Immer wieder kritisieren Opferverbände und Menschenrechtsaktivisten, dass Frauen in Russland nicht genug vor häuslicher Gewalt geschützt werden. Erst 2017 trat ein Gesetz in Kraft, wonach häusliche Gewalt als Ordnungswidrigkeit mit entsprechend geringem Strafmaß geahndet wird. Nur, wenn jemand binnen eines Jahres wiederholt tätlich wird, droht ihm eine Haftstrafe – von bis zu drei Monaten.
Derzeit sorgt eine geplante Gesetzesänderung wieder für Proteste. Der Entwurf sieht einen besseren Opferschutz vor, etwa ein Kontaktverbot für Täter. Aktivistinnen und Menschenrechtlerinnen wie der Rechtsanwältin Olga Gnesdilowa gehen die Änderungen jedoch nicht weit genug. Im Gespräch mit RBC kritisierte sie etwa, dass der Abstand, den ein Täter zum Opfer einhalte müsse, von den vorgesehenen 50 Metern wieder auf Null zurückgenommen worden sei.
In der Debatte gibt es zum einen die konservative Position, die vor allem seitens der Kirche vorgetragen wird, wonach die hierarchische Familienstruktur schützenswert und Privatangelegenheit sei, und zum anderen die liberale, die einen größeren Schutz für die Opfer und härtere Strafen für die Täter verlangt.
Generell polarisieren Fragen wie Feminismus und Frauenrechte sehr stark, dabei verlaufen die Meinungs-Grenzen quer durch unterschiedliche Lager. „Es ist möglich ein Liberaler zu sein, der die Gleichstellung der Geschlechter leugnet“, kommentiert Wladislaw Inosemzew im Blog auf Echo Moskwy. „Wer sie aber verteidigt, der kann nur Liberaler und Demokrat sein.“
Anna Narinskaja geht in der Novaya Gazeta noch einen Schritt weiter und meint, in der Frauenfrage habe sie sich endgültig vom „Paketdenken“ verabschiedet.
Noch vor ein paar Jahren schien mir, den meisten denkenden Menschen in Russland sei das sogenannte Paketdenken eigen.
Hinter diesem Begriff steht der Gedanke, dass unsere Werte weltanschaulich miteinander verknüpft sind. Um also zu wissen, welche Gesinnungs- und somit auch Wahl-Präferenzen ein bestimmter Mensch hat, muss man sich keineswegs tiefgehend mit ihm beschäftigen. Man muss über ihn nur irgendetwas, jedoch etwas möglichst Symptomatisches, wissen. Beispielsweise kann man aus dem, wie jemand auf die Frage antwortet, ob sowohl Väter als auch Mütter Elternzeit nehmen können, auch auf vieles andere schließen: was er über das Verbot von Gay-Paraden denkt, was er von radikaler moderner Kunst hält. Und wen er bei den nächsten Wahlen wählen wird.
In Russland waren noch vor rund sieben Jahren diese Pakete enger geschnürt als in den USA, wo dieses Phänomen erstmals benannt wurde. Im Grunde gab es genau zwei: Das archaische Denken und das progressive Denken.
Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst
Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst und vom verfaulten beziehungsweise nicht verfaulten Westen. Ja, und wen du wählst, das sage ich dir auch.
Heute muss ich zugeben, dass diese Theorie nicht mehr funktioniert. Und nicht nur, weil die heutige Regierung ganz offensichtlich untauglich ist für die sogenannte Rolle des Bewahrers, sodass die Kette „Ihre Installationen sind keine Kunst; die Redefreiheit kann nur bis zu einem bestimmten Punkt gelten; man muss doch seine sexuelle Orientierung nicht offen vor sich hertragen“ bei weitem nicht immer endet bei „Putin ist unser Steuermann“.
Die Krise der werteorientierten Regierungspolitik fällt zusammen mit einem Wertewandel auf der ganzen Welt in einer Zeit, in der neue ethische Regeln aufgestellt werden (versuchen Sie nur mal auf die Frage zu antworten, wofür jemand einsteht, der den Putinismus unterstützt – außer dem russischen Anrecht auf die berühmte Halbinsel). Das Ergebnis ist, dass das Bündel progressiver Werte, wie es vor zehn Jahren geschnürt war, dem von heute in keiner Weise mehr gleicht.
Es geht doch nicht, dass die Heldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist!
Die Pakete lösen sich auf, logische Ketten fallen auseinander. Wie viele derer, die die Redefreiheit verfechten, verzweifeln daran, dass die Hauptheldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist! Das geht doch nicht, das kann man doch nicht gutheißen! Das schwache Geschlecht kann doch bitte nicht unseren Luke Skywalker ersetzen. Auf gar keinen Fall. Und wie viele übereifrige Gegner der aggressiven russischen Außenpolitik teilen in den sozialen Medien Tag für Tag Ansichten wie „Nun, wenn sie mit in sein Hotelzimmer gegangen ist, dann heißt das, dass sie verantwortlich ist für das, was dann kam“.
Wichtig ist: Der wesentliche Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Paket – der Punkt, an dem sich alle treffen, an dem es keinen Unterschied gibt – ist mittlerweile die Frauenfrage. Bei den unterschiedlichsten damit verbundenen Themen (ob man jungen Müttern verbieten soll, im Schutze eines Museumssaals zu stillen, bis hin zu all den Variationen von „selbst Schuld”) vereinen sich die Vertreter diametral entgegengesetzter Ansichten. (Das Geschlecht hat hierbei keine Bedeutung – bei weitem nicht alle Frauen sind Verfechterinnen der Gleichberechtigung.)
Der Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Denken ist die Frauenfrage
Ich möchte die beiden für mich offensichtlichsten Gründe dafür anführen.
Erstens: Für die ältere Generation klingt „Gleichberechtigung der Frau“ wie ein Echo sowjetischer Heuchelei, als sich eben jene Gleichberechtigung ausdrückte in der bis zur Erschöpfung getriebenen, die Kräfte übersteigenden Arbeit einer Eisenbahnarbeiterin und Vollzeit-Parteisekretärin mit fester Hochsteckfrisur.
Zweitens: Das Internet und andere Technologien machen uns alle zu Bewohnern der großen weiten Welt. US-amerikanische Themen, von eben jener Heldin aus Star Wars bis zum Ende vieler Karrieren aufgrund von Belästigung, werden gleichsam auch zu unseren Themen.
Und so entsteht die irreführende, aber überzeugende Vorstellung, wir würden in einer Welt leben, in der Metoo gesiegt hat und in der es in den unterschiedlichsten Organisationen Frauenquoten gibt. Und nicht in einem ganz konkreten Land, in dem der Abgeordnete Leonid Sluzki junge Interviewerinnen begrapscht und nicht nur seinen Posten behält, sondern auch noch ausgezeichnet wird. In einem Land, in dem in einer der besten Schulen der Hauptstadt im Unterricht den Jungen Hammer und den Mädchen Lappen in die Hand gedrückt werden mit den Worten „Ihr werdet doch Hausfrauchen“, gleichsam zur Programmierung ihrer Rolle. In einem Land, in dem häusliche Gewalt entkriminalisiert wird.
Genau deswegen ist die Frage, welches Verhältnis wir zur Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Sicherheit für Frauen in Russland haben, eine ausschlaggebende Frage. Ausschlaggebend für das Land und für uns, die wir hier leben. In vielem ist das eine Frage der Bewusstmachung und des Begreifens der Wirklichkeit, also dessen, was Veränderungen überhaupt erst möglich macht. Nein, wir leben nicht in der sowjetischen Simulation von Gleichberechtigung und nicht in der US-amerikanischen unbedingt zu erfüllenden Politcorrectness. Wir leben in diesem Hier und in diesem Jetzt.
1990 – ich bin auf dem Weg nach Russland, in mein liebes Sankt Petersburg, ins damals märzdunkle Leningrad. Ich fahre zusammen mit einer Freundin, über Stockholm, Helsinki, in den himmelblau lackierten Abteilen des Zuges Helsinki–Leningrad. Fünf Stunden Fahrt. Meine erste Grenzkontrolle nach Russland in der Eisenbahn. Als West-Berlinerin bin ich diese Art Kontrollen durch den DDR-Transit von Kindesbeinen an gewöhnt und nun in schauriger Erwartung unfreundlicher, strenger Kontrolleure.
Wir sitzen mit einigen Frauen im Abteil, verstehen sehr wenig. Dann die Kontrolle: Junge Männer kommen, öffnen die Tür und begrüßen uns: „Herzlichen Glückwunsch zum 8. März!“ Alle lachen sich fröhlich an. Meine Freundin und ich sind verdutzt. Was ist der 8. März? Warum gratulieren uns die Männer herzlich, die uns eigentlich von oben bis unten filzen sollen – wir haben immerhin eine koffergroße Reisetasche mit Fruchtjoghurt bei uns: Birne, Heidelbeer, Erdbeere, Himbeere, Banane, als Gastgeschenk. Aber diese krasse Schmuggelware interessiert sie nicht. Sie sind freundlich, gratulieren, schauen die Pässe an und gehen wieder. Als sie weg sind ist die vorherige Stille aus dem Abteil verflogen, die Frauen lachen und reden und beginnen, uns wichtige Wörter beizubringen (ich erinnere mich an tarelka (dt. Teller), weiches r vor hartem l, ein phonetisches Gewitter im Mund einer Russischanfängerin).
Später am Abend fahren wir zum ersten Mal die riesig langen High-Speed-Rolltreppen der Stadt im Sumpf empor und kommen zu Anja nach Hause. Dort wartet ein Tisch, gedeckt, gefüllt mit den größten Köstlichkeiten in rauen Mengen. Der Internationale Frauentag. Gekocht hat das alles Anjas Stiefmutter Oxana. Die sitzt leicht ermattet, aber freundlich lächelnd am Ende der Tafel. Lecker, fröhlich, viel.
Ich liebe den Internationalen Frauentag, den 8. März, denn für mich ist er der Anfang meiner Reisen nach Russland. Zeiten, in denen ich mich immer willkommen fühle.
Das war kurz nach dem Mauerfall, liebe Leserinnen und Leser, vor knapp 30 Jahren. Vor einigen Wochen wurde entschieden, dass der Internationale Frauentag auch in Berlin ein arbeitsfreier Feiertag ist. Für mich ist das keine anzweifelbare Quatschaktion, wie, nennen wir sie Skeptiker, es nennen, sondern eine heimliche zeitliche Klammer oder Brücke. Der Systemwechsel war in Deutschland erfolgreich und gleichzeitig hart, hart gegenüber denen, die ihr Leben in ein anderes System investiert hatten. Genau wie wir unser Leben in die jetzige Zeit investieren.
Vielleicht haben wir die Chance, den altehrwürdigen Frauentag frisch zu besetzen, nicht mit Mimosen, blumengeschmückten Handtüchern und Parfum für Frauen, die dann am Schluss wieder allein das Geschirr abspülen. Vielleicht kann es ein Zeichen sein, wenn dieser eher in sozialistischen Systemen verankerte Internationale Frauentag auch in Gesamtdeutschland an Bedeutung gewinnt. Auch der Systemwechsel braucht Versöhnung und Zeichen.
Lasst euch zu diesem neuen Feiertag durch dekoder inspirieren. Es lohnt sich, im Frauendossier zu stöbern. Eine nagelneue Gnose zu einer der schillerndsten Vorkämpferinnen der Frauenrechte wird ab dem 8. März dort zu finden sein.
In der zweiten Märzhälfte wird die Krim in den Vordergrund rücken. Anlässlich des fünften Jahrestags der Angliederung an Russland, mit einem Dossier im revolutionierten Wissenstransferprogramm. (Apropos Frauentag: Schaut dann mal, wer in diesem Dossier vor allem schreibt, das ist kein Quotenresultat.)
Am 23. und 24. März werden wir im Rahmen der Leipziger Buchmesse das dann hoffentlich druckfrische dekoder – Russland entschlüsseln #1 vorstellen. Schaut gern am Samstag in der Kulturapotheke oder am Sonntag in den Messehallen vorbei!
Wir wünschen euch allen (auch die Nicht-BerlinerInnen dürfen mitfeiern, zumindest bei uns in der Redaktion) einen schönen sozusagen ersten Internationalen Frauentag! Lest gern und schaut und hört und tanzt – und steht nicht zu lange in der Küche. Obwohl schon, damit es lecker wird, aber bitte in der Gruppe.
Und wer schon heute anfangen will zu feiern, kann das tun mit einer ordentlichen Portion Eierkuchen Pfannkuchen Bliny, denn diese Woche wird mit der Masleniza der Winter vertrieben, da darf aus traditionellen oder Geschmacks- oder Wärmegründen ein Löffel Butter extra an den Teig!
Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen. Sie erhielt zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen für ihre Werke, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Als sie 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde, charakterisierte der Literaturkritiker Karl-Markus Gauß in seiner Laudatio ihr Werk mit den Worten: „Im Geflecht der Familien und im Netz der Freundschaften zeigt Ljudmila Ulitzkaja, wie die große Geschichte aus lauter kleinen Geschichten gemacht wird.“
Wie wichtig dieses Geflecht auch für die Privatperson Ljudmila Ulitzkaja ist, wird im Interview deutlich, das Katerina Gordejewa mit ihr führte. Sie sprachen über Persönliches, über starke Frauen, #metoo und darüber, warum der westliche Feminismus in Russland nicht verstanden wurde. Dabei zeigt sich, dass Ulitzkaja selbst geprägt ist von diesem Blickwinkel und ihr westliche feministische Positionen wenig vertraut sind. So ist das Interview mit der 75-jährigen Ulitzkaja in der russisch-orthodoxen Pravmir eines, woran sich (nicht nur) westliche Leser durchaus reiben können.
Katerina Gordejewa: Derzeit sehen wir täglich in den Nachrichten, dass sich Frauen zusammentun und Berge versetzen. Ein aktuelles Beispiel ist der Marsch der Mütter. Bei diesem Marsch scheint mir besonders wichtig, dass sich die Frauen nicht wegen gemeinsamer politischer Ansichten zusammengeschlossen haben, sondern einfach, weil sie Frauen sind, Mütter. Die kann nichts aufhalten. Das ist für Russland eine völlig neue Kraft.
Ljudmila Ulitzkaja: Oh, ja. Wie heißt es doch bei Pasternak: „Was könnte sich messen mit weiblicher Kraft? Sie ist unfassbar mutig!“ Denkst du, diese weibliche Kraft ist in Russland schon erwacht?
Zumindest erwacht sie gerade.
Es lief in den letzten 100 Jahren darauf hinaus: Seit 1904 vergingen in Russland keine drei Jahre, ohne dass Männer getötet wurden. Seit dem Russisch-Japanischen Krieg gab es immer nur: Krieg und Repressionen, Repressionen und Krieg.
Wegen diesem ständigen Schwund der besten, stärksten und klügsten Männer, die in Konflikten und Kriegen umkamen, hat es sich in den letzten 100 Jahren so ergeben, dass die Frauen in Russland einfach qualitativ hochwertiger sind, und außerdem sind sie auch in der Überzahl. Während die Männer in Kriegen und Lagern umkamen, mussten die Frauen sowohl die typischen weiblichen Aufgaben übernehmen als auch die Familie versorgen und beschützen, was für gewöhnlich die Aufgabe der Männer gewesen war.
Deswegen stießen westliche feministische Losungen bei uns erwartungsgemäß auf Unverständnis: Sie passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen. Die westlichen Feministinnen wollten, dass Frauen wie auch Männer arbeiten, dass sie am politischen, sozialen und beruflichen Leben teilnehmen. Während unsere Frauen, abgearbeitet von der Doppelbelastung, von jener Situation nur träumen konnten, gegen die man im Westen aufbegehrte. Wenn du von früh bis spät schuftest wie ein Gaul, sind die berühmten drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – ein Traum: Zu Hause sitzen, Suppe kochen, mit den Kindern Hausaufgaben machen und zur Kirche gehen.
Westliche feministische Losungen passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen
Zum ersten Mal beobachtete ich dieses nahezu komische Unverständnis in den 1980ern, als amerikanische Feministinnen in die Sowjetunion kamen und davon sprachen, was sie beschäftigt, und unsere Frauen sie überhaupt nicht verstanden. Diese Feministinnen verlangten, Abtreibungen zu legalisieren (bei ihnen waren sie verboten) und forderten, dass eine Frau selbst frei entscheiden kann, wann sie ein Kind bekommt. Die russischen Frauen saßen nur da und nickten: „Ja, ganz genau, Abtreibungen sind furchtbar, es gibt überhaupt keine Betäubung, sie reißen es dir einfach so aus dem Leib.“ Man redete völlig aneinander vorbei.
Aber auch bei den Problemen gab es fast keine Überschneidungen: Die einen litten unter den einen Sachen, die anderen unter ganz anderen. Ich bin im Grunde überhaupt keine Anhängerin von feministischen Ideen, auch wenn ich vor ein paar Jahren den Simone de Beauvoir Prize bekommen habe.
Der Anfang des 21. Jahrhunderts wird in die Geschichte eingehen als eine Zeit, in der nicht mehr nur einzelne, besonders fortschrittliche Frauen für ihre Rechte und Freiheiten eintreten. Frauen auf der ganzen Welt tun sich zusammen und protestieren gegen Dinge, die zuvor als selbstverständlich oder sogar als Errungenschaften der sexuellen Revolution galten.
Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm. Angefangen bei der Weinstein-Affäre, die gewissermaßen zum Auslöser für die ganze Kampagne wurde. Weißt du, jemand, der mal beim Theater oder Film hinter den Kulissen war, weiß genau, dass die Regisseure und Produzenten sich die Weiber vom Leib halten müssen: Junge (oder nicht mehr junge) Schauspielerinnen sind so besessen davon, eine Rolle zu bekommen, dass sie vor nichts zurückschrecken und zu allem bereit sind.
Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm
Ich kann dir wirklich nicht sagen, wer in der Überzahl ist: die männlichen Bösewichte, die die weibliche Schwäche und den Wunsch, Karriere zu machen, ausnutzen, oder die Frauen, die sich selbst, ihren Freundinnen oder ihren Konkurrentinnen die Kehle durchschneiden würden, nur um eine gute Rolle zu bekommen. Ich habe ein bisschen am Theater gearbeitet und kenne die Zustände, deswegen finde ich diese ganze Geschichte lächerlich.
Aber die Aufmerksamkeit nimmt nicht ab.
Mir scheint diese Kampagne vor allem gegen eine der mächtigsten Industrien des 20. Jahrhunderts gerichtet zu sein, die sicherlich vorhatte, auch im 21. Jahrhundert noch ordentlich mitzumischen: die Schönheitsindustrie. Alles ist darauf ausgerichtet, dass die Frau mit jedem Jahr schöner und sexier wird. Die Mode ist vollständig auf dieses sexy Image ausgerichtet, das übrigens aus den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt. Weißt du eigentlich, was das Symbol dieser Bewegung war?
Was denn?
Der Minirock.
Hatten Sie auch einen?
Na, was denkst du denn? Klar. Sogar einen aus Leder, eigenhändig aus der Ledercouch kreiert: Ich riss den Lederbezug herunter und nähte mir einen Minirock daraus, den ersten in unserer Gegend. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass diese nackten Beine, die der Minirock zeigt, bis heute im Clinch mit jenen Beinen liegen, die von Vertretern eines anderen kulturellen Codes unter langen Kleidern oder weiten Hosen versteckt werden.
Ich hatte einen Ledermini, geschneidert aus einer Ledercouch
Ich denke, hier lohnt sich ein Blick darauf, wie sich diese ganze Gender-Geschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Wobei weltweit immer noch zwei Strategien dominieren.
Welche sind das?
Die erste: Der kleine Finger, der aus schwarzen Kleidern hervorblickt. Er muss nur kurz aufblitzen – und schon ist der Mann der Besitzerin hoffnungslos verfallen und entscheidet sich für sie. Die zweite Strategie kommt aus der Schönheitsindustrie: Die Frau soll immer noch attraktiver, sexuell aufreizender sein – denken wir nur daran, wie viel Geld, Kraft und Zeit Frauen in Kosmetik, Kleidung und Unterwäsche investieren. Als ich letztens einen BH für 1500 Euro gesehen habe, ist mir die Kinnlade runtergefallen. Bei dieser Strategie suggeriert die Frau, die sich durch Make-up und fehlende Kleidung maximal ausgestellt hat: Beachtet mich, und dann entscheide ich selbst, welchen von euch ich nehme.
Da gibt es die albernsten Sachen, aber auch ein aktuelles, kulturanthropologisches Problem: Wie soll man heutzutage seine Kinder erziehen? Beispielsweise die Mädchen. Wonach sollen sie sich richten? Soll man ihnen rosa Kleidchen oder Jogginganzüge kaufen? Lackpumps oder Sportschuhe?
Meine Enkelin Marianna hat von meiner Tochter immer nur mädchenhafte Kleidung bekommen, aber jetzt wo sie etwas älter ist und sich ihre Kleidung selbst aussucht, trägt sie nur geschlechtsneutrale Sachen: Jeans und Sportschuhe. Und auch wir tragen doch mittlerweile alle dieselben Kapuzenjacken, die sich höchstens dadurch unterscheiden, ob die Knöpfe rechts oder links sind. Ich bin da keine Ausnahme.
Sind Sie direkt vom Leder-Minirock auf Unisex-Garderobe umgestiegen?
In meiner Jugend habe ich mir viel aus Kleidung gemacht, ich muss zugeben, ich war immer sehr extravagant angezogen. Meine Mutter geriet außer sich, wenn ich meinen Lederrock trug, dazu ein amerikanisches Militärhemd in Camouflage, das ich aus dem Second Hand-Laden hatte und mit einem Gürtel festzurrte, und 15 Zentimeter High Heels. Ich fand, ich sah sehr cool damit aus. Irgendwann hat das nachgelassen. Heute bin ich bei meiner Kleiderwahl viel gelassener, auch wenn nichts, was ich trage, zufällig ist. Aber natürlich gibt es Dinge, die ich nie anziehen würde.
Was zum Beispiel?
Ein Abendkleid.
Mein Mann sagte mal: ‚Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.‘
Nicht einmal, wenn Sie den Nobelpreis bekämen?
Nicht einmal dann. Mein Mann sagte mal: „Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.“ Dieser Satz hat mich ein für alle Mal von der Idee befreit, ich müsste etwas anziehen, das mir nicht gefällt, statt etwas Bequemes, worin ich mich wohlfühle. Das kleine Schwarze? Nie im Leben!
Und abgesehen vom Kleid, haben Sie mal über den Nobelpreis nachgedacht?
Diese Frage hat sich für mich erledigt.
Warum?
Weil da ein ganz bestimmter Mechanismus am Laufen ist: Dieses Jahr bekommt ihn ein Amerikaner, nächstes Jahr ein Chinese, danach wäre ein Schwarzer nicht schlecht, und danach die Frauen nicht vergessen, und dann geben wir ihn am besten mal einem Querschnittsgelähmten. Die Idee der politkorrekten Gleichberechtigung, die einem bei der ganzen Geschichte entgegenschlägt, hat meine bescheidenen Chancen völlig zunichte gemacht: Eine russischsprachige Frau hat den Nobelpreis schon bekommen – Swetlana Alexijewitsch. Und ich habe ihr von ganzem Herzen dazu gratuliert.
Damit waren Sie aber eine der wenigen, die ihr von Herzen gratuliert haben.
Klar! Ihr Preis hat mich von der ganzen Anspannung und Nervosität befreit. Es sickern ja immer Informationen durch, ich wusste, dass mein Name dort auf irgendwelchen Listen auftauchte. Endlich konnte ich aufatmen.
Als Alexijewitsch den Preis bekam, sind die Schriftsteller in Russland aus allen Wolken gefallen und kurz darauf brach die Empörung los: „Wie kann das sein? Nabokov hat ihn nicht bekommen, und sie schon!“ Aber die Sache ist die: In den Statuten der Nobelpreis-Stiftung heißt es, der Preis soll „denen zugeteilt werden, die […] einen für die Menschheit großen Beitrag geleistet haben“. Bei dem Preis geht es also um humanistische Ideale und streng genommen nicht um Literatur. Im Gegensatz zu etwa dem britischen Man Booker Prize – da geht es um Literatur. Die Booker-Nominierungen folgen ausschließlich literarischen Kriterien. Obwohl es auch da Nuancen gibt: Es ist viel wichtiger auf die Short List zu gelangen, als den Preis zu bekommen.
Warum?
Weil die Short List dort, wie bei vielen Preisen, eine ziemlich unabhängige Angelegenheit ist: Experten, die nichts miteinander zu tun haben, sprechen Empfehlungen aus. Aber sobald es um den ersten Preis geht, beginnen die Intrigen. Das ist in England nicht anders als bei uns. Dass ich dreimal auf der Short List des russischen Booker war, zählt für mich viel mehr, als dass ich ihn einmal bekommen habe.
Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten durchsehe, wundere ich mich, wie Sie es schaffen, überall gleichzeitig zu sein. Wozu machen Sie das?
Wirklich? Ich habe eher den Eindruck, ständig hinterherzuhinken. Aber letzten Endes läuft alles eigentlich darauf hinaus, dass jeder von uns eine Aufgabe im Leben hat. Manchmal verlieren wir aus dem Blick, worin sie besteht. Meistens reagieren wir aber einfach, bevor wir überhaupt verstanden haben, worin unsere Herausforderung besteht. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, dass ich meine großen Bücher schon geschrieben habe.
Heißt das etwa, das war’s?
Einen großen Roman werde ich nicht mehr stemmen. Ich habe ihn mir schon ausgedacht, er hängt irgendwo in der Luft, aber schreiben wird ihn jemand anders.
Warum? Sind Sie müde? Haben Sie keine Lust mehr?
Ich habe Angst, Katja. Ich bin 75, mir bleibt objektiv betrachtet wenig Zeit. Da liegt nicht mehr die Hälfte meines Lebens vor mir, und auch kein Drittel, sondern nur noch ein kleines Stück. Deswegen setze ich mir lieber kleine Ziele, und die erreiche ich auch.
Was zum Beispiel?
Ich habe ein paar Erzählungen geschrieben, darüber bin ich sehr froh, denn ich dachte, das wäre vorbei, aber plötzlich kam es wieder. Das macht mich sehr glücklich. Meine Arbeit interessiert mich immer noch, und ich mache sie gern. Aber ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst, du denkst sogar im Schlaf daran. Und wenn du dich mit jemandem über ganz andere Dinge unterhältst, denkst du trotzdem daran. Er verschlingt dich voll und ganz. Anders kann ich nicht arbeiten.
Ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst
Andere können es. Boris Akunin zum Beispiel, letztens gab er bei einem Interview auf die Frage, wie er arbeite, die geniale Antwort: Morgens zwei Stunden. Das glaube ich ihm natürlich nicht: es ist unmöglich, in zwei Stunden so viel zu produzieren.
Sie nutzen ihre Lebenszeit aber letztendlich nicht für diese Arbeit, sondern um zu Dmitrijews Gerichtsverhandlung nach Petrosawodsk zu fahren oder mit einem Plakat für Senzow auf der Straße zu stehen.
Die Mahnwache dauerte ganze 15 Minuten. Und ich musste es tun. Denn so stark das Gefühl der Ohnmacht auch ist, nichts zu machen, ist noch schlimmer. Deswegen musste ich mich einmischen. Das war nichts Besonderes: ich brauche 10 Minuten zur Station Puschkinskaja, ich bin hin und habe dort 15 bis 20 Minuten gestanden, und es hat überhaupt nichts bewirkt. Es ist sogar bemerkenswert, wie wenig die Passanten uns beachtet haben: ein Grüppchen alter Irrer.
Es waren nur „Ihre Leute“ da. Wie kommt das? Ist Ihre Generation stärker? Auch im moralischen Sinne?
Ach nein, Unsinn.
Aber es gibt doch Unterschiede?
Ja, natürlich. Der wesentliche ist wohl, dass man in unserer Generation ohne einander gar nicht überleben konnte. So war das Leben damals. Wenn du zum Arzt gehen wolltest, musstest du eine Freundin bitten, auf das Kind aufzupassen. Wenn du ein Ticket nach Leningrad brauchtest, musstest du die Cousine einer Bekannten anrufen, damit sie es dir kauft.
Früher war man stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art
Der Alltag war ungemein hart: Ich ging immer in den Keller einer Fleischerei, wo ich den Metzger kannte, und kaufte gleich sechs Stück Fleisch – für Nadja, Natascha, Tanja, Diana, Ira – weil ich ja nicht jeden Tag dort hinging und weil es verflucht selten überhaupt etwas zu kaufen gab. Diese sechs Stück schleppte ich heim, und dann ging es ans Teilen. Es ging viel sozialer zu als heute. Und man war stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art.
Ist das gut oder schlecht?
Weder noch, es ist einfach ein Merkmal. Heute ist es anders. Bei euch ist es eine individuelle Entscheidung, mit wem ihr zu tun habt. Der Alltag zwingt euch zu nichts: Man kann einen Babysitter rufen, sich das Fleisch nach Hause liefern lassen, einen Handwerker kommen lassen, um den Kühlschrank zu reparieren oder sonst noch was. Aber ich will meine gewohnte Welt der sozialen Bindungen nicht verlassen. Sie schafft nämlich eine enorme Lebensqualität: Ich fühle mich sicher hinter einer Chinesischen Mauer von Freunden.
Aber wir haben doch das gesamte 21. Jahrhundert dafür gekämpft, dass man ohne Vetternwirtschaft Tickets bekommen, Lebensmittel kaufen oder sich medizinisch behandeln lassen kann?
Das ist keine Vetternwirtschaft, meine Liebe. Das läuft alles über Empathie. Daran ist überhaupt nichts falsch. Wenn ein Mensch keinen Krankenwagen rufen kann, wenn niemand kommt, um ihm zu helfen, ihn zu retten oder zu behandeln – das ist falsch. Aber wenn ich meine Bekannten Petja, Jura oder Natascha anrufe und sage: „Natascha, es geht mir beschissen. Was denkst du, schaff ich das oder soll ich einen Arzt rufen?“ – dann ist das ein großes Glück.
Warum?
Ganz einfach, weil du dankbar bist und diese Dankbarkeit auch von anderen spürst, wenn du etwas für sie tust. Es ist ungemein wichtig, sich auf positive Weise in die Gesellschaft eingebunden zu fühlen.
Dann müssen Ihnen all die Ideen des „verschönerten“ modernen Moskaus, wo alles effizient ist und automatisch läuft, sehr zuwider sein?
Das stimmt, sie gefallen mir nicht. Ich denke, all diese Verschönerungen sind in Wirklichkeit nur geschmacklose Deko.
Wirklich alle?
Ja, mein Auge protestiert, wobei ich mir dann selbst sage: „Halt! Beruhig dich, die Stadt braucht das: diesen Raum zum Spazieren, diese glatten glänzenden Bürgersteige, alles sieht viel ordentlicher aus als vor fünfzig Jahren.“
Eine große Rolle spielt dabei sicher das, was man in der Biologie Prägung nennt: Die ersten Bilder, die ersten Gerüche, die ersten Wahrnehmungen, Anordnungen – all die Dinge, die für immer in uns bleiben und unser Leben lang bestimmen, was uns gefällt und was nicht.
Eine Stadt lebt und altert mit ihrer Geschichte. Eine alte, alternde Stadt ist organisch. Das heutige Moskau beachtet sein Erbe überhaupt nicht. Auf meinem ganzen Weg hierher zu unserem Treffen habe ich nichts gesehen, was gleichgeblieben wäre, außer dem Feinkostladen Jelissejew, ich glaube dort haben sie sogar noch dieselben Lampen. Der Rest verjüngt und erneuert sich ständig, hat Angst auch nur eine Sekunde stillzustehen. Jagt der schwindenden Jugend hinterher.
Gibt es an diesem Moskau auch etwas, das Ihnen gefällt?
Ja, hier und da gibt es hübsche Springbrunnen. Und es gibt mehr Licht. Aber wenn ich auf den Dritten Ring komme, habe ich den Eindruck im Nirgendwo zu sein. Ich verstehe nicht, was es für eine Stadt ist, wo sie sich befindet, auf welchem Kontinent, an welchem Punkt der Erde – so durchschnittlich ist dieser Ort. Moskaus Stadtbild war tatsächlich immer sehr bescheiden, aber nun hat es sich nicht auf natürliche Weise verändert, sondern nach den Ideen von Architekten und Städtebauern. Das gefällt mir nicht, aber ich gebe zu: Es ist bequemer geworden. Ich habe mein Auto verkauft und fahre nur noch Metro, denn nur damit kann ich meine Fahrzeiten in dieser Stadt noch richtig kalkulieren.
[…]
Für gewöhnlich ärgern sich Menschen in Ihrem Alter über Veränderungen.
Nein, ich finde das oft cool. Ich ärgere mich nur über mich selbst, wenn ich nicht hinterherkomme, ich versuche immer dranzubleiben: Ich arbeite mit Computern, seit es sie gibt. Aber mein Enkel ist natürlich schneller.
Denken Sie oft an den Moment, als Sie erfahren haben, dass Sie Krebs haben und fortan mit der Krankheit leben oder sogar an ihr sterben müssen?
Nein. Das war zu erwarten, ich komme aus einer Familie mit Krebs und habe mich hin und wieder untersuchen lassen, weil ich wusste, dass es irgendwann so kommen würde. Ich habe mich nur geärgert, als sich herausstellte, dass die Ärztin, zu der ich gegangen war, meinen Krebs übersehen hatte: Als ich mit der Therapie anfing, war der Krebs schon im Stadium III. Nach der OP sagte man mir: „Mensch, so einen großen Tumor haben wir noch nie gesehen“ oder „lange nicht gesehen“, ich weiß es nicht mehr genau.
Hatten Sie Angst?
Nein, überhaupt nicht. Ich war besorgt. Mein Leben ist geprägt von einem Gefühl der Dankbarkeit. Und das hat sich nur verstärkt, nachdem das an mir vorübergegangen ist, meine Krankheit hätte ja auch anders ausgehen können.
Wie hat die Krankheit Sie verändert? Viele Menschen finden während einer schweren Krankheit Zuflucht im Glauben.
Bei mir war es genau andersherum. Natürlich bin ich dem Schicksal und den höheren Mächten dankbar, dass ich dieses Geschenk – noch ein paar Jahre nach dem Krebs – bekommen habe. Aber in diesen Jahren bin ich vollkommen in Daniel Stein, also Oswald Rufeisen, aufgegangen. Die Bekanntschaft und der Austausch mit ihm haben mich und mein Verhältnis zum Glauben in eine tiefe Krise gestürzt.
Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr
In welcher Hinsicht?
Er hat mir gesagt: Wir wissen nicht einmal wirklich, was Elektrizität ist, woher sollen wir wissen, wie Gott beschaffen ist? Mit diesem Satz hat er mich aus der furchtbaren Sklaverei befreit etwas zu tun, was ich selbst nicht vollständig verstehe. Ich entfernte mich allmählich von der Kirche und näherte mich Daniels Idee an, die im Wesentlichen eine apostolische Idee ist: die Tat. Ich versuche durch Taten zu leben … Dafür brauche ich keine Kirche.
Haben Sie denn keine Angst? Man sagt ja: In einem abstürzenden Flugzeug gibt es keine Atheisten.
Ich bin keine Atheistin, Katja. Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr. Aber je näher der Tod rückt, desto weniger interessiere ich mich für Religion.
Wofür interessieren Sie sich dann?
Für das Heute, für diese Minute. Mittlerweile lebe ich viel mehr im Hier und Jetzt als noch vor einigen Jahren. Mein Leben hat an Effektivität gewonnen. Mir ist es mittlerweile sehr wichtig, das, was ich gerade tue, gut zu machen. Damit meine ich nicht die literarische Arbeit. Wahrscheinlich bin ich heute ein viel glücklicherer Mensch, als ich es je in meinem Leben gewesen bin. Und ich bin mir bewusst, dass sich das jeden Moment ändern kann.
Pussy Riot ist eine Gruppe von Kunstaktivistinnen. Ab Herbst 2011 traten Frauen in Sturmhauben und bunten Kleidern moskauweit an öffentlichen Orten mit feministisch motivierten Punkperformances auf. Den Höhepunkt bildete im Frühjahr 2012 der Auftritt mit dem Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Für zwei der Mitglieder endete der anschließende Prozess mit Haft im Straflager.
Am 7. November 2011 kam es an öffentlichen Orten in Moskau zu wilden Spektakeln. Auf einmal standen da drei Frauen mit grellbunten Kleidern und Sturmmasken auf einer Arbeitsbühne in einer Metrostation und später auf dem Dach eines Trolleybusses. Zu Punk-Klängen aus einem portablen Abspielgerät brüllte die eine in ein Mikrophon, die andere krachte auf einer E-Gitarre, alle drei sprangen wild herum. Die Schaulustigen dürften den vorgetragenen Text wohl kaum verstanden haben. Auf dem Blog von Pussy Riot war jedoch bald das Musikvideo zu sehen, zu dessen Produktion die Konzerte gedient hatten – Leg das Pflaster frei! war der erste Hit vonPussy Riot, gesungen über das geloopte Riff eines Oi-Punk-Klassikers.
Als nur vier Monate später dieselben drei Frauen für ihren Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale verhaftet worden waren, bezeichnete man sie in den Medien häufig als Punkband. Zwar waren die jungen Frauen sicherlich begeistert von der rohen, negativen Energie des Punk, sie ließen jedoch auch keinen Zweifel daran, dass sie ihn in den Dienst einer Kunstaktion stellten. Kenner der Aktionskunst wie der Veteran des Moskauer Aktionismus der 1990er Jahre Anatoli Osmolowski, erkannten daher auch intuitiv: Die eigentlichen Vorläufer von Pussy Riot waren weniger im Riot Grrrl Movement, der weiblichen Aneignung des Hardcore in den 1990er Jahren zu suchen, als in Künstlerinnen-Gruppen wie den Guerilla Girls. Deren Gorillamasken erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Sturmhauben von Pussy Riot: Sie anonymisieren den weiblichen Protest. Der Blog von Pussy Riot listete etwa ein Dutzend Pseudonyme von Aktivistinnen auf.
Wie die Künstlergruppe Woina, in der zwei der später verhafteten Aktivistinnen, Nadeshda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch, tätig gewesen waren, war Pussy Riot exzentrische Weggefährtin der russischen Oppositionsbewegung, deren Demonstrationstätigkeit um den Jahreswechsel 2011/2012 ihren Höhepunkt erreichte. Im Dezember traten sie mit dem Song Tod dem Gefängnis, Freiheit dem Protest! auf. Sie sangen auf einem Schuppen vor einem Moskauer Untersuchungsgefängnis, in dem verhaftete Demonstranten festgehalten wurden, im gleichen Monat sangen sie auf dem Roten Platz Revolte in Russland – Putin hat sich eingepisst. Auch dies war noch nicht strafwürdig, erst die Aktion in der Kathedrale führte zur Anklage von Tolokonnikowa, Samuzewitsch und Maria Aljochina.
Obwohl die Anklage im Prozess das erste Mal den 2007 verschärften Chuliganstwo-Artikel (Störung der öffentlichen Ordnung)1 bemühte, gehört der Prozess aufgrund des zugeschriebenen Motivs der „Verletzung religiöser Gefühle“ in eine Reihe mit den Kunstgerichtsprozessen gegen die Ausstellungen Achtung, Religion! und Verbotene Kunst. Zwar hatten sich die Frauen in ihremPunkgebet ja gerade an die Gottesmutter gewandt, sie möge doch Putin verjagen, doch wurden die Frauen nicht wie politische Aktivistinnen, sondern wie diabolische Junghexen behandelt. Jede politische, künstlerische oder auch nur kulturelle Facette ihrer angeblich blasphemischen Handlungen sollte ausgeblendet werden. Ihr aus der Punk-Szene übernommener Pogo-Tanz wurde so zum Veitstanz umgedeutet. Zeugen der Verteidigung wie die Theologieprofessorin Jelena Wolkowa oder der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurden nicht zugelassen, kirchliche Kodizes durchziehen die Urteilsbegründung – für Tolokonnikowa und Aljochina endete der Prozess mit Straflager, Samuzewitsch erhielt eine Bewährungsstrafe.
Während das Urteil im Ausland mit großer Empörung aufgenommen wurde, ging das innenpolitische Kalkül der Kampagne gegen Pussy Riot durchaus auf. Insbesondere die vom Lewada-Zentrum für Meinungsforschung regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Prozess dokumentieren, dass die massenmediale Inszenierung der Ereignisse um Pussy Riot in den kunst- und oppositionsfernen Schichten der russischen Bevölkerung der Regierung Putin merkliche Unterstützung brachte. Und das in einer Zeit, in der sie durch Vorwürfe der Korruption und Wahlfälschung unter Druck geraten war.
Seit Tolokonnikowa und Aljochina wieder auf freiem Fuß sind, leihen sie ihren politischen Zielen ihre von der Staatsmacht gewaltsam entblößten, medienwirksamen Gesichter. Neben der Gründung einer NGO, die sich für Gefangenenrechte in Russland einsetzt, kam es zu diversen Interaktionen mit big Politics, Musik- und Showbusiness. So traten Pussy Riot in einer Folge der Netflix-Serie House of Cards auf und produzierten für den Abspann mit Johanna Fateman der Riot-Grrrl-Band Le Tigre ein Musikvideo für den Abspann. Auf dem alten Blog von Pussy Riot kritisierten anonym gebliebene Aktivistinnen den „Ausverkauf“ von Pussy Riot scharf. Im Sommer 2015 beging die Frau mit der Sturmmaske virtuellen Selbstmord auf dem ursprünglichen Blog von Pussy Riot. Bemerkt hat diese Auflösung der Ursprungs-Gruppe jedoch kaum jemand.
Zur Fußball-WM 2018 in Russland traten Mitglieder der Gruppe erneut in Erscheinung, als sie zum Endspiel in Polizei-Kostümen auf das Spielfeld rannten, um so auf eingeschränkte Meinungsfreiheit im Gastgeberland aufmerksam zu machen. Sie forderten unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen im Land. Für ihre Aktion wurden vier Mitglieder von Pussy Riot zu 15 Tagen Haft verurteilt. Einer von ihnen, Pjotr Wersilow, kam am 11. September mit plötzlichen Sehstörungen und anderen Symptomen ins Krankenhaus. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde. Nach seiner Entlassung sprach er mit dem russischen Exil-Medium Meduza und sagte, dass er den Grund für die Vergiftung nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei seinen Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sehe. Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden. Nur zwei Tage nach dem WM-Finale kam Pussy Riot erneut in die Schlagzeilen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass die Russische Föderation mit ihrem Urteil über das Punk-Gebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale die Menschenrechte der Aktivistinnen verletzt hatte. Russland muss nun Schmerzensgeld und Schadensersatz an die Verurteilten zahlen. Da der Oberste Gerichtshof Russlands schon im April 2018 eine Entscheidung des EGMR mit Schulterzucken quittierte, bleibt es fraglich, ob Russland tatsächlich die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzung gegenüber Pussy Riot-Mitgliedern übernehmen wird.
In der Form, in der er zur Anwendung kam, besteht der Artikel seit 2007. Damals hatte eine Gesetzesänderung auch nichtgewaltsame Handlungen unter strafrechtliche Verfolgung gestellt, wenn sie die „öffentliche Ordnung grob verletzen“, indem sie z. B. durch „politischen, ideologischen […] religiösen“ Hass eine „tiefe Verachtung der Gesellschaft“ deutlich machen. Für einen Überblick über die Gesetzesänderungen siehe Livejournal Rimma Poljak: Kakie izmenenija preterpela pri Putine statʼja 213 UK RF «Chuliganstvo»↩︎
Kedr Livanskiy ist das neue, weibliche Gesicht des russischen Electro, beim US-Label 2MR records unter Vertrag – und in diesem Sommer in Deutschland auf dem MELT-Festival zu sehen und zu hören. Colta.ruhat die Künstlerin, die mit bürgerlichem Namen Jana Kedrina heißt, zum Interview getroffen.
Dennis Bojarinow: Du hast selbst Journalismus studiert und musstest sicher selbst schon mal Interviews führen. Warum hast du seinerzeit das Studium geschmissen?
Irgendwas muss man ja studieren. Da bin ich an die journalistische Fakultät gegangen, denn ich habe mich schon immer für Literatur, Philosophie und Kunst interessiert. Und es gab dort tolle Dozenten. Im Prinzip habe ich mich da intensiv mit Literatur beschäftigt. Ich wollte aber nie Journalistin werden, ich habe dafür kein Talent, ich kann ganz schlecht Gedanken formulieren. Einmal haben wir als Semesterarbeit eine Zeitschrift gemacht und dafür Interviews mit Studierenden und Jugendlichen gemacht. Sie hatte den schrecklichen Namen JUM, so etwas wie Jugendlicher Maximalismus. Ich stand damals auf Punk-Rock, deshalb gingen mich diese Themen etwas an.
Die Punk-Rock-Gruppe, in der du gespielt hast, war eine Frauenband?
Nein, außer mir waren da nur Jungs. Ich habe gesungen und die Lieder und Melodien geschrieben. Die Lieder handelten von Partys, Drogen und Alkohol, so in dem Stil, worüber jetzt die Gruppe Poschlaja Molli singt. So Pop-Punk, aber nur mit Gitarre, ohne Electro. Ich habe mich an1,5 Kilogramma otlitschnogo Pjure und Blink-182 orientiert. Wir hatten einen total plumpen Sound – nur der Bassist konnte wirklich spielen.
Aufmerksamkeit haben wir bekommen, weil wir auf Russisch gesungen haben – und weil ein Mädel sang. Damals gab es im Punk-Rock wenig Frauen, ja das ist immer noch so. Überall.
Was war das größte, was eure Band zustande gebracht hat?
Eine Tour – vier Städte haben wir abgeklappert in dem Transporter, der als „Todesbus“ berühmt wurde. Das war unsere einzige Tour. Nach solch einer Tour muss man ein paar Monate auf Entzug. Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch, aber deswegen sind sie ja zu den Konzerten gekommen. Ein einziges gemeinsames dionysisches Bacchanal!
Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch
Parallel dazu habe ich mich mit Literatur beschäftigt und der höfischen Kultur hingegeben. Viele meiner Punk-Kumpel haben nichts davon geahnt, haben gedacht, die säuft nur.
Warum ist es für dich vorbei mit dem Punk?
Ich glaube nicht, dass Punk stumpf ist. Aber aus dem Punk, den wir gespielt haben, bin ich rausgewachsen. Es kommt der Moment, da nervt es, wenn du immer außer dir bist. Dann will man etwas Ernsteres. Selbst als ich zu Punk- und Hardcore-Konzerten gegangen bin, habe ich weiter Alternative und Electro gehört, CocoRosie, Xiu Xiu, Boards of Canada.
Wann hast du angefangen, elektronische Musik zu machen?
Mit 23. Ich bin in einem Kreis von Leuten gelandet, die den Club NII betrieben und die Labels Gost Zvuk und John’s Kingdom. Die Zeit forderte einen neuen Schritt. Wir waren alle Musiker. Gingen zu Partys und auf Electro-Konzerte. Zuerst haben wir alles zusammen gemacht, dann sind wir auseinandergegangen – und jeder hat für sich allein weitergemacht.
Moskauer Plattenbau-Meere aus Drohnenperspektive mit „Vtgnike“ von „Gost Zvuk“
Und wie bist du in den Kreis hineingeraten?
(Lacht.) Ich habe einfach mit dem Oberhaupt der Gruppe angebandelt, mit Pascha Miljakowy, der ist jetzt als Buttechno bekannt. Aber der hatte nichts direkt mit dem zu tun, was ich mache. Wir sind zusammen gewachsen, ich glaube, dass unsere Beziehung unseren Projekten in ihrer Entwicklung geholfen hat.
Als ich mit Punk aufgehört habe, wollte ich unbedingt Musik machen. Aber ich kann kein Instrument spielen. Ich habe mal Gitarre gelernt, aber um so zu spielen, um es richtig ordentlich zu können, braucht man viel Geduld. Um elektronische Musik zu machen, muss man nicht unbedingt Instrumente spielen können (lacht).
„Buttechno“-Set bei einer Party von „Boiler Room“. Das Projekt „Boiler Room“ organisiert geheime Electro-Events an verschiedenen Orten der russischen Hauptstadt
Ja, das ist für viele verlockend.
Das Tolle ist – ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien. Ich schaue immer mal wieder Tutorials auf YouTube. Aber cooler ist, jemanden zu besuchen und dann zusammen Musik zu machen, dann sehe ich wie dieser Mensch die Software benutzt.
Mein Hauptinstrument ist beispielsweise Ableton, aber zehn Leute können das auf zehn verschiedene Arten benutzen. Du schnappst das eine oder andere auf und entdeckst dann für dich etwas Neues. Wenn ich grad mal Geld habe, kaufe ich Instrumente, Synthesizer oder Drum Machines. Aber ich benutze sie nicht bei Konzerten. Meine Musik ist sehr geeignet, um gleichzeitig zu spielen und zu singen.
Du machst zu Hause Musik – bist eine typische Bedroom-Musikerin. Denkst du manchmal, dass du einen Schritt weiter gehen musst in ein professionelles Studio?
So ein professionelles Niveau ist keine unbedingte Voraussetzung für gute Musik. Zum Beispiel Timati und Black Star Burger, die machen das auf so professionellem Niveau, nehmen alles im Studio auf, und? Natürlich muss man sich mit der Materie auskennen, muss mixen und mastern können. Aber du kannst auch zu Hause gute Ergebnisse erzielen, wenn du Studiomonitore hast. Und wenn nicht, dann gehst du zu Freunden, die mehr von Sound Engineering verstehen.
Das ist jedenfalls nicht die Richtung, in die ich strebe. Mir ist schon klar, dass es für ein Massenpublikum einen anderen Sound braucht, glatter, und so. Aber ich habe nicht das Anliegen, ein großes Publikum zu erobern.
Und welches Anliegen hast du dann?
Mehr Musik zu machen, die sich transformiert und entwickelt und mir weiterhin Freude macht. Ich mag es, wenn alles harmonisch geschieht. Ich habe nicht das Anliegen, Ruhm und Ehre zu erwerben, vielleicht würde meine Psyche das gar nicht aushalten.
Vor welchen Electro-Musikern aus Russland hast du ernsthaft Respekt?
Vor allen Musikern bei den Labels Gost Zvuk und RASSVET records, das Pascha Miljakow gegründet hat, auch vor denen vom Samaraer Label Oblast. Die sind zwar nicht sehr berühmt, aber ich sehe, wie diese Jungs und Mädels leben. Nur 200 oder 300 Leute, die ins NIIgehen, kennen sie, aber die sterben für die Musik. Die haben keine Ego-Motive. Das ist geil.
„Lapti“ von „Gost Zvuk“ mit einem Video im Trashpop-Stil
Wie kam es, dass du berühmter geworden bist als sie?
Meine Musik ist einfacher. Sie basiert auf Melodien. Sie ist verständlich und eingängig. Aber einfacher heißt nicht schlechter.
Um experimentelle Musik verstehen zu können, braucht es Erfahrung und Wissen. Man muss sich dahinterklemmen und lernen, Schönheit in anderen Dingen zu sehen.
Derzeit arbeitest du mit dem US-amerikanischen Label 2MR records zusammen. Wie ist euer Verhältnis zueinander? Hast du einen Vertrag?
Ja, ich habe einen Vertrag. Ich bin bei solchen Dingen recht leichtfertig. Erst vor Kurzem wurde mir bewusst, dass ich einen Vertrag über vier LPs unterschrieben habe!
Erschienen ist bisher eine.
Genau. Und noch eine EP, ein Mini-Album, aber das zählt nicht. Und das ist ein bisschen traurig, weil mich auch andere Label anschreiben, echt gute. Aber alles, was ich mache, muss ich 2MR geben oder zumindest mit ihnen absprechen. Und die wollen niemandem was geben. Ich bin also in einer Art Geiselhaft, aber bisher bedrückt mich das nicht.
Ich bin leider keine sehr produktive Künstlerin. Ich kann nicht pro Jahr ein Album machen.
Du schuldest ihnen noch drei Alben, was schulden sie dir? Wie sieht es mit einer Finanzierung aus?
Sie können mir einen Vorschuss zahlen, pro Videoclip kriege ich beispielsweise 1000 Dollar. Aber dieses Geld wird später von der Beteiligung abgezogen, die aus dem Verkauf bei mir landet. Sie leihen mir was. Das sind keine Mäzene, das ist ein Label.
Machen sie dir Vorschläge, wie du deine Musik besser vermarkten könntest, nach dem Motto: Wir müssen jetzt einen Clip drehen, was hältst du von diesem wunderbaren Regisseur hier?
Zum Glück nicht. Nur manchmal schubsen sie mich ein bisschen, schreiben mir zum Beispiel: Dem und dem musst du unbedingt ein Interview geben. Oder sie schreiben: Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen – du musst unbedingt mit einer Single oder einem Clip kommen. Und ich antworte ihnen: Sorry, Leute, später (lacht).
Dir stehen Auftritte auf großen europäischen Festivals bevor: Primavera in Barcelona und MELT in Deutschland. Willst du da irgendwas besonderes machen?
Ich will mit Visuals, also mit Videobegleitung auftreten. Normalerweise ging das immer ohne, aber wenn da mehr als 2000 Leute im Publikum sind, kann ich nicht ganz allein auf der Bühne stehen. Außerdem will ich mich noch mit einem Tonmeister treffen und mit ihm mein Live-Programm durchgehen, vielleicht mischen wir das nochmal neu ab.
Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen
Ich bin schon in anderen Ländern aufgetreten, aber eher auf Partys, zu dem mein Publikum kommt, für die, die meine Musik kennen. Hier muss ich die Aufmerksamkeit eines Publikums gewinnen, das mich überhaupt nicht kennt. Das ist eine echte Herausforderung!
In der Musik von Kedr Livanskiy steckt eine klare russische Identität, die fehlt fast überall – nicht nur in der elektronischen Musik. Du hast das: russische Texte, sogar russische Lyrik, und das Flair der New Wave aus der Spätperestroika und der Elektronik wie bei NII Kosmetika. Arbeitest du absichtlich in diese Richtung?
Nein, nicht absichtlich. Als ich versucht habe, etwas absichtlich zu machen – Mensch, jetzt mach ich mal so was wie Stuk Bambuka w 11 Tschassow, da kam bei mir gar nichts raus (lacht). Es war einfach nur Zeug.
Das bis heute populärste sowjetische Kriegsplakat zeigt die entschlossen blickende Mutter Heimat im roten Gewand, die nach dem deutschen Überfall die Söhne des Landes an die Front ruft. In der rechten Hand hält sie den Text des Kriegseides, die linke Hand ist auffordernd erhoben. Hinter ihrem Rücken sieht man einen Wald aus Gewehren mit Bajonetten. Die Verteidigung der Heimat ist damit als Männersache definiert. Entsprechend häufig stellt die Bildpropaganda der Kriegsjahre Frauen (und Kinder) als verletzliche Opfer der deutschen Aggression dar und fordert Frauen auf, die eingezogenen Männer als Arbeitskräfte in Industrie und Landwirtschaft zu ersetzen. Gelegentlich würdigt die politische Ikonographie auch Frauen der Roten Armee bzw. Partisaninnen.1 In der am heroischen Großen orientierten Erinnerungskultur des Krieges finden Frauen aber nur geringen Raum.
„Mutter Heimat ruft!“ Bild – gemeinfrei/Wikipedia
In allen beteiligten Staaten führte der Krieg zu dramatischen Veränderungen im Leben der Bevölkerung. Allerdings reichten seine Auswirkungen in der Sowjetunion, die das Kriegsgeschehen jahrelang auf eigenem Territorium erdulden musste, weiter und tiefer als irgendwo sonst. Hier bekam auch die weibliche Bevölkerungsmehrheit die Anforderungen und Folgen des Krieges stark und unmittelbar zu spüren. Zum einen als Kriegsopfer, die mit dem Verlust von Angehörigen zurechtkommen mussten. Zum anderen als Kriegsmobilisierte für Industrie und Landwirtschaft oder als Angehörige der Roten Armee. Die populäre Propagandaformel „Männer an die Front – Frauen an die Heimatfront“ bildete die Realität nicht ganz zutreffend ab. Traditionelle Geschlechterrollen verschwammen während des Krieges durchaus.
Schwerstarbeit ohne Rücksicht
Der Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung war im Zuge der Stalinschen Industrialisierungspolitik rasant angestiegen und machte 1940 bereits knapp 40 Prozent aus.2 Der Krieg führte dann zu einer weiteren deutlichen Steigerung: Im Jahr 1945 waren über die Hälfte aller Beschäftigten Frauen.3Darin spiegelte sich nicht nur die Wirksamkeit staatlicher Propaganda. Vielmehr wurden mit den staatlichen Erlassen zur allgemeinen Arbeitspflicht von Februar/September 1942 alle Frauen im Alter von 16 bis 45 (Februar 1942) und schließlich von 14 bis 50 Jahren (September 1942) zur Arbeit in der Kriegswirtschaft mobilisiert.4
In der Tat „ersetzten“ Frauen die einberufenen Männer sowohl in der Industrie als auch, und vor allem, in der Landwirtschaft. Hier (etwa im Bergbau) wie dort bedeutete das: Schwerstarbeit ohne Rücksicht auf eigentlich geltende Arbeitsschutzgesetze. Landmaschinen und Zugtiere waren sofort zu Kriegsbeginn für den Armeebedarf konfisziert worden,5 so dass sich Frauen auf vielen Dörfern selbst vor den Pflug spannen mussten, um die Frühjahrsaussaat vorzubereiten. In der Industrie wurde der Arbeitstag spürbar verlängert, eine Urlaubssperre verhängt und die Arbeitsgesetzgebung mehrfach verschärft: Bereits geringfügige Regelverletzungen (Verspätungen, unerlaubte Abwesenheit vom Arbeitsplatz) konnten harsche Strafen (mehrere Jahre Straflager) nach sich ziehen.
Frauen in der Roten Armee
Eine Wehrpflicht für Frauen bestand nicht, aber laut Wehrgesetz vom 1. September 1939 konnten Frauen mit medizinischer oder technischer Ausbildung im Kriegsfall sofort einberufen werden. Und das geschah auch. Aber erst nach den dramatischen Anfangsniederlagen und Millionenverlusten griff der Staat ab 1942 zum Instrument der Massenmobilisierung von Frauen in die Rote Armee, überwiegend für nichtkombattante Aufgaben. Im Gegenzug sollten möglichst viele Männer in den unmittelbaren Kampfeinsatz vorrücken. Zwar wurde die Zielvorgabe von 700.000 „Freiwilligen“ deutlich unterschritten, aber über mehrere große (damals geheim gehaltene) Mobilisierungskampagnen in den Jahren 1942–43 gelangten Hunderttausende junge Mädchen und Frauen in die sowjetischen Streitkräfte. Die meisten Soldatinnen arbeiteten im Sanitätswesen oder im technischen Bereich, viele gehörten als Köchinnen und Wäscherinnen zu den rückwärtigen Diensten. Aber einige Zehntausend übten auch kombattante Funktionen aus.6
Neuere Schätzungen sprechen von rund 1 Million Frauen, die in Uniform am Krieg teilgenommen haben sollen, was einem durchschnittlichen Armeeanteil von ca. 3 Prozent entspricht.7 Es war ein sowjetisches Spezifikum, dass sich eine Minderheit aller Soldatinnen sogar bewaffnet am Kriegsgeschehen beteiligte: als Kampfpilotinnen, Scharfschützinnen („Flintenweiber“), Panzerfahrerinnen sowie bei der Infanterie. Sie kämpften in gemischten Einheiten und auch in reinen Frauenstaffeln, vor allem bei der Luftwaffe.
Verschwimmen der Geschlechtsrollen
Überhaupt war die Grenze zwischen dem angeblich traditionell weiblich-unterstützenden Sanitätsdienst, manch anderen Hilfsdiensten und kämpfender Truppe im sowjetischen Kriegsalltag nicht starr, sondern fließend. Selbst Krankenschwestern verrichteten ihre Arbeit nicht in einem geschützten Bereich und in adrett-weiblicher Kleidung, sondern mussten, selbst bewaffnet, die Verwundeten (samt Waffe) direkt vom Schlachtfeld bergen und im Kampfgetümmel notdürftig versorgen. Sie arbeiteten also unmittelbar an der Front und bezahlten diesen gefährlichen Einsatz oft selbst mit dem Leben.8 Schwerstarbeit und Lebensgefahr kennzeichneten also selbst „zivil“ anmutende Bereiche wie das Sanitätswesen oder die Fliegerei – die Kriegspropaganda hat diesen bitteren Alltag jedoch verharmlost und die Tätigkeit von Frauen an der Front entsprechend traditioneller Vorstellungen von Geschlechterrollen in Szene gesetzt.9 Eine Frauenfigur erscheint Jahre später auch in den 85 bzw. 62 Meter hohen Kolossalstatuen der Mutter Heimat mit erhobenem Schwert, die im Zuge der offiziellen Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg 1967 auf dem Mamajew-Kurgan im ehemaligen Stalingrad und 1981 im Zentrum des Kiewer Gedenkkomplexes errichtet wurden. Bei diesen Frauenfiguren handelt es sich um symbolisch-allegorische Darstellungen der wehrhaften und schließlich siegreichen Heimat, die die Befreiung bewirkt hat. Über die tatsächlichen Rollen von Frauen im Krieg sagen sie nichts.
Sowjetische Jeanne d’Arc
Das Medium Film ist schon früh weiter gegangen als die Historiographie oder die offizielle Erinnerungskultur. So rückten die Partisanenfilme aus den Jahren 1943 und 1944 (Raduga; Ona zaschtschischtschajet rodinu) kämpfende Frauen in den Mittelpunkt. Die Filmheldinnen wurden im Kampf gegen die Nationalsozialisten von diesen gefoltert und getötet und damit zu Märtyrerinnen der gerechten Sache, der sie dienten. Im Film Soja (1944) handelte es sich um die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja. Um sie entstand in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein regelrechter Kult, der sie quasi als sowjetische Jeanne d’Arc verherrlichte.10 Sie zog vor allem deshalb so viel Mitgefühl auf sich, weil sie als junges Mädchen für die von ihr verübten Sabotageakte gefoltert und gehängt wurde und die Deutschen ihren Körper noch tagelang zur Abschreckung am Galgen hängen ließen. So lang und aufwändig wie das Gedenken an die Komsomolzin-Partisanin Soja in der Sowjetunion inszeniert und gepflegt wurde, so schnell und heftig kam es nach deren Ende zu Bestrebungen, den Soja-Mythos zu dekonstruieren und als Legende zu entlarven.11 Die 1972 gedrehte Verfilmung der Erzählung von Boris Wassiljew A sori sdes tichije (Im Morgengrauen ist es noch still, Regie: Stanislaw Rostozki) behandelt ernsthaft und mit großer Empathie das Thema des Einsatzes der Frauen im Krieg. Das Grauen des Krieges trifft die Frauenstaffel sehr schnell und unvorbereitet. Fünf Mitglieder des Spähtrupps kommen beim Einsatz ums Leben. Schon zu Zeiten seiner Entstehung erfreute sich der Film großer Beliebtheit beim Publikum. Bis heute hat sich daran nichts geändert und er wird jedes Jahr wieder anlässlich des Siegestages am 9. Mai im russischen Fernsehen gezeigt, 2015 entstand sogar ein Remake.
Vielstimmige Gegengeschichten
In der am heroischen Großen orientierte Erinnerungskultur hat jedoch das unbekannte weibliche Opfer nur sehr wenig Platz. Die ausführlichen Interviews, die die belarussische Schriftstellerin und spätere Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in den 1980er Jahren mit Hunderten von Kriegsteilnehmerinnen führte, machten deren oft haarsträubende Erfahrungen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.12Diese hatten mit den Erwartungen und Hoffnungen, die die jungen Frauen einst an die Front getrieben hatten, nur wenig gemein. Abenteuerlust, Emanzipationsbegehren, Heldentum, die Lust, mit den Männern gleichzuziehen, hatten am Anfang gestanden. Übrig blieben unendliche Müdigkeit und vielleicht noch Erleichterung darüber, wenigstens am Leben geblieben zu sein. Es gab den Stolz auf die eigene Leistung, aber auch das Wissen um die Strapazen, den Hunger, den Ekel, die Angst, das Sterben und die Unerträglichkeit des Tötens. Während das Kriegserleben männlicher Frontkämpfer im Kontext des pompösen öffentlichen Kriegskultes umgedeutet und geglättet wurde, folgten die ehemaligen Soldatinnen nicht den üblichen heroischen Floskeln und patriotischen Stereotypen der in Massenauflage verbreiteten Kriegsbücher und -romane. So entstanden erschütternde Berichte – „vielstimmige Gegengeschichten“ – über Einsätze bis zur völligen Erschöpfung, das Gefühlschaos nach dem ersten tödlichen Schuss, schwerste Verwundungen, Verstümmelungen und psychische Störungen als Kriegsfolge.
Betrug um den gerechten Anteil am Sieg
Nach Kriegsende wurden die Frauen nicht nur schnell aus der Armee entlassen und mussten jede Aussicht auf eine militärische Laufbahn aufgeben, sondern der Staat betrog sie geradezu um ihren gerechten Anteil am Sieg, ja nahm sie nicht einmal vor pauschalen Verleumdungen in Schutz. Jedenfalls fanden weibliche Armeeangehörige keinen angemessenen Platz im sowjetischen Gedächtnis an den Großen Vaterländischen Krieg, der fortan als männliche Leistung konstruiert wurde.13 Sie nahmen nicht einmal an der großen Siegesparade vom 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz teil. Dies unterstreicht, dass die Rekrutierung von Frauen für den Kriegsdienst nicht Ausdruck einer konsequenten Fortführung des Emanzipationsgedankens war, sondern in erster Linie der Abwehr einer existenziellen Niederlage dienen sollte. Daher brachte die Mitwirkung am Sieg den Soldatinnen auch keinen greifbaren gesellschaftlichen Gewinn. Im Gegenteil: Zur gesellschaftlichen Ablehnung der Frontkämpferinnen trug wesentlich das spießig-konservative Frauenbild bei, das die staatliche Propaganda beherrschte. Jetzt stellte der Staat wieder ganz traditionelle Anforderungen an die Frauen: liebevolle Unterstützung der (versehrten) Kriegsheimkehrer bei deren Rückkehr ins zivile Leben und den Ausgleich der immensen Kriegsverluste durch vielfache Mutterschaft. Selbst unverheiratete Frauen sollten Kinder gebären, deren Väter anonym bleiben durften, während der Staat sich eher knauserig an den Kosten beteiligte.14 Für viele Frauen bedeutete das Kriegsende deshalb keineswegs den Beginn der langersehnten „Normalität“ mit Ruhepausen und einem verbesserten Angebot an Konsumgütern, sondern einen erneuten Kampf ums Überleben unter armseligen Wohn- und Lebensverhältnissen. Zwar glorifizierte die Propaganda den Ruhm der Mutterschaft,15 doch in der Realität ließen Väterchen Stalin und „Vater Staat“, aber auch viele leibliche Väter, die Frauen und Mütter oft im Stich.
Rodina-Mat’ sovet! Plakaty Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskau 2014, S. 46, S. 131, S. 162 ↩︎
Conze, Susanne: Weder Emanzipation noch Tradition. Stalinistische Frauenpolitik in den vierziger Jahren. In: Stefan Plaggenborg (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 293 ↩︎
Rešenija partii i pravitel’stva po chozjajstvennym voprosam, Bd. 3, Moskau 1962, S. 64 ↩︎
Deutsch-Russisches Museum Berlin Karlshorst (Hg.): Katalog zur Dauerausstellung, Berlin 2014, S. 109 ↩︎
Fieseler, Beate: Patriotinnen, Heldinnen, Huren? Frauen in der Roten Armee 1941 – 1945. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), S. 37 – 54; dies.: Rotarmistinnen im Zweiten Weltkrieg. Motivationen, Einsatzbereich und Erfahrungen von Frauen an der Front. In: Klaus Latzel/Franka Maubach/Silke Satjukow (Hg.): Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011, S. 301 – 329; Markwick, Roger D./Cardona, Euridice Charon: Soviet Women on the Frontline in the Second World War, New York 2012; siehe auch die Beiträge von Carmen Scheide und Roger D. Markwick in: Melanie Ilic (Ed.): The Palgrave Handbook of Women and Gender in Twentieth-Century Russia and the Soviet Union, London 2018. ↩︎
Markwick/Cardona, Soviet Women on the Frontline, S. 66 ↩︎
Siehe etwa die Plakate „Slava boevym podrugam“ (1941) und „Vstavaj v rjady frontovych podrug“ (1941). In: Rodina-Mat’ sovet!, S. 46. ↩︎
Rathe, Daniela: Soja – eine „sowjetische Jeanne d’Arc“? Zur Typologie einer Kriegsheldin. In: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 45 – 59 ↩︎
Sartorti, Rosalinde: On the Making of Heroes, Heroines, and Saints. In: Richard Stites (Ed.): Culture and Entertainment in Wartime Russia, Bloomington-Indianapolis 1995, 176 – 193 ↩︎
Die erste, noch zensierte, Ausgabe erschien 1987: Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Berlin. Eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe erschien 2004 (ebenfalls Berlin); eine nochmals erweiterte Ausgabe ebd. 2013. Zum Werk von Aleksievič siehe: Nackte Seelen. Svetlana Aleksievič und der „Rote Mensch“. Themenheft der Zeitschrift Osteuropa 68 (1-2), 2018 (dort besonders die Beiträge von Karla Hielscher und Nina Weller). ↩︎
Siehe zum Beispiel das Plakat von Viktor Klimašin: ‚Ruhm dem Kämpfer-Sieger‘. In: Naša Pobeda, S. 245 ↩︎
Nakachi, Mie: Population, Politics and Reproduction. Late Stalinism and its Legacy. In: Juliane Fürst (Hg.): Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention, New York 2006, S. 23 – 45 ↩︎
Siehe etwa die Plakate von Nina Vatolina „Ruhm der Heldenmutter“ und „Ruhm der heldenhaften Sowjetfrau“, beide aus dem Jahr 1946. Ersteres in: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Hg.): Triumph und Trauma, Berlin 2005, S. 72 ↩︎
„In der Enzyklopädie des dritten Jahrtausends wird zu lesen sein: Breshnew, Leonid – unwichtiger Politiker der Epoche von Alla Pugatschowa.“1 Treffend bringt dieser russische Witz die Bedeutung der Sängerin für den sowjetischen Schlager auf den Punkt. Unbestritten ist Alla Pugatschowa bis heute der größte Star der russischen Popmusik. Die New York Times nannte die Sängerin einmal „the Goddess of Russian Pop“.2 In der ehemaligen Sowjetunion ist die heutige Patronin der Estrada eine Symbolfigur der 1970er und frühen 1980er Jahre. Pugatschowa verkörpert hier den Typus der neuen sowjetischen Frau, die nach Freiheit, Eigenständigkeit und Glück strebt.
Ihre seit 1976 veröffentlichten Solo-Alben sollen sich über 250 Millionen Mal verkauft haben – damit spielt die sowjetische Sängerin in einer Liga mit der US-Amerikanerin Madonna. In einer Umfrage der Zeitung Kommersant nach den beliebtesten Russen landete sie 2006 auf dem zweiten Platz hinter Präsident Putin. Dem deutschen Musikfreund ist Alla Pugatschowa vermutlich in erster Linie ein Begriff, weil sie während der Perestroika gemeinsam mit Udo Lindenberg auftrat. Vielleicht ist auch ihre recht erfolglose Teilnahme am Eurovision Song Contest 1997 dem einen oder anderen in Erinnerung.
Eine Sängerin, die auf der Bühne weint
Alla Pugatschowa wurde am 15. April 1949 als Kind musikbegeisterter Eltern in Moskau geboren. Bereits ihre Anfänge machen deutlich, dass sie eine ungewöhnliche und keineswegs stromlinienförmige Künstlerin ist. Ihren ersten Auftritt als Sängerin hatte sie mit dem Lied Robot (dt. „Roboter“) in der Radiosendung Guten Morgen – zu diesem Zeitpunkt ging die Sechzehnjährige noch zur Schule. Bei den Hörern kam die Sängerin dem Vernehmen nach gut an. Weniger gut gefiel Pugatschowa den kommunistischen Funktionären: Eine Sängerin, die auf der Bühne weinte, entsprach keineswegs dem sowjetischen Ideal, das eine zurückhaltende, korrekte Haltung von Schlagersängern verlangte.
Für den Fernsehfilm Ironie des Schicksals von Eldar Rjasanow sang Alla Pugatschowa Lieder des Komponisten Mikael Tariwerdijew: Der Film wird bis heute jedes Jahr von Millionen Menschen vor allem zu Neujahr gesehen. Tatsächlich ist es seine musikalische Stimmung mit Vertonungen von Werken berühmter Dichter, die den Zuschauer in einen karnevalesken Illusionsraum versetzt, in dem das Werden der Liebe eines Moskauers zu einer Leningraderin erzählt wird. Zweifelsohne zählen die von Pugatschowa für Ironie des Schicksals gesungenen Lieder zum kulturellen Gedächtnis in den Nachfolgestaaten der UdSSR.
Pugatschowa füllte das Lied „Arlekino“ mit unterschiedlichsten Emotionen, mit Schmerz und Trauer, aber auch mit Spott und Ironie an
Von Estrada-Sängerin zu Primadonna
Den entscheidenden Schritt zum Ruhm tat sie mit einem Auftritt bei dem internationalen Wettbewerb Goldener Orpheus 1975, bei dem sie das von Pawel Slobodkin für sie arrangierte Lied Arlekino (dt. „Harlekin“) sang. Das Stück begann mit der Melodie eines alten Zirkusmarsches, Pugatschowa füllte es mit unterschiedlichsten Emotionen, mit Schmerz und Trauer, aber auch mit Spott und Ironie an. Gerade in dieser Zweideutigkeit wuchs ihre Interpretation über die Eindeutigkeit verlangende Welt des sowjetischen Schlagers hinaus. Publikum und Jury werteten Pugatschowas Darbietung als Sensation. Ihr Auftritt veränderte, wie eine sowjetische Zeitung vielleicht etwas übertrieben meinte, „die ungeschriebenen Regeln dessen, was man auf einer Bühne tun kann“. Eine sowjetische Autorin meint, sie habe die Rolle der Frau in der Gesellschaft neu besetzt: Während andere ihrer Funktion als „sowjetische Frau“ nachkamen, habe Pugatschowa einfach „gelebt“.3
Von einer „Pugatschowa-Explosion“ sprach bereits am 14. Juli 1975 eine sowjetische Zeitung.4 Die „maska“ des Clowns setzte sie erneut für das Festival in Sopot 1978 auf. Dort gewann sie mit Wsjo mogut Koroli (dt. „Könige vermögen alles“) den ersten Preis – ein Erfolg, der ihren Status als neuer sowjetischer Star bestätigte. Auch dieses Lied interpretierte sie mit der ihr eigenen Freiheitlichkeit.
In Sopot machte sich bereits der Einfluss des Filmregisseurs Alexander Stefanowitsch bemerkbar, den sie 1976 kennengelernt und noch im selben Jahr geheiratet hatte. Diese Zeit wird nicht zu Unrecht von der Kritik als ihr „Goldenes Zeitalter“ gewertet. Der medienerfahrene Stefanowitsch betätigte sich als Image-Maker für seine Frau. Er stellte angeblich fünf Regeln auf, um Pugatschowa von einer einfachen Estrada-Sängerin in eine „Primadonna“ zu verwandeln: „Beicht“-Charakter der Lieder, Bild der einsamen Frau, keine Nachahmung westlicher Künstler, theatralisierte Auftritte und Skandalhaftigkeit, eine Qualität, ohne die das Show-Business vermutlich nicht funktioniert.5
Dem deutschen Musikfreund ist Alla Pugatschowa vermutlich in erster Linie ein Begriff, weil sie während der Perestroika gemeinsam mit Udo Lindenberg auftrat
Pugatschowa-Manie
Im Einzelnen lässt sich über diese Punkte durchaus streiten. Zweifelsohne aber bot Pugatschowa dem Publikum etwas an, das es begierig aufnahm – vor allem waren es Frauen, die in der Sängerin nicht unbedingt ein Vorbild, aber doch ein Muster für das Abschweifen in Illusionswelten sahen. Der hohe Anteil alleinstehender Frauen in der sowjetischen Gesellschaft begünstigte wohl ihre Karriere.
Im 1979 veröffentlichten Film Shenschtschina, kotoraja pojot (dt. „Die Frau, die singt“) sang sie Lieder, die sie unter dem Pseudonym Boris Gorbonos selbst komponiert hatte. Dazu erklärte sie, sie wolle Lieder über sich selbst singen – das werde die Menschen mehr interessieren als ein für viele abstraktes Thema. Bei diesem von Alexander Stefanowitsch gesteuerten Schachzug ging es weniger um die Präsentation der musikalisch nicht sonderlich originellen Lieder, sondern vielmehr darum, Pugatschowa als Autorin und Repräsentantin ihres eigenen Ichs zu inszenieren. Die Reklame zum Film behauptete wider besseres Wissen, er basiere zum Teil auf Episoden aus dem Leben der Sängerin: Das Publikum strömte in Scharen in die Lichtspielhäuser. Auch wenn die Kritik den Film, der vor dem Hintergrund des anscheinend grauen sowjetischen Alltags das Leben einer Sängerin als Star entfaltet, verriss: Er markiert den Beginn einer Pugatschowa-Manie.
Ein neues Frauenbild
Ohne Zweifel entwickelte sich Pugatschowa Ende der 1970er Jahre zu einer polarisierenden Figur: Die einen sahen in ihr eine vulgäre, die Leidenschaft nach außen tragende Unperson, die anderen (Verehrerinnen) organisierten sich in Klubs und verfolgten sie mit ihrer Zuneigung. Sowjetische Zeitschriften und Zeitungen erhielten viele tausend Zuschriften zu Pugatschowa. Viele glaubten, der Star könne ihnen auch Hilfe in persönlichen Fragen geben. Ihre Fans identifizierten offenkundig tatsächlich die Heldinnen ihrer Lieder mit der Sängerin und fanden ihre eigenen Schicksale darin wieder.
Alla Pugatschowa baute gleichsam eine Brücke zwischen der traditionellen Estrada und dem sowjetischen Underground. Ihr Erfolg beruht zum einen auf ihrem außergewöhnlichen Talent einer schauspielerischen Umsetzung von Liedinhalten. Zum anderen und vor allem aber war Pugatschowa anders. Auf der Bühne transportierte sie einen Begriff von Privatheit und „Freiheit“. Sie nahm vollends Abschied vom steifen, „korrekten“ Betragen eines Sowjetsängers. Wo in den 1960er Jahren Interpreten noch mit angedeuteten Tanzbewegungen für Aufsehen sorgten, fegte Alla wie ein Irrwisch über die Bühne. Ihre Werke vermitteln das Bild einer Frau, die ihr Leben nicht dem Dienst an der Gemeinschaft widmet. Die Heldinnen in Pugatschowas Liedern verfolgen ihre Ziele, neigen dabei zu Zweifeln und bemühen sich, ihren Lebenstraum zu verwirklichen. Gerüchte wie die von einem Selbstmord der Sängerin fügen sich in das System, mit Hilfe von Skandalen Aufmerksamkeit zu erzielen – eine Methode, die Pugatschowa bis heute nicht verworfen zu haben scheint. Progressiv war sie auch noch in den 1980er Jahren, als sie ganzheitliche Showprogramme auf die Bühne brachte.
Ihre Werke vermitteln das Bild einer Frau, die ihr Leben nicht dem Dienst an der Gemeinschaft widmet
Alla Borissowna
Die Grande Dame der russischen Estrada, die in letzter Zeit auch mit ihrem Vatersnamen als Alla Borissowna bezeichnet wird, bekam unzählige Auszeichnungen sowohl in Russland als auch in anderen Ländern. Sie trägt die Ehrentitel Volkskünstlerin der UdSSR, Volkskünstlerin der RSFSR sowie Volkskünstlerin Russlands und ist Trägerin des Staatspreises der Russischen Föderation. Goldene Schallplatten erhielt sie in Schweden und Finnland, in der Bundesrepublik wurde sie mit dem Goldenen Mikrophon ausgezeichnet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie auch als Unternehmerin zur bestimmenden Figur der Estrada. Sie gab eine Zeitschrift (Alla) heraus, rief eigene Rundfunksender ins Leben und inszenierte gemeinsam mit ihrem (damaligen) Mann Filipp Kirkorow ein Musical. Als Expertin nimmt sie regelmäßig an vielen Musikshows im russischen Fernsehen teil. Ihr privates Leben und vor allem die Beziehung mit ihrem dritten Ehemann, dem Komiker Maxim Galkin, fesselt immer noch die Aufmerksamkeit der TV-Zuschauer und Leser der Boulevardzeitungen. Als Galkin wegen seiner Kritik am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im September 2022 zu einem sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, löste Pugatschowa mit ihrem Solidaritäts-Post auf Instagram ein kleines Erdbeben aus: „Er ist ein ehrlicher, ordentlicher und aufrichtiger Mensch, ein wahrer und unbestechlicher Patriot Russlands, der seiner Heimat ein Aufblühen und ein friedliches Leben wünscht, Meinungsfreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Geächteten machen und das Leben der Bürger erschweren.“
Aktualisiert am 19.09.2022
Čeredničenko, Tat‘jana Vasil‘evna (1994): Tipologija sovetskoj massovoj kul‘tury: Meždu „Brežnevym“ i „Pugačevoj“, Moskva, S. 8 ↩︎
Serebrennikova, B. (1976): Pesennyj mir Ally Pugačevoj, in: Sovetskaja ėstrada i cirk, 1976/11, S. 20-21, S. 21 ↩︎
Beljakov, Aleksej (1997): Alka, Alločka, Alla Borisovna: Roman-biografija ili kniga o žizni, ljubvi i pesnjach Ally Borisovny Pugačevoj, Moskva, S. 142 ↩︎
Schon zu Zeiten der Sowjetunion arbeiteten Frauen oft in typischen Männerberufen. Aber als Fahrerinnen trifft man sie selten. Pelageja, Mutter von fünf Kindern, hat in ihrem Berufsleben alle Transport-Sparten kennengelernt. Als Rentnerin nun fährt sie Taxi und hat auf ihrer Fahrt mit Jewgenia Wolunkowa viel zu erzählen. Eine Reportage auf Takie Dela.
Spät am Abend: Pelageja arbeitete noch in ihrem alten Lada, um was dazuzuverdienen. Sie beförderte Kunden. Ein Mann winkte den Wagen heran, stieg ein und nannte eine Adresse. Nach ein paar Kilometern, die Straße war leer, hielt er Pelageja eine Pistole an die Schläfe: „Raus aus dem Wagen!“
Pelageja stieg nicht aus. Sie drehte sich zu dem Mann um und sagte: „Wem bitte sehr, möchtest du hier Angst machen? Mir? Einer Mutter von fünf Kindern? Ich hätte mich letztens fast vor den Zug geschmissen wegen diesem verfluchten Leben. Ich habe keine Angst, schieß doch. Nur um die Kinder tut es mir leid, im Heim wird sicher nichts aus ihnen. Außer mir haben sie niemanden.“
Der Gedanke, sich vor den Zug zu werfen, war Pelageja früh am Morgen gekommen. Die Kinder schliefen noch. Schon bald würden sie aufwachen und etwas zu essen verlangen. Es war aber nichts zu essen im Haus.
Viele Jahre schon hatte Pelageja sich abgestrampelt, jeden Job angenommen. Und sie, diese fünf, waren wie die Heuschrecken. Sie kauft zehn Brote – und nach zwei Tagen ist alles weg. Sie weicht Brot in Wasser ein, streut Zucker drauf, sie essen es, und ab in den Hof. Zwei Stunden später stehen sie wieder da: „Mama, wir haben Hunger!“ Nicht auszuhalten.
Sie gab ihnen keinen Abschiedskuss, um sie nicht zu wecken. Drehte sich um und ging davon. Sie kam zur Bahnstation und stellte sich an die Gleise. Lange stand sie so da, endlich hörte sie in der Ferne das Pfeifen. Der Zug kam näher, Pelageja war bereit. Plötzlich sieht sie in einer Wolke über den Gleisen ihre Kinder. Alle fünf. Sie drücken sich aneinander, schauen erschrocken. Als wäre sie aufgewacht, trat sie von den Gleisen zurück, und brach in Tränen aus und sah, wie der Zug sich entfernte.
„Ist das nicht gelogen mit den fünf Kindern?“ Die Pistole drückte immer noch gegen die Schläfe. „Was soll ich denn lügen? Hier sind sie.“ Sie holte ein Foto hervor. Der Mann betrachtete es. „Sieh mal an. Bist ja ne Heldenmutter. Na gut, los. Gib Gas.“ Sie fuhren zur Stawropolskaja. Der Mann stieg aus. „Warte hier!“
Kurze Zeit später kam er zurück. Pelageja stand noch da.
„Warum biste denn nicht weggefahren? Bist wohl ne ganz Furchtlose?“ „Ich bin doch neugierig, wie die Sache ausgeht.“ „Oh Mann! Du bist mir vielleicht ein Weib! Hier nimm. Kannst fahren. Und schönen Gruß an die Bälger.“
Er warf Süßigkeiten und Sekt auf den Sitz. Zog Geld aus der Jackentasche, gab es ihr und verschwand in der Dunkelheit.
Pelageja sitzt seit 45 Jahren am Steuer
Die Atamanin
Pelageja Alexandrowna ist vor 15 Jahren in Rente gegangen, hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Putzfrau, Wachfrau, Verkäuferin. Und in den letzten paar Jahren: Taxifahrerin. Als sie zum Taxiunternehmen Lider in Samara kam, um sich zu bewerben, sah man sie verwundert an: „Wo wollen Sie denn hin, Großmütterchen?“ Aber Pelageja hat 45 Jahre Fahrerfahrung. Hat Lkws und Straßenbahnen gefahren. Und als sie zum ersten Mal am Steuer eines Pkw saß, war sie gerade mal zehn. Damals hatte der Großvater sie und ihre Großmutter mit dem Auto ins Nachbardorf mitgenommen. Dort hat er sich dann die Kante gegeben und konnte nicht mal mehr geradeaus gucken. Die Großmutter war völlig aufgelöst: Wie heimkommen? Also setzte der Großvater die Enkelin hinters Steuer. Ein paarmal gab er ihr eins auf den Hinterkopf – mal hatte sie den Motor abgewürgt, mal den falschen Knopf gedrückt. Letztlich hat Pelageja aber alle heil nach Hause gebracht.
Vor kurzem ist Pelageja von Lider zu Uber gewechselt. Sie hat gelernt, mit der neuen Technik umzugehen. Es ist Januar – der erste Monat in diesem Wagen. Vieles versteht sie noch nicht, aber es macht schon Spaß, weil sich damit etwas verdienen lässt.
„Hallo, Jewgenia, ich bin vor Ihrem Haus, kommen Sie bitte runter!“
Oft kommt Pelageja erst nach Mitternacht nach Hause
Pelageja fährt einen blauen Lada, den ihr Sohn auf Kredit gekauft hat. 16.000 Rubel [ca. 225 Euro] muss sie monatlich für das Auto zahlen. Der Rest geht an andere Banken, um weitere Kredite zu tilgen. Ein bisschen was muss sie noch zum Leben zurückbehalten. Sie bekommt 7000 Rubel [ca. 100 Euro] Rente. Drei Tilgungsraten werden direkt von der Bank eingezogen: 2017 hat Pelageja ein Bußgeld wegen verspäteter Kreditzahlung bekommen.
Die Oma kutschiert ihre Passagiere von früh bis spät, manchmal sogar die ganze Nacht hindurch, wenn die Kraft reicht. Bisher liegt ihr Rekord bei 100 Fahrten die Woche. Pelageja findet, das ist zu wenig, da ist noch mehr drin.
Pelageja ist auf Sachalin geboren – ihre Mutter hat dort geheiratet, hat den Mann aber dann verlassen und ist nach Samara gegangen. Damals war Pelageja sieben.
Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen
Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen. Klein beigegeben hat sie nur bei der Mutter. Die versuchte immerzu, ihr Liebesleben auf die Reihe zu kriegen, traf sich mit verschiedenen Männern, aber es wurde nie etwas Ernsthaftes daraus. Sie lebten in einer Baracke, in bitterer Armut. Die Mutter litt darunter und ließ es gelegentlich an Pelageja aus. Pelageja wird wohl nie vergessen, wie die Mutter ihr einmal den Kopf aufgeschlagen hat.
„Ich war in Hausschuhen rausgegangen, um Holz zu sägen. Sie hat es gesehen, sich einen Metalleimer auf der Veranda gegriffen und ihn nach mir geworfen. Das hat vielleicht geblutet! Aber ich bin der Mutter nicht böse. Ich kann sie verstehen, sie wollte ein gutes, glückliches Frauenleben. Und durch mich waren ihr die Hände gebunden. Damals mit acht habe ich mir geschworen, dass ich niemals trinken und meine Kinder niemals schlagen würde. Nur einmal konnte ich mich nicht beherrschen und hab meinem Sohn eine Ohrfeige gegeben. Aber ich habe mich sofort entschuldigt und gesagt, ich würde ihm nie wieder weh tun. Egal, was passiert, er soll zu mir kommen und es mir erzählen. Zusammen finden wir eine Lösung.“
Pelagea mit dem jüngsten Spross der Großfamilie – ein seltenes Spielstündchen
Pelageja hat drei Söhne und zwei Töchter. Alle sind schon groß, außer den beiden jüngsten Söhnen, Wanja und Ljonja, sind alle schon aus dem Haus. Verheiratet war Pelageja drei Mal. Der erste Mann hat getrunken. Hat sich letzten Endes totgesoffen. Der zweite war arbeitsam, ist aber auch gestorben: ist bei der Arbeit in einen Brunnen gefallen. Den dritten hat sie verlassen: Die ganze Schwangerschaft hindurch hat er sie schlecht behandelt, sie hat es ertragen. Aber als er sie nach der Entbindung nicht von der Klinik abgeholt hat, hat sie drauf gespuckt und ihn zum Teufel geschickt. Sie entschied, besser, sich allein abstrampeln, statt immer nur ertragen. Damit war es für Pelageja vorbei mit den Männern. Nur einmal traf sie noch einen netten, ging mit ihm aus. Aber als er ihr seine Liebe gestehen wollte, unterbrach ihn Pelageja: „Ich sag dir jetzt etwas, dann verschwindest du gleich: Ich habe fünf Kinder.“ Er ist nicht sofort verschwunden, hat sie noch nach Hause gebracht und sich danach nie wieder blicken lassen. Für Männer blieb sowieso keine Zeit, Pelageja hatte fünf Mäuler zu stopfen.
„Mama hat immer gesagt: ‚Wozu zum Teufel kriegst du all die Kinder?!‘ Aber ich wollte, dass nach mir jemand bleibt … Um sie durchzukriegen, habe ich alles Mögliche getan. Habe in einer Fabrik als Putzfrau und als Wächterin gearbeitet. In einer Brauerei hab ich Kwas ausgeschenkt. Hab als Anstreicherin gearbeitet. Mit meinem kleinen Saporoshez hab ich was dazuverdient, Sachen ausgeliefert. Ein Auto bringt am meisten Geld. Du fährst einen Tag und hast zumindest das Nötigste zusammen.“
Die Kutscherin
Die Ausbildung zur Fahrerin machte Pelageja, als sie noch keine zwanzig war. Beim Spazieren mit einer Freundin sahen sie einen Aushang: Fahrausbildung in den Kategorien B und C. Sie besuchten den Kurs und schlossen mit Bestnoten ab. Schon bald saß Pelageja hinterm Steuer eines GAZ-51.
„Was hab ich nicht alles transportiert! Wie ich die Mehlsäcke entladen habe, das vergesse ich nie! Hatte sie von der Mehlfabrik geholt, fahre zum Lieferort, und da ist kein Träger. Was soll ich machen, der Wagen muss ja entladen werden. Ich öffne also den Laderaum … Was rast du denn so, du meine Güüüüüte! Links ist die Tram, ich muss doch hier durch!“, Pelageja ist abgelenkt durch ein Westauto, das sie geschnitten hat. „Also, stell dir das vor, fünfzig Mehlsäcke! Und ich war damals zwanzig. Als ich den letzten ausgeladen hatte, konnte ich nicht mehr fahren, so hab ich gezittert … Du brauchst gar nicht so zu schauen, so bin ich halt. Wenn etwas sein muss, tu ich es einfach, ich kämpfe für meine Ziele.“
Pelageja arbeitet ohne Pause von montags bis sonntags. Am Wochenende schläft sie aus und beginnt erst um neun Uhr
Als Pelageja keine Lust mehr auf den Lkw hatte, machte sie eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin und hat ein paar Jahre Fahrgäste befördert. Als sie eines Tages schon auf dem Weg zum Depot war, kam eine Hochzeitsgesellschaft rein, etwa zwanzig Leute. Ins Depot wollten die aber nicht, sondern etwas weiter. Sie baten Pelageja sie hinzubringen, sie ging das Risiko ein. 25 Rubel hat sie für die Fahrt bekommen, damals war das viel Geld.
Die Hausbesetzerin
In den 1990ern ist Pelagejas Haus abgebrannt. Sie war mit den älteren Kindern in der Stadt, die drei kleinen waren zu Hause geblieben. Sie kam gerade noch rechtzeitig zurück, um die Kinder zu retten. Das Haus war zwar nicht vollständig ausgebrannt, aber leben konnte man darin nicht mehr. Die acht Monate alte Tochter unter den Arm geklemmt, marschierte Pelageja zur Verwaltung und bat um eine Wohnung. Aber Wohnungen gab es keine. Gehen Sie dorthin zurück, wo es gebrannt hat, hieß es. Für eine Zeit kam Pelageja bei Bekannten unter und machte sich ans Klinkenputzen bei den Beamten. Sie kam bis zur Regionalverwaltung.
„Als man mich überall abgewimmelt hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem Gouverneur. Damals war das Titow [Konstantin Titow war von 1991 bis 2007 Gouverneur von Samara]. Im Erdgeschoss standen Wachmänner, aber irgendwie bin ich an denen vorbeigekommen. Ich habe die Türen eigenhändig geöffnet. Hinter der ersten lag da ein roter Läufer. Ich gehe rein, gehe weiter und sehe plötzlich ein Türschild: Titow, Oberhaupt der Region. Genau da will ich hin!
Ich stürme rein, die Sekretärin ruft noch: ‚Wo wollen Sie hin? Er ist in einer Besprechung. Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?‘ Wie ich es geschafft hab, sie zur Seite zu schieben, weiß ich selbst nicht, sie war ganz schön wuchtig, aber ich war sauer. An wen ich mich mit meinen Problemen auch wende, keinen interessiert’s die Bohne … Ich gehe also rein zu Titow, das Zimmer ist voller Menschen. Ich sage: ‚Entschuldigen Sie bitte, Herrschaften, ich habe einen Notfall. Wenn Sie mir nicht helfen, wer dann?‘ Zufällig sitzt da auch der Chef unserer städtischen Straßenbahngesellschaft. Der hat mich wiedererkannt. Das ist meine Angestellte, sagt der. Also riefen sie mir einen Wagen und brachten mich und die Kinder in ein Wohnheim. Es war Winter, fast minus 30 Grad. Ich komme rein, die Wachfrau hat zwei Heizwärmer zu ihren Füßen und trotzdem wallt Dampf aus ihrem Mund. Und meine Olga ist zehn Monate alt, wie soll ich in dieser Bruchbude leben? Die Wachfrau ist sogar noch in unser Zimmer mitgegangen, um die Bettwäsche abzuziehen. Die ist neu, hieß es, Sie müssen Ihre eigene mitbringen. Wie soll ich denn meine eigene mitbringen, wenn sie verbrannt ist? Ich habe die Betten zusammengeschoben, die Kinder von allen Seiten umarmt und so saßen wir die ganze Nacht da, haben uns gegenseitig warmgehalten.“
In den 1990er Jahren brannte Pelagejas Haus ab, sie kam mit ihren Kindern eine zeitlang bei Bekannten unter
Nach der durchfrorenen Nacht war Pelageja klar, dass ihr niemand helfen würde. Sie beschloss, selbst eine Wohnung zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie auf dem Bau gearbeitet. Sie wusste, mit welchen Schlüsseln man reinkommt. Sie schnappte sich einen großen Schlüsselbund mit vielen gleichen und ging in einen Neubau, wo die Leute gerade erst anfingen einzuziehen. „Ich ging von Tür zu Tür, neben der vierten begann mein Herz zu pochen: bum-bum-bum. Das ist unsere Wohnung! Hab den richtigen Schlüssel rausgesucht und bin rein. Sie gehörte der Stadtverwaltung und stand noch leer. Dort sind die Kinder und ich eingezogen. Ich habe gleich einen Brief an die Verwaltung geschrieben, dass ich auf eigene Befugnis die Wohnung mit der Adresse soundso bezogen habe. Da drin gab es gar nichts, nur die nackten Mauern. Anfangs benutzen wir einen Eimer als Toilette und gingen in die öffentliche Sauna zum Duschen. Als die Verwaltung erfuhr, dass ich dort eingezogen bin, kamen sie, um uns rauszuwerfen. Ich hab mich geprügelt. Ich weiß noch genau, wie eines Tages zwei Männer und zwei Frauen dastanden, und sich plötzlich meine Kindern greifen wollten. Sie waren damals auch noch krank, ich hatte sie mit Gänseschmalz eingeschmiert. Ich sag zu ihnen: ‚Kinder, wollt ihr auf die Straße?‘ Und sie: ‚Nein, Mama!‘ ‚Dann wehrt euch!‘ Also winden sie sich, glitschig wie sie sind, ständig aus den Griffen der ungebetenen Gäste … Irgendwann sind die dann gegangen. Und ich blieb noch drei Jahre in dem Haus, erst dann habe ich endlich eine Dreizimmerwohnung bekommen.“
Die Ernährerin
Pelageja fährt sicher und ruhig. Bremst nicht abrupt, überholt selten, lässt alle Fußgänger durch. Wird sie von vorbeifahrenden Autos angehupt, kontert sie stets mit demselben: „Arschloch!“
„Wie fahre ich? Gut?“ „Sehr gut!“
„Ich gebe mir Mühe, dass die Kunden sich wohlfühlen. Ich unterhalte mich gern, mache auch mal einen Scherz. Manche fragen mich beim Einsteigen: ‚Kommen wir überhaupt noch lebend an, Großmütterchen?‘ ‚Mal sehen‘, sage ich dann. Bisher hat sich keiner beschwert. Ich habe drei Regeln: aufmerksam sein, Abstand halten und die Geschwindigkeitsbegrenzung beachten. Das war’s, mehr braucht man nicht … Arschloch!“, ruft Pelageja einem hupenden Auto hinterher.
Pelageja erzählt. „Ich mag es, während der Fahrt mit meinen Fahrgästen zu plaudern und die Bäume am Straßenrand zu bewundern“
„Ist es anstrengend, den ganzen Tag am Steuer zu sitzen?“
„Ach was, hier erhole ich mich! Wenn ich im Haus arbeite, tun mir Arme und Beine weh. Böden wischen, Badewanne schrubben – dann bin ich kaputt. Ich lege mich hin und komm kaum wieder hoch. Aber ich rappel mich wieder auf. Die Kinder fragen: ‚Mama, wo willst du hin? Du bist doch kaputt!‘ Und ich: ‚Ich fahr mich erholen.‘ Ich mag Autofahren sehr.“
„Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?“
„Urlaub hatte ich 1992.“
„Sind Sie irgendwo hingefahren?“
„Wo soll ich schon hinfahren, Schätzchen? Ich war zu Hause bei den Kindern. Und habe nebenbei gearbeitet. Ich bin Mama und Ernährerin, Erholung ist für mich nicht vorgesehen.“
Pelageja kauft fast nur Dinge, die heruntergesetzt sind. Sonderangebote oder im Ausverkauf. Für sich selbst kauft sie so gut wie nichts. Letztes Jahr hat sie sich ein Nachthemd gegönnt. Und dieses Jahr billige Sportschuhe, damit sie es hinterm Steuer bequemer hat. Aber jetzt ist es kalt, die Füße frieren. Sie überlegt, ob sie sich warme Stiefel kaufen soll, kann sich aber nicht dazu durchringen: Was wenn es dann nicht mehr reicht, um die Schulden abzubezahlen?
Schulden hat Pelageja viele. Die ersten Kredite hat sie aufgenommen, um das Haus zu kaufen. Sie hatte ihre Dreizimmerwohnung verkauft, weil sie ein Stück eigenes Land haben wollte, sie dachte, so wäre es einfacher, die Familie zu ernähren.
Pelageja tut es leid, dass die Kinder sich selbst überlassen waren, während sie arbeiten musste. Die älteren haben nach den jüngeren gesehen. Dafür wussten sie aber von klein auf, was es heißt, Geld zu verdienen. Als der Nachbarsjunge eine Spielkonsole bekam, wollten sie auch eine. Sie sagte: „Wenn ihr was wollt, verdient es euch.“ Sie hat ein Treppenhaus übernommen, und die Kinder haben die Böden gewischt. Als sie die nötige Summe zusammen hatten, kauften sie eine Spielkonsole. Genauso ist auch der Kassettenrekorder ins Haus gekommen.
Ihr Auto ist für Pelageja von größtem Wert. Ein Auto zu besitzen, bedeutet Geld zu verdienen
Als sie das Haus gekauft haben, konnten die Kinder kaum glauben, dass sie nun eigene Kartoffeln und Fleisch haben werden. Pelageja hatte auch Ferkel gekauft. „Mama gehört das jetzt alles uns? Wirklich?“ Das Geld, das vom Wohnungsverkauf übrig war, investierte sie in einen alten Wagen, einen Schuppen, die Ferkel und die Einrichtung des Hauses.
Für die Wasser- und Heizungsleitungen hat es nicht mehr gereicht, sie musste wieder zur Bank. Erst ein Kredit, dann der nächste, und noch einer. Für dies und das. Aber sie kam irgendwie über die Runden. Bis 2016 zahlte Pelageja immer pünktlich, doch dann wurde es immer schwieriger, mit dem Taxifahren Geld zu verdienen: zu wenig Aufträge, es reichte gerade mal für den Sprit. Sie ging zur Bank: „Macht mit mir was ihr wollt, ich hab kein Geld, um zu zahlen.“ Sie beschlagnahmten das Auto und ihre Rente. Dann hörte Pelageja von Uber.
„Ich bin kein Drückeberger. Solange ich die Kraft dazu habe, arbeite ich. Ich mag Uber, das sind gute Jungs. Und Prämien sammeln sich auch an. Hauptsache ich kann die kleinen Kredite abbezahlen, dann bleiben nur noch die drei großen …“
„Wissen die Kinder von Ihren Problemen?“
„Wozu denn? Sie haben genug eigene. Der Sohn, der bei mir wohnt, hat drei Kredite. Meine Tochter kümmert sich ums Kind, ihr Mann sorgt allein für den Lebensunterhalt. Lena zahlt die Uni-Ausbildung ihres Sohnes, arbeitet von früh bis spät. Dima hat zwei Kinder … Wanja und Lena helfen ihm, die Kommunalka zu bezahlen, letztens haben sie mir bei der Gasrechnung geholfen. Mein Sohn macht was zu essen, wenn ich heimkomme, unterstützt mich. Jeder hilft, wo er kann.“
„Haben sie Jobs?“
„Ja … Aber hör mal, solange Arme und Beine funktionieren, warum soll ich herumsitzen? Wir kommen schon über die Runden.“
Unsere Fahrt endet im von Pelageja heißgeliebten Imbiss Blinari. Sofort zerrt sie mich von der Theke mit den Grillhähnchen weg, hin zu der anderen, mit dem „vernünftigen“ Essen: „Da ist es viel zu teuer, schau da gar nicht hin.“ Sie bestellt Reiskascha und Kissel. Ich überrede sie noch zu Kartoffelpuffern. Bis zum Flughafen sind wir auf Rechnung gefahren – zurück einfach so. Ich halte ihr 500 Rubel hin: „Für meine Heimfahrt.“ Pelageja zieht eine Brieftasche hervor, entweder unter der Achsel oder aus dem BH. Legt den Geldschein hinein und versteckt sie wieder.
Ich steige vor meinem Haus aus. Sie steckt den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster und ruft:
„Versprich, dass du dich immer liebhast und nie zulässt, dass dir einer was zuleide tut.“ „Versprochen!“ „Ganz sicher?“ „Ich verspreche es!“
Draußen sind es minus 15 Grad. Wenn du in Sachalin aufgewachsen bist, wirst du niemals frieren, sagt Pelageja
Am nächsten Morgen klingelt um 11 Uhr das Telefon, Pelageja ist dran:
„Guten Morgen, Shenja-Schätzchen. Ich bin jetzt erst auf dem Heimweg.“
„Waren Sie etwa die ganze Nacht unterwegs?“
„Ja.“
„Wie viele Fahrten waren es denn?“
„Um die zwanzig. Jetzt fahre ich zu meinem Sohn ins Krankenhaus, bringe ihm Toilettenpapier und was zu trinken vorbei. Dann schlafe ich ein bisschen und weiter geht’s.“
„Sie müssen sich schonen, man braucht doch auch Erholung.“
„Alles gut, Kindchen, mach dir keine Sorgen. Diese Woche habe ich etwa 12.000 Rubel [170 Euro] verdient, ich brauche aber 20.000 [280 Euro] … Dafür ist die Freude umso größer, wenn ich das Geld kriege und einen Teil vom Kredit tilgen kann! Also gut, mein Sonnenschein, hab einen schönen Tag. Ich muss weiter!“
Text: Jewgenia Wolunkowa Fotos: Kristina Syrtschikowa Übersetzung: Maria Rajer erschienen am 03.04.2018
„Guten Tag, ich bin Xenia Sobtschak, und ich habe etwas zu verlieren“, so begann die damals wohl bekannteste TV-Moderatorin Russlands ihre Rede im Dezember 2011. Sie stand vor einer Menschenmenge, die auf den Moskauer Straßen gegen Wahlfälschungen protestierte. Das It-Girl, das damals auf so gut wie allen staatlichen und privaten TV-Sendern omnipräsent war, sagte, sie sei auf die Demonstration gekommen, weil ihr Vater, Anatoli Sobtschak, die russische Verfassung mitgeschrieben hat. In Anspielung auf die Machtrochade, die der damalige Präsident Medwedew und Premierminister Putin im September 2011 unternommen hatten, sprach sie darüber, dass die Macht kein Federball sei, den man zwischen zwei Spielern hin und her schlägt. Sie sprach über die Zivilgesellschaft, die einen Einfluss auf die Macht ausüben solle und darüber, dass im Zuge der Proteste auch eine neue oppositionelle Partei entstehen solle. Die Demonstranten, die diese Ideen mehrheitlich teilten, pfiffen und riefen: „Geh weg, Schlampe!“
Xenia Sobtschak hatte damals in der Tat etwas zu verlieren: Wegen der Teilnahme an der Protestbewegung und im Koordinationsrat der Opposition wurde sie von allen vom Staat kontrollierten Fernsehsendern gefeuert. Arbeitslos wurde Sobtschak allerdings nicht: Sie wechselte zum damals gegründeten unabhängigen Fernsehsender Doshd. Mit ihrem Interview-Format Sobtschak shiwjom (dt. Sobtschak live) und weiteren Sendungen wurde sie zum bedeutenden Teil der oppositionellen Medienwelt. Die Opposition nahm Sobtschak jedoch nie ganz als „eine von uns“ wahr. Das wurde besonders deutlich an den Medienreaktionen, als sie am 18. Oktober 2017 ihre Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2018 verkündete.
Putin als Taufpate und Patenkind
Xenia wuchs als Tochter von Anatoli Sobtschak auf – des Politikers, dessen Namen das St. Petersburger Museum der Entstehung der Demokratie im modernen Russland trägt. Anatoli Sobtschak, habilitierter Jurist und Professor der Leningrader Universität, war zwischen 1991 und 1996 Bürgermeister St. Petersburgs, aus seinem Kreis stammen viele später hochrangige Politiker und Topmanager. Während spekuliert wird, ob Wladimir Putin Xenias Taufpate ist (Sobtschak selbst dementiert dies), bezeichnet man ihren Vater selbst oft als Godfather von Wladimir Putin und Dimitri Medwedew: Putin arbeitete in Sobtschaks Apparat als Leiter des Komitees für Außenbeziehungen, Medwedew promovierte bei ihm.
Dieser familiäre Hintergrund prägt Sobtschaks mediale Wirkung und löst allgemeines Misstrauen ihr gegenüber aus. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste bat die oppositionelle Zeitschrift The New Times Xenia Sobtschak zu präzisieren, was sie eigentlich zu verlieren habe. Sie antwortete: „Meine Familie ist mit Putin und mit vielen Menschen im Staatsapparat verbunden. Und innerlich war das ein großer Schritt für mich.“1 Zu Putin, der als treuer Mensch gegenüber vielen ehemaligen Kollegen und insbesondere gegenüber seinem ehemaligen Vorgesetzten Sobtschak gilt, hat Xenia einen direkten Draht. 2011 wollte sie sich mit ihm persönlich treffen, um ihren oppositionellen Auftritt anzukündigen, 2017 legte sie offen, dass sie mit ihm über ihre Kandidatur im Voraus sprach. Allein deswegen werfen ihr zahlreiche Kritiker Abhängigkeit von Putin vor und bezeichnen ihre Kandidatur als „Kremlprojekt“.
In einer Umfrage von 2015 erzielte Sobtschak einen Bekanntheitsgrad von 95 Prozent in der Bevölkerung.2 Eine Mehrheit davon jedoch zeigte eine ablehnende Haltung ihr gegenüber, ungeachtet ihrer Beziehung zu Putin. Das liegt vor allem an ihrem Image als „russische Paris Hilton“, das sich hartnäckig hält – obwohl sie in den vergangenen Jahren als seriöse Moderatorin auftritt.
Sobtschak aus Dom 2
2004 schloss Sobtschak ihr Masterstudium am renommierten Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) ab. In ihrer Masterarbeit verglich sie die Präsidentschaftssysteme in Russland und Frankreich. Auch wenn ihre Abstammung, ihr Studium und ihre Vernetzung eine hervorragende Karriere im Staatsdienst versprachen, entschied sie sich fürs Showbusiness und übernahm die Moderation einer der meistdiskutierten boulevardesken Reality-Show im russischen Fernsehen: Dom 2 (dt. Haus 2). Die Sendung, die seit 2004 als Pendant des europäischen Big Brother vom Fernsehsender TNT ausgestrahlt wird, brachte ihr nicht nur allgemeine Bekanntheit, sondern auch fast flächendeckende Kritik. Die Show, in der die Teilnehmenden ein Haus bauen und währenddessen einen geeigneten Partner finden müssen, wird oft für ihren pornographischen Charakter kritisiert.3Dom 2 wurde zum Zweitnamen Sobtschaks: „Sobtschak aus Dom 2“ – so lernten die zahlreichen Zuschauer sie kennen. Und so wird sie heute noch vorgestellt.4
Dazu kommt außerdem ihr exzentrischer Lebensstil in Russlands High Society. Sobtschak, It-Girl und Promi, trägt teure Sachen, gilt als Stilikone und Verkörperung des russischen Glamours. Sie ist energisch, laut und scharfzüngig, reagiert schnell auf Kritik und hat den Ruf, ihre Gesprächspartner häufig aus der Fassung zu bringen.5 So geriet sie immer wieder in Skandale, die in der Boulevardpresse ständig und ausführlich diskutiert werden. Mal handelt es sich um einen öffentlichen Streit bei einer Preisverleihung, mal um einen beleidigenden verbalen Schlagabtausch im Fernsehen oder im Radio. Seit 2012 gab es immer wieder gezielte Diskreditierungskampagnen gegen Sobtschak. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste, bei denen sie aktiv dabei war, wurde zum Beispiel ihre Wohnung durchsucht. Die Ermittler fanden eine Million Euro und eine halbe Million US-Dollar in bar. Viele Medien diskutierten die Untersuchung, Fotos davon wurden sowohl im Fernsehen als auch in Printmedien veröffentlicht.6 Ihr schlechtes Image vervollständigen auch zahlreiche Fake-Geschichten und Internet-Meme, die zum größten Teil darauf ausgerichtet sind, sie als unzüchtige und dumme Blonde mit einem „Pferdekiefer“ darzustellen.
Was aber auch ihre schärfsten Kritiker zugeben: Sobtschak ist außergewöhnlich umtriebig. Seit 2004 moderierte sie außer Dom 2 und Sobtschak live auch die Reality-Shows Blondine in Schokolade und Der letzte Held, die Entertainment-Show Mädels, die politischen Talk-Shows Gosdep 1, 2, 3 (dt. State Department) und viele andere. Außerdem moderiert sie Rundfunksendungen auf Serebrjani Doshd (dt. Silberner Regen), ist Chefredakteurin bei den Mode-Magazinen L´Officiel und SNC, leitet spezielle Projekte des Medienportals Snob, schreibt Bücher zu Mode und Lifestyle, spielte in Kinofilmen und drehte einige Musik-Videos. Sie ist eine der am häufigsten angefragten und teuersten Veranstaltungsmoderatorinnen, und laut Forbes Russia mit 1,2 bis 2,3 Millionen US-Dollar Einkommen im Jahr seit 2007 in der Top-Ten-Liste der russischen Celebritiespräsent.7
Kandidatin „gegen alle“
Am 31. August 2017 veröffentlichte das Wirtschaftsblatt Vedomosti einen Artikel, in dem behauptet wird, dass der Kreml nach einem weiblichen Sparringspartner für Wladimir Putin für die Präsidentschaftswahl 2018 suche. Unter vielen Frauen stand da auch Xenia Sobtschak, als „ideale Variante“. Sie sei klug, glamourös, interessant, aber entspreche nicht einer typisch russischen Frau. „Die Frage ist, ob sie sich traut.“8 Nach langen Diskussionen in den Medien, in denen sie mehrmals als Kreml-Kandidatin angegriffen wurde, verkündete sie ihre Kandidatur am 18. Oktober. Sie wolle eine Kandidatin „gegen alle“ sein, so Sobtschak. Sie wolle wieder einen Zugang zum Staatsfernsehen bekommen, ihre Moderations-Honorare erhöhen, eine landesweite PR-Aktion starten, den Vorschlag Putins nicht ablehnen, sagen dagegen ihre Kritiker.9 Für den Kreml sei sie dagegen die ideale Kandidatin, da sie die Wahlbeteiligung erhöhen, die Stimmen von anderen ernstzunehmenden oppositionellen Kandidaten abziehen und die für Putin sogar in die Höhe treiben könnte.
Was ihr aber am meisten vorgeworfen wird: Sie habe kein vernünftiges Programm, als liberale Kandidatin spiele sie nach Kreml-Regeln, noch dazu kündigte sie ihre Entscheidung an, als Oppositonspolitiker Nawalny, der ebenfalls 2018 kandidieren wollte, im Gefängnis war. Ob sie tatsächlich eine Kandidatin des Kreml ist, ist nicht unumstritten, einen Zugang zum Staatsfernsehen hat sie aber schon: Nach einigen Jahren TV-Sperre sendete der Erste Kanal einen Teil ihres Wahlvideos, in dem sie sich nun nicht nur an das Internetpublikum, sondern an die breite Zuschauerschaft wendet: „Ich bin Xenia Sobtschak, ich bin 36 Jahre alt.“
Nach dem skandalösen Interview mit Sobčak musste z. B. die Journalistin Katja Gordon den Radiosender Majak verlassen: Wsgljad: Katja Gordon uvolena↩︎
Life: Life.ru publikujet foto obyska v kvartire Sobčak. Die Durchsuchung wurde im Rahmen der sogenannten Bolotnaja-Prozesse durchgeführt, bei dem Xenia Sobtschak als Zeugin aussagte. Die Ermittler sprachen von mehreren Umschlägen mit Bargeld. Sie wollten feststellen, ob es sich dabei um Schwarzgeld und eventuell sogar um die sogenannte „schwarze Kasse der Opposition“ handelte. Die Fotos aus Sobtschaks Wohnung wurden noch am Tag der Durchsuchung veröffentlicht. Dies war nicht rechtmäßig. Anfang Juli 2012 tauchte ein Werbespot auf YouTube auf, der angeblich von der Steuerbehörde war: In dem Video sortiert eine Frau, die Sobtschak sehr ähnlich sieht, Geld in Briefumschläge. Auch wenn die Steuerbehörde sich von dem Video distanzierte, sorgte es ein erneutes Aufkommen der Diskussion über Sobtschaks Millionen. ↩︎
Im Jahr 2014 hat die Fotografin Elena Anosova, Preisträgerin des World Press Photo Award 2017, mehrere Monate in Frauenlagern in Sibirien fotografiert. Während die Porträts entstanden, bat sie ihre Modelle, einen ihnen wichtigen Gegenstand zu finden: Eine nahm eine Blume, eine andere eine Bibel. Bei manchen fand sich im Lager gar kein solcher Gegenstand.
„Ich beobachte Leben, das in Isolation und unter ständiger Beobachtung stattfindet. Und bemühe mich, die Beziehungen und Beschränkungen in geschlossenen Gemeinschaften darzustellen“, so die Fotografin Elena Anosova.
„Wenn man im Lager ist, ist es unmöglich, ganz bei sich zu bleiben. Der Verlust eines intimen Raumes deformiert den Menschen, das Gefühl von Sicherheit verschwindet. Trakt (im russ. Original Otdelenie) zeigt die Veränderungen, die sich mit den Frauen in Haft schrittweise vollziehen.
Ich beginne mit den Bildern junger und schöner Mädchen, die so fotografiert sind, dass nicht gleich klar wird, dass sie an Orten des Freiheitsentzugs entstanden sind. Dann zeige ich erwachsene Frauen – wir sehen die Spuren des Lebens auf Gesichtern und Körpern. Am Ende kommen Porträts von Frauen, die schon deformiert sind, niedergeschlagen, manchmal sind Spuren von versuchtem Suizid und Gewalt erkennbar.
All das führt zu Fragen danach, wie Häftlinge in unserer Gesellschaft aufgenommen werden, Fragen nach Wiedereingliederungsprogrammen und Organisationen, die fähig sind, sie zu unterstützen.“