbezirk in Rostow am Don besucht. In seiner Rede warf er dem Westen Lügen vor und auch, die Ukraine zu benutzen, um Russland zu schaden. 
    Der US-amerikanische Think Tank Institute for the Study of War (ISW) hält Putins Worte für einen Versuch, den kostspieligen Krieg zu rechtfertigen und sich selbst dabei als Kriegsführer darzustellen, der alles unter Kontrolle habe. Der Think Tank liest darin außerdem auch die Botschaft, dass der Kreml an einem Frieden nicht interessiert sei, es sei denn, er diktiere der Ukraine und dem Westen die Bedingungen dafür.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky indes erklärte in seiner Neujahrsansprache, den Ukrainern könne nichts mehr Angst machen – sie seien für 2023 auf alles gefasst. Das neue Jahr möge ein „Jahr der Heimkehr“ werden. Er sprach von einer Ukraine, die wieder 603.628 Quadratkilometer hat, „das Gebiet der unabhängigen Ukraine, wie es seit 1991 besteht“.

    Wie wichtig es ist, in Szenarien zu denken, und wie schwer, Prognosen zu treffen, da das Handeln des Kreml keiner Logik und keinem Plan mehr folgt – das thematisiert Meduza-Politikredakteur Andrej Perzew in Kit, einem Newsletter-Format von Meduza. Solche Mailinglisten sind mehr und mehr nach dem 24. Februar aufgekommen, als im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mehr und mehr Websites unabhängiger Medien in Russland blockiert wurden und nicht mehr ohne Weiteres zugänglich waren.

    Wir haben sehr lange in einer Wirklichkeit gelebt, in der Putin eine Art Plan hatte. Wenn die Zeit reif war, erfuhren wir neue Einzelheiten dieses Plans, und die Ungeduldigen konnten sich den nächsten Schritt auch ausrechnen – mithilfe der „Kreml-Logik“. So eine Art „Lebensregeln“ der obersten Staatslenker, und wer die Logik dahinter kennt, der kann Russland verstehen – nicht nur den Kern dessen erkennen, was gerade geschieht, sondern auch die Zukunft vorhersagen. Unter anderem dank der Kreml-Logik florierte die politische Journalistik im Land – regierungsnahe Quellen erzählten den russischen Staatsbürgern, worüber man im Kreml nachdenkt und spricht. Die Kreml-Logik hat auch die anonymen Telegram-Kanäle populär gemacht, die im Netz Gerüchte und Analysen im Sinne der offiziellen Leitfäden verbreiteten.

    Mit „Putins Plan“ und „Kreml-Logik“ existierte das Land über 20 Jahre. Einerseits war es wenig erfreulich zu wissen, dass wir von dem Willen eines einzelnen Menschen abhängen. Andererseits half es dabei, relativ angstfrei in die Zukunft zu blicken – wo man Prognosen aufstellen kann, da entsteht ein Gefühl von Kontrolle, auch wenn man in Wirklichkeit keinerlei Kontrolle hat.

    Den Kreml-Bewohnern sind Plan und Logik abhandengekommen

    Der Krieg hat alles verändert. Ich bin mir sicher, dass jeder, der diese Zeilen liest, ihn nicht nur als globale, sondern auch als persönliche Tragödie empfindet. Die Rede ist von einem sehr egoistischen Gefühl: als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Es gibt keine Zukunft mehr, man kann weder über sie nachdenken noch etwas planen. Genau das Gleiche empfinden gerade auch die Kreml-Bewohner: Ihnen sind Plan und Logik abhandengekommen. 

    In den 2010er Jahren war beides im Vorgehen der russischen Machthaber noch irgendwie erkennbar. Im Inneren setzte das System auf die Verschärfung der Repressionen und die Verstaatlichung der Wirtschaft (das heißt, auf die Umverteilung von Aktiva zugunsten der engsten Umgebung des Präsidenten). Beim Unterdrücken und Umverteilen vergaß der Präsident allerdings nicht, dass ihn die völlige Willkür den Zugang zur Macht kosten könnte. Deshalb griff der Kreml selten zu unpopulären Mitteln, hielt die soziale Stabilität aktiv aufrecht und gab den Bürgern sogar die Möglichkeit, ihren Dampf bei sogenannten Wahlen abzulassen. Für diejenigen, die die Nase voll hatten, hielten die Wahlzettel stets etwas parat – einen oppositionellen Kandidaten oder eine Spoiler-Partei

    In den internationalen Beziehungen agierte Putin ganz ähnlich – er pflegte das Bad-Boy-Image, aber wusste zugleich, wann es genug war. Die „roten Linien“ des Westens überschritt er nicht: Putin war zum Beispiel schon 2014 klar, dass er noch härtere Sanktionen als bei der Krim riskiert, wenn er es im Donbass zu weit treibt. Das war es ihm nicht wert. Deshalb schickte er seine Truppen nicht offiziell in die Oblast Donezk oder Luhansk. Was das Regime sich auch in den Kopf setzte, der Nutzen im Sinne der „Realpolitik“ blieb immer das Wichtigste.

    Aber vier Jahre später, als Wladimir Putin 2018 zum wiederholten Male Präsident wurde, änderte er seine Herangehensweise und griff schließlich zu unpopulären Maßnahmen, von denen er bisher offenkundig Abstand gehalten hatte. So verkündete die Regierung 2018 beispielsweise die Rentenreform – und sackte in den Umfragen sofort drastisch ab.

    Putin macht nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt

    Im Handeln des Kreml war immer weniger Kreml-Logik zu erkennen. Denken wir an einen weiteren Meilenstein der neuesten russischen Geschichte – das Referendum über die Verfassungsänderungen. Wo lag hier der Nutzen? Laut Gesetz war die Willensäußerung des Volkes nicht obligatorisch – obligatorisch sind Referenden nur bei Änderungen in den ersten beiden Kapitel des Grundgesetzes, und dort wollte Putin gar nichts ändern. Es hätte also gereicht, wenn sich die Abgeordneten der Staatsduma und die Mitglieder des Föderalen Rates abgestimmt hätten. Aber das Referendum wurde trotz allem durchgeführt, sogar trotz Pandemie. Die Russen stimmten in Kofferräumen, auf Steinen und Baumstümpfen ab (das sind alles reale Beispiele, falls es jemand vergessen hat), und zwar nicht aus pragmatischen Gründen, sondern einfach, weil es Wladimir Putin gefällt zu sehen, wie sein Volk ihn unterstützt. Er macht also nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt.

    Aber selbst als das offensichtlich wurde, machten wir, die russischen Politikexperten, so weiter, als würde die Kreml-Logik immer noch funktionieren. Genau aus diesem Grund glaubten viele von uns nicht daran, dass der Krieg möglich wäre, quasi bis zum letzten Tag – denn ein Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur monströs, sondern unpraktisch. Und Putin ist doch Pragmatiker, der würde doch niemals irrational handeln. Ja, ja, er droht vielleicht mit Manövern an der Grenze, aber er verfolgt damit auch klare Ziele – eine weitere Verhandlungsrunde mit den USA oder die Aufhebung von Sanktionen. Ein Jahr vor dem Krieg war es übrigens genauso: Damals fand vor dem Hintergrund der Manöver russischer Truppen an der ukrainischen Grenze ein Treffen zwischen Wladimir Putin und Joe Biden statt.

    Wir, die Politikexperten, machten so weiter, als würde die Kreml-Logik noch immer funktionieren

    Es ist immer noch schwer zu glauben, aber Putins manisches Verlangen, das Nachbarland zu erobern, hat alle rationalen Argumente übertrumpft. Ukrainische Städte werden bombardiert, nur weil Putin das so will. Und es tut ihm um niemanden leid – weder um Ukrainer noch um Russen.
    Wonach es ihm danach verlangen wird, wissen wir nicht und können es nicht wissen, und deshalb haben wir – das muss man sich endlich eingestehen – jede Möglichkeit verloren, das Vorgehen des Kreml vorauszusagen. Es folgt keiner Logik mehr, und deshalb fehlt diese auch für unsere Prognosen.

    Was bleibt dann noch?

    Ein simples Beispiel aus dem Alltag. Nehmen wir an, Sie haben beschlossen, nach der Arbeit zu entspannen und einen lustigen Film zu schauen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie Ihre Zeit genauso verbringen werden, wie Sie es sich vorgenommen haben, und nur höhere Gewalt würde Sie davon abhalten. Sie werden Ihre Entscheidung kaum selbst ändern: Sie sind zu Hause, wo Sie die Kontrolle haben, und das Internet wimmelt von Filmen für jeden Geschmack.

    Eine ganz andere Sache ist es, wenn Sie am Wochenende einen Ausflug ins Umland planen. Es ist Spätherbst, das Wetter ist sehr wechselhaft. Alles Mögliche kann schiefgehen. Zum Beispiel ein Temperatursturz. Oder es schüttet aus Eimern. Oder ein Sturm. Kurz gesagt, Sie sollten bereit sein, zu Hause zu bleiben und noch ein paar Filme zu schauen. Oder Sie gehen trotzdem los und werden nass bis auf die Knochen.

    Im Grunde hat der Kreml einen Ausflug ins Umland geplant, doch dann ist ein Sturm aufgezogen. Noch dazu ist Moskau Stürme nicht gewohnt — vor dem Krieg lebte man hier unter günstigsten Bedingungen, und niemals wurden Pläne durch äußere Einflüsse durchkreuzt. Dank der hohen Preise für Erdöl und Gas füllt sich die Staatskasse, die schweigende Mehrheit hatte sich an Wahlen ohne Auswahl gewöhnt, und den aktiven Protesten der vorlauten Minderheit hatte man durch verschärfte Gesetze erfolgreich Einhalt geboten. Das System hatte alles unter Kontrolle und war maximal stabil. Die Gesellschaft spürte das genau, und vielen war diese Gemengelage nicht unrecht – die Stabilität des Systems galt nicht nur der Regierung, sondern auch dem Volk als höchste politische Tugend.

    Außer Kontrolle

    Mit dem Beginn des Krieges begab sich der Kreml auf ein Territorium, das er nicht kontrollieren kann. Mit Territorium ist hier nicht einmal konkret das Staatsgebiet der Ukraine gemeint (obwohl natürlich auch das), sondern die Situation insgesamt. Plötzlich wurde der entscheidende politische Überlebensfaktor ein gewisser Anderer – ein ganzes Land, die Ukraine, sowie alle ihre Verbündeten –, der jederzeit reagieren kann, und zwar überraschend und heftig. Nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Sanktionen, von denen etliche wirklich schmerzhaft sind. All das erzeugt einen gewaltigen Unsicherheitsfaktor nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Systems. 

    Die Unsicherheit verdichtet sich in all diesen langen Monaten, und der Kreml gerät ins Schleudern. Im August und September, als den ukrainischen Truppen plötzlich eine Gegenoffensive in der Oblast Charkiw gelang, begann er also Referenden über die „Eingliederung“ der besetzten Gebiete mal chaotisch abzusagen, dann wieder eilig anzuberaumen. Sie hätten in feierlicher und ruhiger Atmosphäre stattfinden sollen, doch weder das eine noch das andere wurde erzielt: Die Referenden verliefen chaotisch und unschön, ohne Kampagne, unter vorgehaltenen Pistolen. Ein logischer Schritt wäre gewesen, sie zu verschieben, aber wir wissen ja bereits, dass es im Kreml keine Logik mehr gibt. Wenn noch irgendwo tief drinnen ein letztes Fünkchen existiert hat, so gehört es mittlerweile zusammen mit dem Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, endgültig der Vergangenheit an.

    Mobilmachung: Neue Unsicherheit im Inland

    Um auf dem Schlachtfeld Macht, Kontrolle und Initiative zurückzugewinnen, entschloss sich der Kreml zur Mobilmachung – und zog sich damit eine neue Unsicherheit im Inland zu. Damit trat ein weiterer Anderer auf den Plan, von dessen Vorgehen die Machthaber jetzt ebenfalls abhängig sind: der Russe, der nicht in den Schützengraben will. Noch ist schwer zu sagen, wie viele es sind – nicht nur die, die aus dem Land geflohen sind, sondern auch die, die sich in den Städten und Dörfern Russlands vor der Einberufung verstecken. Doch zusammen mit ihren empörten Verwandten bilden sie eine bedrohliche Unsicherheitswolke, mit der die Machthaber eindeutig ebenfalls nicht gerechnet haben. Wie der Zusammenprall zwischen dem Kreml und dieser Wolke ausgehen wird, ist schwer abzusehen, zumal wir ja noch nicht einmal die jüngste Vergangenheit verstanden haben. Zum Beispiel die Proteste gegen die Mobilmachung in der föderalen Regierung des sonst so loyalen Dagestan – was war das? Wird es das wieder geben? Noch vor ganz kurzer Zeit hatte man sich solche Proteste überhaupt nicht vorstellen können, aber sie sind passiert. Dafür reagierten traditionell „protestfreudige“ Städte wie Moskau und Sankt Petersburg auf die Mobilisierung und die Razzien eher kühl. Und wieder: Was war das? Wird es das nächste Mal auch so sein? Oder werden wir auf den Plätzen der Metropolen doch noch große Demonstrationen sehen?

    Was tun?

    Vielleicht hat der Kreml zum ersten Mal wirklich keine Ahnung — genauso wie wir. Angesichts des totalen Unwissens – der berühmte „Nebel des Krieges“ überzieht längst nicht nur das Schlachtfeld, sondern das ganze Land – ändern die Behörden nun ständig ihre Pläne. Wie soll man in einer Realität leben, in der der Hauptakteur – die Staatsmacht – jegliche Logik verloren, die Pragmatik vergessen, die Initiative verspielt hat und auf das Chaos zuläuft? Ich habe dazu drei Tipps.

    Erstens – gewöhnen Sie sich dran: Es gibt keine Prognosen, und es kann auch keine geben. Damit, dass Pläne schmieden im Privatleben sinnlos geworden ist, haben wir uns schon abgefunden. Pläne gibt es mittlerweile genauso wenig wie Logik, es gibt nur noch „Szenarien“. Für den Kreml gilt dasselbe: Meist gibt es mehrere Szenarien, an denen parallel gearbeitet wird, und jedes kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden. Lesen Sie jede politische Analyse durch dieses Prisma.

    Viele politische Beobachter (mich eingeschlossen) berufen sich auf ihre Quellen in der Regierung. Auch hier hat sich etwas verschoben. Es gibt im Kreml keinen Beamten, der jetzt irgendetwas vorhersagen könnte, nicht einmal, wenn er sehr viel Einfluss hat. Alles hängt davon ab, wonach es den Präsidenten gelüstet, doch was ihm morgen in den Sinn kommt, kann niemand wissen. Nicht einmal ein russischer Militärangehöriger höchsten Ranges weiß Bescheid, welchen Befehl er als nächstes erhält, wie seine Leute an der Front diesen Befehl ausführen werden und wie die ukrainische Armee reagieren wird. 

    Niemand. Weiß. Etwas. 

    Daher klingt jede Antwort jeder Quelle in der Regierung auf jede meiner Fragen ungefähr so: „Wir bereiten uns auf dieses und jenes vor, aber was dabei herauskommt, hängt vom Präsidenten ab.“

    Das wird in der Führungsriege möglicherweise lange so gehen, aber das ist kein Grund, von vornherein keine politischen Analysen mehr zu lesen. Schließlich sind sogar Informationen wie diese ein Indikator für das aktuelle Geschehen. 

    Zweitens, denken Sie daran: Unsicherheit ist die Norm. Das Leben ist unvorhersehbar. Alles fließt, alles verändert sich. Niemand weiß, was morgen sein wird. Ja, das sind lauter abgedroschene Phrasen, aber das macht sie nicht weniger wahr. In den letzten gut zwanzig Jahren haben die Russen vergessen, dass im Grunde jede Situation – auch die politische – von vielen Faktoren und Akteuren abhängt und nicht nur von der Willkür da oben im Kremlturm. Es ist an der Zeit, uns das in Erinnerung zu rufen – und auch dem Kreml.

    Und schließlich drittens: Vergessen Sie nicht, dass das alles kein finales Urteil ist. Der Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft und das Vorgehen ihrer Streitkräfte haben bewiesen, dass „Putins Pläne“ oder die „Kremllogik“ nichts Endgültiges sind, gegen das man nichts machen kann. Man kann Widerstand leisten gegen sie und versuchen, aus ihren „Plänen“ eigene „Szenarien“ zu machen. 
    Im Februar bezweifelte kaum jemand, dass die russische Armee in Kyjiw einmarschieren würde. Jetzt gibt es immer weniger Zweifel, dass die ukrainischen Gebiete, die jetzt von Russland kontrolliert werden, wieder zurück an die Ukraine gehen – mindestens in den Grenzen vor dem 24. Februar. 

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  • ZITAT #17: „Ich werde jetzt doppelt so viel über queere Menschen schreiben“

    ZITAT #17: „Ich werde jetzt doppelt so viel über queere Menschen schreiben“

    Das „Verbot homosexueller Propaganda“ gegenüber Minderjährigen gilt in Russland bereits seit 2013 – Anfang Dezember hat Wladimir Putin nun eine Verschärfung des Gesetzes unterzeichnet. Demnach steht „homosexuelle Propaganda“ generell unter Strafe, das Verbot soll auch für Medien und Literatur gelten.

    Radio Svoboda hat mit Mikita Franko über diese Gesetzesverschärfung und ihre Konsequenzen für die russische LGBTQ-Szene gesprochen. Der Trans-Autor wurde 1997 in Kasachstan geboren und lebt seit einigen Jahren in Moskau. Sein autobiographisch inspirierter Roman Die Lüge (Original Dni naschei shisni, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt von Maria Rajer) machte ihn auch hierzulande bekannt – in Russland wurde das Buch aus den Geschäften verbannt. Darin erzählt Franko von seinem Alter Ego Mikita, der in Russland mit zwei Vätern aufwächst.

    Warum hat die Regierung gerade jetzt das bereits bestehende LGBTQ-feindliche Gesetz verschärft?

    Die Propaganda hat sich den Kampf gegen den kollektiven Westen und gegen Satanisten auf die Fahnen geschrieben. In ihren Augen steht die LGBTQ-Community stellvertretend für diesen kollektiven Westen. Nicht umsonst rechtfertigt sich Lord Voldemort [Putin] bei seinen Versammlungen vor dem Volk mit Verweis auf „Elternteil 1 und 2“ [im Westen] und demonstriert so, wie er tatkräftig gegen den Westen kämpft.

    Wie haben Sie reagiert, als Sie gehört haben, dass das Gesetz zum Verbot der „Propaganda nicht traditioneller Werte“ verabschiedet wurde?

    Mich überkamen inspirierende Wut und rebellischer Protest. Ich dachte mir, wenn sie es mir verbieten wollen, werde ich doppelt so viel über das Leben queerer Menschen schreiben. Mit so einer Reaktion fühle ich mich besser. Gerade habe ich gute Laune, denn ich glaube, dass alles nur eine Frage der Zeit ist: Die jungen Menschen werden länger leben als die, die sich dieses Gesetz ausgedacht haben. Russland befindet sich derzeit in einer Art Todeskampf. Es tut mir um das Russland leid, dessen Potenzial das Regime zerstört hat. Ich bin damals [aus Kasachstan – dek] in ein Land mit vielen Möglichkeiten gezogen. Jetzt kommt es mir so vor, als wäre es ein anderes Land.

    Wie werden sich diese neuen homosexuellen- und transfeindlichen Gesetze auf das Leben von LGBTQ-Menschen auswirken?

    LGBTQ-Menschen werden nicht verschwinden. Einigen wird es vielleicht gelingen, das Land zu verlassen, anderen wird es schlecht gehen. Das Risiko für Gewalt gegen LGBTQ-Menschen und die Suizidwahrscheinlichkeit unter ihnen werden steigen. 

    Auf Ihrem Telegram-Kanal haben Sie mal geschrieben, Sie hätten mehr für die traditionellen Werte getan als alle russischen Abgeordneten zusammen. War das ein Witz?

    Mir schreiben oft Eltern – meine Leser:innen –, dass sie ihre Kinder dank Dni naschei shisni [Die Lüge, erschienen bei Hoffmann & Campe, in der Übersetzung von Maria Rajer] besser verstehen, dass sie angefangen haben, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Das stärkt doch die Familie, was könnte traditioneller sein?!

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  • Ilja Jaschin

    Ilja Jaschin

    „Leute, macht euch keine Sorgen, alles ist gut.“1 Er ist ein junger Mann, Ende 30, mit Brille und leichtem Bart, ein Lächeln im Gesicht, und er wird die nächsten achteinhalb Jahre im Gefängnis verbringen. Wenn er dann entlassen wird, darf er für weitere vier Jahre kein Internet mehr nutzen. Dieses Urteil hat ein Moskauer Gericht am 9. Dezember 2022 gegen den russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin verhängt.

    Nachdem er für mehr als 20 Jahre gegen Putin und Autokratie in Russland gekämpft hat, ist für Ilja Jaschin damit der Moment gekommen, in dem er dem anderen bedeutenden oppositionellen Politiker nachfolgt: Alexej Nawalny, der ihn als seinen „ersten Freund, den ich in der Politik getroffen habe“ bezeichnet.2 Weil er „Fake-Nachrichten“ über die russische Armee verbreitet habe, wurde Ilja Jaschin zu dieser Haftstrafe verurteilt. Um welche „Fakes“ es dabei geht? Um die Verbrechen, die die russische Armee in Butscha begangen hat. Jaschin hat darüber auf seinem sehr populären Youtube-Kanal gesprochen. 

    Der Grad der Zermürbung der Opposition ist beachtlich in Russland. Und gleiches gilt für die Anzahl der Inhaftierungen. Es ist nicht so, als sei Jaschin nicht gewarnt gewesen. Als ob das politische Klima – und das Schicksal seiner Mitstreiter – nicht schon genug wäre, war Jaschin auch bereits mehrfach zu Strafen verurteilt worden, ein eindeutiger Wink der Behörden, dass er in Russland nicht länger erwünscht ist.

    Ilja Jaschin selbst bezeichnet sich als „linksliberal“: „Die höchste Priorität in der Politik hat für mich das menschliche Leben. Ich bin gegen Sozialdarwinismus … Aber ich bin kein Linker (lewak) im traditionellen Sinn … Ich bin ein normaler, europäischer Linksliberaler.“3 
    Seine politische Karriere führte ihn von der Oppositionspartei Jabloko, die eher links einzuordnen ist, zur eher rechtskonservativen PARNAS. Aber solche Zuschreibungen wie „links“ und „rechts“ sind im russischen Kontext eher irreführend: Ilja Jaschin ist in erster Linie ein Liberaler und ein Demokrat. Er möchte erklärtermaßen, dass Russland eine Demokratie und ein Rechtsstaat wird.

    Ilja Jaschin wurde 1983 in Moskau geboren, in eine Familie, die der „technisch-wissenschaftlichen Intelligenzija“ angehörte. Seine Eltern arbeiteten in einem Forschungslabor für Strahlenphysik und in den 1990ern hatten sie einen kleinen Familienbetrieb.4 In jedem Fall führte ihn nicht die Rebellion gegen sein Elternhaus in die Politik.5 Seine Familie war vielmehr eine „Jabloko-Familie“, die in der Küche viel über Politik diskutierte.6 Jaschin studierte Politikwissenschaften in Moskau und schrieb seine Abschlussarbeit über ein sehr praxisnahes Thema: Organisationsmethoden des Aktivismus. Seine Promotion fing er an, beendete sie aber nicht, sondern ging stattdessen zur Praxis über.

    Zwischen Parteibüro und Straßenprotest

    So begann Jaschins politische Karriere noch in einer ganz anderen Ära, als man noch von einer Opposition in Russland sprechen konnte, die, in seinen Worten, „als Ergebnis eines legalen Vorgangs an die Macht kommen kann“.7 Dies sei im Russland von heute so unmöglich geworden, dass „Opposition“ vor allem bedeutet: „die Wahrheit zu sagen und zu versuchen, die Öffentlichkeit entsprechend zu informieren … es geht eher um Dissidententum als um Opposition“8. Jaschin ist ein hartnäckiger Politiker, ein Mann mit Prinzipien, und das seit mehr als 20 Jahren, während derer es viele Gelegenheiten für Kompromisse – oder Kompromittierung – gegeben hätte. Er hielt sich fern vom Big Business, pflegte einen bescheidenen Lebensstil und ging nie auf politische Projekte ein, die offensichtlich vom Kreml lanciert worden waren.9

    Jaschin war im Jahr 2000 in die Politik gegangen, als Putins militärische Rhetorik („Wir werden die Terroristen überall verfolgen […], wenn wir einen auf dem Klo erwischen, legen wir ihn um“10) und Taten – der zweite Tschetschenienkrieg – noch ganz am Anfang standen. Im Gespräch mit Juri Dud sagte Ilja Jaschin später über diese Zeit, dass er den Tausch von Freiheit gegen Sicherheit als eine „Zeitbombe“ empfunden habe, die die Zukunft Russlands gefährde.11 Und Jabloko, so fügte er hinzu, sei damals die einzige größere Partei gewesen, die gegen den Krieg in Tschetschenien eingetreten sei. 

    Jaschin stieg in den Reihen von Jabloko, vor allem ihres Jugendverbandes, auf. Wahlniederlagen hatten die Moral der alten Garde stark angeschlagen, was wiederum ein Segen für aufstrebende junge und energetische Kräfte wie ihn war. Sie sehnten Taten herbei und wollten unbedingt das Partei-Image als zahmes Mitglied der Intelligenzija loswerden. Als Jabloko nicht mehr im Parlament vertreten war, wurde der Bedarf nach neuen Protestformen nur noch größer. Und Jaschin war nicht der einzige, der nach Erneuerung strebte, sondern mit ihm tat dies zur gleichen Zeit und in der gleichen Partei noch Alexej Nawalny.

    JASCHIN UND NAWALNY

    Vergleiche zwischen Jaschin und dem bekannten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sind kaum vermeidbar. Beide sind ethnische Russen, gut befreundet und fast aus der gleichen Generation, Nawalny ist nur sieben Jahre älter. Vor mehr als 20 Jahren waren sie beide bei Jabloko in Moskau aktiv, teilten sich Büros und unternahmen, jeder auf seine Art, von dort aus den Versuch, die russische Opposition zu erneuern. Zunächst ging es ihnen vor allem um einen Generationswechsel, darum, die alte Garde abzulösen, von der sie das Gefühl hatten, dass ihr Weg nirgendwo hinführt. So beschreibt Jaschin rückblickend die Haltung, die sie beide verbunden habe.12 

    Beide Politiker unterscheiden sich aber auch voneinander. Während Nawalny für sein hitziges Temperament bekannt ist, gilt Jaschin als eher besonnen. Aber, wie auch Nawalny, beschreiben ihn Beobachter als „entschlossen, ehrgeizig, selbstbewusst und mit dem kulturellen Kapital und Charisma ausgestattet, das eine politische Führungspersönlichkeit ausmacht“.13 Zugleich haben sie auch politische Differenzen: Jaschin war stets immun gegenüber nationalistischen Tönen, wie sie zu Nawalnys frühem politischen Programm gehörten14.

    „Als der Krieg begann, wusste ich sofort, was ich tun muss. Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen.“ – das Bild zeigt Jaschin in früheren Zeiten, als Straßenprotest noch zugelassen wurde /Foto © Bio-photos/wikimedia unter CC BY-SA 4.0
    „Als der Krieg begann, wusste ich sofort, was ich tun muss. Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen.“ – das Bild zeigt Jaschin in früheren Zeiten, als Straßenprotest noch zugelassen wurde /Foto © Bio-photos/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Von 2001 bis 2005 stand Jaschin Jablokos Moskauer Jugend vor. Die Orangene Revolution in der Ukraine beeindruckte ihn sehr, er fuhr auch zum Maidan nach Kyjiw.15 Schließlich wurde Jaschin zum „informellen Anführer“ von Oborona, einer nichtregistrierten Jugendorganisation, die junge Liberale versammelte. Inspiriert war sie von ähnlichen Jugendbewegungen, die eine bedeutende Rolle bei den sogenannten Farbrevolutionen spielten, wie etwa in der Ukraine, aber auch während der Massendemonstrationen in Serbien16. Abseits von institutionalisierter Politik und Wahlen versuchte Oborona den Kampf gegen den Autoritarismus zu erneuern und auf die Straße zu bringen. Hinzu kam die Idee, statt auf die üblichen Protestformen auf provokante Performances und Flashmobs zu setzen.17 So gelang es Jaschin und anderen Aktivisten, mit Bergsteigerequipment ein Banner an einer Brücke nahe des Kreml zu installieren, auf dem stand: „Gebt den Bürgern die Wahlen zurück, ihr Dreckskerle!“

    Überzeugter Wahlkämpfer – auf verlorenem Posten

    Oborona war jedoch nicht darauf ausgerichtet, in Wahlkämpfe einzusteigen, das war ein anderes Feld, während Jaschin schon zu dem geworden war, was sein Freund Alexis Prokopijew, der ihn damals kennenlernte, als „europäischen Politiker“ bezeichnete: „In Frankreich oder Deutschland wäre er ein Abgeordneter oder Minister gewesen, mit Leichtigkeit! Er hat es einfach drauf.“18 Jaschin war bereit, stundenlange Überzeugungsarbeit zu leisten, Wahlkampf zu führen – wie etwa Jahre später in der ländlichen Region Kostroma, wo er vor einer Handvoll älterer Menschen in irgendwelchen Höfen auftrat. 

    2008 war er Mitbegründer von Solidarnost, einer Bewegung, die sich den heiligen Gral des russischen Liberalismus zum Ziel gesetzt hatte: die Einheit seiner sich bekriegenden Lager und Gruppierungen. Und Solidarnost gelang es tatsächlich, Politiker der unterschiedlichen Strömungen zu vereinen, darunter Boris Nemzow, einen der bekanntesten russischen Liberalen. Doch Jabloko missfiel Jaschins Engagement außerhalb der Partei, die bei Solidarnost Menschen wähnte, deren „politischer und persönlicher Ruf inakzeptabel“19 sei. Jaschin wurde aus der Partei geschmissen. Er selbst war davon überzeugt, der eigentliche Grund für den Rauswurf sei seine Kritik an Parteiführer Grigori Jawlinski gewesen, dem dominierenden Gründungsmitglied von Jabloko.

    Jaschin wurde nun zum engen Verbündeten und Freund von Boris Nemzow, folgte seinem politischen Mentor in die liberale Partei PARNAS. Nach der Ermordung Nemzows im Februar 2015 führte Jaschin zusammen mit seiner Parteikollegin Olga Schorina dessen letztes politische Projekt zu Ende: einen Bericht über den Krieg im Osten der Ukraine.20 Beide waren der Überzeugung, dass „der Versuch, den Krieg zu stoppen, der eigentliche Patriotismus“ sei.21

    Gegen Wahlfälschung 

    Gleichzeitig mobilisierte Jaschin auch die Leute, auf die Straßen zu gehen: Am 5. Dezember 2011 organisierte Solidarnost eine Protestaktion gegen Wahlfälschung in Moskau. Die Demo war ein unerwarteter Erfolg. Jaschin war unter denen, die nach der offiziellen Kundgebung noch zur Lubjanka marschierten. Diese nicht genehmigte Aktion brachte ihm 15 Tage Haft ein.22 Diese Demonstration wurde zum Ausgangspunkt der Bewegung für freie Wahlen, der bis heute wichtigste Protestzyklus unter Putin. Die Bewegung für freie Wahlen gab Jaschin, der schon ein talentierter und erfahrener Redner war, eine noch größere Bühne. Er war schließlich auch unter denen, die sich im März 2012 weigerten, den Puschkinplatz im Zentrum Moskaus zu verlassen – einen Tag, nachdem die offiziellen Wahlergebnisse Putins Rückkehr ins Präsidentenamt vermeldeten. Dies brachte Jaschin eine weitere Arreststrafe ein.23

    Was Jaschin wie auch vielen anderen russischen Oppositionellen versagt blieb, war eine Chance auf echte politische Macht, um etwas für die Menschen zu bewegen. All seine bisherigen Anläufe bei Wahlen waren zum Scheitern verurteilt.24

    Vor dem Hintergrund verschärfter Repressionen sah Jaschin (wie auch andere Demokraten) jedoch eine Möglichkeit, sich das bescheidenste mögliche Ziel zu setzen – die unterste politische Ebene. In Moskau bedeutete das, Stadtverordneter zu werden. „Er wollte Erfahrungen in einer echten Regierung sammeln“, erinnert sich der Oppositionspolitiker Maxim Reznik. „Er wollte zeigen, dass er sich um Hausmeister, Versorgungsdienste und Bürgersteige kümmern kann.“25 2017 kandidierte Jaschin im Moskauer Bezirk Krasnoselski, und sein Team fegte durch die Versammlung. In jenem Jahr starteten liberale Oppositionelle als Demokratische Koalition eine Kampagne, die genau auf diese Bezirksebene abzielte, und sie funktionierte. Jaschin konnte den Vorsitz der Bezirksversammlung übernehmen und die wenigen Befugnisse, die er hatte, nutzen. Natürlich waren das keine großen Sprünge: Hilfe bei der Wohnungssuche, die Einrichtung eines „Sozialtaxis“, das Gehbehinderten den Weg zum Arzt erleichtern sollte – wofür er den ihm zugeteilten Dienstwagen umnutzte. Jaschin hatte die nächsten Wahlen im Jahr 2019 im Visier, die höhere Ebene: die Moskauer Duma. Doch schließlich durften die meisten Oppositionskandidaten gar nicht erst antreten. Jaschin trat von seinem Vorsitz zurück und blieb einfacher Abgeordneter. Als Nawalnys Organisationen 2021 als „extremistisch“ eingestuft wurden, wurde bald auch Jaschin zum „Extremisten“ erklärt, weil er mit ihnen zusammenarbeitete.

    „Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen“

    Den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verurteilte Jaschin vorbehaltlos – was ihm schließlich zum größten Verhängnis wurde. Als im März ein neues Gesetz „gegen Fake News“ verabschiedet wurde, wusste Jaschin, dass man ihn belangen würde. Er entschied sich dafür, in Russland zu bleiben, und war sich im Klaren über das Risiko, das er damit einging: „Die Botschaft des Staates war ziemlich unmissverständlich: Entweder du hältst den Mund oder du verlässt das Land oder du wanderst in den Knast.“26 Er machte eine Liste, um für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, ging beispielsweise zum Zahnarzt, und hakte sie Punkt für Punkt ab.27 Schließlich wurde er festgenommen und kam in Untersuchungshaft.

    In seinem Schlusswort vor Gericht am 5. Dezember 2022 lässt er keinen Zweifel daran, dass er diesen Weg ganz bewusst gegangen ist: „Tu, was du tun musst, egal, was kommt. Als der Krieg begann, wusste ich sofort, was ich tun muss. Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen und mit all meiner Kraft das Blutvergießen beenden.“28
    Noch ist es zu früh, um abzusehen, was es für Ilja Jaschin bedeuten wird, Jahre seines Lebens im Gefängnis zu verbringen – das Schicksal so vieler Regimekritiker in Russland. 


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    „Es muss eine völlig andere Aufmerksamkeit für Tonfall und Worte geben“

    „Wir hoffen, dass wir auch vielen Soldaten helfen konnten, zum Beispiel mit Ausrüstung und einer einfachen Grundausstattung an der Front.“ Mit diesem Satz hat TV-Host Alexej Korosteljow im unabhängigen Fernsehsender Doshd am vergangenen Donnerstag, 1. Dezember 2022, einen Skandal ausgelöst. Es waren zunächst ukrainische Aktivisten und Journalisten, die auf die Äußerung hinwiesen. Korosteljow selbst und auch Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko entschuldigten sich. Korosteljow schrieb, seine Worte seien „aus dem Kontext“ gerissen worden, was für weitere Kritik sorgte. In Lettland, von wo der exilierte Sender derzeit arbeitet, wurde eine Überprüfung eingeleitet. Manche Stimmen warfen Doshd sogar vor, für den russischen Geheimdienst zu arbeiten. 

    Schließlich verkündete der Sender die fristlose Kündigung Korosteljows, der seit Jahren für Doshd arbeitet und eines der bekanntesten Gesichter des Senders ist. Dies wiederum sorgte für einen Sturm der Entrüstung unter russischen Exiljournalisten. Zwei weitere populäre Doshd-Moderatoren, Margarita Ljutowa und Wladimir Romenski, gaben aus Solidarität mit Korosteljow ihren Rücktritt bekannt. Auch Korosteljows Lebensgefährtin Darina Lukutina kündigte ihren Rücktritt beim Fernsehsender an. „Ich verstehe nicht, wie ein Angestellter geopfert werden kann, um einem Staat zu gefallen, noch bevor dieser Staat ein solches Opfer verlangt hat“, schrieb sie auf Facebook.

    In den Chor an Stimmen, die den Vorgang in den Sozialen Medien heftig diskutierten, mischte sich auch die bekannte Journalistin Xenia Larina, die auch für The Insider und Echo Moskwy arbeitet. Auf Telegram nimmt sie Doshd wie auch Korosteljow in Teilen in Schutz, mahnt zugleich aber eine fehlende Selbstkritik für den gesamten unabhängigen russischen (Exil-)Journalismus an.

    Ich habe die besagte Episode gestern nicht live gesehen, sondern heute, als der Skandal schon auf allen Kanälen tobte.
    Zunächst schrieb ich unterstützende Worte für Ljoscha Korosteljow, dann für Tichon Dsjadko. Später dann sah ich Katja Kotrikadses Stellungnahme zu Beginn der Nachrichten, die Stellungnahme der Redaktion von Doshd mit Erklärungen und Entschuldigungen und mit der Entscheidung, Korosteljow zu entlassen. Das waren herzzerreißende Worte. Katerina ist tough und willensstark, sie hat ihr Gesicht und ihre Haltung in den schwierigsten Live-Situationen unter Kontrolle – hier und jetzt konnte sie die Tränen fast nicht zurückhalten. An ihrem emotionalen Zustand war zu erkennen, wie schwer die Entscheidung über die Entlassung ihres Kollegen war, einen der besten Journalisten von Doshd.

    Doshd-Chat-Bot macht die Verbrechen der russischen Machthaber gegen ihre eigenen Bürger deutlich

    Heute nun habe ich den Beitrag für einen ukrainischen Sender kommentiert. Und habe natürlich gesagt, dass in Live-Situationen niemand vor Fehlern, Versprechern und falschen Bewertungen gefeit ist, vor „Schnitzern“. Und dass ich überzeugt bin, dass es in Alexejs Worten keinen bösen Vorsatz gab.
    In den Doshd-Nachrichten wird regelmäßig hingewiesen auf den Telegram-Chat-Bot für Anrufe und Nachrichten der Mobilisierten und ihrer Angehörigen. Dieser Kommunikationskanal macht die Verbrechen der russischen Machthaber gegen ihre eigenen Bürger deutlich, zeigt die Abscheulichkeit des Regimes, seine ständigen Lügen und seine Verachtung für das eigene Volk.

    Alexejs Worte haben den Sinn dieser Aktion völlig entstellt und pervertiert

    Alexejs Worte haben den Sinn dieser Aktion völlig entstellt und pervertiert. Ja, das war ein missglückter Versuch, dieser kargen Ansage „etwas Persönliches“, etwas „Menschliches“ hinzuzufügen.

    Das passiert jedem. Aber nicht jeder moderiert Live-Sendungen während eines ungeheuerlichen Krieges, der von einem Staat entfacht wurde, dessen Bürger du bist. Hier muss es eine völlig andere Aufmerksamkeit für Details, Tonfall und Worte geben. Und hier stellt sich die überaus wichtige Frage, die überhaupt nicht diskutiert wird in der russischsprachigen Journalisten-Community, unter Journalisten im Exil:

    Sind die gewohnten Standards des Journalismus anwendbar, wenn man einen Pass des Aggressor-Landes besitzt?

    Wer sind wir? Wen vertreten wir? An wen richten wir uns in russischer Sprache? Sind die gewohnten Standards des Journalismus – des freien, professionellen Journalismus – in Kriegszeiten anwendbar, noch dazu, wenn man einen Pass des Aggressor-Landes besitzt? Der ganze Pluralismus, all das „die andere Seite zu Wort kommen lassen“, all die freien Meinungen und Äußerungen? Und was ist überhaupt „die andere Seite“, wenn es die Seite der Invasoren und die Seite der Opfer gibt? Darf man sich das in politischen und militärischen Konflikten als Journalist aussuchen? Finden wir immer den richtigen und genauen Ton, verletzen wir nicht die Grenzen fremder Freiheiten und Rechte, während wir uns außerhalb von Russland befinden? Ich glaube, das sind sehr wichtige Fragen. 

    Wir alle sind besudelt in diesem Krieg und haben kein Recht auf eine besondere Aufmerksamkeit

    Wir alle sind besudelt in diesem Krieg. Und wir haben kein Recht darauf, eine besondere Aufmerksamkeit für uns einzufordern, niemand ist uns Hilfe schuldig dabei, diesen Schmutz abzuwaschen, niemand ist verpflichtet, sich in unsere Situation hineinzuversetzen, uns Visum und Arbeitserlaubnis auf dem Silbertablett zu servieren. Wenn es eine kollektive Schuld und eine kollektive Verantwortung gibt, dann ist die Art und Weise, wie sich jeder identifiziert, persönlich.

    Die Position von Doshd, die mehrfach von deren Journalisten ausgesprochen wurde, ist offensichtlich und braucht keine Bestätigung, denn schon die Sendungen von Doshd sind dafür das wichtigste Zeugnis: Sie bezeichnen den Krieg als Krieg, Russland als Aggressor und Putin als Verbrecher. Das ist das Wichtigste. Und es ist die persönliche Entscheidung eines jeden Journalisten, sich zu einer Redaktion zusammenzuschließen, deren Prinzipien vollständig mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen. 

    Ich habe keine Zweifel, dass Alexej Korosteljow dieselben Prinzipien vertritt, dass er einfach einen „unpassenden Scherz“ gemacht hat, um es in den Worten Bulgakows zu sagen. Ich unterstütze Alexej und bin sicher, dass er nicht ohne Arbeit bleiben wird. Und ich verstehe und akzeptiere die Entscheidung der Doshd-Spitze, die in schwerem Kreuzfeuer steht – sie werden aus allen Richtungen mit Steinen beworfen, von den eigenen Leuten, von anderen, von Europäern und von Russen, von Ukrainern und Letten … Aber sie machen ihre Arbeit. Und sie machen sie gut. Ihren Beitrag zum Sieg über das Böse zu bewerten, steht noch aus. Aber der Sieg ist gewiss. 

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  • Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Eine umfassende Retrospektive des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov ist noch bis 15. Januar im Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) zu sehen: Journal ukrainien – Ukrainian Diary umfasst 800 Fotografien. Mikhailov, der aus dem ostukrainischen Charkiw stammt, widmet diese Ausstellung der Ukraine und allen, „die unter dem heimtückischen und unerklärlichen Angriff auf unser Land leiden“. Kunstkritiker Anton Dolin hat sie für Meduza besucht. 
     

    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 81 x 61 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo

    Heute, da alle Augen auf die Ereignisse in der Ukraine gerichtet sind, könnte man in der umfassenden Retrospektive des Fotografen Boris Mikhailov eine opportunistische Geste sehen. Doch der 84-jährige Charkiwer gilt längst – spätestens seit Anfang der 1990er Jahre – als lebender Klassiker und als ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat. Von allen Preisträgern des renommierten Hasselblad Foundation Awards (so etwas wie der Nobelpreis für Fotografie), stammt er als Einziger aus dem postsowjetischen Raum. Boris Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt.

    Ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat

    Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Mikhailov in der UdSSR verbracht, dann ging er nach Deutschland, wo er auch heute noch lebt. Er bezeichnet sich jedoch ausschließlich als Ukrainer. Und wer würde ihm da widersprechen.

    Er dokumentierte den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahrzehnte der ukrainischen Unabhängigkeit so schonungslos und poetisch wie kein anderer. Mikhailov fasst seine Bilder stets in Zyklen oder Serien zusammen: U Semli (Am Boden, 1991) ist inspiriert von Gorkis Na dne (dt. Am Boden bzw. Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe). Sumerki (Dämmerung, 1993) wirkt wie durchdrungen von blauem Dunst. Das monumentale Promsona (dt. Industriegebiet, 2011) entstand im Donbass. Und Tschai, Kofe, Kaputschino (dt. Tee, Kaffee, Cappuccino, 2000–2010) ist eine scharfsichtige Chronik des postsowjetischen Chaos in seiner Heimatstadt Charkiw.

    Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt

    All diese Bilder sind noch bis 15. Januar 2023 in der Pariser Retrospektive zu sehen. Nach einem Besuch der Ausstellung scheint es, als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich.

    In der UdSSR dokumentierte Mikhailov unermüdlich die sapreschtschjonka – also alles, was verboten war (russ. sapret – Verbot). Weil man bei ihm Aktaufnahmen fand, verlor er seine Arbeit als Elektroingenieur. Er war immer darauf aus, das Unscheinbare, Ungeschönte – scheinbar Zufällige – aufzuspüren und sichtbar zu machen. In der Fotoserie Luriki (1971–1985) kolorierte und „verschönerte“ Mikhailov wiederum fremde Familienfotos. Und in SozArt (1975–1985) hübschte er auf diese Weise seine eigenen Reportagefotos von Demonstrationen und anderen offiziellen Veranstaltungen auf.

    Sehr eindrucksvoll ist die Krassnaja serija (dt. Rote Serie, 1968–1975), die die offiziöse Sowjetwelt als ein Sammelsurium von wunderlichen Sonderlingen und Monstern à la Hieronymus Bosch zeigt. So ist Mikhailov bereits in seinen frühen Arbeiten ohne viele Worte mit seinen Zeitgenossen in einen Dialog über Ästhetik und Zweck der Kunst getreten.

    Die Bruchstelle zwischen Sein und Bewusstsein spürt der Fotograf in der Serie Soljanyje osera (dt. Salzseen, 1986) auf. Sie zeigt Urlauber in der Gegend bei Slowjansk: Das Wasser des Stausees, in den die umliegenden Fabriken ihre giftigen Abfälle kippten, hielten die Menschen ganz aufrichtig für heilsam, seinem Schlamm schrieben sie Wunderqualitäten zu. Doch Mikhailovs Bandbreite erschöpft sich bei weitem nicht im grotesken Verlachen des einfachen Bürgers. Die Serie Tanzy (Tanz, 1978) dokumentiert eine Tanzveranstaltung im Charkiwer Stadtpark mit so viel Liebe und Ehrfurcht, dass man die müden, zerknitterten, vom Dauerstress zermürbten Helden dieser Bilder sofort umarmen möchte.

    Mikhailovs gesammeltes Werk umfasst auch Arbeiten, die den Ereignissen auf dem Maidan gewidmet sind. In der höchst beeindruckenden Serie Teatr wojennych deistwi. Akt II. Antrakt (dt. Kriegsschauplatz. 2. Akt. Pause, 2013–2014) wirkt es, als würde er die Tatsachen heranzoomen, ihnen einen neuen Maßstab verleihen.

    Die Pariser Ausstellung trägt nicht zufällig den Titel Ukrainisches Tagebuch: Ein eigener Saal ist Mikhailovs Fototagebuch gewidmet, das er schon sein ganzes Leben führt. Hier sind die Serien nicht chronologisch angeordnet – das liegt daran, dass viele der Bilder im Laufe von 20 bis 30 Jahren entstanden sind.

    Als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich

    In der Exposition mischt sich das Epische mit dem Lyrischen. Auf der einen Seite ist da der Zyklus Soljanyje osera, auf der anderen – der Krymski snobism (Snobismus auf der Krim, 1982), in dem der Künstler voller Selbstironie seine eigenen, ganz orthodox-sowjetischen Ferien am Meer zeigt. Auf der einen Seite das metaphysische Wjaskost (dt. Klebrigkeit, 1982), dessen Titel allein schon den Geist des Stillstands atmet, auf der anderen – das avangardistische Neokontschennaja dissertazija (dt. Unvollendete Dissertation, 1984), in dem Mikhailov eine unfertige wissenschaftliche Arbeit, die jemand weggeworfen hat, als Ready-Made benutzt und die Seitenränder mit wie zufälligen Fotos und philosophischen Kommentaren spickt.

    Ein eigener Raum ist der Skandal-Reihe Istorija bolesni (dt. Krankengeschichte, 1997–1998) gewidmet: Sie zeigt Portraitaufnahmen von Obdachlosen, die durch Mikhailovs Kameraobjektiv an die tragischen Helden von Caravaggio oder Rembrandt erinnern. Von manchen provokanten Arbeiten möchte man den Blick abwenden, aber es geht nicht – sie brennen sich augenblicklich ins Gedächtnis ein, verbleiben dort wie Narben. Die Fähigkeit, das Sakrale im Profanen zu sehen, das Ergreifende im Abstoßenden, das Schöne im Hässlichen – das ist es, woran man ein großes Talent erkennt.

    Die provokante Serie von Selbstportraits Ja ne Ja (dt. Ich bin nicht Ich, 1992), in der der Künstler nackt mit Dildos vor der Kamera posiert, ist im Stil eines Slapstick-Stummfilms gehalten. Oder die nach heutigem Maßstab noch gewagtere Serie Esli by ja byl nemzem (dt. Wenn ich Deutscher wäre, 1994): Mikhailov richtet die Kamera mit derselben bestechenden Ehrlichkeit und demselben vernichtenden Sarkasmus auf sich selbst wie auf seine Umgebung.

    Letzten Endes lässt sich das Subjektive nicht vom Objektiven trennen, deshalb dokumentiert ein wahrer Fotograf die Wirklichkeit immer in dem gleichen Maße, in dem er sie bricht. Hervorragend illustriert wird dieser Gedanke in der Dia-Show Wtscheraschni Buterbrod (dt. Butterbrot von gestern, 1960er–1970er Jahre), in dem „mangelhafte“, ausgemusterte Aufnahmen sich zum psychedelischen Soundtrack von Pink Floyd abwechseln und plötzlich eine unerwartete, oft frappierende Schönheit entfalten.

    Den Schlussakkord der Ausstellung bildet eine weitere Dia-Show: das prophetische Ispytanije smertju (dt. Prüfung durch Tod, 2014–2019), das von der modernistischen Architektur eines sowjetischen Krematoriums inspiriert ist.

    Die Ausstellung präsentiert die künstlerische Biografie des Fotografen als von einer Idee durchdrungen, die besonders heute wichtig und wertvoll ist: Mikhailov zeigt, wie komisch, verletzlich und unvollkommen der menschliche Körper, der Krankheit und Alter unterworfen ist, sein kann. Und doch ist er stärker als die vermeintliche Unerschütterlichkeit ideologischer Konstrukte und der Schönheitsideale, die sie propagieren.

    Die Bilder des Maidan fügen sich in diesen Gedanken gut ein: Sie handeln nicht von einem mystischen „Volk“, sondern von Menschen, die in der Lage sind, Trugbilder zu besiegen, allen voran den Mythos von der großartigen sowjetischen Vergangenheit. Mikhailov ist im Laufe seines langen Lebens Zeuge verschiedener Epochen geworden. Es bleibt zu hoffen, dass er bald das Ende des Krieges dokumentieren wird, der jetzt in seiner Heimat, der Ukraine, geführt wird.  

           

    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 61 x 81 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wjaskost, 1982. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 30 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie , 1991. Silbergelatine-Abzug, Sepia getönt, 11,5 x 29,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    National Hero, 1991. C-Print, 120 x 81cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Ja ne ja, 1992. Silberabzug, 30 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 15 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie « Salt Lake », 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Soljanyje osera, 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print, 130 x 180 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print, 172 x 119 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Tagebuch-Serie, 1973–2016. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 29,7 x 21 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris

    Original: Meduza
    Fotos: Boris Mikhailov
    Text: Anton Dolin
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am: 01.12.2022

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