„Plötzlich durchbohrt eine Nadel mit aller Wucht deinen Nagel und dringt in den Finger ein. Fünf Sekunden lang begreift das Bewusstsein nicht, was geschehen ist. […] Erst nach fünf Sekunden überrollt dich eine Welle aus Schmerz: Wow, schau nur, dein Finger ist auf die Nadel gefädelt. Deswegen kannst du die Hand nicht rausziehen. Ganz einfach. Vielleicht kannst du einfach fünf Minuten mit dem Finger so dasitzen, aber mehr nicht. Du musst weiternähen. Bist du etwa die erste, die sich den Finger durchsteppt? Ein Pflaster willst du? Woher denn? Du bist hier im Lager, Kleines.“1
So erinnerte sich die Kunstaktivistin Nadeshda Tolokonnikowa aus der Punk-Band Pussy Riot an die Arbeit im Straflager. Die Verurteilung von drei Mitgliedern der Band zu zwei Jahren Haft, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet aufgeführt hatten, löste weltweit Empörung und Mitgefühl aus. Das hatte nicht nur mit dem politischen Hintergrund zu tun, vor dem das Urteil fiel, sondern auch mit den Bedingungen der Lagerhaft an sich. Die Berichte der „prominenten Häftlinge“ machten vielen Menschen schlagartig bewusst, dass der Strafvollzug für Frauen im heutigen Russland nicht mit einem Gefängnisaufenthalt im üblichen Sinne zu vergleichen ist, sondern die Verbringung in entlegene Lagerkomplexe, fernab von Familie und Freunden, bedeutet. Harte Arbeit, Entbehrungen und Widrigkeiten prägen den Lageralltag.
Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen / Foto aus der Reihe „Otdelenije“ von Elena Anosova
Die spezifische (vormoderne) Einheit von Exil und Haftstrafe hat in Russland eine lange Tradition. Sie reicht bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück, hat mehrere Systemwechsel überdauert und kulturell tiefe Wurzeln geschlagen.
Trotz gewisser Reformen und Erleichterungen des Strafvollzugs, die nach dem Ende der Sowjetunion in Angriff genommen wurden, blieben manche Merkmale des Gulags erhalten, eines umfassenden Straflagersystems, das in der Stalinzeit entstand. Dieses Erbe prägt den Strafvollzug bis heute. Dazu gehört vor allem die spezielle Lagergeographie, vorzugsweise an der Peripherie, und die damit verbundene Loslösung der Straftäter aus der ihnen vertrauten Umgebung, ihre vollständige Abschottung von der Gesellschaft.
Exil plus Haft
Frauen sind von der doppelten Belastung durch Exil plus Haft viel häufiger betroffen als männliche Straftäter. Denn nur ein geringer Teil der rund 750 russischen Straflager sind Frauenlager, und gerade diese befinden sich durchweg an der Peripherie (zum Beispiel in Mordwinien, der Komi-Republik oder in Sibirien). Daher müssen deutlich mehr Frauen als Männer die Haft weit entfernt von ihren Heimatorten verbringen.
Nach langen strapaziösen Fahrten in speziellen Eisenbahnwaggons am entlegenen Bestimmungsort angelangt, dürfen sie pro Jahr sechs kurze (vier Stunden) und vier lange (drei Tage) Verwandtenbesuche im Jahr erhalten. Viele Angehörige können sich die zeitaufwändigen und kostenträchtigen Reisen jedoch nicht leisten. Weibliche Häftlinge kommen seltener in den Genuss, weil insbesondere Ehemänner weniger geneigt sind, die Haftzeit durch Besuche zu mildern und gemeinsam auf die Freilassung zu warten. Viele lassen sich schnell scheiden, ohne die bestehenden Kontaktmöglichkeiten (Anrufe, Briefe, Pakete) ausgeschöpft zu haben.2 In der Folge müssen Frauen viel häufiger als Männer nicht nur mit dem Verlust der Freiheit zurechtkommen, sondern auch mit dem Schmerz darüber, im Stich gelassen worden zu sein.
Verrat an der Weiblichkeit
Frauen bilden nur eine kleine Minderheit aller Straftäter. Insgesamt beträgt der Anteil weiblicher Häftlinge heute weniger als ein Zehntel der gesamten Häftlingsgesellschaft. Gleichwohl steigt die Zahl der von Frauen verübten Straftaten seit Ende der Sowjetunion kontinuierlich an. Auch das Spektrum hat sich erweitert: zu klassischen Delikten wie Diebstahl kommen inzwischen illegale Bankgeschäfte, Betrugs- und Kreditvergehen, Hooliganismus sowie Drogenkriminalität hinzu.3
Erkennbar ist ebenfalls ein zunehmendes Vordringen von Frauen in den Bereich der Gewaltverbrechen, von Einbrüchen und Raubüberfällen bis hin zu Tötungsdelikten. Damit gleicht sich das Profil straffällig gewordener Frauen in Russland dem der westlichen Industriegesellschaften an, ist also mitnichten außergewöhnlich. Doch unterliegen straffällig gewordene Frauen innerhalb der russischen Gesellschaft einer wohl noch stärkeren Stigmatisierung als männliche Straftäter, werden ihnen doch außer der Gesetzesverletzung zusätzlich der Verrat an ihrer Weiblichkeit und der bewusste Bruch mit der kulturell determinierten Geschlechterolle vorgeworfen.
Das Leben vor aller Augen
Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert: Es beginnt mit der einheitlichen Anstaltskleidung (dunkle Röcke und weite Jacken, weiße Kopftücher), die die individuellen Frauen zu einer ununterscheidbaren Masse vereinheitlichen. Das Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen, bedeutet, die Nachtruhe in überfüllten Schlafbaracken, in eng nebeneinander stehenden Doppelstockbetten zu verbringen. Die dort angebrachten Namensschilder enthalten Angaben über den Strafrechtsparagraphen, das Ankunfts- und Entlassungsdatum. Die Gemeinschaftswaschräume und Toiletten haben keine Türen, gewähren also keine Intimität.
Es gibt in den Frauenstraflagern nur öffentliche Räume und somit keinerlei Privatsphäre. Man könnte von einer Art sozialer Gefangenschaft sprechen, die durch Schikanen des Aufsichtspersonals und durch das Spitzelwesen unter den Häftlingen noch verschärft wird.4 Begründet wird diese Art des Strafvollzugs mit dem Ziel der Resozialisierung, also der Einübung von gesellschaftlich akzeptiertem Sozialverhalten.
Während in Deutschland beim Resozialisierungsgedanken auch die psychologische Betreuung der Häftlinge, Fortbildungs- und Freizeitangebote sowie Bewährungshilfen nach der Entlassung eine Rolle spielen, geht es im russischen Fall vor allem darum, gesellschaftlich konformes Verhalten mit konkreten Erwartungshaltungen an eine Frau, an deren Weiblichkeit und Häuslichkeit, zu fördern. So werden regelmäßig Schönheits- beziehungsweise Hausfrauenwettbewerbe veranstaltet. Auch das Raumdekor im Straflager – Rüschengardinen und Topfblumen – soll die Bewohnerinnen tagtäglich an ihre zukünftigen Aufgaben in einer patriarchalen Gesellschaft erinnern. Der Aufenthalt im Lager soll also vor allem die Refeminisierung der weiblichen Häftlinge bewirken.
Straf-Einzelzelle als Luxus
Für manche Frauen ist der Mangel an Privatsphäre neben der räumlichen Isolation die schlimmste Hafterfahrung. Dagegen helfen Strategien des inneren Rückzugs (Lesen, Fernsehen, mentale Abschottung während der Arbeitszeit) oder die bewusste Suche nach Orten und Zeiten des Alleinseins. Um wenigstens einige Tage für sich sein zu können, trauen sich manche Frauen, gezielt Regeln zu überschreiten. So kommen sie für eine gewisse Zeit in eine Straf-Einzelzelle. Für diesen Luxus werden sogar verschärfte Haftbedingungen in Kauf genommen.
Beziehungen zu anderen Mithäftlingen können unter Umständen mehr Wohlbefinden, eventuell sogar Nähe herstellen. Obwohl Straflager nicht gerade als vertrauensfördernde Institutionen gelten, entstehen auch dort nicht nur zweckmäßige, sondern auch emotionale Beziehungen unter Frauen. Das Spektrum reicht von Freundschaften und Netzwerken über sogenannte „Spiel- beziehungsweise Ersatzfamilien“ bis hin zu verdeckt geführten gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen (die verboten sind und geahndet werden).5
Gearbeitet (das umfasst zumeist Näharbeiten für Armee- oder Polizeizwecke, die Herstellung von Arbeitskleidung sowie das Bemalen von Matrjoschkas und gegessen wird ebenfalls im Kollektiv, abteilungsweise. Laut gesetzlicher Vorschrift soll der Arbeitstag nicht länger als acht Stunden dauern. Doch Tolokonnikowa berichtete 2013 aus ihrem Lager in Mordwinien, dass dort täglich 16 bis 17 Stunden gearbeitet werden müsse, um die Produktionsnorm zu erfüllen. Praktisch handele es sich um Zwangsarbeit, für den sie einen Monatslohn von 29 Rubeln (damals weniger als ein Euro) erhalten habe. Täglich produzierte ihre Brigade 150 Polizeiuniformen, die Norm war von einem Tag auf den anderen um 50 Stück erhöht worden (wiederum nicht den Vorschriften entsprechend). Wurden die Vorgaben nicht erfüllt, drohten der gesamten Brigade empfindliche Strafen.6
Ungewissheit und Zumutungen der Freiheit
Wenn die Haftzeit überstanden ist, folgt für viele Frauen die wohl schwierigste Phase: der Übergang vom Lageralltag mit seinen festen Regeln und seiner Subkultur in die Freiheit, die mit Ungewissheit und Zumutungen verbunden ist. Es droht der tiefe Fall in das sogenannte Entlassungsloch. Staatliche Hilfen gibt es nicht. Wenn, dann bleibt nur die Unterstützung von Familie und Freunden. Die wenigen bestehenden bürgerrechtlichen Organisationen etwa die Bewegung Rus sidjaschtschaja (EinsitzendeRus) oder die von Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina gegründete Organisation Sona prawa (dt. Die Zone des Rechts) kümmern sich unter anderem um Hilfe für entlassene Frauen. Da aber die gesellschaftliche Ablehnung spürbar ist,7 fallen die eben Entlassenen schnell wieder in alte Gewohnheiten zurück und landen bald erneut im Lager.
Zum Weiterlesen:
Pallot, Judith/Piacentini,Laura (2012): Gender, Geography, and Punishment: The Experience of Women in Carceral Russia, Oxford
Pallot, Judith (2015): The Gulag as the Crucible of Russia’s 21st-Century System of Punishment, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 16 (3), S. 681-710
Pallot, Judith/Katz, Elena (2017): Waiting at the Prison Gate: Women, Identity, and the Russian Penal System, London, New York
Tolokonnikowa, Nadja (2016): Anleitung für eine Revolution, München ↩︎
Pallot, Judith (2008): Continuities in Penal Russia: Space and Gender in Post-Soviet Geography of Punishment, in: Lahusen, Thomas/Solomon, Peter H. Jr. (Hrsg.): What is Soviet Now? Identities, Legacies, Memories, Berlin, S. 253; dies. (2015): The Topography of the Spatial Continuity of Penality and the Legacy of the Gulag in Twentieth and Twenty-First Century Russia, in: Laboratorium 7 (1), S. 100 ↩︎
Katz, Elena/Pallot, Judith (2010): From Femme Normale to Femme Criminelle in Russia: Against the Past or Towards the Future, in: New Zealand Slavonic Journal 44, S. 123-125 ↩︎
Moran, Dominique/Pallot, Judith/Piacentini, Laura (2009): Lipstick, lace, and longing: constructions of femininity inside a Russian prison, in: Environment and Planning D: Society and Space 27, S. 714; dies. (2013): Privacy in penal space: Women’s imprisonment in Russia. In: Geoforum 47, S. 141-142; Al’pern, Ljudmila (2004): Son i jav’ ženskoj tjur’my, St. Petersburg, S. 25; Zekovnet.ru: Ženščina v tjur’me↩︎
Omelchenko, Elena (2016): Gender, Sexuality, and Intimacy in a Women’s Penal Colony in Russia, in: Russian Sociological Review 15 (4), S. 86-89 ↩︎
Siehe auch den Beitrag über straffällig gewordene Mütter, denen nach der Entlassung soziale Ablehnung und Hilfeverweigerung entgegenschlägt, was ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich macht: „Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen“: dekoder.org: „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder“ ↩︎
„Von diesem Abend“, so sagt Kirill Serebrennikow, Leiter des Moskauer Gogol Centers, „werden wir noch unseren Enkeln erzählen.“ Zu Gast ist Swetlana Alexijewitsch. Es ist ihr erster öffentlicher Auftritt in Moskau, seit sie 2015 den Literaturnobelpreis erhielt.
Die Belarussin, die in der Ukraine geboren ist und auf Russisch schreibt scheint selbst ein homo (post-)sovieticus, dem sie in ihren Büchern nachgeht. In ihren „Stimmen-Collagen“ behandelt sie die großen Themen, wie den Großen Vaterländischen Krieg, den Afghanistan-Krieg oder den Alltag während und nach den wilden 1990ern. Die Geschichten, die ihre Protagonisten erzählen, wirken dabei wie eine Gegenerzählung zur offiziellen Propaganda, zu sowjetischen Mythen und „Heldengeschichten“.
Bis heute positioniert sich Alexijewitsch politisch, kritisiert das Regime Alexander Lukaschenkos in Belarus oder den Krieg in der Ostukraine. Das macht ihr nicht nur Freunde. Unlängst erschien auf Regnum ein Interview mit der Schriftstellerin, das diese abgebrochen und dessen Veröffentlichung sie untersagt hatte. Während des Gesprächs ist der Journalist Sergej Gurkin die Schriftstellerin immer wieder für ihre Positionen angegangen. Als Alexijewitsch beispielsweise Verständnis für „den ukrainischen Kampf gegen die russische Sprache“ – wie es Gurkin ausdrückte – äußerte, unterstellte er ihr, den Leuten verbieten zu wollen, in der Sprache zu sprechen, in der sie denken. Gurkin führte das Interview ursprünglich für das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg, das sich jedoch gegen den Abdruck entschied. Schließlich publizierte er den Text bei der Nachrichtenagentur Regnum, die für ihre kremlfreundlichen Positionen bekannt ist. Auf Social Media waren sowohl das Interview selbst als auch die Vorgehensweise des Journalisten heftig diskutiert worden. Gurkin wurde von Delowoi Peterburg entlassen.
An dem Abend im Gogol-Zentrum jedoch blieben ähnliche Zwischenfälle aus. Die Novaya Gazeta druckt die Rede von Swetlana Alexijewitsch ab: Sie ist ein bedingungsloses Plädoyer für den Frieden.
Ich glaube, das, was ich heute sagen will, kann man nicht als Vortrag bezeichnen: Ein Vortrag braucht Distanz. Bei dem Thema Ich will nicht über den Krieg schreiben habe ich die nicht – es ist das Thema, das mich in den 40 Jahren meiner Tätigkeit am meisten bewegt hat.
Als ich in Afghanistan war, sah ich einen unserer Soldaten. Gerade noch hatte er unsere Dokumente kontrolliert – und als wir den Generalstab verließen, lag er tot da. Getötet nicht von Naturgewalten, sondern von einem anderen Menschen. Ich bin absolute Pazifistin. Niemand wird mich überzeugen, dass das menschliche Leben mit irgendetwas aufzuwiegen ist – es ist ein Gottesgeschenk, und wir haben es nicht bekommen, um im Donbass oder in Syrien zu sterben. Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen, aus diesem System aussteigen und nicht daran teilnehmen. Ich glaube, unsere Nachkommen werden uns für Barbaren halten, weil wir so mit dem menschlichen Leben umgehen.
Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen
Die Köchinnen, die am Zweiten Weltkrieg teilnahmen, erzählten, sie hatten riesige Kessel. Darin kochten sie Brei und Suppe für 400 bis 500 Menschen, aus der Schlacht kamen dann aber nur zehn zurück. Sie kamen völlig verändert wieder, wussten nicht, wer sie waren, konnten den anderen nicht in die Augen sehen. Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht. Ich glaube, das ist uns in der Verherrlichung des Sieges entglitten. Das ist ein Sieg, der sich kaum von einer Niederlage unterscheidet.
Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück. Jetzt sind wir fast bis ins Mittelalter zurückgeworfen. Als ich durch Moskau fuhr, sah ich unglaublich viele Menschen, die irgendeiner religiösen Zeremonie beiwohnten. Das ist eine Form der Flucht vor dem, was derzeit passiert. Eines Tages sind wir von dem rechten Weg abgekommen, den wir scheinbar eingeschlagen hatten, aber auf dem wir doch nie ins 21. Jahrhundert geschritten sind.
Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht
Als ich im Jahr 2000 in Europa war, freuten die sich für uns, sagten: „Endlich gehört ihr zu uns.“ Die Angst vor dem Atomkrieg hatte die Welt gelähmt. Wir müssen verstehen, wie wir wieder zu Kriegsmenschen wurden, warum wir vergessen haben, was uns die Väter erzählten.
Für mein Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht erzählte mir eine Frau: Bei Verkündung des Kriegsendes verschossen sie und ihre Kameraden die gesamte Munition aus dem Waffenarsenal – Granaten, Patronen – hintereinander weg. Am nächsten Tag kam eine Kommission in diese Einheit und wollte die Schuldigen finden – und alle waren aufrichtig erstaunt: Wieso denn? Die Leute dachten, nach all den Tränen, all dem Leid könne es nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut – „zu radioaktiver Asche“ soll da jemand werden.
Die Leute dachten es könne nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut
Mir scheint, Frauen und Kinder verfügen über ein Wissen um den menschlichen Irrsinn, der sich auf welche Weise auch immer in unserer Natur festgesetzt hat. Eine meiner Heldinnen sagte: „Ich erzähle Ihnen von einem solchen Krieg, bei dem sogar ein General kotzen muss“ – das ist eine der besten Geschichten in dem Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Sie erzählte: Wenn der Nahkampf beginnt und die Leute ganz dicht voreinander stehen, verschwindet der Mensch und es bleibt nur mehr Biomasse. Wenn sie einander in Augen und Bäuche stechen, wenn sie nicht schreien, sondern brüllen, wenn einzig der Instinkt funktioniert – dann zeigt sich, dass wir eigentlich nur hauchzart mit Kultur bestäubt sind.
Viele Frauen, die den Krieg erlebt haben, sagten, man müsse nicht über den Sieg reden und sich daran erinnern. Erinnern müsse man sich an die Erfahrung, ein Mensch zu bleiben, nicht zu töten. Neulich habe ich im Fernsehen gesehen, wie Soldaten von Blasmusik begleitet in den Donbass geschickt werden. Aber ich finde, heute ist der ein Held, der nicht schießt.
Wenn der Nahkampf beginnt, dann verschwindet der Mensch und es bleibt nur ein biologisches Wesen
Dostojewski hat in seinen Tagebüchern davon geschrieben, wie viel Mensch im Menschen steckt. Es sind gar nicht so viele, die darüber nachdenken und persönliche Verantwortung für das Weltgeschehen übernehmen. Nicht einmal die heutige Religiosität hat dazu geführt. Sondern sie hat alle zu einer Art Volkskörper gruppiert, der bekanntlich fühlt, aber nicht denkt.
In meinen Büchern will ich Versionen von Menschen zeigen, die aus verschiedenen Perspektiven auf ein bestimmtes Ereignis blicken. Eine Pilotin hat den einen Krieg erlebt, eine Frau, die im Nahkampf war, einen anderen, und eine MG-Schützin einen dritten. Aber alle sagten hinterher: Hauptsache, man sieht dem, auf den man schießt, nicht in die Augen. Denn Krieg verlangt Dumpfheit, nur so kann man töten.
Strelkow sagte, im Donbass sei es in der ersten Woche am schwierigsten gewesen, die Leute dazu zu bringen, aufeinander zu schießen. Weil man dafür aus Friedenszeiten heraustreten muss an einen Ort, wo man für etwas, wofür man normalerweise eingesperrt wird, Medaillen bekommt. Und am Anfang haben die Leute das ungern gemacht, gezwungenermaßen.
Als ich im Krieg war, wurde mir klar, dass ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ein anderer wird und nicht mehr der ist, den die Mama zum Beispiel in die Ballettschule gebracht hat. Als ob sich ein Dämon einnisten würde, ernährt von Kriegskultur, die unsere Gesellschaft durchdringt und bedingungslos beherrscht.
Ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ist nicht mehr der, den die Mama einst zum Ballett gebracht hat
Das Böse ist besser trainiert als das Gute. Die Kunst hat übrigens eine dunkle Seite, die vom Bösen inspiriert ist.
Im Krieg habe ich gesehen, wie viel Schönheit es da gibt, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen – wenn Geschosse im Nachthimmel fliegen, wenn die Kameraden abends singen, jeder in seiner Sprache. Im Angesicht des Todes offenbaren die Menschen das, was sehr tief in ihnen verborgen liegt. In den ersten Wochen meiner Zeit in Afghanistan stieß ich auf eine Ausstellung moderner Waffen. Der Mensch hat sehr viel Zeit dafür aufgewendet, das Böse schön zu machen.
In Zukunft erwarten uns noch schrecklichere Kriege – nicht mehr Mensch gegen Mensch, sondern Mensch gegen Natur. Sie wird uns auf die Probe stellen, wie bei Fukushima. Ein starker Taifun kann die Zivilisation in einen Haufen Müll verwandeln.
Im Krieg habe ich gesehen, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen
Ich war in Tschernobyl, als die Leute von dort evakuiert wurden. Ein Soldat sagte, eine Frau dort bekämen sie nicht einmal gewaltsam aus ihrem Haus gezerrt. Als ich hinkam, sah sie mich, allein unter Männern, und sagte: „Kindchen, ist das denn Krieg? Schau, die Vögel fliegen, sogar eine Maus hab ich heut früh gesehen, unsere Soldaten sind hier – und ich soll diesen Grund und Boden verlassen?“ Die Welt ringsum ist unverändert – der Himmel, die Blumen, die Erde scheinbar so, wie wir sie kennen. Doch auf die Erde darf man sich nicht setzen, die Blumen darf man nicht pflücken, die Früchte nicht essen. Das neue Böse hat keinen Geruch. Du hörst es nicht und spürst es nicht, weißt nicht, auf wen du schießen sollst. Tschernobyl hat die Menschen von einer Realität in die andere geworfen. Als ich durch diese Zone fuhr, fühlte ich mich weder als Russin noch als Belarussin noch als Französin, sondern als Vertreterin einer biologischen Art, die vernichtet werden kann. Wir haben sehr in die Zukunft geschaut, aber tun so, als wäre nichts geschehen.
Tschernobyl hat alles verändert. Was bedeutet „nah“ und „fern“, wenn am vierten Tag die radioaktiven Wolken über Afrika schweben? Was heißt „unsere“ und „fremde“: Wir haben in Belarus keine eigenen Atomkraftwerke, aber der Wind wehte ein paar Tage von der Ukraine in den Norden, und Tschernobyl wurde auch unser Problem.
Was wir heute Krieg nennen, sieht nicht mehr so aus wie früher. Das Böse hat viele neue Gesichter, die wir oft nicht auseinanderhalten können. Für die Zukunft sind wir überhaupt nicht bereit.
„Und geboren bin ich, wie zu erwarten, in der Johannisnacht, vom 23. auf den 24. Juni, aber es lohnt nicht, darauf besonders hinzuweisen“1, notiert 1957 die bald 70-jährige Anna Achmatowa. Geboren in der geheimnisvollen Midsummer Night, zur slawisch-heidnischen Sonnenwendfeier Iwan-Kupala, so heißt es, nicht weniger aufgeladen, in Varianten. Der Anfangssatz einer nie realisierten Autobiographie ist in seiner doppelbödigen Widersprüchlichkeit charakteristisch für die Poetik des nur auf den ersten Blick Klaren und Einfachen.
Ein Dichten oftmals der kleinen Form, der direkten, dinglichen Sprache und doch im Modus der Andeutung, des Nicht-Zuendesprechens und Verschweigens, damit ist Achmatowa als große Lyrikerin in die Weltliteratur eingegangen.
Das rhetorische Ablenkungsmanöver rund um die biographische Information enthüllt mehr als es verdeckt. Hier ist von einem Ursprungsmythos die Rede, der im wortreichen Verschweigen die vielversprechende Geburt einer Dichter-Prophetin verkündet. Deren wortkünstlerische und in Achmatowas Deutung hellsichtige Gabe brachte frühen Ruhm. Doch bald darauf folgten Verleumdung, Einsamkeit und erzwungenes Verstummen für viele Jahre.
Rätselhafte Königin der Bohème-Cabarets
Geboren als Anna Andrejewna Gorenko 1889 in Odessa, am 11. Juni alten Stils, und aufgewachsen in Zarskoje Selo, dem Städtchen um die prächtige Sommerresidenz des Zaren, begann sie früh zu dichten. Ihren nom de plume Anna Achmatowa borgte sie sich von der Urgroßmutter, einer angeblich tatarischen Prinzessin aus dem Geschlecht des Khan Achmat.
Zu Beginn der 1910er Jahre die lyrische Entdeckung der Petersburger Literatenkreise, war die rätselhafte Königin der Bohème-Cabarets Streunender Hund und später Rastplatz der Komödianten als 20-Jährige bereits eine Berühmtheit. Sie stand mit ihren Dichterfreunden Ossip Mandelstam, Nikolaj Gumiljow und anderen für die neue Bewegung des Akmeismus (von griech. akme: Gipfel, Höhepunkt, Blütezeit), die dem in die Jahre gekommenen Symbolismus und seinen Verweisen auf die Transzendenz eine Poesie der Dinge, der Diesseitigkeit und der „wunderschönen Klarheit“ (Michail Kuzmin) entgegensetzte.
Die frühen Gedichte „nicht über die Liebe“ waren von extremer Kürze und riefen mit ihren punktuell angedeuteten Sujets den Eindruck von Tagebucheinträgen, intimen Beichten, autobiographischen Skizzen hervor.
Wir müssen den Abschied üben. Schlendern zu zweit herum. Es dämmert. Wir gehn im Trüben. Du grübelst. Ich bleibe stumm. […]
Aus welchen Unratecken / Unschuldig wachsen Vers und Reim
Diese Art zu Dichten, das Erzählen in Versen auf knappstem Raum mit konkreten Settings, sinnlichen Details (ein auf die linke Hand gezogener rechter Handschuh, eine kalt bleibende Hand auf dem Knie, die wiederkehrende Irisfärbung des „grauäugigen Königs“), ebenso wie die Psychologie der lyrischen Stimmen und die lakonische Sprache fanden umgehend eine große Schar von Nachahmerinnen. In ihrem in den 1960er Jahren zusammengestellten Zyklus Geheimnisse des Handwerks beschreibt Achmatowa die Besonderheit ihrer Poetik selbst mit den Versen:
Ach, wüßtet ihr, aus welchen Unratecken Unschuldig wachsen Vers und Reim, Wie gelber Löwenzahn vor wilden Hecken, Wie Melde wächst am Rain.3
Und sie kommentiert mit einem Vierzeiler die mit dem eigenen Schaffen bereits beantwortete Frage nach einer möglichen Rollenverkehrung von Muse zu Dichterin – durchaus auf mehrdeutige Weise:
Und Beatrice – schuf sie wie Dante Verse? Berühmte Laura je der Liebe Glut? Nun lehrte ich die Frauen sprechen … Wie bringt man sie zum Schweigen, großer Gott?
Allerdings wurde die Lehrmeisterin selbst schon bald zum Schweigen gebracht. 1922 erschien ihr auf viele Jahre letzter Gedichtband. Im Jahr zuvor hatte die neue Macht im Land Nikolaj Gumiljow, den Vater ihres Kindes, wegen angeblicher Beteiligung an der monarchistischen Tanganzew-Verschwörung hingerichtet. Ihre Dichtung war in der Presse als „bourgeois“ und „gestrig“ gebrandmarkt worden. Ein geheimer Parteierlass schloss die Dichterin für Jahrzehnte von allen Veröffentlichungsmöglichkeiten aus. Freunde und Weggenossen verließen das Land oder Schlimmeres. Achmatowa aber blieb und schwieg:
Nein, nicht unter fremden Himmelsweiten, Nicht schützte mich ein fremdes Flügelpaar, – Ich war mit meinem Volk in jenen Zeiten, Dort war ich, wo mein Volk, zum Unglück, war.
Erst Anfang der 1940er Jahre konnten wieder Verse erscheinen. Die Dichterin trat sogar im Leningrader Radio auf, als die deutschen Truppen die Stadt eingeschlossen hatten. Die Blockade überlebte sie, schwer an Typhus erkrankt, in der Evakuation in Taschkent. Was ihrem Publikum jedoch verborgen blieb, war ihr Rekwijem (dt. Requiem), ein in den Jahren 1935 bis 1940 entstandener Gedichtzyklus über den Terror. Denn als die Not am größten war, man Sohn und Ehemann zum wiederholten Male verhaftete und die stalinistischen Säuberungen ihren Höhepunkt erreichten, hatte Achmatowa in Verse gefasst, was niemand auszusprechen wagte.
In voller Länge verschriftlichte Achmatowa diese Gedichte allerdings erst Ende 1962. Die zum Schweigen gezwungene Dichterin vertraute ihre Verse nur dem Gedächtnis der engsten Freunde an und verbrannte das Papier, auf dem sie geschrieben standen, in einem immer wiederkehrenden Ritual. Und auch dann konnten sie als Ganzes nur im Ausland erscheinen. In der Sowjetunion erlaubte man erst 1987, während Glasnost und Perestroika, ihr Requiem unzensiert zu drucken. Denn 1946 hatte die Dichterin erneut der Bannstrahl der Partei getroffen,6 und erst nach Stalins Tod unter Chruschtschow durfte sie in den Literaturbetrieb zurückkehren.
Poem ohne Held
Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie mit der Rekonstruktion verlorener, verbrannter und vergessener Gedichte, der anhaltenden Neuordnung ihrer Zyklen. Sie schrieb an Prosaprojekten, die ihre Interpretation der Geschichte fassen sollten, und schloss ihr großes, um 1940 begonnenes Alterswerk ab, die rätselhafte Versnovelle Poem ohne Held. Erste Auszüge, die von schrecklichen Schatten aus dem letzten Vorkriegsjahr 1913 erzählen, die der Autorin zum Neujahrsfest erscheinen, hatte sie schon 1941 Marina Zwetajewa bei deren Begegnung in Moskau vorgelesen.
Die kommentierte, so Achmatowas Erinnerung, süffisant: „Man muss schon über große Kühnheit verfügen, um im Jahr 41 über Harlekins, Kolombinen und Pierrots zu schreiben.“7 Und doch liegen die Gemeinsamkeiten zwischen 1913 und 1941 auf der Hand, wie erst unlängst Dimitri Bykow hervorgehoben hat, der das Poem ohne Held eine „Prophezeiung“ nennt.8 Denn schon einmal hatte Achmatowa am Vorabend einer historischen Katastrophe, als sich die Menschen noch in trügerischer Sicherheit wiegten, den alltäglichen Torfbränden um die Stadt schrecklichere Weltbrände abgelesen und in ihrem Gedicht Juli 1914 einen Einbeinigen prophezeien lassen:
Schreckenszeiten sind nahe, Frische Gräber dicht an dicht. Erwartet Hunger, erwartet Strafen Und der Sterne verfinstertes Licht.9
(Übersetzung: Birgit Veit)
Mythos „Anna Achmatowa“
Anna Achmatowa war von Anfang ihres Schaffens an zur Legende geworden. In vielen Gedichten, den frühen, wie den späten, in den fragmentarisch überlieferten Prosatexten und dem unvollendet gebliebenen Theaterstück Enuma Elish fügte sie den über sie kursierenden Geschichten, den Erinnerungen der Zeitgenossen und den Konstruktionen ihrer Leserschaft ihre eigenen Lesarten vom Mythos „Anna Achmatowa“ bei.
Denn trotz wiederkehrender Diskreditierungen staatlicherseits, trotz jahrzehntelanger Publikationsverbote und Sippenhaft war und blieb die Dichterin eine lebende Legende: In den 1910er Jahren von den Zeitgenossen in Versen besungen und zuweilen auch parodiert, in Gemälden, Fotografien und Skulpturen verewigt, später in oft quasi-dokumentarischen Memoiren und Romanen gespiegelt und zum fiktionalen Leben wiedererweckt,10 wurde Achmatowa von den Lesern und insbesondere Leserinnen als Heldin der Nicht-Liebe vergöttert. Der Sowjetmacht war sie umso mehr verhasst.
Sie gilt bis heute Vielen neben Marina Zwetajewa als die Verkörperung der russischen Lyrik im 20. Jahrhundert. Man stilisierte sie zur „klagenden Muse“ (Marina Zwetajewa) und „russischen Sappho“, zu Carmen und Maria (Alexander Blok), Kassandra, Mnemosyne. Man schmähte sie „halb Nonne, halb Hure“ (Andrej Shdanow), und setzte die letzte Hoffnung in sie, als es galt, eine Chronistin für das Unaussprechliche der „schrecklichen Jahre des Justizterrors“ zu finden. Man sah in ihr die Gedächtnissängerin, die alle ihre Dichterfreunde und die grausamen Umwälzungen der Epoche überlebte und die Erinnerung daran in ihren Versen bewahrte.
Mit festen Attributen hat sie ihren Platz im kollektiven Gedächtnis nicht nur der russischen Leserschaft: Die junge, hochgewachsene Dichterin mit dem unverwechselbaren Profil, den Stirnfransen à la Parisienne, der Perlenkette, dem Schultertuch und später dann dem schlichten, dunklen Kleid; aber auch die verfemte, dem Vergessen anheim gegebene, und zuletzt die reife Dichterin, die „als Zarin der russischen Literatur“11 an ihrem Lebensende noch einmal im In- und Ausland Anerkennung erfuhr.
zum Weiterlesen:
Kusmina, Jelena (1993): Anna Achmatowa: Ein Leben im Unbehausten, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Berlin
Naiman, Anatoli (1992): Erzählungen über Anna Achmatowa: Mit einer Einleitung von Joseph Brodsky, aus dem Russischen von Irina Reetz, Frankfurt am Main
Mandelstam, Nadeschda (2011): Erinnerungen an Anna Achmatowa, aus dem Russischen von Christiane Körner und Pavel Polian, Berlin
Achmatowa, Anna (2013): Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne: Liebesgedichte, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Berlin
Achmatowa, Anna (1994): Im Spiegelland: Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Efim Etkind, München/Zürich
Achmatowa, Anna (1982): Poem ohne Held: Russisch-Deutsch, herausgegeben von Fritz Mierau, Nachdichtungen von Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Rainer Kirsch und Sarah Kirsch, Leipzig
Notizbücher, S. 448. Eintrag unter dem Titel „Vielleicht wird so meine Autobiografie beginnen“ ↩︎
Achmatowa, Anna (2013): Ich lebe aus dem Mond: Liebesgedichte, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Berlin, S. 58 ↩︎
Mne ni k čemu odičeskie rati (21.1.1940). Übersetzung: Ahrndt, Erich (2013): Anna Achmatowa: Unsrer Nichtbegegnung denkend: Gedichte 1911 bis 1964, Leipzig, S. 191 ↩︎
Achmatowa, Anna (1958): Poem ohne Held: Späte Gedichte russisch/deutsch, Leipzig, S. 99. „Mogla li Biče, slovno Dant, tvorit’, / Ili Laura žar ljubvi vosslavit‘? / Ja naučila ženščin govorit‘ … / No, Božе, как ich zamolčat‘ zastavit‘!“ Tajny remesla, 7. Epigramma (1958) ↩︎
Achmatowa, Anna (1958): Poem ohne Held: Späte Gedichte russisch/deutsch, Leipzig, S. 25. „Net! i ne pod čuždym nebosvodom / I ne pod zaščitoj čuždych kryl – / Ja byla togda s moim narodom, / Tam, gde moj narod, k nesčast’ju, byl.“ ↩︎
Der Leningrader Parteisekretär Andrej Shdanow eröffnete 1946 mit seiner Rede vor dem Schriftstellerverband über die Zeitschriften Swesda und Leningrad eine öffentlich ausgetragene Hetzkampagne gegen die Künste. In dieser wurde Achmatowa persönlich hervorgehoben und verunglimpft. Es erfolgten ihr Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und daraufhin ein erneutes Publikationsverbot. ↩︎
Achmatova, Anna (1989): Poėma bez geroja, herausgegeben von Timenčika, R. D., Moskau, S. 353 ↩︎
Deutsche Übersetzung zitiert nach: Buelens, Geert (2014): Europas Dichter und der Erste Weltkrieg, Berlin, S. 53, „[…] Sroki strašnye blizjatsja. Skoro / Stanet tesno ot svežich mogil. / Ždite glada, i trusa, i mora, / I zatmen’ja nebesnych svetil. […]“ ↩︎
Dalos, György (1996): Der Gast aus der Zukunft: Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin: Eine Liebesgeschichte, deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla, Hamburg; Kralin,Michail (1990): Artur i Anna, Leningrad; Zenkevič, Michail (1999): Elga: Belletrističeskie memuary, Berlin; Senkewitsch, M. (1999): Elga: Roman, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Düsseldorf ↩︎
Richter, Hans Werner (1965): „Euterpe von den Ufern der Neva oder die Ehrung Anna Achmatowas in Taormina“, Berlin-Friedenau ↩︎
Sie steht auf einem Felsen, am Horizont erheben sich weiße Wolken aus Fabrikschornsteinen. In der Hand hält sie einen Hammer, zu ihren Füßen liegt eine Sichel, über dem schlichten roten Kleid trägt sie eine rote Arbeitsschürze. Ihr Gesicht hat die junge Frau der strahlenden Sonne zugewandt, mit ihrer Hand weist sie auf prunkvolle Gebäude aus Stein hinter sich – auf eine Stadt der Zukunft. Die Unterschrift dieses Propagandabildes aus dem Jahr 1920 lautet: „Was die Oktoberrevolution den Arbeiterinnen und Bäuerinnen gegeben hat.“ Die Antworten gibt das Bild mit seinen Gebäuden, inklusive Kindergarten, einer Schule für Erwachsene und dem Sowjet der Arbeiter- und Bauerndeputierten. Gleich einer Handlungsaufforderung sieht der Betrachter Frauen und Kinder in diese mustergültige Stadt ziehen, die für den einst Unterdrückten attraktive soziale und kulturelle Anreize bieten soll.
Nur durch die Befreiung der Arbeiterklasse werde sich auch die Lage der Arbeiterinnen verbessern – diese Losung wurde beim Ersten Allrussischen Frauenkongress im Jahr 1908 laut. Sie kam von Alexandra Kollontai, der wichtigsten und schillerndsten Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung. Kollontai vertrat die Position, dass es auch einer eigenen Agitation der Frauen bedürfe. Sie, als überzeugte Feministin und Sozialistin aus gutem Hause, forderte Gleichberechtigung, ein zentrales Thema auf dem Kongress in Sankt Petersburg, an dem viele Vertreterinnen unterschiedlicher Frauenorganisationen teilnahmen. Es ging vor allem um das Wahlrecht für Frauen, um den Zugang zu höherer Bildung und zu neuen Berufen.
Die Frauenbewegung politisierte die Frauen: Am 23. Februar/8. März 1917 gingen sie auf die Straße. In Petrograd markiert eine Demonstration zum Internationalen Frauentag den Auftakt zur Februarrevolution.1 Die Frauen forderten Brot und Frieden – angesichts der schlechten Versorgung und den langen Kriegsjahren war das erste Priorität. Daneben klagten sie auch grundlegende Rechte ein, wie das bereits lang erhoffte Wahlrecht. Im Juli 1917 wurde es den Frauen in Russland zugesprochen.2
Vorstellungen von einer sozialistischen Zukunft
Doch nach der siegreichen Oktoberrevolution und der Machtübernahme der Bolschewikigalt es, die Theorie – nämlich die Vorstellungen einer sozialistischen Zukunft und Lebensweise – in die Praxis umzusetzen. Seit 1918 sollten zahlreiche Gesetzesmaßnahmen rasch zu einer neuen, gleichberechtigten Gesellschaft führen, darunter die Legalisierung von Ehescheidungen und Abtreibungen, ein vereinfachtes Ehegesetz, ein staatlicher Mutterschutz, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Bei diesem historischen Experiment bedachten die Machthaber anfangs jedoch nicht, wie ein Übergang zu schaffen sei, sprich: wie die vorhandenen Alltagsbedingungen mit den theoretischen Zielen in der Praxis vereinbart werden könnten.
Die Frauenfrage als wichtiger Bestandteil des Byt
Zur Benennung der verschiedenen Aspekte des Alltagslebens benutzten Zeitgenossen den Begriff Byt. Er umfasste sowohl Strukturen, wie soziale Einrichtungen, aber auch individuelle Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen.3 Wichtiger Bestandteil des neuen Byt war die Frauenfrage, unter der eine breite Einbeziehung von Frauen in die Arbeiterschaft verstanden wurde, indem reproduktive Arbeiten im Haushalt und in der Familie durch staatliche Institutionen übernommen werden sollten.
Die prägendste Person des bolschewistischen Feminismus wurde schließlich Alexandra Kollontai. Sie setzte sich für eine Vereinbarkeit von Haus-, Familien- und Lohnarbeit für Frauen ein und überlegte sich dafür praktische Umsetzungen.4Nach der Oktoberrevolution wurde sie Ministerin im ersten sowjetischen Kabinett unter Lenin. Zu dieser Zeit sind ihre Forderungen noch radikaler: Im November 1918 sprach sie über die Zerschlagung des familiären Haushalts und die Abschaffung der privaten Kinderbetreuung.5
Shenotdel – die Frauenabteilung
Bereits 1918 wurde dank der Beharrlichkeit von Inessa Armand, Alexandra Kollontai und anderen weiblichen Bolschewiki nach zähen Verhandlungen und trotz massiver Widerstände eine eigene Abteilung für Arbeiterinnen und Bäuerinnen beim Zentralkomitee der Partei geschaffen, das sogenannte Shenotdel (von Shenskij Otdel, dt. Frauenabteilung).6 Das Hauptanliegen des Shenotdel bestand in der Gleichstellung von Frauen durch die Schaffung eines neuen Byt. Damit war die gesellschaftspolitische Mobilisierung von Frauen gemeint, ihre Einbindung in die Arbeiterschaft, die Durchführung von Bildungsmaßnahmen, Errichtung von Krippen, Kindergärten, Kantinen, Wäschereien und medizinischen Beratungsstellen und so weiter.
Die Frauenabteilungen hatten maßgeblich Anteil an der Propagierung eines neuen Weiblichkeitsideals, das Ordnungssinn, moralische Integrität, Fürsorge für die eigene Familie und die Familie des Staates, gesellschaftliches Engagement, Erwerbstätigkeit und Mutterschaft beinhaltete und sich als Leitbild für die 1930er Jahre durchsetzte. Dennoch war das vorrangige Ziel immer die Frage, wie das neue Frauenbild in der sozialistischen Gesellschaft aussehen sollte, welche Schritte zur Erreichung der Emanzipation erforderlich waren.
Verlust revolutionärer Utopien
In der frühen Sowjetunion wurde die Frau zunächst als Sinnbild für die Segnungen der neuen Zeit mit zahlreichen Konnotationen aufgeladen: Sie symbolisierte Freiheit, Sozialismus, siegreiches Proletariat, ein besseres Leben und ein neues Menschenbild.7 Schon bald aber zeigte sich ein Verlust solcher revolutionärer Utopien. Die Forderung nach einer breiten Einbeziehung von Frauen in die Arbeiterschaft und somit einer schnellen Umsetzung des Gleichheitsanspruchs schien während des Bürgerkriegs durch eine hohe weibliche Erwerbstätigkeit greifbar nahe zu sein. Die Desillusionierung folgte bereits nach Beendigung des Krieges und durch den Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (Nowaja Ekonomitscheskaja Politika, NEP) im Jahr 1921. Die zurückkehrenden Männer verdrängten die Frauen wieder von den stellvertretend eingenommenen Arbeitsplätzen.
In Petrograd markiert eine Demonstration zum Internationalen Frauentag den Auftakt zur Februarrevolution
Bereits durch den Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik ab 1921 erfolgte eine Abkehr von den ursprünglichen Plänen zum Aufbau einer neuen Lebensweise. Dafür sind verschiedene Gründe zu nennen: vor allem aber die Erkenntnis der Machthaber, dass ein Wandel in den Lebensweisen sich nicht allein durch strukturelle Veränderungen, Gesetze und Propaganda vollziehen konnte, sondern ein von Beginn an nicht bedachter Übergang geschafft werden musste.
Rekonstruktion der patriarchalischen Geschlechterrollen
Als weiteres Problem erwiesen sich Vorstellungen einer Geschlechterordnung, die beharrlich eine männliche Dominanz und weibliche Unterordnung vorsah. Das schon bestehende Bild von Weiblichkeit wurde neuerlich bestätigt und patriarchalische, hierarchische Geschlechterrollen wurden rekonstruiert: Alle umzubauenden Bereiche des Byt galten als ausschließlich weibliche Belange. Ein entsprechendes soziales Engagement spiegelte die Tugendhaftigkeit der neuen Sowjetbürgerin. Aus einer ursprünglich biologischen Geschlechterdifferenz, die in der Gebärfähigkeit der Frau begründet lag, wurde nun – allerdings eher unbewusst und ungewollt – eine kulturelle und soziale Differenz aufgebaut, indem die Frauensache als etwas Besonderes definiert wurde und dadurch den Status einer speziellen Kategorie erhielt.8
Doppelbelastung
Entgegen den ursprünglichen revolutionären Zielen war die Arbeiterin keineswegs mit dem Mann gleichgestellt, sondern musste sich neben der Fabrikarbeit auch noch um Haushalt und Kindererziehung kümmern, weshalb sie am gesellschaftlichen Leben aus Zeitmangel nicht teilnehmen konnte. Spätestens seit der forcierten Industrialisierung zu Beginn der 1930er Jahre gehörte die Doppelbelastung von Beruf und Familie zur normalen weiblichen Biographie.9
Trotz nachweislicher Erfolge bei der Mobilisierung von Frauen und einem ständigen Anstieg an sozialen Einrichtungen verstärkte sich 1929/1930 von Seiten des Zentralkomitees der Partei die Kritik an den Frauenabteilungen und sie wurden ersatzlos „reorganisiert“.10 Mit dem Wegfall dieser Institution und den gleichzeitig einschneidenden Veränderungen in der politischen Führung, wo sogenannte linke Bolschewiki zum Schweigen gebracht wurden, wurden weitere Diskussionen über Lebensweisen, wie sie kontrovers, aber offen in den zwanziger Jahren geführt wurden, abrupt beendet. Nun galt es, so schnell wie möglich den „Sozialismus in einem Land“ durchzuführen, kritische Töne wurden von einer beschönigenden Propaganda abgelöst.
Altrichter, Helmut (2017): Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn, S. 112 ↩︎
Goldberg Ruthchild, Rochelle (2010): Equality & Revolution: Women’s Rights in the Russian Empire, 1905-1917, Pittsburgh ↩︎
Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija: Tom 8, Moskau, 1927 ↩︎
Kollontai, Alexandra (1979): Zwei Richtungen: (Aus Anlass der Ersten Internationalen Konferenz Sozialistischer Frauen in Stuttgart 1907), in: Dies.: Der weite Weg: Erzählungen, Aufsätze, Kommentare. hrsg. v. Bauermeister, Christiane u.a., Frankfurt am Main, S. 46-47 und Farnsworth, Beatrice Brodsky (1980): Aleksandra Kollontai: Socialism, Feminism, and the Bolshevik Revolution, Stanford/California, S. 136-161, S. 168 ↩︎
Während die Idee kollektiver Speiseeinrichtungen, Wäschereien und Konsumgenossenschaften zum Bezug von Lebensmitteln großen Anklang fand, empfanden viele Zuhörerinnen die Abschaffung der privaten Kinderbetreuung als bedrohlichen Eingriff in ihr privates Leben. S. Farnsworth: Kollontai S. 136-161, S. 168 ↩︎
Samojlova, K. (1920): Organizacionnye zadači otdelov rabotnic, Moskau und Scheide, Carmen (2001): Kinder, Küche, Kommunismus: Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Zürich/Basel ↩︎
Gillen, Eckhart (1978): Von der politischen Allegorie zum sowjetischen Montageplakat, in: Knödler-Bunte, Eberhard / Erler, Gernot (Hrsg.): Kultur und Kulturrevolution in der Sowjetunion, Berlin, S. 57-80; Bonnell, Victoria E. (1991): The Representation of Women in Early Soviet Political Art, in: Russian Review 50 (1991) S. 267-288 ↩︎
Auch die kritische Feministin Kollontai hatte nicht in Betracht gezogen, dass Kindererziehung, Kochen und Waschen durchaus Tätigkeiten waren, die von Männern durchgeführt werden könnten. ↩︎
Attwood, Lynne (1999): Creating the new Soviet Woman: Women`s Magazines as Engineers of Female Identity, 1922-1953, New York; Buckley, Mary (1989): Women and Ideology in the Soviet Union, New York ↩︎
Wood, Elizabeth A. (1997): The Baba and the Comrade: Gender and Politics in Revolutionary Russia, Bloomington und Goldman, Wendy Zeva (1996): Industrial Politics, Peasant Rebellion and the death of the Proletarians Women’s Movement in the USSR, in: Slavic Review 55/1, S. 46-77; Goldman, Wendy Zeva (1993): Women, the State and Revolution: Soviet Family Policy and Social Life, 1917-1936, Cambridge ↩︎
Russlands Dörfer verlieren ihre Bewohner. Wie anderswo auch, bieten die großen Städte oft mehr Jobs und Perspektiven – hier begünstigt dadurch, dass die Sowjetunion die Verstädterung einst massiv vorangetrieben hat. Russland ist mit offiziell rund 146 Millionen Einwohnern ohnehin dünn besiedelt. Es gibt Versuche, die Trends umzukehren: Gerade hat die russische Regierung etwa ein Programm gestartet, das mit geschenktem Grundbesitz in den Fernen Osten locken soll.
Was macht den Orten fernab der großen Städte zu schaffen? Unter welchen Bedingungen leben die Menschen dort? Und was tun, wenn qualifizierte Fachkräfte für die elementarsten Dinge fehlen? Zum Beispiel Pädagogen. Anna Bessarabowa hat für die Novaya Gazeta ganz besondere Lehrerinnen in der sibirischen Taiga begleitet: Das lokale Projekt Mobile Pädagogen soll die Dorfschulen retten.
Reportage aus verschneiten Winkeln, wo der Schulweg auch mal ein Trampelpfad übers Eis ist.
Im sibirischen Parabel ist es schon 10 Uhr abends, in Moskau erst 18 Uhr. Draußen ist es dunkel und kalt, 36 Grad unter Null. Blinzelst du, verkleben dir die Wimpern vor Kälte. Atmest du, frieren weiße Muster auf den Brillengläsern. Redest du, kommt es dir vor, als würdest du Plombir-Sahneeis in ganzen Stücken hinunterschlingen.
Mascha eilt voran wie ein Eisbrecher, wir laufen wie die Pinguine hinterher, um mitzuhalten. Maria Alexejewna Jurjewa, wie sie mit vollem Namen heißt, eine hübsche 24-Jährige, ist nach ihrem Biologie-Studium in Tomsk aufs Dorf zurückgekehrt. Tagsüber erklärt sie Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie mit ihrer Freundin, einer Erzieherin, Gewichte. Mittwochs fahren Mascha und noch zwei Lehrerinnen, die „Engländerin“ und die „Chemikerin“, wie man sie hier nennt, in verschiedene Dorfschulen. Seit September arbeiten sie in dem lokal angelegten Projekt Mobile Pädagogen mit und unterrichten in den abgelegensten Ecken des Bezirks Tomsk.
Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte
In der Siedlung Parabel wohnt man Haus an Haus mit Erdgas- und Erdölarbeitern. Das bringt hohe Mieten und teure Lebensmittel mit sich, denn die Preise richten sich nach den Löhnen dieser Arbeiter. Und so träumen alle Einheimischen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, davon, dass ihre Kinder einmal eine Ausbildung im Erdgas- und Erdölbereich machen werden. In den Dorfschulen aber fehlen Fachlehrer. Die Schulverwaltung von Parabel hat einen Ausweg gefunden. Man kaufte ein neues Auto, einen Chevrolet Niva, rekrutierte eine Gruppe von „Wanderlehrern“ und bringt sie nun bei jedem Wetter in gottverlassene Dörfer.
Morgen fahren wir zusammen mit Mascha nach Stariza. Sie ist gar nicht begeistert: Die Meteorologen haben 40 Grad Frost vorhergesagt. Der Weg in die Taiga ist menschenleer, es gibt keinen Empfang. Wie kommen wir da raus, wenn das Auto steckenbleibt?
Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern Zeit, um meine Wohnung zu renovieren
„Außerdem müssen wir über den Fluss fahren. Letzte Woche sind wir zu Fuß, ohne Auto rüber“, erinnert sich Mascha. „Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt. Da habe ich mich erschrocken. Aber der Fahrer hat den Trampelpfad übers Eis geprüft und gesagt: ‚Mädels, geht nur, bei euch hält das Eis.‘ Jetzt ist natürlich alles richtig gefroren, aber wenn wir doch mal steckenbleiben? Dort ist Wald, es gibt Bären. Die öffnen Autos wie Konservendosen.“ „Das ist doch spannend!“, antworten wir und werden mit einem Mal richtig munter.
Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei
„Ja, echt superspannend“, antwortet Mascha. „Wir haben hier Romantik pur: Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern Zeit, um meine Wohnung zu renovieren. Die knapse ich mir zwischen den Schulstunden ab. Ich unterrichte in Parabel und Stariza. Da bleibt mir nur ein Tag am Wochenende – der Sonntag. Gut, dass ich nicht noch in der zweiten Schicht am Nachmittag unterrichte, der Nachmittagsunterricht ist überhaupt das reine Armageddon.“
Mascha nimmt uns mit zu sich nach Hause. Zu ihrer Mietwohnung im ersten Stock einer Holzbaracke führt eine alte Treppe hinauf. Die Küche ist klein. Und das alles kostet sie 7000 Rubel [umgerechnet 115 Euro – dek] im Monat. Anders als andere Fachlehrer, die nach dem Studium aufs Dorf ziehen und dort arbeiten, hat sie keine kostenlose Wohnung und keine Million Rubel [rund 16.000 Euro – dek] Umzugsgeld bekommen – im Gebiet Tomsk gibt es so etwas nicht. Mascha ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen.
Wir trinken Tee, sprechen über ihre Eltern, die Nachbarn, die „die Lehrerin mit Gartenkürbis durchfüttern“, über aufgegebene Dörfer und über die „durchgeknallten Schüler in den Städten und die motivierten auf den Dörfern, für die es wichtig ist, sich hochzuarbeiten“. Als wir weg sind, bereitet Mascha ihren Unterricht vor. Morgen hat sie laut Stundenplan sechs Unterrichtsstunden. Sie muss lange vor Sonnenaufgang aufstehen.
„Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“
Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Der Mond hängt tief über dem Weg, draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei. Die Seitenfenster sind vereist. Alle wollen eigentlich schlafen. Aus irgendeinem Grund denke ich an die neue Bildungsministerin Olga Wassiljewa und an ihre Worte: „Als Lehrer zu arbeiten, ist eine Aufgabe, eine Mission. Heute sind es unsere Kinder, morgen sind sie das Volk“ – und an die Bewohner von Queyras aus Victor Hugos Roman Die Elenden. In dem Roman werden Schulmeister für Dörfer eingestellt, die selbst nicht in der Lage sind, Lehrer zu bezahlen. Und die wandern dann von einem Dorf zum anderen und unterrichten. Bei Hugo erkennt man die mobilen Pädagogen an Hüten mit Gänsefedern. Eine Feder bedeutet, dass sie nur Lesen und Schreiben unterrichten, bei zwei Federn unterrichten sie auch Rechtschreibung und Rechnen, bei drei Federn kommt noch Latein hinzu.
Unsere Mitfahrerinnen haben keine Federhüte. Mascha trägt Kopfhörer, sie hört Rammstein. Die Chemielehrerin Ljubow Alexejewna Safonowa trägt eine warme Mütze. Unterwegs schaut sie, ob ihr Handy Empfang hat, sie will ihre Tochter anrufen, die in die Schule muss. „Wärm dein Frühstück auf, zieh dich warm genug an.“ Sie sagt, was alle Mütter sagen.
Ljubow Alexejewna hat drei Kinder, sie hat sie allein großgezogen. Ihr ältester Sohn ist schon erwachsen. Auch ihre Kleinste wird in ein paar Jahren zum Studieren nach Tomsk gehen.
„Und dann verlasse ich Parabel“, sagt Ljubow Alexejewna noch, „vielleicht. Bis dahin aber fahre ich als mobiler Pädagoge herum … Sehen Sie, hier ist die Stelle, wo wir den Fluss überqueren.“
Als Erste gehen die Lehrerinnen über den Fluss. Dann schlittern der Fotoreporter und ich hinterher. Der Wagen folgt uns vorsichtig. Das Eis kracht und knackt wie ein gebrochener Zweig, das Auto beschleunigt. „Und wie kommen wir wieder zurück?“, fragen wir am anderen Ufer Fahrer Andrej Knaup.
„Wir fliegen einfach!“, sagt der und lächelt.
Den seltenen Familiennamen hat Andrej von seinem Großvater. Der war Opfer der stalinistischen Verfolgungen. Die Gegend war über Jahrzehnte ein Gebiet der Verbannung. Von hier war Josef Stalin im Jahr 1912 geflohen, nachdem er notgedrungen 38 Tage in Sibirien war, und hierhin wurden dann auf seinen Befehl zwischen 1930 und 1936 Tausende von Volksfeinden deportiert. Darunter waren viele Deutsche, Polen, Letten und Esten.
In Stariza empfängt die Direktorin der Mittelschule Maria Alexejewna Fritz die Wanderlehrerinnen. Während sie sich auf ihren Unterricht vorbereiten, schlendern wir durch die Gänge der Schule und beobachten die Kinder.
Es hat sich herumgesprochen, dass mit den Lehrerinnen „Moskauer angebraust kommen“, und die Einheimischen haben sich vorbereitet: Die Mädchen sind in den Stiefeln und Pelzmänteln ihrer Mütter zur Schule gekommen, die Lehrerinnen haben sich Festtagskleider angezogen, und im Speisesaal der Schule riecht es nach den selbstgebackenen Piroggen der Schulleiterin. Nur die Jungs kümmern sich nicht um dieses Getümmel, sitzen rum und hören russischen Rap. Im Sommer hatte ein junger Chemielehrer an der Schule in Stariza gekündigt. Er war frisch von der Uni gekommen, hatte ein Jahr gearbeitet und konnte dann nicht mehr. Aber wie soll es ohne ihn gehen? Die Kinder brauchen Biologie und Chemie für einen Studienplatz an der Polytechnischen Uni in Tomsk, für ihre Zukunft.
Was soll man tun, wenn man beispielsweise Erdölspezialist werden möchte, der mehr als 100.000 Rubel [1500 Euro – dek] im Monat verdient? Die Oberstufenschüler wollen das, und ihre Mütter wollen das auch, und so haben sie ein Ultimatum gestellt: „Findet ihr keinen Lehrer, schicken wir unsere Kinder aufs Internat in Tarsk und gehen eben selbst weg von hier.“
Da unter den Eltern auch hiesige Pädagogen waren, beschloss die Bildungsbehörde von Parabel, dass man lieber auf die Suche nach zwei Fachlehrern geht, als noch mehr Kollegen zu verlieren. Außerdem wurde im Herbst in der Oblast Tomsk ein Projekt gestartet, das den Lehrermangel beheben soll: die Mobilen Pädagogen. In diesem Rahmen bekamen die Bezirke auch Geld für neue Autos. Jetzt kommen die Mobilen Pädagogen den Dorfschulen zu Hilfe, aber spätestens 2025 werden sie die Schulen nicht mehr retten können. Experten prognostizieren, dass dann etwa 1700 Lehrer in der Region fehlen werden.
Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen
„Bei uns im Dorf gibt es 56 Schüler und 9 Vorschulhühnchen“, erklärt Schulleiterin Maria Alexejewna. „Bei den kleinen Kindern ist es einfacher, aber die älteren müssen das GIA und das EGE ablegen. Ich kann doch keinem Russisch- oder Mathelehrer sagen, er soll Chemieunterricht machen, wobei das Schulleitungen in anderen Gebieten Russlands tun. Aber wir haben uns Fachlehrer gesucht.“
Den Unterricht der Vorschulkinder hat in Stariza sowieso eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung übernommen, und die Werklehrerin Aljona Tichonowa unterrichtet auch Bildende Kunst und Erdkunde.
Aljona und ihr Mann Jewgeni Stoljarow, der das Fach Grundlagen der sicheren Lebensführung und Katastrophenschutz unterrichtet, haben zwei kleine Kinder. Um deren Erziehung kümmern sie sich in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, wenn sie nicht gerade Anwesenheitslisten ausfüllen oder Berichte verfassen: über die Lernentwicklung der Schüler oder die Qualität der eigenen Lehre oder andere Dinge.
„Wie leben wir? Ein Holzhaus, Kohleofen, das Wasser müssen wir von der Pumpe holen“, so beschreibt Aljona ihren Alltag. „Fürs Wäschewaschen musst du fünf Eimer Wasser ins Haus schleppen, geputzt wird sonntags, dafür braucht es zehn bis fünfzehn. Die Schulleiterin Maria Alexejewna holt ihr Wasser seit fast 30 Jahren von den Nachbarn.
Mit dem Handyempfang ist es vorbei, seit die Firma Wellcom pleite gemacht hat. Festnetz haben wir auch keins. Das Mobilsignal des Anbieters MTS kommt kaum durch. Von Internet ganz zu schweigen … Die Löhne sind bei uns völlig okay, dank der Zulagen, die man vom Staat für den Dienst in Dörfern und im Norden bekommt, aber in Saus und Braus leben wir nicht.
Mein Mann jagt und angelt. Ich kümmere mich um Haushalt und Garten. So leben die Lehrer hier. Die Betriebe haben alle zugemacht, der Bus nach Parabel fährt einmal am Tag, aber nur, wenn die Fähre in Betrieb ist. Eine Kranken- und Hebammenstation haben wir noch in Stariza, aber der Sanitäter ist nicht berechtigt, Krankschreibungen vorzunehmen, dafür muss man anderthalb Stunden nach Parabel fahren. Ich will Jewgeni überreden, in die Stadt zu ziehen, wenn unsere Töchter größer sind. Wir haben noch eine Hypothek auf unserem Haus, aber die zahlen wir Schritt für Schritt ab.“
Pause in Stariza
„Die Dörfer sterben aus“, sagt Aljonas Mann Jewgeni und setzt sich neben sie auf die Bank. „In unsere Schule gehen Kinder aus mehreren Dörfern der Umgebung. Dort steht zum Teil die Hälfte der Häuser leer. Im Dorf Ust-Tschusik sind nur drei Familien übriggeblieben. Im Dorf Ossipowo lebt nur noch ein alter Altgläubiger. Das Dorf Nowikowo hängt am Tropf der Hubschrauberplattform für die Erdölarbeiter. Die Leute machen sich auf und davon. Wir leben hier am Ende der Welt.“
Zum altgläubigen Alten nach Ossipowo fahren wir nicht mehr. Der Ortsvorsteher von Stariza Dawyd Dawydowitsch Fritz erzählt uns, der alte Mann habe im Herbst einen Schock erlitten, als ein Bär in sein Haus gestiegen sei. Der Alte habe sich im Schuppen eingeschlossen und verschanzt. Als das Monster weg war, habe der alte Mann seine Sachen gepackt und sei zu seinem Sohn in die Stadt gezogen. Dawyd Dawydowitsch gesteht ein, dass sich auch er und seine Frau, die Direktorin der Schule, nach Tomsk absetzen wollen: „2017 ist meine Dienstzeit zu Ende, ich gebe das Amt ab, und das war’s. Die Kinder sind erwachsen. Für unsere Rente haben wir genug gearbeitet – Zeit, dass wir uns erholen.“
Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen. Das ist unser Unterhalt
Jeden Morgen fährt ein Schulbus vom Dorf Ust-Tschusik nach Stariza. Er bringt vier Kinder zur Schule: die Enkelin von Tatjana Sergejewa und die Kinder von Natalja Nikitina. Das Dorf zieht sich über einige Kilometer hin, aber nur in drei Häusern brennt Licht.
„Hier wohnt keiner mehr“, sagt Anna Iwanowna Sykowa und lässt uns ins Haus. „Nur ich, mein Sohn Shenka, meine Nachbarin Tanka mit ihrem Mann und ihrer Enkelin Alessja, ja und die kinderreichen Nikitins wohnen noch hier. Schreiben Sie doch in ihrer Zeitung bitte, dass wir in Tschusik Straßenlaternen brauchen, denn wenn der Schulbus abfährt, ist es noch ganz dunkel. Auch wir fahren mit diesem Bus nach Stariza, weil es keine anderen Verkehrsmittel gibt. Zum Einkaufen, zur Krankenstation, zur Post. Bei uns in Ust-Tschusik gibt es das alles nicht mehr. Hier bekommt man weder Brot noch bekommen sie einen Arzt zu greifen. Wenn wir in Stariza ankommen, kaufen wir dort Lebensmittel und Medikamente ein, bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt. Wir warten sechs oder sieben Stunden, anders geht es nicht. Bis Ust-Tschusik sind es zehn Kilometer durch den Wald. Aufregendes Leben, das wir führen: Einen Rettungswagen rufen, können wir nicht, und irgendwo hinrennen, wenn was passiert, können wir auch nicht. Als Shenka von einem Bären angegriffen wurde, haben wir im ganzen Verwaltungsbezirk Alarm geschlagen, damit der Arzt kam.“
„Was machen Sie, wenn die Kinder im Dorf krank werden?“ „Fragen Sie das lieber meine Nachbarin Tanka“.
Tanka, mit vollem Namen Tatjana Sergejewa, kümmert sich um ihre siebenjährige Enkelin Alessja. Sie sagt, mit der Gesundheit habe das Mädchen Glück gehabt, mit ihrer Mama weniger (die hat das Kind bei der Großmutter gelassen und ist selbst nach Parabel, um sich ein besseres Leben zu zimmern). Aber mit ihrer Gesundheit sei alles Ordnung.
Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel
„Wir bitten schon lange darum, dass man uns ins Verwaltungszentrum nach Parabel umsiedelt. In Tschusik ist es schwer, hier kann ich auch nichts dazuverdienen. Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen“, rechnet uns die Sergejewa vor. „Das ist unser Unterhalt. Mein Alter jagt auch Zobel. Für ein Stück Fell kriegt er 5000 Rubel [umgerechnet rund 80 Euro – dek]. Draußen ist das 21. Jahrhundert, Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“
Als wir das dritte Haus betreten wollen, eilt uns die kleine Wassilissa entgegen, schmuddelig und in einem Pullover, in den sie noch lange hineinwachsen kann. Weil es zu kalt ist, darf sie heute nicht in die Schule. Auf dem Boden liegen Spielsachen und Kleidungsstücke verteilt. Die kleine Nikitina quengelt, die große Nikitina erzählt, dass sich ihre Familie mit einer Kuh, einem Bullen und dem Garten über Wasser halte. Reis, Nudeln, Buchweizen und Brot kaufe aber ihr Sohn, wenn er nach Stariza in die Schule fahre.
„Würde ich selbst einkaufen gehen, würde ich einen ganzen Tag verlieren“, sagt die Mutter. „Und er weiß, was und wieviel wir brauchen.“ „Was wird mit dem Dorf in den nächsten ein zwei Jahren geschehen?“ Die Einheimischen zucken mit den Schultern: „Wer kann das schon wissen?“
Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute
In der Schule in Stariza ist der Schultag fast zu Ende. Die Mobilen Pädagogen wissen sicher, dass die Schüler ihre Hausaufgaben selbst machen werden, denn einen Zugang zum Internet, wo sie Lösungen abschreiben könnten, gibt es hier nicht.
In einigen Minuten werden die Fachlehrerinnen ihre Taschen packen, von den Kollegen Abschied nehmen und nach Parabel zurückfahren. Die Dorflehrer aber bleiben hier. Einige für ein Jahr, die anderen für zwei, die jüngste, die 26-jährige „Engländerin“ Nelli Jurjewna Jewsejewa, bis zum Sommer.
„Seit drei Jahren arbeite ich hier. Ich kann nicht mehr“, gesteht uns Nelli Jurjewna aufrichtig. „Eine Freundin von mir hat mich gefragt, ob ich nicht nach Stariza kommen möchte. Sie selbst ist nach Parabel gezogen und hatte mich bei der Schulverwaltung empfohlen. Ich komme aus Mari El. Das ist nicht Moskau und nicht Tomsk, aber du kommst dir nicht vor wie am Ende der Welt. Sibirien ist was anderes. Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, ist nicht schlimm, das kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute. Und ich will eine Familie haben, will in die zivilisierte Welt.
Hier kann man nirgends hingehen, mit niemandem reden. Samstags und sonntags hockst du zu Hause und weißt nicht, was du tun sollst. Ich habe so viel geweint! In den Ferien besuche ich meine Eltern, aber im September muss ich zurück, das kostet mich wahnsinnige Überwindung. Die Kinder und die Kollegen sind wundervoll, aber die Lebensbedingungen …
„Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“
Ich heize hier den Ofen, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Holz auf dem Arm hatte. Wasser muss ich von draußen holen, das Klo ist hinterm Haus. Ich habe hier einen Computer und andere Geräte, aber warum gibt es hier keine Internetverbindung? Ich lebe wie in der Verbannung. Ich will weg. Ich verschwende hier Lebenszeit. Und wozu, was für eine Mission habe ich hier?“
„Das Mädel hat recht. Sie muss leben. Und wir, was tun wir? Im Sommer machen wir uns daran, eine Wanderlehrerin für Englisch zu suchen“, sagen die Starizer Pädagogen zu ihren Plänen. „So decken wir wenigstens die Fächer ab, solange die Kinder noch hier sind.“
… Am anderen Flussufer, 100 Kilometer von Stariza, im Zentrum des Verwaltungsbezirks Parabel erwartet unseren Aufklärungstrupp eine Nachricht der russischen Regierung: Ab 2017 soll laut Lehrplan für Musik auch Chorgesang unterrichtet werden. Na ja, vielleicht wird die hiesige Bildungsbehörde den Chevrolet-Niva durch einen Kleinbus ersetzen müssen.
Eine geplante Gesetzesnovelle, die weniger harte Strafen für häusliche Gewalt vorsieht, sorgt derzeit für Diskussionen. Vor dem Hintergrund dieser Debatten zeigt Takie Dela eine Fotoreportage des Ufaer Fotografen Wadim Braidow: Er hat Shenja in ihrem Tattoostudio besucht und auch ihre Klientinnen getroffen. Über sie schreibt Braidow:
„Zu Shenja kommen Frauen, die von ihren Männern verprügelt wurden – sie brauchen Trost und wollen vergessen. Shenja ist keine Psychotherapeutin, sie ist Tattookünstlerin. Mit den Tattoos übermalt sie Narben, die von der Gewalt geblieben sind. Geld nimmt sie dafür keines, Geschichten hat sie schon so viele gehört, dass sie ein Buch schreiben könnte.“
Tätowierer führen ein fröhliches, sorgloses Partyleben. Immer hängt irgendwer in deinem Studio ab, dankbare Kunden laden dich auf Feten ein. Doch dann bin ich irgendwann auf einen Artikel über Flavia Carballo gestoßen, eine brasilianische Tattookünstlerin, die die Narben von Opfern häuslicher Gewalt übertätowiert, und ich dachte: „Warum sollte ich das nicht auch mal versuchen?“ Ich wollte technisch besser werden – immerhin sind Narben für Tätowierer eine Herausforderung – ja, und ein bisschen was Gutes zur Welt beisteuern.
Ich veröffentlichte eine Anzeige auf Vkontakte, und dann ging‚slos. Aus allen Ecken Baschkiriens schrieben mir Frauen. Junge und ältere, stille und hysterische – und alle hatten eines gemeinsam: den Schmerz. Sie alle sagten, sie könnten ihre Narben nicht mehr sehen, sie würden sie an den Tag erinnern, als der geliebte Mann seine Hand gegen sie erhob. Wenn es doch nur die Hand gewesen wäre. Narben von Stichwaffen sind für mich keine Seltenheit, einmal war sogar eine Schusswaffe dabei. Ich, in meiner ruhigen und fröhlichen Welt, konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass so viele Frauen zu Hause Gewalt erleben.
Ich habe schon an die hundert Kundinnen behandelt, und ich weiß, sie wollen bei mir auf der Liege ihr Herz ausschütten und nachdem sie aufgestanden sind, nie wieder an diese Geschichte denken. Ich habe so viele Geschichten gehört, dass ich ein dickes Buch schreiben könnte. Ich versuche, den Frauen eine Freundin zu sein, und irgendwie klappt das – viele von ihnen kommen mit was Süßem wieder, einfach auf einen Plausch. Und sagen: „Zwei Stunden lang hast du uns Schmerzen zugefügt, damit wir den Schmerz vergessen, den wir jahrelang ertragen haben.“
Derzeit nehme ich eine Kundin pro Woche, für mehr reicht weder die Zeit noch das Material. Ideal ist mein Studio nicht und kosten tut es auch. Ich muss überwiegend zahlende Kunden bedienen. Gerade versuche ich mit meinem Partner und einem Kollegen ein eigenes Studio zu eröffnen, das unabhängig ist von Vermietern. Ich will weiter versuchen, wenigstens eine Kundin pro Woche reinzunehmen. Auch wenn die Selbstkosten bei jedem von diesen Tattoos zwischen 2000 und 4000 Rubel [30 bis 60 EUR – dek] liegen, kann ich von diesen Frauen kein Geld nehmen. So haben meine Eltern mich nun mal erzogen. Anfragen habe ich viele, bestimmt um die zweihundert. Leider ist Gewalt, genau wie Krieg, immer da.
Guldar, 28
Vor sieben Jahren war ich mit einem jungen Mann zusammen, er arbeitete bei einer Behörde. Es war ernst, wir hatten schon die Nikah, die islamische Ehe, gefeiert, wollten standesamtlich heiraten. Irgendwann kam er angetrunken nach Hause, wir fingen an zu streiten. Er verprügelte mich. Trat mir mit den Füßen in die Brust und in den Bauch. Ich packte meine Sachen und ging zu meiner Mutter. Dann sagte ich zu ihm, dass ich ihn bei der Polizei anzeigen werde, drohte damit, für seine Kündigung zu sorgen. Er kam zusammen mit seinem Bruder zu mir, einem Anwalt, und sie erklärten mir hart und deutlich, dass ich das mit der Anzeige besser sein lasse.
Nach diesem Gespräch packte ich schnell meine Sachen und floh von Belorezk nach Ufa. Es verging ein Jahr, die Verletzungen taten immer noch weh, also ging ich ins Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass in der Brust und im Bauch Schwellungen zurückgeblieben waren, innere Blutergüsse. Ich wurde ein paar Mal operiert. Jetzt habe ich diese Narben und kann keine Kinder mehr bekommen. Es fällt mir schwer, Beziehungen zu Männern aufzubauen, ich schäme mich, mich auszuziehen, schäme mich, diese Geschichte zu erzählen. Vor kurzem war ich im Urlaub. Als erstes habe ich mir Mehndi, Hennatattoos, auf die Narben machen lassen, sofort fühlte ich mich im Badeanzug viel selbstsicherer. Da hatte ich die Idee, die ganzen alten Erinnerungen mit Tattoos übermalen zu lassen.
Ljaisan, 33
Vor zwei Jahren hat mich mein Mann, er war völlig unzurechnungsfähig, mit dem Küchenmesser verletzt. Die Schnittwunde war tief, ich hatte einen Leberriss und innere Blutungen. Ich rief selbst den Notarzt, aber man hat mich sehr schlecht genäht, es blieben große Narben. Natürlich kam die Polizei ins Krankenhaus, ich sollte Anzeige erstatten. Ich habe es nicht getan. Mein Mann flehte mich an, zu ihm zurückzukommen.
Nach meiner Entlassung versuchte ich, weiter mit ihm zusammenzuleben, aber es ging nicht. Er hat nie zugegeben, was er getan hat, sagte, dass er sich an nichts erinnere, und dass ich mich selbst mit dem Messer verletzt hätte. Da habe ich bereut, dass ich ihn nicht angezeigt habe. Aber ich denke, eines Tages wird ihm das Leben alles heimzahlen.
Jetzt geht es mir gut, aber mit den Narben konnte ich diesen schwarzen Tag nicht endgültig hinter mir lassen. Deshalb habe ich mich zu der Tätowierung entschlossen.
Lilja, 41
Meine Geschichte handelt nicht von Gewalt, sondern von einer Verletzung aus der Kindheit. Meine Eltern sind Geologen und waren ständig auf Dienstreisen, sie waren überall in Baschkirien unterwegs und ließen mich bei meiner Oma. Als ich ein Jahr und zwei Monate war, haben die Großeltern einmal nicht richtig aufgepasst. Ich hatte mein Stühlchen genommen, es an den Herd gestellt und nach dem Teekessel gegriffen. Ich konnte ihn nicht halten und habe mich verbrüht. 84 Prozent meiner Körperoberfläche waren geschädigt, ich lag einen Monat lang auf der Intensivstation im Koma. Außerdem diagnostizierte man bei mir Infantilismus. Ich kann auch keine Kinder bekommen.
Mein ganzes Leben habe ich mit diesen Brandnarben am Körper gelebt. In den 1990ern entschloss ich mich zu einer Reihe plastischer Operationen, aber schon nach der zweiten ging es mir so dreckig, dass ich abbrach. Jedes EKG, jede Untersuchung, Sauna, Strand – alles war für mich eine große nervliche Belastung. Jeder, der meinen Bauch sah, war sofort geschockt, oh weh, und wollte wissen, was mir passiert war. Letztens wurden wir bei der Arbeit untersucht, ich zog meine Bluse aus, und alle riefen „Oh!“. Aber jetzt fühle ich mich selbstsicherer. Für Narben schämt man sich, mit Tattoos gibt man an.
Shenja wollte mich zuerst nicht behandeln. Sie arbeitet ja eigentlich mit Opfern von häuslicher Gewalt, Frauen, die von ihren Männer verletzt wurden. Aber als ich ihr meine Narben zeigte, sahen wir uns ein paar Minuten lang in die Augen, und dann sagte sie: „Leg dich hin.“ Ich bin ihr unendlich dankbar. Dieses Tattoo hat mein Leben verändert, weil ich mich jetzt für nichts mehr schämen muss.
Wika, 28
2009 war ich schwanger. Eines Tages holten mich mein Ex-Mann und sein Kumpel von der Arbeit ab und fuhren mit mir in den Wald. Mein Mann brüllte, er wolle dieses Kind nicht, irgendwelche alten Weiber hätten ihm gewahrsagt, es sei nicht von ihm. Er holte ein großes Küchenmesser hervor. Stieß es mir immer wieder gegen die Brust, aber schaffte es nicht, richtig zuzustechen. Dann gab er das Messer seinem Freund. Der nahm Anlauf und rammte es mir in die Brust. Ich wehrte es mit meiner Tasche ab, beim zweiten Mal traf er meine Achsel. Es floss viel Blut. Mein Mann erschrak, stürzte sich auf seinen Kumpel. Schlug ihn zusammen, setzte mich ins Auto und brachte mich ins Krankenhaus, durchbrach auf dem Krankenhausgelände sämtliche Schlagbäume. Die Ärzte riefen die Polizei, einer der Polizisten war ein alter Bekannter von mir. Er begriff sofort, was los war, und bestand darauf, dass ich die Wahrheit sage. Mein Mann wurde noch im Krankenhaus festgenommen. Er bekam acht Jahre, sein Freund, glaube ich, sechs. Die Ärzte konnten nicht nur mich retten, sondern auch das Kind. Der Chirurg sagte mir später, das Messer hätte die Schlagader um zwei Millimeter verfehlt.
Ich habe daran gedacht und hätte auch Möglichkeiten gehabt, meinen Ex-Mann noch direkt in der Haft zu bestrafen. Aber als mein Sohn zur Welt kam, ließ das nach. Am liebsten denke ich weder an meinen Mann noch an jenen Tag. Aber jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel geschaut und diese Narbe gesehen habe, kamen sofort die Erinnerungen hoch. Als würde sie mich zurück in die Vergangenheit ziehen.
In den Ufaer Nachrichten hörte ich von Shenja und dachte, dass mir das helfen würde, mit der Vergangenheit abzuschließen. Es war schwierig zu glauben, dass mich jemand umsonst tätowieren würde. Ich kam ins Studio, man sagte mir, doch, das stimmt, und gab mir eine Telefonnummer für die Terminvereinbarung. Shenja und ich sprachen miteinander und entschieden uns für einen Schmetterling. Der ist in vielen Kulturen ein Symbol für die Reinkarnation der Seele.
„Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ So könnte man ein viel zitiertes russisches Sprichwort übersetzen. Jetzt soll eine Gesetzesnovelle dafür sorgen, dass häusliche Gewalt weniger hart bestraft wird. Demnach sollen gemeldete Erstfälle als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, wenn das Opfer keine ernsthaften gesundheitlichen Schäden erlitten hat. Nur, wer innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal gewalttätig wird, dem drohen strafrechtliche Konsequenzen. Geplant ist dann etwa eine Höchststrafe von bis zu drei Monaten Haft. Derzeit liegt sie bei zwei Jahren.
In erster Lesung hat die Duma das Gesetz bereits durchgewunken, am 25. Januar folgt die zweite. Kritiker bemerkten ironisch, jetzt sei es nach Logik der Abgeordneten in Ordnung, seine Frau ein Mal im Jahr zu schlagen, nur zwei Mal ginge nicht.
Ljubow Borussjak, Soziologin an der Moskauer Higher School of Economics, beschreibt auf Republic die Hintergründe der Gesetzesänderung und fragt danach, was die Befürworter bewegt. Mit der Verteidigung „traditioneller Werte“ allein ist der Zuspruch ihrer Meinung nach nicht zu erklären. Man müsse stattdessen auch danach fragen, wie Gewalt allgemein assoziiert werde – und inwiefern die Angst vor einem willkürlichen Staat den Gesetzesbefürwortern in die Hände spiele.
Update: Anfang Februar unterzeichnete Präsident Wladimir Putin das Gesetz, nachdem die Duma die Novelle am 27. Januar 2017 in dritter und letzter Lesung angenommen hatte. 380 Abgeordnete stimmten dafür, drei dagegen.
Nur hin und wieder rückt das Problem der familiären, häuslichen, ehelichen Gewalt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Dann flacht das Interesse wieder ab bis zum nächsten Anlass für eine Berichterstattung. Diese Anlässe sind für gewöhnlich irgendwelche krassen Fälle. Im vergangenen Sommer haben sich zehntausende Frauen in Russland und anderswo am Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать [dt. #IchhabkeineAngsteszusagen] beteiligt und markerschütternde Geschichten von Gewalt erzählt, die ihnen widerfahren ist.
Im November sorgte der Fall einer jungen Frau aus dem Gebiet Orjol für Entrüstung. Sie hatte die Polizei gerufen, weil ihr Partner sie bedrohte. Die Antwort, die sie am Telefon bekam, war schockierend: „Wenn man Sie umbringt, kommen wir natürlich und nehmen Ihre Leiche zu Protokoll, keine Sorge!“ Die junge Frau wurde tatsächlich getötet.
Geschichten wie diese passieren dutzend-, wenn nicht hundertfach. Jetzt redet man über das Thema, weil ein Gesetzentwurf – vorerst in erster Lesung – angenommen wurde, der Gewalt in der Familie entkriminalisieren soll.
Eine offizielle Statistik gibt es nicht
Dass häusliche Gewalt in Russland enorm weit verbreitet ist, da sind sich viele sicher. Jedoch existiert keine offizielle Statistik. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es im Strafgesetzbuch keine Paragraphen gibt, die explizit häusliche Gewalt unter Strafe stellen. Und selbst wenn es sie gäbe, würden sie nichts über das Ausmaß sagen: Kinder erzählen so gut wie nie, dass sie von ihren Eltern geschlagen werden, Frauen zeigen ihre Männer äußerst selten bei der Polizei an, und wenn sie es tun, ziehen sie die Anzeige häufig wieder zurück.
Aufgrund fehlender offizieller Daten berufen wir uns auf die stichprobenartige UntersuchungGewalt gegen Frauen in Russland: Demnach hat jede fünfte Frau körperliche Gewalt durch den Ehemann oder Liebhaber erlebt, jede zwanzigste wurde gewaltsam zu sexuellem Kontakt gezwungen. Drei Viertel der betroffenen Frauen haben jemandem von der Gewalt, die sie durchgemacht haben, erzählt (fast alle nur Verwandten und Freunden), zur Polizei gingen nur zehn Prozent. Ein Viertel der Frauen hat es für sich behalten.
Stark ist der, vor dem man Angst hat
Es ist nicht auszuschließen, dass selbst diese Zahlen untertrieben sind, denn Frauen, denen Gewalt widerfährt, empfinden Scham. Sehr oft, manchmal sogar im Todesfall, wird das Opfer nach der Tat öffentlich diffamiert: „Hat ihn bestimmt gereizt, bis ihm der Kragen geplatzt ist.“
So seltsam es klingt, aber ganz abgesehen davon existiert bis heute die Vorstellung, Gewalt sei – solange sie nicht lebensbedrohlich ist – zwar unschön, aber normal. Für einen erheblichen Teil der Gesellschaft stellen Stärke und das Recht, sie anzuwenden, einen grundlegenden Wert dar. Das zeigen deutlich die Ergebnisse einer unlängst (im Dezember 2016) von der Stiftung Öffentliche Meinung durchgeführten Umfrage. Demnach beurteilen 86 Prozent der Russen ihr Land als frei und wohlhabend, sie schreiben ihm eine Vormachtstellung zu, vor der sich die Welt fürchtet. Dass man vor Russland Angst hat, wird als entschieden positiv empfunden. Ganz offenbar ist das eine Projektion auch der Verhältnisse innerhalb der Familie. Angst bedeutet Respekt; stark ist der, vor dem man Angst hat. Viele derjenigen, die gegen Gewalt in der Familie kämpfen und für die Schwachen einstehen, fallen heutzutage unter das Agentengesetz, verlieren ihre Finanzierung oder müssen gar ihre Arbeit einstellen, was als völlig gesetzmäßig erscheint. Das betrifft so etablierte NGOs wie das Frauen- und Kinderhilfszentrum Anna, das Hilfszentrum für Opfer sexueller Gewalt Sjostry [dt. Schwestern], das sich mit Crowdfunding über Wasser zu halten versucht, aber auch viele andere.
Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen
Obwohl die „Erziehung“ von Frauen mit Hilfe von Schlägen eine weit verbreitete Praxis ist, wird sie von der Gesellschaft doch verurteilt. Allerdings erfreut sich das Recht auf körperliche Bestrafung innerhalb der Kindererziehung vieler Befürworter. Leichte Schläge (ohne Gefahr für Leben und Gesundheit, versteht sich) gelten als traditionell, üblich und bewährtes Mittel der Disziplinierung. Einerseits sind wir ein europäisches Land und befinden uns mehr und mehr auf dem Weg zur Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, einschließlich der familiären. Andererseits ist die außenpolitische Rhetorik Russlands seit einigen Jahren auf eine Konfrontation mit dem Westen gerichtet, und damit gegen viele der Werte, die diesem zugeschrieben werden. Dem in seinen Sünden versinkenden Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen. Mit diesen Werten wird die „normale“ Familie proklamiert, „normale“ Beziehungen zwischen Eltern und Kind, in die sich niemand einzumischen hat.
Im Konzeptentwurf zur staatlichen Familienpolitik der Russischen Föderation bis zum Jahr 2025 wird „Eltern in Bezug auf die Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten Gewissenhaftigkeit unterstellt“. Was im Klartext heißen soll, dass Eltern immer zum Wohle des Kindes handeln. Das ist einerseits gut, denn gesunde soziale Institutionen bedürfen keiner Einmischung von Außen. Andererseits sind damit die schwachen Familienmitglieder den stärkeren schutzlos ausgeliefert.
Auf dem Recht des Stärkeren beharren auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche und verschiedener anderer Organisationen, die sich als orthodox ansehen. So äußerte die Patriarchenkommission zu Fragen der Familie und des Schutzes von Mutterschaft und Kindheit im vergangenen Sommer ihre „tiefe Besorgnis“ über die Verabschiedung einer Neufassung des Artikels 116 („Schläge“). Nach Ansicht des Patriarchats könnte die Änderung dazu führen, dass nun gewissenhafte Eltern strafrechtlich verfolgt würden, die ihre Kinder „in Maßen und sinnvoll“ bestrafen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche vertritt die Auffassung, dass körperliche Bestrafung von Kindern ein „traditioneller Wert“ der russischen Gesellschaft sei, der erwähnte Artikel wiederum „entbehrt moralischer und juristischer Grundlagen, richtet sich in seinem Inhalt gegen die Familie und das innerhalb der russischen Gesellschaft etablierte Verständnis von Elternrechten, ist diskriminierend, widerspricht den Grundprinzipien einer gesunden staatlichen Familienpolitik und lässt die traditionellen familiären und moralischen Werte der russischen Gesellschaft außer Acht“.
Klapse und leichte Schläge auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für „normal“
Wie „maß- und sinnvoll“ eine körperliche Strafe ist, wird dem Ermessen der Eltern selbst überlassen. Darüber, dass Eltern das Recht zugesprochen werden soll, ihre Kinder physisch zu maßregeln, liest man viel auf der Homepage des Allrussischen Elternwiderstandes, deren Mitwirkende sich aktiv für traditionelle, orthodox begründete Werte einsetzen. Das Recht der Eltern auf Gewaltanwendung wird hier damit erklärt, dass dies die Norm für die heutige russische Gesellschaft sei: „Das Zentrum AKSIO hat eine umfassende Meinungsumfrage durchgeführt, befragt wurden 43.687 Menschen aus allen Regionen der Russischen Föderation. Das Hauptziel der Umfrage war die Messung der öffentlichen Meinung zu den (…) Änderungen im russischen Familiengesetz. Die Bestrafung von Kindern mit Klapsen und leichten Schlägen auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für normal.“
Weil es normal ist, darf man sich also nicht in die Erziehung innerhalb der Familie einmischen. Schon erstaunlich, aber sogar einige Organisationen, die sich dem Schutz der Familie verschrieben haben, setzen sich gegen eine gesetzliche Einschränkung elterlicher Schläge ein und gegen das Recht von Kindern und Jugendlichen, sich zu verteidigen. So bezeichnet beispielsweise Tatjana Borowikowa, Leiterin der Organisation Viele Kinderchen – das ist gut!, Aushänge mit Seelsorgerufnummern für Jugendliche in den Schulen als „Einmischung in familiäre Angelegenheiten“. Solche Beispiele gibt es zur Genüge. Der Allrussische Elternwiderstand teilt mit, für die Entkriminalisierung von Schlägen seien 213.000 Unterschriften gesammelt worden, und notfalls werde die Hälfte aller russischen Eltern vor Gericht ziehen.
Angst vor Willkür
Was diese Leute antreibt, ist nicht die Angst vor Massenverhaftungen, sondern die Angst vor Willkür der Rechtsschutz- und Vormundschaftsorgane, die häufig nur formal die Rechte von Kindern schützen. Sie fürchten nicht den aus dem Westen kommenden Kinder- und Jugendschutz, von dem sie reden, sondern unseren eigenen Staat. Erst vor Kurzem entsetzte ein Vorfall die Öffentlichkeit, bei dem Vormundschaftsorgane und Polizei ohne jegliche Untersuchung zehn Kinder aus einer wohlsituierten Pflegefamilie genommen hatten, nachdem den Eltern Gewaltanwendung vorgeworfen worden war.
Dieser Vorfall bestätigte nur die allgemein herrschende Vorstellung, jedes Gesetz könnte so ausgelegt werden, dass die Unschuldigen mehr leiden als die, die schuldig sind. Wer aber schuldig ist und wer nicht, in welchem Rahmen sich häusliche Gewalt bewegen darf, das versteht so gut wie niemand. Aber allen ist klar, dass noch die schlechteste Familie, in der das Kind nicht nur hin und wieder einen Klaps bekommt, sondern ständig Prügel, in den allermeisten Fällen immer noch besser ist, als ein Kinderheim, das heißt die Vormundschaft durch den Staat.
Kinder werden nicht gehört – mit oder ohne Gesetz
Die Gesellschaft hat Angst vor weiterer Einmischung ins Privatleben. Weil sie nicht daran glaubt, dass das dem allgemeinen Wohl dienen wird, sondern weil sie berechtigter Weise annimmt, dass man nach dieser Einmischung Hilfe braucht, die man nirgendwo bekommt.
Organisationen, die trotz allem versuchen, Familien in der Not beizustehen, solche wie Annaund Sjostry, sind mittlerweile selbst auf Hilfe und Schutz angewiesen.
Das Gesetz über die Entkriminalisierung von Gewalt in der Familie wird vermutlich kaum etwas zum Besseren oder Schlechteren verändern. Weil Kinder in ihrer Mehrheit stumm bleiben, hilft ihnen dieses Gesetz jedenfalls nicht. Die Mehrheit der Frauen wendet sich ohnehin nicht an die Polizei. Aber wenn Gewalt in der Familie als Ordnungswidrigkeit behandelt wird, rückt die Polizei bald nicht einmal mehr bei seltenen Anrufen aus – warum auch solch kleinen Vergehen Beachtung schenken?
„Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.“ So schildert eine junge Russin ihre erste Hürde auf dem Weg von einer mit Zweifeln belasteten Jugendlichen hin zur selbstbewussten Frau. Innerlich kann sie inzwischen zu sich und ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe stehen. Ein großer Schritt in Russland, wo Homosexuelle offen angefeindet werden, Homophobie weit verbreitet ist. Nun ist sie 25 Jahre alt, arbeitet als Lehrerin und plant ihr öffentliches Coming Out.
Das bewegende Protokoll einer jungen Lesbe hat das Webmagazin Takie Dela aufgeschrieben.
Jedes Kind beschäftigt sich zu einer bestimmten Zeit mit seiner Identität. Ich überlegte, was ich werden soll: Junge oder Mädchen? Ein Mädchen zu sein ist gut, weil man als Mädchen hübsch sein und schicke Kleidchen anziehen kann, ein Junge zu sein ist gut, weil man als Junge mit einem Mädchen zusammen sein kann.
Mit neun gefiel mir ein Mädchen. Natürlich war das keine Beziehung. Meine ganze Kindheit über war mir klar, dass mir Mädchen gefallen, aber an meinem Bewusstsein zog das irgendwie vorbei. Mich störte dieses Wissen nicht weiter. Vielleicht nahm ich es nicht ernst, vielleicht weigerte sich mein Gehirn, genauer darüber nachzudenken.
Viel später erst wurde mir klar, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich selbst zu akzeptieren, und dass ich darüber dringend sprechen musste. Für mich war das ein Problem, denn ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen, ging in die Sonntagsschule. Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich dann mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.
Die Bewusstwerdung
Mit achtzehn, ich studierte schon an der Uni, verliebte ich mich in meine Russischdozentin. Ich war heftig verliebt damals. In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass ich nicht einfach von ihr als Mensch fasziniert war, am liebsten hätte ich permanent Zeit mit ihr verbracht. Wir saßen einfach zusammen und redeten über die russische Sprache und Literatur. Sie ahnte nichts von meinen Gefühlen, und ich war noch nicht fähig, mich ihr zu offenbaren. Ich glaube auch nicht, dass sie davon angetan gewesen wäre.
Dann begann ich, mit einem Psychologen zu arbeiten. Zwei Jahre hatte ich Einzeltherapie und machte auch Gruppentherapie. Als ich so weit war, dass ich mich selbst akzeptieren konnte, erzählte ich die ganze Sache zunächst meinen engsten Freunden. Dann meiner Familie. Meine Schwestern reagierten ganz entspannt, mit meiner Mutter war es schwierig, und das ist es bis heute. Meine Mutter kann mich nicht akzeptieren, das erste halbe Jahr redeten wir überhaupt nicht mehr miteinander, inzwischen sprechen wir über alles mögliche, aber nicht darüber. Sie streift das Thema äußerst selten – „deine Freundinnen“ sagt sie höchstens mal etwas spitz.
Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge
Die Hilfe
Die innere Homophobie hatte bei mir krasse Auswirkungen. Eine Zeitlang verließ ich gar nicht mehr das Haus, schloss mich in meinem Zimmer ein, meine Freunde haben mich gerettet, sie brachten mir Essen. Ich stand bloß noch auf, um mich zu betrinken und wieder einzuschlafen. Ich wollte nicht mehr leben, hatte Selbstmordgedanken. Eine schreckliche Zeit in meinem Leben war das, an die ich heute nur noch selten denke.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir professionelle Hilfe suchen muss, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ich ging zu einem Psychologen, lernte Leute kennen und begann, mich zu engagieren. Ungefähr vier Jahre hat es gedauert, bis ich mich voll akzeptieren konnte. Erst vor zwei Jahren konnte ich aufatmen und sagen: „Alles cool!“
Ich hab mich für den Weg von Engagement und Selbstakzeptanz entschieden, denn ich glaube, das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen ist es, zu spüren, dass er ist, wer er ist, und dass man deswegen nicht leidet. Ich fühlte, dass ich das Richtige tue und anderen Menschen helfen kann, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind wie ich.
Der Glaube
Als ich aufhörte, zur Sonntagsschule zu gehen, litt und weinte ich sehr, schließlich war es ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich liebe Frauen, und das ist aus Sicht der orthodoxen Religion so etwas wie Sünde. Irgendwann war ich zu dem Schluss gekommen, dass es Gott nicht gibt, wenn er uns erst so erschafft und dann nicht akzeptiert. Mittlerweile finde ich trotzdem wieder zu Gott zurück, aber heute unterscheide ich für mich klar zwischen Glauben und Religion. Mit der Religion habe ich nichts zu schaffen, mit dem Glauben durchaus.
Der Beruf
Während meines Studiums an der pädagogischen Hochschule war ich nicht überzeugt davon, dass ich später als Lehrerin arbeiten würde, aber es machte mir Spaß. Bereits im vierten Studienjahr fing ich an, zu unterrichten. Vor drei Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen, und seitdem arbeite ich als Lehrerin.
Natürlich kann ich bei der Arbeit nicht über meine sexuelle Orientierung sprechen. Das ist unmöglich. Nur ein paar Kollegen von mir wissen Bescheid, sie sind enge Freunde. Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge. Die Unmöglichkeit offen zu sprechen bedeutet für mich, dass ich in meinem Beruf nicht frei atmen kann.
Außerdem ist es für mich wirklich hart, genau solche Kids zu sehen, wie ich früher eins war, und zu wissen, dass ich nicht offen mit ihnen sprechen kann, obwohl ich zu meinen Schülern eigentlich ein sehr vertrauensvolles Verhältnis habe. Einmal wandte sich ein Transjunge an mich [eine junge Frau, die sich als Mann versteht – Takie Dela]. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet zu mir kam. Er hat noch keine Geschlechtsangleichung gemacht, nimmt keine Hormone, fühlt sich einfach als Mann. Er kam zu mir und erzählte mir davon. Ich bin keine Psychologin und bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, aber auf der anderen Seite war mir klar, dass ich ihm irgendetwas raten musste.
Es war ziemlich riskant, jedes Wort von mir hätte später gegen mich verwendet werden können, aber ich sprach trotzdem mit ihm, gab ihm Broschüren und Sticker zu Transsexualität und sagte ihm, er könne sich jederzeit an mich wenden. Bisher ist er nicht noch einmal zu mir gekommen, aber in unserer Korrespondenz bezeichnet er sich als Mann. Ich finde das sehr gut.
Die Stadt
Hier in der Stadt gibt es etliche Gruppierungen, die Schwule und Lesben ablehnen. Es ist schon mehrfach zu Prügelattacken auf LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten gekommen, und zwar zu ziemlich schlimmen. Ich selbst habe vor fünf Jahren angefangen, mich zu engagieren. Mein Psychologe hatte mir geraten, doch mal zu einer LGBT-Veranstaltung zu gehen. In dem Jahr planten Nazis einen Überfall auf die Aktivisten, die das Festival veranstalteten, sie haben uns sogar mit Bussen weggekarrt und es gab Wachschutz, damit uns nichts passierte. Etwas wirklich Schlimmes war dann auch nicht, keine Prügeleien oder so, allerdings hatten die Typen die Treppe zum Festivalgebäude mit Farbe übergossen.
Dieses Jahr fand wieder eine Veranstaltung statt, und mittlerweile gehörte ich zu den Organisatoren. Es war echt hart. Wir wollten lediglich ein Turnier abhalten, aber das wurde uns verboten, immer wieder bekamen wir Ablehnungen. Nur ein einziger Sportplatz hat uns zugesagt. Wir haben alle unsere Telefone ausgeschaltet und die Adresse nur untereinander weitergegeben, so waren wir nicht „aufzuspüren“. Nur so konnte das überhaupt normal ablaufen.
Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann
Die Angst
Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen. Eines Tages wird es einen Postauf meiner Seite geben und ich werde mich für alle Menschen, die mich kennen, outen … Natürlich nicht jetzt gleich, zwei, drei Jahre werde ich noch brauchen, um mich psychisch darauf vorzubereiten.
Wenn das Gefühl kommt, dass ich moralisch bereit bin, werde ich merken, dass es soweit ist. Ich werde wissen, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, ich muss mich nicht mehr an Vergangenes halten, weder an Leute noch an die Arbeit.
Die Zukunft
Mein Plan ist, den Schuldienst zu verlassen und als Nachhilfelehrerin zu arbeiten. Ich werde keiner kommunalen Einrichtung angehören, so wird es schwer sein nachzuvollziehen, mit wem und wo ich arbeite. Das ist der Kompromiss in meiner Situation.
In den siebziger Jahren haben Lehrer und Lehrerinnen in den USA erkämpft, dass sie in ihrem Beruf arbeiten und dabei offen schwul oder lesbisch leben können. Als ich davon hörte, verspürte ich eine Art Stolz und wünschte mir, es würde bei uns auch so sein.
Meine Freundin und ich planen, Kinder zu haben. Ich denke schon jetzt an Familie, will selbst ein Kind zur Welt bringen oder auch adoptieren. Ich hoffe sehr, dass wir einmal eine große Familie haben werden und ein großes Haus.
Das Gesetz
Wenn ich mich mit besagtem Transjungen unterhalte, kann ich dem Gesetz nach für meine Äußerungen belangt werden. Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann. Aber ich habe keine andere Wahl.
Ich würde sagen, die gesellschaftliche Aggression hat zugenommen. Kann sein, dass die staatliche Politik sich im Verhalten der Menschen widerspiegelt, die Leute haben Angst, selbständig zu denken. Andererseits habe ich viel Kontakt zu Kindern und Jugendlichen und sehe unter ihnen eine Menge LGBT-Kids. Während die ältere Generation stärker eingeschüchtert ist und weniger über sich spricht, ist die junge, in Zeiten des Internets aufgewachsene Generation bei uns freier, wobei auch sie Probleme mit der Selbstakzeptanz und mit ihren Eltern hat.
Die Zuversicht
Auch jemand, der sich selbst im Grunde akzeptiert, kann in Bezug auf bestimmte Lebenssituationen unsicher sein. Wenn du das Gefühl hast, du wirst allein damit nicht fertig, solltest du dir professionelle Hilfe holen. Es gibt das russische LGBT-Netzwerk, wo man anrufen und mit Psychologen oder Juristen sprechen kann.
Früher war ich voller Selbstzweifel – was meine Standpunkte und Ansichten betraf. Wenn dir klar wird, dass du eine Persönlichkeit bist, hörst du auf, Angst zu haben und machst alles richtig, und das gibt dir viel Kraft.
Ich glaube, mit der LGBT-Bewegung in Russland wird alles gut werden. Allerdings weiß ich nicht, wann das das sein wird und ob ich es noch erleben werde.
„Im postsowjetischen Raum wird nicht der Täter beschuldigt, sondern man sucht gleich nach Vorwänden, um das Opfer zu beschuldigen: Was hat die Frau falsch gemacht?“ Mit diesen deutlichen Worten und unter dem Hashtag #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: Ich habe keine Angst zu sprechen) hat die ukrainische Aktivistin Anastasia Melnitschenko im Juli eine Hashtag-Aktion gegen die Tabuisierung sexueller Gewalt gestartet.
Sie wollte Opfern eine Stimme geben und einen Raum, ihre Geschichte zu erzählen. Mit der Resonanz hat Melnitschenko wohl selbst nicht gerechnet: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Hashtag in den vergangenen Tagen durch die Soziale Medien, unter anderem auch in Russland und Belarus.
In Russland reagieren Öffentlichkeit und Presse ganz unterschiedliche darauf: Zwar finden sich zahlreiche Befürworter der Aktion, viele stoßen sich an patriarchalischen Strukturen in Gesellschaft und Politik. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Diskutiert wird dabei häufig die Frage, ob EU-Europa im Umgang mit sexueller Gewalt als Vorbild taugt. Ein Debatten-Querschnitt:
Izvestia: Und was ist mit der Silvesternacht in Köln?
In der kremlnahen Izvestia kritisiert die Politologin Natalja Narotschnizkaja die Aktion. Die Präsidentin des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit, das nach eigenen Angaben Menschenrechtsverletzungen in Europa und den USA nachgeht, stört sich daran, dass die Initiative, die in der Ukraine gestartet wurde, Kritik an Russland, aber nicht an EU-Europa übt:
[bilingbox]Die Autoren dieses, mit Verlaub, Projektes appellieren daran, dass die öffentliche Meinung im postsowjetischen Raum teilweise der Frau selbst den Vorwurf mache, die Gewalt gegen sie provoziert zu haben: Sie habe sich nicht angemessen gekleidet, sich aufreizend verhalten und so weiter. Entsprechend ist ein Ziel dieser Hashtag-Aktion, diesen Trend umzukehren und sich in dieser Hinsicht dem, wie es so schön heißt, europäischen Werteverständnis anzunähern.
Aber ich erinnere mich da an eine himmelschreiende Geschichte, die große Aufmerksamkeit fand: die Silvesternacht im deutschen Köln. Da trieben die gerade in Deutschland angekommenen Migranten ihr Unwesen, beleidigten und missbrauchten die Einwohnerinnen der Stadt. Das Interessanteste ist, dass die Bürgermeisterin der Stadt Henriette Reker den Mädchen empfahl, auf ihr Verhalten zu achten.
Natürlich verärgerte diese unpassende Reaktion einer Amtsträgerin einen Teil der deutschen Bevölkerung. Aber ich kann mich irgendwie nicht daran erinnern, dass irgendeine ukrainische Journalistin deswegen eine Hashtag-Aktion gestartet hätte. Bei den weltweit wichtigsten Fragen der Menschen und der Menschheit gibt es in Europa heute keine Redefreiheit!~~~Авторы этого, с позволения сказать, проекта апеллируют к тому, что на постсоветском пространстве общественное мнение зачастую обвиняет саму женщину в провоцировании совершенного против нее насилия — была-де не так одета, вела себя вызывающе и прочее. Соответственно, одна из целей данной флешмоб-акции — переломить этот тренд и приближаться, мол, в этом смысле к европейскому пониманию ценности, неприкосновенности личности. Но мне вспоминается вопиющая и ставшая достоянием широкой общественности история, которая произошла в новогоднюю ночь в немецком Кельне. Прибывшие в Германию мигранты бесчинствовали, оскорбляя и насилуя жительниц города. Самое интересное, что мэр города Генриетта Рекер рекомендовала девушкам пересмотреть свое поведение.
Естественно, часть граждан Германии возмутилась такой неадекватной реакцией чиновницы. Но я что-то не припомню, чтобы какая-нибудь украинская журналистка объявляла по этому поводу флешмоб. По главным вселенским вопросам человека и человечества свободы слова в Европе сейчас нет![/bilingbox]
Forbes: Russische Alphamännchen
Der renommierte Historiker und Journalist Sergej Medwedew nimmt im Wirtschaftsmagazin Forbes die Aktion zum Anlass, um das Verhältnis zwischen Gender und Politik in Russland genauer zu beleuchten:
[bilingbox]Die russische Staatsmacht ist im höchsten Maß archaisch und physisch: Sie gründet […] nicht auf rationalen Mechanismen, nicht auf gesichtslosen Maschinen der Weberschen Bürokratie, sondern auf direktem physischem Kontakt, auf Ausübung der Macht durch menschliche Körper. Zum Beweis des Anrechts auf Macht braucht es in Russland Akte übermäßiger Gewalt – wie das Schau-Massaker in Kuschtschowskaja, die Folterungen in der Abteilung für Innere Angelegenheiten Dalny, den Mord an Nemzow, das Abfackeln der Häuser von mutmaßlichen Terroristen in Tschetschenien, die demonstrative Vernichtung sanktionierter Lebensmittel …
Nicht zufällig steht an der Spitze des Staates ein Alphamännchen, eine Verkörperung männlicher Macht, der den Macht- und Kraftkult legitimiert hat, angefangen mit körperdominierten Halbnackt-Fotosessions bis hin zur Anwendung von Gewalt im Verhältnis zu Opposition und Nachbarländern. Deren Lexik und Argumentation („Die Schwachen werden geschlagen“, „Man muss als Erster zuschlagen“) entstammt direkt den Machtdemonstrationen aus kriminellen Ritualen. In diesem Sinn steckt hinter den patriarchalen Geschlechtermodellen, die die Hashtag-Aktion bloßlegt, die gesamte archaische Matrix der russischen Macht, die in der Hand von „Kerlen“ liegt.~~~Дело в том, что российская власть предельно архаична и физиологична: она основана […] не на механизмах рационального устройства, не на безличных машинах веберовской бюрократии, а на прямом физиологическом контакте, на силовом управлении человеческими телами. Для доказательства права на власть в России важны акты избыточного насилия – такие как показательное убийство в Кущевке, пытки в ОВД «Дальний», убийство Немцова, сожжение домов предполагаемых террористов в Чечне, демонстративное уничтожение санкционных продуктов… Неслучайно во главе государства стоит «альфа-самец», олицетворение мужской власти, который легитимизировал культ силы, начиная с физиологичных полуобнаженных фотосессий и заканчивая применением силы в отношении оппозиции и соседних стран, чья лексика и аргументы («слабых бьют», «бить первым») напрямую происходят из блатных ритуалов демонстрации силы. В этом смысле за патриархальными гендерными моделями, которые так явно обнажил флешмоб, стоит вся архаическая матрица российской власти, осуществляемой «мужиками».[/bilingbox]
Slon: Die Untertanen
Patriarchale Vorstellungen in der Gesellschaft kritisiert auch Kirill Martynow, Dozent an der Moskauer Higher School of Economics, in seinem Beitrag auf dem unabhängigen Portal Slon.ru – und findet es bezeichnend, dass die Aktion in der Ukraine und nicht in Russland startete:
[bilingbox]Die Aktion #янебоюсьсказать hat die Mechanismen freigelegt, auf denen die russische Gewalt-Kultur basiert. Es geht nicht nur um Gender- oder sexuelle Gewalt, man muss die Frage weiter fassen, denn „das Persönliche ist politisch“. Nicht zufällig kam die Aktion aus der postrevolutionären Ukraine, in der das Niveau politischer Freiheit deutlich höher ist. Der moderne Feminismus behauptet, dass das Patriarchat, also die institutionalisierten Praktiken maskuliner Herrschaft, die fundamentale Quelle aller weiteren Formen der Unterdrückung ist – sei es der politische Autoritarismus oder die ökonomische Ungleichheit.
Die Diskussion darüber, ob diese These theoretisch gerechtfertigt ist, soll hier ausgeklammert bleiben. Aber intuitiv scheint offensichtlich: Während russische Männer patriarchalischen Vorstellungen über das „weibliche Wesen“ anhängen, fügen sie sich gleichzeitig ziemlich harmonisch in die Rolle als Untertanen eines maskulinen Diktators.~~~Акция #янебоюсьсказать вскрыла механизмы, на которых основана российская культура насилия. Речь не только о гендерном и сексуальном насилии, вопрос следует ставить шире, ведь «личное есть политическое». Акция неслучайно пришла из постреволюционной Украины, в которой уровень политической свободы заметно выше. Современный феминизм утверждает, что патриархат, то есть институционализированные практики мужского господства, являются фундаментальным источником всех иных форм угнетения, будь то политический авторитаризм или экономическое неравенство.
Обсуждение теоретической справедливости этого тезиса можно вынести за скобки. Но интуитивно кажется очевидным: пока российские мужчины разделяют патриархальные представления о «женской сущности», они вполне гармонично выглядят в качестве подданных маскулинного диктатора.[/bilingbox]
Novaya Gazeta: Gewalt und Krieg
Jan Schenkman dagegen weist in der unabhängigen Novaya Gazeta vor allem auf Ähnlichkeiten zwischen der russischen und ukrainischen Gesellschaft hin:
[bilingbox]Es ist bemerkenswert, dass #яНеБоюсьСказать (Ja ne bojus skasat) zum russisch-ukrainischen Flashmob wurde. Auf Ukrainisch ist nur ein Buchstabe in dem Hashtag anders: Ja ne bojus skasaty. Ansonsten keinerlei Unterschied. Das Zeugnis einer Ukrainerin kann man nicht unterscheiden vom Zeugnis einer Russin. In der Gegend um die Twerskaja Straße [im Zentrum Moskaus] passiert ungefähr das gleiche wie um den Chreschtschatyk [im Zentrum Kiews]. Sowohl in der quasi freien Ukraine als auch im quasi totalitären Russland gibt es einen Haufen Leute, die dazu fähig sind, ein 14-jähriges Mädchen in einen Keller zu schleifen, einer Frau mit der Faust ins Gesicht zu schlagen oder einfach so zu brüllen, dass du vor Angst anfängst zu zittern.
Beide Länder sind von Gewalt durchsetzt. Ich bin mir sicher, das liegt nicht am Krieg. Im Gegenteil: Deswegen kam es zu diesem Krieg.~~~Поразительно, что #яНеБоюсьСказать стало русско-украинским флешмобом. По-украински тэг отличается всего на одну букву: #яНеБоюсьСказати. А в остальном никакой разницы. Исповедь украинки вы никак не отличите от исповеди россиянки. В окрестностях Тверской происходит примерно то же, что в окрестностях Крещатика. И в как бы свободной Украине, и в как бы тоталитарной России полно людей, способных затащить 14-летнюю девочку в подвал, разбить женщине кулаком лицо или просто наорать так, что будешь дрожать от страха.
Обе страны буквально напичканы насилием. Я уверен, что это не из-за войны. Наоборот: война из-за этого. А политики подтянулись уже по ходу дела.[/bilingbox]
Nesawissimaja Gaseta: Nicht vor aller Augen!
In der Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta stößt sich die Psychologin Swetlana Gamsajewa an Hass-Kommentaren im Netz. Gleichzeitig zweifelt sie, ob eine solch laute und öffentliche Aktion überhaupt nötig ist:
[bilingbox]Und daraufhin geschah etwas für die russische Öffentlichkeit Typisches: Auf die Welle von Offenbarungen folgte eine Welle von Beschuldigungen und zynischer, teilweise niederträchtiger Kommentare. Es schien, als verwandelte sich eine völlig menschliche Aktion in einen neuen, unmenschlichen Krieg. Einen Genderkrieg – denn offenbart hatten sich vor allem Frauen und Beschuldigungen kamen vor allem von Männern. Das heißt, im Grunde kam es im Netz zu einer weiteren Serie von Vergewaltigungen, nur diesmal in den Kommentaren. Und psychische Gewalt ist bekanntlich nicht weniger effektiv als physische. […]
Diese Geschichte hat gezeigt, wie schnell und laut wir sehr intime, schmerzhafte Themen aufgreifen. Und eben auch, wie achtlos wir mit uns selbst umgehen. Und wie gefährlich wir bei Konfrontationen aufeinanderprallen. Selbst wenn es um sehr sensible Themen geht. Und wie viel passive Aggression wir in uns tragen. Und folglich, wie viel Gewalt wir durchlebt haben.
Doch alle gleichzeitig von diesem Schmerz zu befreien, das wird nicht gehen. Das schafft kein Hashtag der Welt, oh je. Das kann nur jeder für sich alleine machen. Das muss auch gar nicht vor aller Augen geschehen.~~~А затем произошла привычная для российского публичного пространства вещь: навстречу волне откровений поднялась волна обвинений и циничных, а порой и грязных комментариев. Казалось бы, вполне человечная акция обернулась новой нечеловечной войной. Войной гендерной, потому что среди авторов откровений были женщины, а обвинений – мужчины. То есть, по сути, в Сети произошла новая серия изнасилований – только теперь в комментариях. А, как известно, психологическое насилие не уступает по эффективности физическому. […]
эта история показала, как легко и громко мы подхватываем очень интимные, болезненные темы. И, значит, как небрежно к самим себе относимся. И как опасно мы сталкиваемся в противостоянии. Даже когда речь идет о деликатных вещах. И как много скрытой агрессии мы таим. А значит, соответственно сколько насилия пережили.
Вот только освободиться от этой боли всем скопом не получится. Ни под каким хештегом, увы. Это можно сделать только поодиночке. И совсем необязательно у всех на виду.[/bilingbox]
Spektr: Auf die Scheiße zeigen
Dagegen argumentiert Ljudmilla Petranowskaja in ihrem viel beachteten Beitrag auf dem Exilmedium Spektr, dass die Aktion die Gesellschaft endlich zwinge, über ein lange tabuisiertes Thema zu sprechen:
[bilingbox]Die Aktion heilt keine Traumata, aber sie zwingt alle dazu, über etwas nachzudenken, worüber man nicht nachdenken möchte. Sie zwingt einen, darüber zu sprechen, wenn auch nur andeutungsweise oder mit zusammengebissenen Zähnen, gegen die inneren Widerstände. Man kann den Augiasstall nicht reinigen, wenn man nicht mit dem Finger auf die Scheiße zeigt und diese auch als solche benennt. Gewalt als Alltäglichkeit, Gewalt als „Ordnung der Dinge“, Angst vor der Gewalt, Identifikation mit dem Gewalttäter, Beschuldigung des Opfers – das ist genau die Scheiße, in der unsere Gesellschaft bereits so tief drin steckt, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.
Die Diskussion solcher Themen zwingt jeden zu wählen, was man dieser schmerzhaften und komplizierten Mischung hinzufügen möchte: noch mehr Missachtung und Beschuldigungen des Opfers oder ein wenig Mitgefühl und Respekt. Die Ergebnisse summieren sich zu der Gesellschaft, in der wir leben. Was wir wählen, das bekommen wir auch – so einfach ist das.~~~Флешмоб не вылечит ничьих травм, но он заставит всех подумать том, о чем думать не хочется. Заставит говорить об этом, пусть даже с экивоками или через губу, продираясь через защиты. Нельзя расчистить авгиевы конюшни, не указав пальцем на дерьмо и не назвав его вслух дерьмом. Насилие как обыденность, насилие как «порядок вещей», страх перед насилием, идентификация с насильником, обвинение жертвы,– это и есть то дерьмо, которое налипло за нашу историю в таких количествах, что не дает обществу двигаться дальше. Обсуждение таких тем заставляет каждого выбрать, что добавлять в болезненный и сложный замес: еще презрения и обвинений жертв или немного сочувствия и уважения. Эти выборы суммируются и мы получаем общество, в котором живем. Что навыбираем, то и получим, только и всего.[/bilingbox]
Wetschernaja Moskwa: Plötzlich hilflos
In Wetschernaja Moskwa, einem Boulevardblatt, das die Moskauer Regierung herausgibt, wundert sich Korrespondentin Lera Bokaschewa über europäische Frauen:
[bilingbox]Und das ist auch wichtig: Man muss in der Lage sein, für sich selbst einzustehen. Ich meine, dass eine erwachsene Frau diese Kunst beherrschen sollte. Sie muss wissen, wie man sich wo kleidet, wie man sich präsentiert. Weil – und auch das zeigt uns die alte Oma Europa – Frauen, die ihre Männer seit Jahrzehnten moralisch kastriert und sie der „Belästigung” bezichtigt haben, wo überhaupt nichts Kriminelles passiert war, waren plötzlich absolut hilflos, als sie realer Belästigung ausgesetzt waren. Wenn Migranten in Deutschland und Frankreich jetzt höchst ungehobeltes Verhalten gegenüber den wunderhübschen Europäerinnen an den Tag legen, können letztere nur heulen oder in Ohnmacht fallen. Da helfen weder Hashtag-Aktionen noch die Polizei.~~~И это тоже важно: уметь постоять за себя. Считаю, что взрослая женщина этим искусством должна владеть. Знать, как и куда одеваться, как себя подавать. Потому что – и это тоже нам демонстрирует старушка-Европа – женщины, которые на протяжении десятилетий кастрировали морально своих мужчин, уличая их в "домогательствах" там, где в помине не было ничего криминального, оказались неожиданно абсолютно беззащитны перед домогательствами реальными. Когда в Германии и Франции сейчас мигранты демонстрируют в высшей степени хамское поведение по отношению к прекрасным европейкам, последние могут только рыдать и падать в обмороки. Не помогают ни флешмобы, ни полиция.[/bilingbox]
63 Frauen-Haftanstalten gibt es in Russland. In nur 13 davon sind Schwangere untergebracht und Mütter, die in Haft ein Kind zur Welt gebracht haben. 637 Kinder zwischen null und drei Jahren wachsen derzeit innerhalb der sogenannten „Zone“ auf, in der Regel getrennt von ihren Müttern.
Auch Maria Noel brachte ihr drittes Kind während der Haft zur Welt. Die Journalistin und Aktivistin lebt heute in Frankreich und setzt sich mit ihrer Initiative Tjuremnyje Deti (dt. Gefängniskinder) ein für die Kinder und vor allem für deren Mütter. Im Interview mit dem Online-Journal KYKY erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen als Schwangere und Mutter in Haft.
Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Victoria Ivleva zeigt dekoder außerdem Bilder aus einer Foto-Serie, die in den Jahren 1990 bis 2013 in zwei unterschiedlichen Kolonien entstanden ist:
Im Jahr 1990 porträtierte Ivleva in der Kolonie in Tscheljabinsk den Alltag der Frauen, die in Haft schwanger waren und ein Kind zur Welt brachten. Knapp 20 Jahre später kam sie dorthin zurück und setzte die Serie fort, fotografierte auch in einer weiteren Kolonie in Nishni Tagil. An den Haftbedingungen für Mütter und Kinder hatte sich in der Zwischenzeit kaum etwas geändert: Sie sind getrennt voneinander untergebracht, die Mütter sehen ihre Kinder meist nur ein bis zwei Stunden pro Tag.
KYKY: Sie waren schwanger, als Sie in Untersuchungshaft kamen. Im wievielten Monat waren Sie?
Maria Noel: Im fünften. Wadik ist mein drittes Kind, und es war fast ein Wunder, dass ich nochmal schwanger geworden bin. Ein paar Jahre zuvor hatte ich einen schweren Schlaganfall, und solche Schwangerschaften wie meine verlangen große Vorsicht. Natürlich war das der Gefängnisleitung und den Ärzten bewusst. Weder mein Tod noch der Tod meines Kindes wäre ihnen recht gewesen. Sie reichten Anträge bei Gericht ein, wollten mir helfen. Im Grunde genommen haben sie freilich nur versucht, sich selbst unnötige Schwierigkeiten vom Hals zu halten …
Das Erste, was mich in meinem neuen Leben erwartete, waren Schikanen durch das Wachpersonal. Nein, keine physischen – emotionale. Ich hörte unzählige Variationen zum Thema „Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen“, „Dir war doch klar, was du da tust“, „Mutti“ und so weiter. Der Bauch war schon gut zu sehen, und allein die Tatsache, dass ich schwanger war, sorgte ständig für Gespött. So war es nicht nur bei mir, das ist allgemein üblich – „ein bisschen piesacken“. Alle Formen von Erniedrigung wurden da ausprobiert.
Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass man Frauen derart behandelt, Frauen im Allgemeinen und Schwangere im Besonderen. Das war ein Schock, ich habe die ganze Zeit geheult, aber die Wachleute haben sich über mich kaputtgelacht.
Kaputtgelacht?
Ja, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber sie [die Verwaltung der Besserungseinrichtungen und Mitarbeiter des russischen Strafvollzugssystems FSIN – KYKY] haben Kinder eigentlich ganz gern. Ein bisschen von wegen „Ich bin ja selber Oma und bin besser klargekommen“. Und sie behandeln die Insassinnen wie missratene Frauen, wie verwahrloste Kinder.
Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Mit der Erklärung, man müsse sie vor ihren ‚nichtsnutzigen Müttern‘ beschützen
Erwartet eine Frau während ihrer Haft ein Kind, findet man für diese Schwangerschaft schnell Erklärungen: potentielle Vorteile, Dummheit, alles Mögliche, nur nicht, dass sie dieses Kind vielleicht liebt und sich darauf freut. Niemand wird sich mit dir freuen, niemand wird mit dir mitfühlen. Alles, was du jetzt noch hast, ist: dich selbst und das Kind, und die Menschen, die draußen auf dich warten. Das Einzige, was man tun kann und auch tun sollte, ist die Spielregeln zu verstehen. Und die gibt es. 2011 haben wir eine Art Handbuch zum Thema Schwangerschaft in Untersuchungshaft zusammengestellt – zur Lektüre empfohlen, wie man so schön sagt.
Diese schiefe Einstellung der Frau gegenüber hängt mit einer verkrustetenSichtweise zusammen – einer sowjetischen. Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Sie werden isoliert, mit der Erklärung, das sei „notwendig“, um sie vor ihren „nichtsnutzigen Müttern“ zu beschützen.
Wir haben eine lange Geschichte, die in die Zeiten des Gulag zurückreicht. Obwohl sich heute in den Lagern vieles zum Guten ändert und man im Großen und Ganzen nicht sagen kann, dass die Frauen gänzlich wie Vieh gehalten werden, lebt das System nichtsdestotrotz auf einer unbewussten Ebene nach den Traditionen des Gulag. Wir haben eine enorme „Entmenschlichung“ erlebt, das geht nicht spurlos vorüber.
Manchmal werden die Frauen mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt
Haben Sie im Gefängniskrankenhaus entbunden?
Ich nicht, nein. Ich hatte einen Kaiserschnitt und bin von einem der besten Ärzte von Ufa operiert worden. Ich habe da gemischte Gefühle. Nach der Entbindung waren 24 Stunden am Tag drei Wachleute bei uns im Zimmer … Nach einer Weile nimmst du diese Menschen nicht mehr als Fremde wahr. Sie sind weder Verwandte noch Freunde, aber du kennst sie, gewöhnst dich an sie …
Allerdings ist meine Geschichte weder die Regel noch eine Ausnahme. Wenn es nicht genug Wachpersonal für die Begleitung gibt, werden die Frauen manchmal mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt. Es kommt vor, dass man am ersten Tag nach der Entbindung überstellt wird, und das Kind – als freier Mensch – bleibt entweder so lange im Krankenhaus wie nötig, falls eine Untersuchung ansteht, oder es wird, was öfter geschieht, zusammen mit der Mutter in die Haftanstalt gebracht.
Der Faden zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet
Der Faden, die Bindung zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet. Eine Frau, die im Gefängnis entbunden hat, muss ständig ihr Recht behaupten, Mutter zu sein. Nach deiner Verurteilung (oder sogar schon früher, sobald gegen dich ermittelt wird) hört du genauso still und leise auf, ein Teil der „großen Welt“ zu sein und fängst an, nach den Regeln und Gesetzen der „kleinen Stadt“ zu leben, in der alles von der Verwaltung abhängt, und nichts von dir.
Wie ist die übliche Vorgehensweise nach einer Entbindung?
Kind und Mutter kommen dorthin zurück, von wo sie in die Geburtsklinik gegangen sind. Zusammen oder getrennt. Wenn der Mutter eine Überstellung per Eisenbahn bevorsteht, dann wird sie zusammen mit ihrem Säugling in einem der berüchtigten stolypinschen Waggons abtransportiert. Nach Ankunft in der Kolonie kommt das Kind ins Säuglingsheim, das sich auf dem Koloniegelände befindet (in Chabarowsk liegt es außerhalb des Geländes). Die Mutter hat das Recht, das Kind in den arbeitsfreien Zeiten zu sehen. Sie selbst unterliegt denselben Bedingungen wie die anderen Insassinnen auch.
Das Kind bleibt in der Kolonie, bis es drei Jahre alt ist. Wenn die Mutter dann noch ein weiteres Jahr oder weniger absitzen muss, kann der Aufenthalt des Kindes auf bis zu vier Jahre verlängert werden. Wenn die Mutter noch eine längere Haftstrafe vor sich hat und keine Verwandten, die das Kind aufnehmen könnten, kommt das Kind in ein Kinderheim.
Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder. Einige holen ihre Kinder später aus den Kinderheimen, aber der Prozentsatz ist gering. Nur sehr wenige verlassen die Kolonie gemeinsam mit ihren Müttern und kehren nie wieder dorthin zurück.
Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die ‚da drin‘ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen
Wie viele Stunden am Tag darf die Mutter mit ihrem Kind verbringen?
Laut Gesetz: während der arbeitsfreien Zeit. Und wenn die Mama nicht arbeitet? Bei uns hat die ganze Einheit eine Zeitlang nicht gearbeitet, und es gab nichts zu tun außer „Sticken“ oder dem nie endenden „Putzen des Geländes“, aber trotzdem – morgens zwei Stunden und abends zwei Stunden. Dabeisind die Kinder doch so klein. Zwischen null und drei Jahren – das Alter, in dem die Mutter fast rund um die Uhr gebraucht wird.
Hier entsteht folgendes Problem: Bei einer Frau, die zum ersten Mal entbindet, kann es unter Stress vorkommen, dass die Mutterliebe nicht automatisch anspringt. Liebe ist ja auch eine Art Prozess. Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die „da drin“ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen.
Ich höre oft, sogar von Menschenrechtlern, Beschreibungen wie „Frau mit schwierigem Schicksal“ oder „die wird sowieso einsitzen“ – wie sarkastisch. Ja, das sind Frauen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Und was nun? Soll man sie aufs offene Feld führen und mit dem Flammenwerfer abfackeln?
Nicht jede Gefangene, die ein Kind hat, begreift sich als Mutter. Aber es ist falsch mit Gewohnheiten zu argumentieren, wie dem Rauchen, zum Beispiel: „Was ist denn das für eine Mutter, die raucht doch!“ Das ist schlichtweg Blödsinn. In der Zone rauchen alle, oder so gut wie alle, denn Zigaretten sind nicht bloß eine Gewohnheit, sondern auch eine Art zu kommunizieren und eine „Universal-Währung“. Darüber braucht man nicht zu sprechen. Worüber man sprechen müsste, ist Barmherzigkeit. Aber diesem Wort begegnet man leider immer seltener.
Kann eine Mutter denn zum Beispiel dort, wo sich ihr Kind befindet, als Kinderfrau arbeiten?
Theoretisch ja. Ich habe anfangs als Kinderfrau gearbeitet, dann fing ich an, Musikunterricht zu geben. Praktisch das gesamte Personal, das mit den Kindern arbeitet, besteht aus Menschen „von draußen“. Die Kinderfrauen werden unter den Insassinnen ausgewählt. In der Regel nach dem Prinzip der „Konfliktfreiheit“ mit der Verwaltung, und überhaupt nicht danach, ob jemand ein Kind hat oder nicht.
Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun
Ist das ein Privileg?
Man hat gute Bedingungen, auch wenn man im Gegensatz zur Arbeit in der Produktion kein Geld verdient. Die Arbeit der Kinderfrauen in der „Mutti“-Einheit wird als Gemeinschaftsdienst angesehen und nicht entlohnt. Dafür konnte man dort essen, wenn Lebensmittel übrigblieben, obwohl das, wenn es jemand mitbekommt, bestraft wird. Die Kinder bekommen viel besseres Essen als die Gefangenen. In meiner ganzen Zeit dort gab es nur ein paar Mal Engpässe in der Verpflegung der Kinder, dann hatten die Kinder ein paar Tage lang Graupen und Suppe mit Dosenfleisch, bis das Essen im Lager ankam.
Viele unterstellen den Frauen, die sich für die Arbeit mit Kindern melden, sie hätten es auf die guten Bedingungen abgesehen. Es gibt dort eine Dusche. Die ist eklig und grauenvoll, ja, aber immerhin mit warmem Wasser. Du kannst zweimal am Tag heiß duschen. Vergleichen Sie das mal mit einmal die Woche „Banja“. Aber auch hier, die Bedingungen unterscheiden sich je nach Kolonie.
Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun. Dabei ist es wichtig, sich um ein gepflegtes Äußeres zu bemühen und sich angemessen zu verhalten.
Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum ‚böswilligen Verstoß‘. Ich hatte 14 oder 15 davon
Wie reagiert die Verwaltung auf Frauen, die versuchen, für die Rechte ihrer eigenen Kinder zu kämpfen?
Ich persönlich war in einer seltsamen Situation: Ich stand völlig unter Schock, war aber alles andere als „stumm“. Wenn mir etwas nicht gefiel, dann habe ich das gesagt. Naja, und wenn eine stillende Mutter in den Hungerstreik tritt, ist das echter Quatsch. Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum „böswilligen Verstoß“. Ich hatte 14 oder 15 davon.
Heute von diesen Verstößen zu erzählen, ist ziemlich komisch, besonders wenn man bedenkt, dass ich auf Bewährung vorzeitig entlassen wurde. Verstehen Sie, was ich meine?Verstöße und Belohnungen, ja alles liegt einzig in der Hand der Verwaltung.
Der erste Leiter der medizinischen Abteilung (später wurde das leitende Personal ausgewechselt), der in unserer Kolonie dafür verantwortlich war, wie die Kinder untergebracht sind und was sie essen, war schon ziemlich alt. Er trank, und eigentlich war ihm alles schnurzpiepegal.
Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem, mit dem die Frauen nach ihrer Freilassung konfrontiert sind?
Die Wiedereingliederung. Die Frauen kommen raus – und haben keine Ahnung, wie sie in dieser Welt leben sollen, wo sie hin sollen. Viele vergessen während der Haft – tut mir leid, wenn ich das so sage –, wie man Essen macht. Viele holen ihre Kinder genau aus diesem Grund nicht zu sich: Weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind, weil sie denken, dass sie für ihre Kinder nicht sorgen könnten. Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen. Ins Lager schicken sie dich ja, um, metaphorisch gesprochen, deine Persönlichkeit „auszulöschen“. Wenn man schon über Humanismus sprechen will, dann muss man darüber schreiben, sprechen und es zeigen.
Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld
Nach Natalja Kadyrowas Dokumentarfilm Die Anatomie der Liebe [der Film porträtiert Mütter und ihre Kinder im Strafvollzug – dek] und ihrem Projekt Gefängniskinder – denken Sie, der Stein ist ins Rollen gekommen?
Wir haben es geschafft, die Sichtweise der russischen Strafvollzugbehörde auf die gemeinsame Unterbringung von Müttern und Kindern herumzureißen. Es ist klar, dass das alles nicht sehr schnell passiert, aber es passiert etwas.
Natalja Kadyrowa und ich haben uns erst kennengelernt, als der Film herauskam. Ich war mit meinem Projekt beschäftigt, und Natascha drehte zu diesem Zeitpunkt schon ihre Dokumentation. Ich war erst skeptisch, dachte: Naja, noch so ein Film. Aber es kam anders. Der Film ist wichtig, programmatisch, wie man sagt. Nach seinem Erscheinen fingen die Leute an, uns zu schreiben, uns anzurufen. Ein Jahr später wurde der Film im Ersten Kanal gezeigt. Nicht zur Primetime, sondern nachts, ja, aber immerhin.
Wie alt ist ihr Sohn jetzt?
Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld. Vor allem die weibliche. Jede Frau hat andere Schwierigkeiten: Die eine findet keinen Partner im Leben, die Nähe zu einem Mann rückt in den Hintergrund. Eine andere wird erneut straffällig, einfach weil sie wieder im „Milieu“ landet oder keinen Platz für sich findet außerhalb der Zone.
Unser System des Strafvollzugs gehört in eine andere Epoche, es ist ein Leben, das von der großen Welt losgelöst ist. Viele kehren dorthin zurück. Sie kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen.
Viele kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen
Gibt es im heutigen Russland jemanden, der sich ernsthaft für die Hilfe ehemaliger weiblicher Häftlinge einsetzt?
Es gibt die Bewegung Rus sidjaschtschaja [Einsitzende Rus, gegründet von Olga Romanowa]. Der Fonds kümmert sich unter anderem um Hilfe für Frauen nach ihrer Entlassung. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie genau solche Menschen sind wie alle anderen: Sie müssen essen, sich die Zähne putzen, Zugang zu medizinischer Versorgung haben … Doch die Gesellschaft reagiert ganz simpel: „Selbst schuld.“ Das war’s, Punkt.
Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine Frau, wenn man sie aus dem einen Boden in einen anderen verpflanzt, fähig ist, Wurzeln zu schlagen: Haus, Kinder – alles ist möglich. Ich kenne solche Beispiele. Die Haltung: „Du bist selber schuld, also sieh zu, wie du es hinkriegst“ – die ist wirklich asozial.