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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Häusliche Gewalt in Russland

    Häusliche Gewalt in Russland

    Seit bald zehn Jahren, spätestens seit 2016, ist „häusliche Gewalt“ Dauerthema in russischen Medien. Damals zeichnete sich eine Entkriminalisierung von Gewalt im familiären Kontext ab, die 2017 Realität wurde. Menschenrechtsorganisationen und Fraueninitiativen weisen seit Jahren auf den fehlenden Opferschutz hin. Häusliche Gewalt ist ein weit verbreitetes Problem in Russland und wird dennoch weithin als Normalität akzeptiert. „Bjot – snatschit ljubit“ (dt: „Er schlägt, also liebt er“) ist ein althergebrachter, weit verbreiteter Spruch. Allein in den Jahren 2021-2022 sind in Russland fast 1000 Frauen von ihren Partnern oder nahen Verwandten getötet worden. Das ist mehr als ein Femizid pro Tag – und dabei noch eine Rechnung ohne Dunkelziffer. 

    Mit der Rückkehr kriegstraumatisierter russischer Soldaten aus den Kämpfen gegen die Ukraine in ihre Familien hat sich die Situation weiter verschärft, zumal bereits wegen häuslicher Gewalt verurteilte Straftäter unter ihnen sind. Überraschend scheint nun die Regierung selbst das Thema angehen zu wollen: Im Juni 2024 haben gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen. Im Dezember kam noch ein Gesetzesvorschlag1 hinzu, der Geldstrafen für das Rechtfertigen häuslicher Gewalt vorschlägt. Entschieden und verabschiedet ist indes nichts davon.  

    In ihrer Gnose wirft die Theologin und Russland-Expertin Regina Elsner einen Blick in die Entwicklung häuslicher Gewalt und die gesellschaftlichen Debatten darum im Russland der vergangenen zehn Jahre. 

    Moskau im Februar 2017: „Er schlägt, also sitzt er ein“ – Protest gegen häusliche Gewalt und einen Gesetzentwurf, der die möglichen Strafen dafür abschwächen sollte. Foto © Sergei Fadeichev/TASS 

    Internationale Übereinkommen wie die Istanbul-Konvention definieren häusliche Gewalt als „alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen“. Die überwältigende Mehrheit der Opfer von häuslicher Gewalt weltweit sind Frauen. Russland hat neben Aserbaidschan als einziges Land des Europarates die Istanbul-Konvention nicht unterzeichnet und verfügt nach wie vor über kein Gesetz und keine juristische Definition von häuslicher Gewalt. Zudem ist es 2022 aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgestiegen. 

    Viele Beobachter sehen Anzeichen dafür, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine die häusliche Gewalt bzw. Gewalt konkret gegen Frauen innerhalb der russländischen Gesellschaft weiter normalisiert. Traurige Berühmtheit erlangte etwa der Fall Wladislaw Kanjus: Dieser hatte 2020 seine Freundin Vera Pechtelowa erschlagen und wurde dafür zu 17 Jahren Straflager verurteilt. Nach einem halben Jahr wechselte er in den Kriegsdienst. Dank seiner Begnadigung muss er nicht einmal mehr das Schmerzensgeld von vier Millionen Rubel an die Familie zahlen.2 Seit 2023 ist er frei.  

    Eine ähnliche Geschichte ereignete sich mit dem ehemaligen Polizisten Wadim Techow3: Er tötete seine Frau, wurde verurteilt, zog in den Krieg und kehrte zurück in deren Heimatstadt – in der nach wie vor die Schwester der Verstorbenen wohnte. Einheitliche Strategien – wie etwa obligatorische psychologische Betreuung – mit dem Umgang traumatisierter Kriegsheimkehrer gibt es in Russland keine. Ebenso fehlt es an Programmen zur Gewalt-Vorbeugung. 

    Statistiken und ihre Dunkelziffern 

    Bis 2016 wurden in Russland Übergriffe in Familien nach dem allgemeinen Strafrecht behandelt. Der Versuch, für häusliche Gewalttaten einen eigenen Strafbestand zu schaffen, scheiterte. Im Gegenteil: Seit 2017 werden erste und einmalige Übergriffe in Familien nur als Ordnungswidrigkeiten eingestuft und demnach mit kleineren Geldstrafen oder gemeinnütziger Arbeit bestraft.  

    Die Daten offizieller Umfragen bis 2017 zeigten bereits einen Anstieg von strafrechtlich verfolgten Gewalttaten auf 64.421 Fälle im Jahr 2016, davon 92 Prozent gegen Frauen. Aufgrund der Entkriminalisierung Anfang 2017 ging die Zahl in dem Jahr auf 34.007 zurück, für 2018 wurden 21.390 Fälle gemeldet. Eine Studie unabhängiger Medien von 2019 ergab, dass sich fast 80 Prozent der wegen Mordes verurteilten Frauen in Russland gegen Gewalt von Familienangehörigen gewehrt hatten. Da sie oft der körperlichen Stärke des Mannes ausgeliefert sind, greifen sie zur Abwehr zu Messern, was ihnen später als Überschreitung der Notwehr angelastet wird.  

    Für die Jahre 2021 und 2022 berichtet4 das russische Onlinemedium Verstka mit Verweis auf Daten des russischen Innenministeriums, dass 2021 448 Frauen durch ihre Partner oder nahe Verwandte getötet wurden, im Jahr 2022 – 447. Nach Polizeiangaben für den Zeitraum 2021 bis Juni 2023 waren 74 Prozent der Betroffenen häuslicher und familiärer Straftaten Frauen. Die Täter waren in 80 Prozent der Fälle Männer. 

    Da der russische Staat sich weigert, häusliche Gewalt als eigenständiges Problem (unter allen anderen Gewaltverbrechen) zu betrachten, werden keine Daten zur Zahl der Opfer veröffentlicht. Ein Zusammenschluss mehrerer Frauenrechts-Organisationen hat daher alle Gerichtsurteile zur Tötung von Frauen zwischen 2011 und 2019 systematisch ausgewertet. Über den Zeitraum von neun Jahren zählten sie 18.547 Verfahren. In zwei von drei Fällen waren die Frauen Opfer häuslicher Gewalt. In 53 Prozent der Fälle war der Partner der Täter. Nimmt man den Durchschnitt dieses Zeitraums, kommt man zu dem Ergebnis, dass in Russland jedes Jahr mehr als 1300 Frauen von ihren Partnern oder Familienangehörigen getötet werden. Ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl gesetzt, ist die Gefahr, vom eigenen Partner umgebracht zu werden, in Russland damit sechsmal so hoch wie in Deutschland (im Schnitt etwa 130 Opfer im Jahr). 

    Statistisch ist die Situation kaum einzuholen, die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Die Mehrzahl gewaltsamer Übergriffe im familiären Kontext wird nicht gemeldet, zahlreiche Anzeigen werden kurze Zeit später von den Opfern wieder zurückgezogen. Die Gründe dafür sind vielfältig: ein geringes Vertrauen in die Polizei; die weit verbreitete Vorstellung, dass physische Gewalt zur Normalität gehöre; ein fehlendes Bewusstsein von persönlichen Grenzen und der Unzulässigkeit, diese auch psychisch zu übertreten; sowie schließlich der fehlende Schutz vor dem Täter nach einer möglichen Anzeige. Die Beweislast liegt beim Opfer, eventuelle Geldstrafen oder der Lohnausfall fallen auf das Familienbudget zurück und setzten die Opfer zusätzlich unter Druck. 

    Oft nimmt die Polizei Anzeigen auch nur entgegen, wenn schwere Verletzungen oder Lebensgefahr vorliegen, viele Opfer häuslicher Gewalt haben vor einer Eskalation mehrfach erfolglos Hilfe gesucht. 

    Diese Umstände sind in Russland vor allem durch den Fall der drei Schwestern Chatschaturjan im Jahr 2018 bekannt geworden. Diese hatten ihren Vater getötet, nachdem dieser sie mehrere Jahre lang psychisch und körperlich misshandelt sowie sexuell missbraucht hatte. Nachbarn, Verwandte, Pädagogen und Polizei waren jahrelang informiert, handelten jedoch nicht. Nach der Tat wurden die Schwestern zunächst ohne Rücksicht auf die Umstände wegen vorsätzlichen Mordes angeklagt, erst der massive Protest der Bevölkerung und das Eingreifen des Oberstaatsanwalts führten zu einer Herabstufung auf Notwehr.  

    Dieser Fall sowie weitere erfolgreiche Klagen von Opfern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben schließlich zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzes zur Prävention von häuslicher Gewalt geführt, dessen Entwurf im November 2019 veröffentlicht wurde und zu breiten Diskussionen führte. Es trat jedoch nie in Kraft.  

    Im April 2024 flammte die Debatte wieder auf, als im Nachbarland Kasachstan der ehemalige Wirtschaftsminister seine Frau ermordete und zu 24 Jahren Haft verurteilt wurde. Der zentralasiatische Staat verschärfte daraufhin seine Gesetzgebung. In Moskau kommentierte die Duma-Abgeordnete Nina Ostanina – die sich in ihrem Amt um Familien, Frauen und Kinder kümmern soll –, die im russischen Strafgesetzbuch festgelegten Gesetze seien ausreichend, um Frauen zu schützen.5 Überhaupt würde die Mehrheit der Frauen eine weitere strafrechtliche Regulierung häuslicher Gewalt ablehnen. Stattdessen solle man sich eher darum kümmern, die Kinder richtig zu erziehen – dann würde auch kein Missbrauch entstehen, ist Ostanina überzeugt. 

    Im Juni 2024 wiederum legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die häusliche Gewalt eindämmen und speziell auch Männer schützen sollten. Nun unterstützte auch Ostanina die Initiative.6 Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten.  

    „Traditionelle Familienwerte“ 

    Die Gesetzentwürfe gegen häusliche Gewalt werden sowohl von Menschenrechts- und Frauenorganisationen als auch von Vertretern der sogenannten „traditionellen Werte“ kritisiert. Organisationen, die sich seit vielen Jahren für einen effektiven Schutz vor häuslicher Gewalt einsetzen, sehen in den Vorlagen eine Farce. Die Entwürfe klammerten teils physische Gewalt aus (da diese bereits im Strafrecht verhandelt sei), beziehen sich nur auf verheiratete Personen und Paare mit Kindern, zielten in erster Linie auf einvernehmliche Einigung und damit den Erhalt der betroffenen Familie. Damit würde den Opfern erneut ein wirkungsvoller Schutz vorenthalten.  

    Ausgenommen seien damit kinderlose Frauen, die in nicht registrierten Beziehungen leben, und auch geschiedene Frauen, die vom ehemaligen Partner angegriffen werden. Gänzlich außerhalb der Diskussion bleibe außerdem die katastrophale Situation von Frauen im Nordkaukasus7 und damit die Frage nach der Durchsetzung von russischer Gesetzgebung insgesamt. 

    Das Ziel einer Versöhnung und der Bewahrung der Familie kommt allerdings jenen konservativen Kräften entgegen, die in jeglichen Gesetzen gegen häusliche Gewalt eine feindliche Attacke gegen das Institut der Familie an sich fürchten. Dazu gehören vor allem Patriarch Kirill (Gundjajew), orthodoxe Gruppierungen und offizielle kirchliche Strukturen wie die Patriarchale Kommission für Familie, Mutterschaft und Kindheit, die bis 2020 unter der Leitung des erzkonservativen Priesters Dmitri Smirnow stand, sowie das Allrussische Volkskonzil oder der Orthodoxe Frauenbund bis hin zu dem orthodoxen Oligarchen Konstantin Malofejew und seinem Medienimperium Tsargrad

    In deren Argumentation gefährde jedes Eingreifen in den „heiligen Raum der Familie“ die Stärkung der russischen Demografie und damit das Bestehen des russischen Volkes. Unter dem Vorwand der Menschenrechte würden radikale feministische Ideologien die staatliche Familienpolitik unterwandern, deren Ziel die Stärkung eines positiven Familienbildes sein müsse. Gesetze gegen häusliche Gewalt würden jedoch den gegenteiligen Eindruck vermitteln, Familien und Männer seien per se nur eine Gefahr für Frauen und Kinder. Leichte körperliche Züchtigung und die Unterordnung der Kinder unter die Eltern gehört in ihrer Vorstellung zum traditionellen Familienkonzept.  

    Dahinter verbirgt sich auch die Überzeugung, dass individuelle Menschenrechte, hier der Schutz von Frauen oder Kindern, nie über die Rechte der Gemeinschaft gestellt werden dürfen. Dieser Grundsatz wurde 2008 in einem Grundlagenpapier8 der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten formuliert und dominiert seitdem den orthodoxen Umgang mit Menschenrechtsthemen. Durch die Priorität von patriarchaler Familie, Kirche und Staatsgewalt in der kirchlichen Argumentation bleibt ihre grundsätzliche Haltung gegen „tatsächlich stattfindende Gewalt“ unglaubwürdig.  

    „Ausländische Propaganda“ 

    Kirchliche und staatliche Gegner der rechtlichen Maßnahmen zur Prävention und Verfolgung häuslicher Gewalt arbeiten vor allem auch mit dem Vorwurf, ausländische Akteure und Ideologien würden damit gegen russische Traditionen vorgehen. Es sei der „kollektive Westen“9, der von außen versuchen würde, Russland „zweifelhafte“ Normen aufzuzwingen. Damit stigmatisieren sie vor allem die Arbeit der nichtstaatlichen Organisationen, die sich für den rechtlichen Schutz, Notunterkünfte und psychologische Beratung für die Opfer häuslicher Gewalt einsetzen.  

    Neben bekannten NGOs wie den Zentren ANNA und Sestry und der Anwaltsvereinigung Prawowaja Iniziatiwa zählen dazu auch einige kirchliche Einrichtungen. Ohne einen grundlegenden gesetzlichen Schutz können diese Zentren jedoch nur punktuell unterstützen, sie stehen immer in der Kritik, gegen die „russische Tradition“ zu arbeiten. Viele von ihnen sind inzwischen außerdem zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden, da sie häufig durch ausländische Spenden finanziert wurden. 

    Die bisherige Nicht-Umsetzung der Gesetzvorschläge von 2019 und 2024 bedeutet, dass russische Frauen in naher Zukunft keinen rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt erwarten können. Da Russland kein Rechtssaat ist, stellt sich aber auch die Frage, inwieweit ein solches Gesetz überhaupt wirksam wäre. So oder so – die Opfer häuslicher Gewalt in Russland werden zahlreich und weiterhin schutzlos bleiben.


     

    1. Forbes.ru, 11.12.2024: Novye ljudi predložili vvesti v Rossii štrafy za propagandu domašnego nasilija ↩︎
    2. Radio Swoboda, 15.11.2023: Ubijcu Very Pechtelevoj osvobodili ot vyplaty kompensacii semʹe ↩︎
    3. Tscherta, 31.08.2023: „Dyšatʹ stalo legče“: kak smertʹ na vojne ostanovila domašnee nasilie ↩︎
    4. Verstka, 23.05.2024: MVD: v 2021–2022 godach v Rossii 895 ženščin ubili v rezulʹtate domašnegonasilija 80% vsech prestuplenij v semʹe i bytu soveršali mužčiny ↩︎
    5. News.ru, 15.04.2024: Nazvany pričiny, počemu v Rossii do sich por net zakona o domašnem nasilii ↩︎
    6. RBC.ru, 19.06.2024: V Dume prizvali «zaščititʹ obščestvo» ot vernuvšichsja s fronta osuždennych ↩︎
    7. Antonova, Siražudinova (Proekt Pravovaja iniciativa, 2018): „Ubitye spletnjami“. Ubijstvaženščin po motivam „česti“ na Severnom Kavkaze. Otčet po rezulʹtatam kačestvennogo sociologičeskogo issledovanija v respublikach Dagestan, Ingušetija i Čečnja (Rossijskaja Federacija) ↩︎
    8. Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche Moskau, 24. – 29. Juni 2008: Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen
      Uertz/Schmidt (Hg.), 2008: Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte. Veröffentlicht in deutscher Sprache durch das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau ↩︎
    9. Patriaršaja komissija po voprosam semʹi, zaščity materinstva i detstva (https://pk-semya.ru), 03.06.2024: Iniciativa programmy po borʹbe s domašnim nasiliem opasna dlja semej ↩︎

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  • Oma geht auf Hecht

    Oma geht auf Hecht
    Foto © Takie Dela
    Foto © Takie Dela

    „Wenn du eine Frau mit zum Angeln nimmst, wirst du nichts fangen“ – Weisheiten dieser Art füllen in Russland beliebte Kalender für Angler. Eine andere lautet: „Trifft ein Mann auf dem Weg zum Angeln eine alte Frau, bringt das Unglück. Zeigt er ihr aber im Vorbeigehen den Finger und spricht einen Fluch, dann bringt das Glück.“ Und ein Aberglaube besagt, dass eine Frau nicht mit ihrem Mann streiten soll, wenn er zum Angeln geht – sonst ist es ihre Schuld, wenn er ertrinkt. 

    In Gegenden, in denen es kaum Arbeit gibt und die Renten nur für das Nötigste reichen, ist der Fischfang nach wie vor wichtig für den Nahrungserwerb. Dort fischen auch viele Frauen das ganze Jahr über. Nicht zum Vergnügen, sondern um zu überleben. Obwohl: zum Vergnügen schon auch. Takie Dela hat einige Dörfer in Karelien besucht, gleich an der Grenze zu Finnland, und ist dort mit Frauen zum Winterfischen gegangen. Wie sich herausstellte, waren sie alle Rentnerinnen. Und fast alle waren Witwen. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass der Fischfang sie rettet – jede auf ihre eigene Weise. 

    In vielen karelischen Häusern hängt ein getrockneter Hecht-Schädel über dem Eingang in die Wohnstube. Sein Maul ist mit hunderten Zähnen besetzt, die sich nach innen biegen. Der Volksglaube besagt: Wenn ein Gast mit bösen Absichten kommt, dann schluckt der Hecht das Böse und lässt es nicht wieder heraus / Foto © Takie Dela 

    Einen Zander zu fangen ist erhabener und süßer als die Liebe. 

    Аnton Tschechow 

    Antonina Karlowa im Dorf Woknawolok 

    Durch das Fenster ihres kleinen Hauses sieht Antonina Karlowa direkt auf den See Werchneje Kuito. Früher ist sie regelmäßig mit ihrem Mann zum Fischen gegangen. Als er starb, hatte gerade die Laichzeit begonnen. „Ich habe das Boot und einen Motor, ich habe die Netze, ich kenne die guten Plätze“, dachte Antonina. „Ich werde doch jetzt keinen Fisch kaufen!“ / Foto © TakieDela 
    Ein Webstuhl für Fischernetze. Die Schlaufen werden größer oder enger geknüpft – je nach dem, welche Fische man fangen möchte. Seit Jahrhunderten ernähren sich die Menschen hier von der Fischerei, sammeln Pilze und Beeren. Einige gehen auch auf die Jagd. Von dem Geld, das sie mit dem Verkauf von Moltebeeren, Moosbeeren, Preiselbeeren und Heidelbeeren verdienen, reparieren sie ihre Häuser und kaufen das Nötigste / Foto © Takie Dela 
    Antonina Karlowa und ihr Enkel Miron haben Löcher in das dicke Eis gebohrt. Jetzt warten sie auf den ersten Biss. In Woknawolok fischen alle von klein auf bis ins hohe Alter. Je nach Jahreszeit mit Schleppangeln, mit der Grundangel, mit Reusen oder Netzen. Mehr als alle anderen angeln Rentner und Rentnerinnen. Wer arbeiten muss und Kinder hat, hat keine Zeit, am Wasser zu sitzen. Mit dem Alter kommt die Freiheit / Foto © Takie Dela 
    In dem feinen Sieb wird der Rogen der kleinen Maräne gewaschen. „Zur Laichzeit hat mein Mann früher immer Urlaub genommen“, erinnert sich Antonina. „Er steuerte das Boot, und ich habe zuhause mit Freundinnen die Fische ausgenommen und konserviert – in Öl, in Tomatensoße, viel haben wir auch eingefroren. Das hat uns für den ganzen Winter gereicht.“ / Foto © Takie Dela 
     

    Als ihr Mann vor zwölf Jahren starb, traute Antonina sich zunächst nicht, allein mit dem Boot auf den See hinaus zu fahren. Also fragte sie ihre Nachbarin Galja, ob sie mitkommt. Nach dem ersten Mal hatten sie’s raus und die beiden wurden dicke Freundinnen. „Als im Frühling die Maränen kamen, sind wir rausgefahren und haben unsere Netze aufgestellt“, erinnert sich Antonina. „Ringsum waren Männer in ihren Booten unterwegs, und mittendrin wir zwei Frauen. Die Männer haben ihre Mützen geschwenkt und uns zugewunken.“ Spott habe sie nie gehört. In ihrem Dorf haben alle Respekt vor den Fischerinnen. 

    Vor einem Jahr hatte ihre Freundin einen Schlaganfall. Seitdem fischt Antonina allein. „Wir haben immer viel gelacht mit Galja, das Angeln hat uns so viel Spaß gemacht“, erzählt sie. „Wenn wir um sieben Uhr früh zusammen rausgefahren sind, die Sonne aufging und der Kuckuck rief. Herrlich! Dann haben wir die Ruder aus dem Wasser gezogen, inngehalten und gelauscht.“ 

    Heute findet Antonina nur noch selten eine Begleitung: „Kaum jemand mag mit mir Angeln gehen, weil man mich dann nur schwer wieder nach Hause kriegt. Wenn ein Fisch an meinem Köder spielt, kann ich bis zum Abend auf dem Eis sitzen“, sagt sie. Die Kälte macht ihr nichts aus: Mehrere Schichten Kleidung und eine Kiste mit einem Fell zum Sitzen, damit kann sie es stundenlang aushalten. „Nur die Eislöcher kann ich nicht mehr selbst bohren, meine Hand schmerzt. Also bitte ich meinen Nachbarn, der hilft gern.“

    In einem Bastkorb wird Trockenfisch aufbewahrt. Im Nordwesten Russlands trocknen viele ihren Fisch noch zuhause im russischen Ofen, der gleichzeitig Herd ist und die Stube heizt. Antonina schickt ihren Fang ihren Kindern, die in der Stadt wohnen. Die Katzen in der Nachbarschaft bekommen auch was ab. Sie sei zufrieden mit ihrem Leben, sagt sie. Langeweile kennt sie nicht. Sie singt im Chor, sie besucht den Karelisch-Kurs im Kulturhaus, sie strickt und stickt, und im Sommer hat sie ihren Garten mit dem Gewächshaus und den Wald mit Pilzen und Beeren. Und natürlich den See mit den Fischen / Foto © Takie Dela 

    Nadeshda Kirillowa, Woknawolok 

    Nadeshda Kirillowa zieht vier Paar Strümpfe übereinander, bevor sie an den See geht. Oft verbringt sie dort den ganzen Tag. Die 76-Jährige hat in Woknawolok den Ruf, die eifrigste Anglerin des Dorfes zu sein / Foto © Takie Dela 
    Barsche und Rotaugen lieben Maden. Nadeshda hat für sie immer einen kleinen Vorrat davon zuhause in ihrem Kühlschrank / Foto © TakieDela 
    Mit einem selbstgebauten Schlitten fährt Nadeshda zu ihrem Angelplatz. Ihr Hund Milli begleitet sie. Ihr Mann lebt nicht mehr. Er war ein starker Trinker. Vor fünf Jahren ist er eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Es war Nadeshdas Geburtstag. „Ich habe ihm immer wieder gesagt: ‚Witja, hör auf mit dem Trinken, du sollst am Leben bleiben“, erzählt sie mit leiser Stimme. „Zuerst habe ich ihn geliebt, dann tat er mir leid. Als wir ihn beerdigt hatten, dachte ich: ‚Jetzt gehe ich erstmal angeln‘.“ / Foto © Takie Dela 
    Ungeduldig springt Milli herum, während Nadeshda ein Loch ins Eis bohrt. Sie will keinen neuen Mann: „Ich habe schon zwei Männer, meine Söhne. Und im Dorf gibt es niemanden, der mir gefällt. Worüber soll ich mit denen denn reden? Ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt.“ / Foto © Takie Dela
    Der Schlitten dient beim Angeln als Sitz. Der erste Barsch passt leicht in einen Fußstapfen von Nadeshdas Winterschuhen. Für sie ist die Fischerei beides – Nahrungserwerb und Vergnügen. „Ich muss mit meiner Rente auskommen, und die Fische ernährt mich. Mal salze ich welche ein, mal koche ich eine Suppe, mal mache ich eine Pastete. Am meisten mag ich gebratene Barsche und Fischfrikadellen. Für den Hund koche ich Getreidebrei mit Fisch. Und dann habe ich ja noch den Gemüsegarten, Hunger leiden müssen wir nicht.“ / Foto © Takie Dela 
    Zwei Jacken, zwei Pullover, eine Strickjacke, eine warme Weste, drei Hosen und vier Paar Socken – dick eingepackt wie eine Zwiebel kann Nadeshda den ganzen Tag auf dem Eis verbringen, ohne zu frieren. „Meine Großmutter hat auch viel geangelt“, erzählt Nadeshda. „Sie hat elf Kinder geboren, fünf haben überlebt, und es war schon nicht leicht, die durchzufüttern. Damals haben alle Frauen hier gefischt. Die Männer hatten anderes zu tun, die haben sich um die Ernte gekümmert, Holz gehackt. Unsere Großmütter haben gefischt, um zu überleben. Als ich klein war, standen im ganzen Haus Fässer: Im einen Barsche, im andern eingesalzene Rotaugen. Viele haben wir auch getrocknet. Nachdem mein Vater starb, habe ich die Netze zusammen mit meiner Mutter aufgestellt.“ / Foto © Takie Dela 
    Die besten Tage seien die, an denen ihre Söhne nicht trinken, sagt Nadeshda. Sie macht sich Sorgen, wenn sie nicht nach Hause kommen. Dann lässt sie die Tür geöffnet, wenn sie ins Bett geht, liegt wach, versucht, sie am Telefon zu erreichen. Allein mit der Angel auf dem See kommt sie zur Ruhe: „Im Winter, wenn ringsum alles weiß ist und still. Herrlich!“ Noch lieber mag sie den Sommer, da kann sie sich noch länger in die Einsamkeit zurückziehen. Manchmal mag sie gar nicht heimgehen, erzählt die 76-Jährige, dann übernachtet sie in ihrem Boot: „Ich schlafe wenig. Ich sitze einfach da, trinke Tee und schaue in die Sterne.“ / Foto © Takie Dela 

    Olga Pekschujewa, Woknawolok 

    Olga Pekschujewa unterrichtet seit 36 Jahren Mathematik und Physik an der Dorfschule. Neuerdings leitet sie auch einen Schachkurs und gibt Sportunterricht. Im Winter fährt sie auf Skiern zu ihren Angelplätzen. Sie hat ihre Söhne und einige Schüler mit ihrer Leidenschaft angesteckt. Zusammen nehmen sie an Angelwettbewerben in der Umgebung teil / Foto © Takie Dela 
    Auf Olgas Esstisch steht ein Teller mit gekochtem Fisch. Ihre Begeisterung für die Fischerei hat sie von ihrem Mann. „Er war Karelier, und die Karelier sind alle Fischer“. Vor zwei Jahren ist er gestorben, mit gerade 55 Jahren. „Krebs, und getrunken hat er auch“, sagt Olga. Seitdem geht sie mit ihren beiden erwachsenen Söhnen fischen / Foto © Takie Dela 
    Beim Eisangeln trägt Olga oft die Dienstjacke ihres verstorbenen Mannes. Er war beim Katastrophenschutz. Die beiden hatten vier Kinder zusammen. Die beiden Töchter haben geheiratet und sind weggezogen. Ihre Söhne Roma, 26, und Pascha, 17, leben noch zuhause. Sie machen oft gemeinsam Ausflüge, schnallen sich Jagdskier unter und wandern durch den Wald zu einem See. „Ich liebe solche Wanderungen“, sagt Olga: „Lagerfeuer, ein Kessel mit Tee.“ Für sie ist Angeln vor allem ein Vergnügen und ein Mittel, um mit ihren Kindern und Schülern in Kontakt zu bleiben / Foto © Takie Dela 

     

    Olgas jüngster Sohn Pascha und zwei ihrer Schüler ziehen mit dem Eisbohrer los. Im Winter wird der Fang an Land sofort tiefgefroren und bleibt schön frisch / Foto © TakieDela 

     

    Ljubow Filippowa, Siedlung Wedlosero 

    Eine Holzskulptur am Ufer des Sees in Wedlosero. Die Siedlung liegt im Zentrum von Karelien / Foto © Takie Dela 
    Ljubow Filippowa sitzt mit ihrem Vater an einem Eisloch und wartet auf einen Biss. Er hat sie schon mit zum Angeln genommen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dann heiratete sie, begann zu arbeiten und bekam Kinder – und für das Angeln war kaum noch Zeit. Vor kurzem hat sie ihre Stelle bei der Gebietsverwaltung gekündigt. Jetzt zieht sie auch manchmal alleine los / Foto © Takie Dela 
    Die Angel, die sich ihr Vater als Kind selbst gebastelt hat, benutzt er heute noch. Früher sei sie der Ansicht gewesen, Angeln sei nur etwas für Männer, sagt Ljubow Filippowa. Seit sie allein angelt, hat sie ihre Meinung geändert. Obwohl – ein paar Besonderheiten gibt es schon: Die Eislöcher bohrt immer noch ihr Vater für sie. Und wenn sie mal muss, während sie da mitten auf der weiten Eisfläche des Sees sitzt, hat sie ein Problem. Die meisten Männer gehen dann allerdings auch ans Ufer. Ein Aberglaube besagt, dass es Unglück bringt, aufs Eis zu pinkeln / Foto © Takie Dela 

     

    Ein anderer Aberglaube besagt, dass man auf dem See nicht fluchen und sich nicht über einen schlechten Fang beklagen darf. Wenn der erste Fang der Saison ein Erfolg war, haben die Karelier früher am Ufer eine Suppe daraus gekocht und sie für den Herren des Wassers zurückgelassen. Davon versprachen sie sich Petri Heil für die ganze Saison.  
    Ljubow Filippowa hält nichts von solchen Volksweisheiten und auch nichts von Anglerkalendern, in denen die günstigen Tage markiert sind. Wenn sie Lust hat, geht sie angeln. Wenn nicht, bleibt sie zuhause / Foto © Takie Dela 
    Nacht über dem See von Wedlosero. An einem Eisloch brennt noch Licht / Foto © Takie Dela 

    Valentina Moissejewa, Tschornaja Lamba 

    Valentina Moissejewa prüft eine Reuse. Die 64-Jährige lebt mit ihrem Mann, einem Sohn und zwei kleinen Enkelkindern in dem kleinen Dorf Tschornaja Lamba. Hier gibt es noch nicht einmal richtige Straßen. Dafür liegt das Dorf zwischen zwei Seen / Foto © Takie Dela  
    Auf dem Weg zum See. Valentinas Sohn steuert den Motorschlitten. Valentinas Mutter war in einer Kolchose für die Aufzucht der Kälbchen verantwortlich. Von frühester Kindheit an half Valentina mit: molk die Kühe, gab den Kälbchen die Flasche. Manchmal stand sie vor der Schule um fünf Uhr früh im Stall. Wenn sie mal einen freien Tag hatten, nahm die Mutter sie mit zum Angeln / Foto © Takie Dela 
    Valentina prüft ihre Grundangel. Buran wartet ungeduldig auf den ersten Fang / Foto © Takie Dela 
    Beim Angeln findet Valentina Frieden. Sie hat einige Schicksalsschläge hinter sich. Ihr erster Mann trank. Als der älteste Sohn zehn Jahre alt war, erhängte sich der Vater im Suff. „Ich blieb allein zurück mit drei Kindern“, erinnert sie sich. „Von meinem Lohn und der Hinterbliebenenrente konnten wir kaum leben.“ Da begann sie mit dem Fischen. „Das hat uns Freude gemacht und danach haben wir alle zusammen unseren Fang gegessen.“ / Foto © Takie Dela 
    Das Warten hat sich gelohnt. Den ersten Fang bekommt Buran. Ihren Teil der Beute nimmt Valentina mit nach Hause. Die kleinen Rotfedern legt sie im Ganzen ein mit Öl, Salz und Gewürzen: „Die musst du nicht einmal putzen. Die garst du sechs Stunden auf dem Herd oder im Ofen, danach schmelzen sie im Mund, sogar mit Gräten.“ / Foto © Takie Dela 
    Auch der Kater Luntik begleitet Valentina gern beim Angeln. Früher ging sie gemeinsam mit ihren zweiten Ehemann fischen. Seit der sich das Bein verletzt hat, sind Buran und Luntik ihre einzigen Begleiter / Foto © Takie Dela 
    Valentina nennt den Kater im Scherz die „Fischereiaufsicht“. Die Kiste mit den Angelsachen ist auch Zuhause sein Lieblingsplatz. Draußen auf dem See streicht er Valentina um die Beine und linst ins Eisloch, ob sich da was tut. Im Sommer steigt er zu ihr ins Boot und wartet dann dort, bis ein Fisch am Haken hereingeflogen kommt / Foto © Takie Dela 
    Nikita und Veronika toben sich nach dem Kindergarten auf dem Sofa aus. Valentina hat ihre Enkel vor drei Jahren zu sich genommen. Das Amt hatte ihrer Mutter – Valentinas Schwiegertochter – das Sorgerecht entzogen, und ihr Sohn kam alleine mit zwei kleinen Kindern nicht zurecht. So wurde die Großmutter noch einmal Mutter / Foto © Takie Dela 
    Einen typischen Tag beschreibt Valentina so: „Um fünf Uhr stehe ich auf. Ich heize den Ofen ein, mache Frühstück und gucke kurz ins Internet. Dann bringe ich die Kinder in den Kindergarten und gehe fischen. Da kann ich mich entspannen. Wenn ich heimkomme, nehme ich die Fische aus und putze sie. Dann wird gekocht. Wenn die Kinder aus dem Kindergarten kommen, machen wir Hausaufgaben oder spielen. Um zehn gehe ich ins Bett.“ / Foto © Takie Dela 

    Im Sommer hat Valentina sich einen Traum erfüllt: ein E-Bike. Sie hat lange darauf gespart. Sie sammelt Beeren im Wald und verkauft sie auf dem Markt. Das Rad ist eine Investition: So kommt sie schneller in den Wald an die guten Plätze, wo die Heidelbeeren wachsen.  

    Nikita und Veronika schauen aus dem Fenster ihres Hauses. Valentina hat ihnen schon gesagt: „Wenn ich einmal sterbe, legt mir eine Angel mit ins Grab.“ / Foto © Takie Dela 

    Irina Iwanowa und Galina Martynowa, Kinelachta 

    Irina Martynowa und ihre Mutter Galina Iwanowa breiten ein Netz aus. Der Fischfang hat der Familie geholfen, schwer Zeiten zu überstehen. Galinas Großvater – Irinas Urgroßvater – wurde im Großen Terror erschossen. Seine Frau blieb allein mit fünf Kindern zurück. Um sie satt zu kriegen, begann sie mit der Fischerei. Sie lernte, wie man Netze knüpft, den Zwirn dafür stellte sie aus Leinen selbst her. Früh am Morgen lief sie drei Kilometer zum See und stellte ihre Netze auf / Foto © Takie Dela 
    Auf der Fahrt über den Sinemuksa-See hat Irina Iwanowna ihren Mann und ihre Mutter im Schlepptau. Seit ihre Urgroßmutter aus der Not mit dem Fischen begann, wird die Tradition von Generation zu Generation weitergegeben / Foto © Takie Dela 
    Der Tag beginnt mit einem kleinen Barsch. Galinas Großmutter hat ihr beigebracht, wie man Fische fängt. Später hat sie gemeinsam mit ihrem Mann geangelt. Seit er gestorben ist, sitzt sie meistens allein am Wasser / Foto © Takie Dela 
    Kleine Fische machen auch satt – wenn man genug davon fängt. Früher hat Irina mit ihrer Mutter auch Reusen und Netze aufgestellt, wenn der See gefroren war. Das ist harte Arbeit. Heute wartet Galina meistens zuhause und übernimmt dann das Putzen und die Zubereitung des Fangs / Foto © Takie Dela 
    Zurück aus der Kälte. Galina Martynowa heizt den Samowar ein / Foto © Takie Dela 
    Als kleines Mädchen hat Galina gelernt, was Hunger bedeutet. Ihre Großmutter hat die Familie mit den Fischen durchgefüttert, die sie aus dem See gezogen hat. Der Hunger ist Vergangenheit, aber Galina hat immer einen Vorrat im Haus – getrocknet und in der Tiefkühltruhe / Foto © Takie Dela 
    Der Himmel über dem See / Foto © Takie Dela 
    Galina Martynowa blickt auf in die Sterne / Foto © Takie Dela 

     

    Text & Fotos: Takie Dela 
    Veröffentlicht am:  11.02.2025

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    Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

    Alle paar Jahre rauschen aufsehenerregende Fälle häuslicher Gewalt und Protestwellen dagegen durch Russland. 2016 berichteten Zehntausende per Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать  (#IchhabkeineAngstzusprechen) von ihren Gewalterfahrungen. Doch 2017 wurden mit Verweis auf „traditionelle Werte“ die Strafen für häusliche Gewalt gesenkt. 2018 machte der Fall Chatschaturjan Schlagzeilen, in dem drei Schwestern ihren Vater ermordet haben sollen, der sie jahrelang misshandelt hatte.  

    Seit Russlands umfassendem Überfall auf die Ukraine nun werden immer mehr Fälle von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Morden durch Soldaten bekannt, die von der Front zurückkehren. Doch diesmal scheint die Regierung das Thema selbst angehen zu wollen, bevor es zu hohe Wellen schlägt. So haben im Juni 2024 gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen.  

    In der Gesellschaft kommt dieser Vorstoß gut an: Umfragen zufolge unterstützt eine deutliche Mehrheit von 89 Prozent solch ein Gesetz gegen häusliche Gewalt: 95 Prozent der Frauen, 83 Prozent der Männer. Dennoch ist mit Stand Ende Dezember 2024 in einem halben Jahr nichts weiter mit den Gesetzesentwürfen passiert.

    Das russische Onlinemedium Glasnaja, das sich auf soziale und Frauen-Themen spezialisiert, hat mit Expertinnen gesprochen, um herauszufinden, wie effektiv diese Vorschläge im Kampf gegen häusliche Gewalt wirklich sein könnten, würde man sie in der vorliegenden Form umsetzen. Einige Gesprächspartnerinnen werden aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt. 

    © IMAGO / Depositphotos

    Im Juni 2024 haben russische Abgeordnete und Beamte überraschend angefangen, sich aktiv zum Problem der häuslichen Gewalt zu äußern. So legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die dieses Problem lösen sollen. Nebenbei nahmen sie sich darin auch den Schutz von Männern vor häuslicher Gewalt vor. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem dazu auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten. 

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“ 

    Dieses neue staatliche Interesse am Problem der häuslichen Gewalt könnte, so die von Glasnaja befragten Expertinnen, mit der um sich greifenden Diskussion über Gewaltverbrechen und Mordfälle an Frauen durch Militärangehörige zusammenhängen, die aus der Ukraine zurückkehren

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“, meint eine Menschenrechtsaktivistin. „Die Behörden haben wohl beschlossen, das Problem selbst in die Hand zu nehmen, anstatt den Anstieg von Gewalt durch Militärangehörige und Zivilisten einfach totzuschweigen.“ 

    Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: So mutmaßte beispielsweise Verstka, der Kreml könnte Staatsbediensteten erlaubt haben, das Thema für PR-Zwecke und zum „Ruhigstellen der Gesellschaft“ zu nutzen. Dabei soll der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Hauptgegner des Gesetzes über häusliche Gewalt, zugesichert worden sein, dass man derartige Gesetzesinitiativen abprallen lassen würde. Auf jeden Fall wollen die Behörden wohl verhindern, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die zunehmende Gewalt in russischen Familien sei auf die Rückkehr von Soldaten aus der Ukraine zurückzuführen. Verstkas Quellen zufolge soll der Kreml Politikern untersagt haben, solche Fälle öffentlich zu erwähnen. 

    Zwei Expertinnen betonten gegenüber Glasnaja aber auch, dass die Gesetzesentwürfe von LDPR und Nowyje Ljudi tatsächlich keine konkreten Vorschläge enthalten, um Gewalt durch Militärangehörige mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu verhindern oder ihnen vorzubeugen. 

    Männerschutz statt „radikalem Feminismus“ 

    Warum in dem Entwurf nicht nur Frauen vor häuslicher Gewalt geschützt werden sollen, erklärte die Koautorin des Entwurfs, Sardana Awksentjewa von Nowyje Ljudi, folgendermaßen: „Ich glaube, es wird deutlich, dass der Gesetzentwurf nichts mit ‚radikalen Feministinnen‘ zu tun hat. Wie Sie sehen, können auch Männer Opfer von Übergriffen werden.“ Als Beispiel nannte sie den Fall des 37-jährigen Anton Jegowzew aus der Nähe von Moskau, der am 7. Juni im Treppenhaus seines Wohnhauses durch acht Messerstiche getötet wurde. Dem Aktivisten der Bewegung Sow narodow [Ruf der Völker], die traditionelle Werte propagiert, hatte ein Mann aufgelauert, der seit mehreren Jahren Jegowzews Ehefrau nachstellte. Laut ihrer Aussage hatte die Polizei bis dahin sämtliche Anzeigen ignoriert. Auch im LDPR-Entwurf ist die Rede davon, dass man Männer vor häuslicher Gefahr schützen müsse. 

    Unabhängige Frauen- und Menschenrechtsbewegungen sprechen bereits seit Jahren über das Problem der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Eine Aktivistin sagte im Gespräch mit Glasnaja: Die Kritik an „radikalen Feministinnen“ sei auf das Bestreben des Staates zurückzuführen, sich die Agenda der verwundbaren Position der Frauen in der Familie zu eigen zu machen. Dieselben Ideen würden nun „von Leuten verbreitet, denen der Staat vertraut und die er kontrolliert“. 

    „Die Distanzierung von ausländischen Agenten und all jenen, die der Staat diskreditiert, erhöht die Chance, dass das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise ein fiktives System geschaffen wird. Es ist schon gut, dass sie die Dinge endlich beim Namen nennen“, meint die Menschenrechtsaktivistin. 

    Andererseits könnte der Akzent auf dem Schutz der Männer auch von vornherein dem patriarchal gesinnten Teil der Gesellschaft die Luft aus den Segeln nehmen. Denn der wäre sicher auch gegen den Gesetzentwurf, selbst wenn er vom Staat initiiert würde, führt sie aus. 

    Mit diesem Fokus auf Männerschutz ignorierten die Abgeordneten schlicht die Realität, meint wiederum die Juristin und Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, Darjana Grjasnowa. Obwohl nach internationalen Standards, die in der Istanbul-Konvention festgelegt sind, häusliche Gewalt durchaus Menschen aller Geschlechter betrifft, seien Frauen doch „unverhältnismäßig stark betroffen“, betont die Anwältin. 

    „Rein populistischer Schachzug“ 

    Von den beiden vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen befasst sich nur die Initiative von Nowyje Ljudi auch mit dem Problem des Online- und Offline-Stalkings. Grjasnowa verweist diesbezüglich auf die internationalen Standards zum Schutz von Frauen vor Belästigung: 

    • Stalking ist eine Straftat. 
    • Schutzmaßnahmen und einstweilige Verfügungen müssen das Opfer sofort schützen können. 
    • Das Opfer muss umfassende Unterstützung erhalten können. 

    In seiner momentanen Form entspricht der Gesetzentwurf diesen internationalen Standards allerdings nicht, so Grjasnowa. 

    Um auf ihre Initiative aufmerksam zu machen, hat Nowyje Ljudi die Initiative Stalkingu net [Nein zu Stalking – dek] ins Leben gerufen: Betroffene sollen den Abgeordneten hier per detaillierter Nachricht ihren Fall schildern, damit diese „die Situation verstehen und helfen können“. 

    Glasnaja hat eine Expertin gebeten, sich die Plattform genauer anzuschauen. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich „nicht um ein Arbeitsinstrument mit transparenten Methoden, sondern um eine rein populistische Aktion“ handele. Unter anderem bemängelte sie, dass man auf der Internetseite keine Informationen zu den Experten und deren Kompetenzen finde, die in das Projekt involviert sind. 

    „Wir haben lange gezweifelt, ob es nach dem 24. Februar [2022, Tag des vollumfänglichen Angriffs Russlands auf die Ukraine – dek] überhaupt vorstellbar ist, dass wir wieder über ein Gesetz gegen häusliche Gewalt sprechen. Aber anscheinend will man doch eine gesellschaftliche Diskussion auslösen, damit es irgendwie damit weitergeht“, resümiert die Menschenrechtlerin. 

    Nur Schutz für feste Familien 

    Im Juni dann verkündete Leonid Sluzki, Vorsitzender der LDPR und früher einmal selbst der sexuellen Belästigung beschuldigt, dass ein Gesetzentwurf zur „umfassenden Regulierung häuslicher Gewalt“ der russischen Regierung und dem Obersten Gericht zur Begutachtung vorgelegt worden sei. Allerdings erntete auch diese Initiative bei Experten Skepsis. 

    Das wichtigste Manko bestehe darin, so die Anwältin Grjasnowa, dass es nur um Familienmitglieder und Paare mit Kindern gehe: „Dem Entwurf zufolge ergeben sich familiäre Beziehungen aus der Beziehung zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie aus der Verbindung von Personen, die ein gemeinsames Kind haben und zusammenleben. [Durch diese Formulierung] fallen ehemalige Ehegatten und Partner, die keine Kinder haben, [aus der Schutzregelung] heraus.“ 

    Der Gesetzentwurf erstreckt sich außerdem nicht auf kinderlose Frauen, die in einer nicht registrierten Beziehung leben, und auch nicht auf geschiedene Frauen, die den ehemaligen Gatten nach Auflösung der Ehe häuslicher Gewalt beschuldigen. Dabei meldeten laut Statistiken für die Jahre 1996 bis 2002 (aktuellere Daten gibt es nicht) Frauen in Russland öfter Gewalt durch Ehepartner, die nach der Scheidung erfolgt. Nach einer Statistik des Zentrums Nasiliu.net (Nein zu Gewalt) werden 40 Prozent der Gewaltverbrechen in Russland in der Familie begangen. 

    Ein weiteres Detail: Die Initiative der LDPR sieht vor, das Opfer vom Aggressor zu isolieren und nicht umgekehrt – den Aggressor vom Opfer, wie es in internationalen Dokumenten empfohlen wird, betont Grjasnowa. Und die Juristin Mari Dawtjan ergänzt, dass eine Isolierung des Opfers die Betroffene noch vulnerabler macht. Erst recht, da Art und Weise der Isolierung im Gesetzentwurf nicht geregelt werden.  

    Höhere Strafen für Verbrechen in der Ehe 

    Gegenwärtig wird im Strafgesetzbuch und im Gesetzbuch über Ordnungswidrigkeiten die Verantwortung für Gewalttaten nur allgemein definiert – ohne Feststellung einer erhöhten Verantwortung dafür, wenn die Tat innerhalb der Familie verübt wurde. Die LDPR fordert nun eine stärkere strafrechtliche Verantwortung für Familienmitglieder.  

    Das würde bei einer Vergewaltigung folgendermaßen wirken: Die Vergewaltigung einer Ehefrau, Mutter oder Frau, mit der der Mann ein gemeinsames Kind hat, wird zu einem besonders schweren Fall, wodurch sich die Gefängnisstrafe erhöht. Derzeit kann für eine derartige Vergewaltigung eine Haftstrafe von drei bis sechs Jahren verhängt werden. Dem Gesetzentwurf der LDPR zufolge sollen solche Taten mit 15 bis 20 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. 

    Die Anwältin Grjasnowa erläutert am Beispiel Mord: „Mord zum Beispiel wird gemäß Paragraf 105, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsentzug bis zu 15 Jahren bestraft. In Absatz 2 dieses Paragrafen werden die qualifizierenden Merkmale aufgelistet, aufgrund derer Strafen ausgesprochen werden können, die bis lebenslänglich reichen: bei hilflosem Zustand oder Schwangerschaft [des Opfers], bei Mord mit besonderer Grausamkeit oder auf gemeingefährliche Weise. Die LDPR will dieses Verzeichnis erweitern und Taten gegen Kinder, Eltern, Eheleute und Personen, mit denen der Täter ein gemeinsames Kind hat, in Absatz 2 aufnehmen, die dann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden können.“ 

    Eine Million für Verleumdung 

    Doch die Menschenrechtlerinnen kritisieren: Die Definition häuslicher oder sexualisierter Gewalt im Gesetzespaket der LDPR ist so schwammig, dass mehrere Arten der Gewalt, die in Russland verbreitet sind, unberücksichtigt blieben. Die Anwältin Dawtjan zählt auf: „Aus der Definition physischer Gewalt wurden Schläge herausgenommen, obwohl sie am stärksten verbreitet sind; und bei wirtschaftlicher Gewalt sind keine Bestimmungen zur Nichtzahlung von Alimenten enthalten.“ 

    Gleichzeitig will die LDPR auch Verleumdung im Bereich der Familien- und Alltagsbeziehungen kriminalisieren. Das könnte einen sehr starken „Abkühlungseffekt“ haben, ist Darjana Grjasnowa überzeugt: „Selbst ein paar Verfahren, die eröffnet würden, nachdem Betroffene von ihrer Geschichte berichteten, dürften ausreichen, um sie für immer verstummen zu lassen.“ 

    Die Strafe für Verleumdung soll eine Million Rubel bzw. das Arbeitseinkommen für bis zu einem Jahr oder gemeinnützige Arbeiten von bis zu 240 Stunden betragen. 

    Dabei können Betroffene auch jetzt schon wegen Verleumdung belangt werden: Es gibt ja den Paragrafen 128.1 des Strafgesetzbuches. Die Initiative der LDPR sei nun aber ein direkter Versuch, sowohl den Opfern wie auch den Menschenrechtlerinnen, die den Mut haben, über verübte Gewalt zu sprechen, den Mund zu stopfen, betont Grjasnowa. 

    Mangel an Frauenhäusern 

    Tatjana Moskalkowa, die Menschenrechtsbeauftragte beim russischen Präsidenten, hat bei ihrem jährlichen Bericht vor dem Föderationsrat vorgeschlagen, staatliche Krisenzentren (ähnlich Frauenhäusern – dek) einzurichten und diese aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Diese Praxis gebe es bereits in 16 Regionen. 

    In derselben Rede sagte Moskalkowa aber auch, dass die wenigen bestehenden staatlichen Zentren überlastet seien. Und sie berichtete, wie sie mit Kolleginnen zwei Moskauer Zentren für Opfer häuslicher Gewalt besucht habe und „sehr erstaunt“ gewesen sei, dass es in den Einrichtungen für 100 Personen keine freien Plätze gebe. 

    „Wenn man sich die Statistik der UNO in Erinnerung ruft, der zufolge jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist, wird deutlich, dass die staatlichen Zentren schlicht nicht die nötige Anzahl Betten bereithalten“, bestätigt die Anwältin Darjana Grjasnowa. 

    Die Standards des Europarates besagen, dass pro 10.000 Personen eine Familienschlafstätte bereitgehalten werden sollte – also ein Bett für die Mutter und ein Kind (oder mehrere Kinder, je nach der durchschnittlichen Anzahl der minderjährigen Kinder im Land). Legt man diesen Schlüssel für Russland an, müsste es hier mindestens 14.700 Plätze für Opfer häuslicher Gewalt geben. 

    2014 und 2015 gab es in Russland in 53 Regionen 95 staatliche oder private Frauenhäuser mit insgesamt 1.349 Plätzen. Das sind elfmal weniger als der Europarat empfiehlt. Sogar in Moskau werden zwölf Mal mehr Plätze für Frauen in Krisensituationen benötigt als jetzt in den städtischen Einrichtungen vorhanden sind (2400 statt jetzt 200). 

    Sicherheit nicht für alle 

    Einfach nur neue staatliche Frauenhäuser zu eröffnen, reicht nicht, um das Problem häuslicher Gewalt zu bewältigen. Auch die komplexen Hilfsangebote müssen verbessert werden, sagt Darjana Grjasnowa weiter. Beispielsweise werden Frauen in einigen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen nur mit lokaler Meldebescheinigung und einem ganzen Paket von Dokumenten aufgenommen. Dazu gehören dann eine Überweisung vom Sozialamt, der eigene Pass, die Geburtsurkunde des Kindes, Ergebnisse einer Röntgenuntersuchung, der Impfpass oder eine Bescheinigung über die epidemiologische Umgebung von Mutter und Kind. 

    Im Moskauer Krisenzentrum zur Hilfe für Frauen und Kinder, von dem Moskalkowa wohl sprach, kann eine Frau in „auswegloser Lage“ aber auch einfach so aufgenommen werden. Die notwendigen Dokumente kann sie dann nachreichen. In den übrigen Fällen entscheidet innerhalb von 60 Tagen eine spezielle Kommission über die Unterbringung. 

    In nichtstaatlichen Frauenhäusern hingegen erfolgt die Aufnahme in der Regel ohne viele Papiere. Sogar Frauen mit HIV können aufgenommen werden, wenn sie Prep-Tabletten nehmen – in den staatlichen Schutzhäusern gelten sie als Epidemie-Gefahr. 

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  • „Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt“

    Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland eine imaginäre „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Nun arbeitet die russische Führung an einem Verbot einer „Childfree-Bewegung“, die es ebenfalls nicht gibt. „Propaganda des freiwilligen Verzichts auf das Kinderkriegen“ wird damit unter Strafe gestellt. Darunter fallen nach Vorstellung der Initiatoren des Gesetzes Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass alle möglichen Informationen zu bewusster Kinderlosigkeit bestraft werden können. Zudem muss man befürchten, dass die Verabschiedung des neuen Verbots ebenso zu Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen wird wie das bestehende russische Gesetz über die sogenannte „homosexuelle Propaganda“

    Laut der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, ist die „Childfree-Ideologie“ als eine „Entartung des Feminismus“ im Westen entstanden. Sie sei gegen Männer und gegen die „traditionellen Werte“ gerichtet. Andere Politiker wollen mit dem Gesetz die demografischen Probleme des Landes angehen. Für den Journalisten Anton Orech von der Novaya Gazeta ist das Gesetz krude Biopolitik: „Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“ 

     

    © Depositfoto / Imago Images

    In einer Schule in Ocha auf der Insel Sachalin mussten sich die Schüler in der Aula einfinden und sich einen Vortrag darüber anhören, wie schlecht Abtreibungen sind. Zwecks Veranschaulichung, damit die Jugendlichen es auch wirklich kapieren, zeigte man ihnen auf einer großen Leinwand den ganzen ungeschönten Vorgang. Videos von dieser Aktion gingen durch Kanäle und Accounts – verpixelt und mit der Warnung versehen, es handle sich um verstörende Bilder. Für die Kinder in der Sachaliner Schule wurden sie weder verpixelt noch beschönigt. Die Sache blieb zwar nicht ohne Folgen, es wurde ermittelt, wer das überhaupt erlaubt hatte und wer der Vortragende war – doch da war es bereits zu spät, der Schaden war bereits angerichtet.        

    Werbeverbot für Kondome? 

    Mir stellt sich vor allem eine Frage: Was die Kinder da gesehen haben – ist das nun Propaganda fürs Kinderkriegen oder für Childfree? Will man nach so einem Anblick überhaupt noch Kinder bekommen? Oder erreicht man mit solch entsetzlichen Bildern nicht vielmehr das Gegenteil von Fortpflanzungsfreudigkeit? Sodass das demografische Problem erst recht nicht gelöst wird?  

    Eine Abtreibung ist immer schlimm. Keine Frau würde so etwas aus Jux und unter normalen Umständen machen lassen. Und wer kein Baby kriegen will, kann ja verhüten – würde man meinen. Doch in der Duma wird bereits ein Werbeverbot für Kondome diskutiert, zur Bekämpfung von „Childfree“. Die Verbreitung von Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten wird die Gesellschaft natürlich viel weiter bringen. Wenn Frauen und Männer mit den Folgen von ungeschütztem Sex die Arztpraxen stürmen, wird es uns viel besser gehen. Es ist ja nicht nur der Tripper, der auf diesem Weg übertragen wird, da gibt es ja auch diverse andere Krankheiten.   

    In einem Land, in dem Hunderttausende Menschen das HI-Virus in sich tragen, ist es natürlich oberste Priorität, Kondome abzuschaffen! 

    Tja, und schwangere Teenager sind natürlich genau das, was uns allen noch gefehlt hat. Genau das scheint Senator Kutepow in Angriff zu nehmen: Er schlägt vor, Abiturientinnen bei der Aufnahmeprüfung zur Universität zusätzlich zu den üblichen Bonuspunkten für allerlei Olympiaden noch zehn weitere Punkte zu schenken, wenn sie im Jahr vor der Prüfung ein Kind gebären. In welcher Klasse muss man dann damit anfangen? Elfte, oder besser schon zehnte? Das sind völlig absurde Hirngespinste, doch eine einfache Wahrheit hat uns das Leben ja schon gelehrt: Es gibt kein Hirngespinst auf dieser Welt, das nicht irgendwann ein Gesetz in Russland werden könnte.  

    Die auf die Nachwuchsproduktion fixierte Regierung hat das Thema Childfree entschlossen im Visier. Worauf man sich verlassen kann: Bald wird diese „Bewegung“ verboten, ihre Anhänger mit Strafen belegt. Dass es gar keine entsprechenden Strukturen gibt, macht überhaupt nichts. Das hat ja auch keinen daran gehindert, die „internationale LGBT-Bewegung“, die angeblich seit 1984 aktiv ist, zu verbieten.  

    Bestrafung der Unterlassung 

    Was „Childfree“ betrifft, könnte es sogar noch absurder werden. Während das LGBT-Verbot eine Handlung bestraft, würde ein „Childfree“-Verbot eine Unterlassung bestrafen. In Russland kann man ohnehin bald jeden von der Straße weg vor Gericht schleppen, aber um wegen gleichgeschlechtlicher Liebe belangt zu werden, muss man diese immerhin entweder praktizieren oder Solidarität mit solchen Menschen zum Ausdruck bringen. Das heißt, wenn man absolut nichts über LGBT sagt und „es nicht macht“, dann hat man seine Ruhe. Aber soll jetzt jede kinderlose Person unter Generalverdacht stehen, einer imaginären Childfree-Bewegung anzugehören? 

    Sie sind verheiratet, aber haben keine Kinder? Soso, erklären Sie sich mal! Sie strengen sich an, aber es wird nichts? Wie können Sie Ihre Bemühungen beweisen? Sie haben gesundheitliche Probleme? Dann lassen Sie mal ein Attest sehen! Sie sind noch nicht bereit? Haben kein Geld? Keine Wohnung? Wollen erst Ihren Abschluss/Karriere machen? Das ist doch wohl alles kein Grund, sich nicht zu vermehren!  

    In der Sowjetunion wurde eine Steuer auf Kinderlosigkeit erhoben. Eine absolute Demütigung. Aber damals kam man auch wegen homosexueller Kontakte und antisowjetischer Propaganda und Agitation ins Gefängnis, und die Rolle der Partei als „unserem Steuermann“ war in einer Verfassung verankert, die insgesamt vor Kuriositäten strotzte. Können wir wiederholen? Zudem werden andauernd neue Steuern eingeführt, und trotzdem hat der Staat komischerweise kein Geld.        

    Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt 

    Die strafrechtliche Verfolgung von „Childfree-Propaganda“ eröffnet ein weites Feld für Improvisationen. Allein der Begriff der „Propaganda“ ist abstrakt und der Paragraf absichtlich schwammig formuliert. Klar, dann kann man jeden belangen, den man will. Jeden beliebigen Aktivisten zum Beispiel, wenn sich sonst gar nichts anderes gegen ihn finden lässt.   

    Aber noch viel wichtiger ist: Der Staat dringt buchstäblich in die Privatsphäre seiner Bürger und Bürgerinnen ein. Er legt sich zu ihnen ins Bett und macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt. Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen. 

    Aber der Russe ist ganz einfach gestrickt. Geht es um irgendwelche abstrakten Begriffe, um Freiheiten oder „allgemeinmenschliche Werte“, dann winkt er ab, als ginge es um Sachen, die niemand so richtig versteht oder braucht und die ihn nicht wirklich was angehen. Aber kaum ist er von etwas direkt betroffen, spürt es am eigenen Leib, da fängt er plötzlich an, ganz anders zu empfinden.    

    Lebensmittelpreise und steigende Wohnnebenkosten regen ihn viel mehr auf als jede Einschränkung von Freiheit. Die Frage nach Sex und Kinderkriegen ist allerdings maximal einfach zu verstehen, und die persönliche Betroffenheit könnte unmittelbarer nicht sein. Es ist äußerst schwierig, einen Menschen zum Kinderkriegen zu zwingen, wenn er nicht will. Und wenn ihm klar ist, dass er zwar von allen Seiten zur Fortpflanzung aufgefordert wird, es aber kaum Unterstützung für Familien mit Kindern gibt. Was hat er für Aussichten? Vermehrung in Armut? Fortpflanzung in der Schulzeit? Aber Wladimir Medinski hat die Lösung: Verkürzen wir doch einfach die Schulbildung, damit man nicht so viel Zeit mit Lernen verbringt, sondern schneller einen Beruf ergreift. Die Jungs in die Fabriken, die Mädels ins Geburtshaus. Und immer so weiter. Damit an „Childfree“ gar nicht mehr zu denken ist.     

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  • Die Hexen von Butscha

    Die Hexen von Butscha

    In der Kyjiwer Vorstadt Butscha hat sich die erste Freiwilligen-Flugabwehreinheit der Ukraine gegründet, in der nur Frauen dienen: Einerseits, weil es mit dem anhaltenden Krieg immer mehr an Männern mangelt. Andererseits, weil eigene Erfahrungen und Verluste durch den russischen Aggressor seit dem brutalen Massaker an der Zivilbevölkerung im Frühjahr 2022 diese Frauen zur Landesverteidigung motiviert. 

    Wenn der Arbeitstag als Ärztin oder Lehrerin endet, Kinder und Familie versorgt sind, dann kommen diese Frauen zum Militärtraining und schieben Bereitschaftsdienste bei der lokalen Flugabwehr: Nähern sich russische Drohnen oder Raketen vom Nordwesten der Hauptstadt, stehen die „Hexen von Butscha“ bereit, um die todbringenden Geschosse unschädlich zu machen. Ihre Vorgesetzten im Verteidigungsstab sind weiterhin Männer. Einer von denen sagt: „In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer.“ 

    Ein Reporter-Team des ukrainischen Onlinemediums Frontliner hat die erste Flugabwehr-Frauentruppe bei Militärübungen besucht und stellt einige der Kämpferinnen vor. 

    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Eine zierliche Frau reinigt ein Maschinengewehr und gießt Wasser hinein. Sie erzählt: „Meine Aufgabe ist es, das Maschinengewehr mit Wasser zu füllen, es zu zerlegen und zusammenzubauen, das Wasser abzugießen und die Waffe in Kampfstellung zu bringen.“ Wie ein Maschinengewehr funktioniert, hat sie gelernt, als sie sich der Einheit „Hexen von Butscha“ anschloss, die den Himmel über der Region Kyjiw vor russischen Drohnen und Raketen schützt. 

    Die Gemeinde von Butscha beschloss aufgrund der demografischen Situation in der Stadt, die ersten mobilen Flugabwehrtrupps in der Ukraine zu bilden, die ausschließlich aus Frauen bestehen. Während der Besatzung von Butscha wurden fast alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die die Stadt nicht verlassen konnten, umgebracht. Insgesamt wurden in der Stadt mehr als 600 Menschen getötet und zu Tode gefoltert. Die Russen erschossen in Butscha ganze Familien. Nach der Befreiung gingen viele Männer der Stadt an die Front. Der lokale Freiwilligenverband brauchte dann eine Fraueneinheit. 

    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Zu den „Hexen von Butscha” gehören Frauen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlicher Bildung, aus verschiedenen Berufen und mit unterschiedlicher Lebenserfahrung. Doch jede hier sei eine Kämpferin, sagt der Stabschef mit Kampfnamen „Weles“ vom Freiwilligenverband Butscha: 

    „Männer sind stärker und eher bereit zu vehementem, aggressivem Handeln. Frauen dagegen sind reflektierter, organisierter und verantwortungsbewusster. Unsere ukrainischen Frauen sind Kosakinnen, sie sind vielen Orks überlegen. In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer“, so „Weles“. „Ein Kämpfer zu sein, bedeutet, mehr als Mann oder Frau zu sein. Dann ist man ein Mensch, der Verantwortung für sich selbst, für das Land und für die Menschen übernimmt, die er verteidigt.“ 

    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Die Frauen gehen alle drei Tage in den Kampfeinsatz, dadurch können sie den Dienst mit ihrem zivilen Leben verbinden. Manche der „Hexen von Butscha” erziehen neben ihren Einsätzen zum Schutz des Luftraums noch zwei oder drei Kinder und arbeiten Vollzeit. Die Einwohner von Butscha statten den Freiwilligenverband mit Ausrüstung und Waffen aus. Geld bekommen die Kämpferinnen jedoch nicht, denn sie tun ihren Dienst bei der Flugabwehr als Freiwillige. 

    Die zwei unzertrennlichen Freundinnen „Mala” und „Forsash” sind gemeinsam der mobilen Flugabwehrtruppe beigetreten. Gemeinsam trainieren sie nun, Sturm- und Maschinengewehre zu reinigen, zu laden, damit zu schießen und in Abschnitten zu patrouillieren. Neben ihrem Dienst bei den „Hexen von Butscha” arbeiten sie in einem Krankenhaus. 

    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Mala“, 26 Jahre  

    „Mala“ [ukr. die Kleine] ist Maschinengewehrschützin und lernt schnell den Umgang mit der Waffe. Es ist ein Maschinengewehr aus dem Jahr 1944, noch aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Sie nennt es liebevoll „Maximka“. Obwohl es aus dem letzten Jahrhundert stamme und ein vormodernes Wasserkühlsystem habe, schieße es gut, wenn es richtig gewartet werde, meint sie. 

     „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Mala“ trainiert seit einem Monat bei den „Hexen von Butscha”. Als der Freiwilligenverband die Rekrutierung von Frauen zur Flugabwehr ankündigte, schloss sie sich ihm sofort an. „Ich wollte schon länger dienen, denn in meiner Familie sind viele bei der Armee, aber ich kann nicht zu den Streitkräften gehen, weil ich als Ärztin in einem Krankenhaus arbeite“, sagt sie. 

    Eine zusätzliche Motivation, sich der mobilen Flugabwehrgruppe anzuschließen, war die schwere Verletzung ihres Freundes, der im Serebrjanka-Wald durch eine Mine sein Bein verlor. Ihr Freund bestärkte ihre Entscheidung, sich freiwillig zu melden, und plant auch selbst, nach der Rehabilitation seinen Dienst bei „Asow” fortzusetzen. 

    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Forsash”, 27 Jahre  

    Mit „Mala” im Team arbeitet „Forsash”. Sie dient als Ladeschützin und Fahrerin. Bei einem Luftangriff muss sie schnell das Maschinengewehr laden und in Gefechtsstellung bringen. Ihren Kampfnamen (ukrainischer Titel des Films „Fast & Furious” – dek) gab ihr der Waffenmeister, als er das erste Mal mit ihr als Fahrerin unterwegs war. 

    „Forsash“ meint, dass Schnelligkeit für die mobilen Flugabwehrtrupps essentiell sei, da die Shahed-Drohnen sehr schnell fliegen (etwa 200 Stundenkilometer – dek). Nur wenn man die Position rechtzeitig erreicht, kann man sie abschießen. 

    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Forsash“ kam vor einem Monat zu der Flugabwehreinheit, um ihre Angehörigen zu schützen. „Niemand möchte, dass seine Wohnung von einer Rakete getroffen wird. Ich habe hier meine Brüder, Schwestern, Freunde, Pateneltern und Patenkinder in Butscha“, sagt sie. Sie mag es, etwas Nützliches zu tun und freut sich, dass sie ihren Dienst im Freiwilligenverband mit ihrer Arbeit als Anästhesistin auf der Intensivstation im Krankenhaus von Irpin verbinden kann. 

    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Sowohl „Mala” als auch „Forsash” arbeiteten während der Kämpfe um Butscha und unter russischer Besatzung weiter in der medizinischen Einrichtung. Nun sind sie froh, dass sie ihren Militärdienst mit ihrem Beruf verbinden können. Es sei zwar anstrengend, im Krankenhaus und in der Territorialverteidigung Schichten zu absolvieren. Dennoch sagen die Frauen, dass sie sich daran gewöhnt hätten und mit diesen Schwierigkeiten fertig würden. 

    „Tajana”, 41 Jahre  

    Während der Kämpfe um Butscha verlor „Tajana” ihren Mann, der seinen Beruf als Journalist aufgegeben und sich am ersten Tag der Invasion als Freiwilliger der Territorialverteidigung angeschlossen hatte. Ihre Mutter starb aufgrund der ständigen Stressbelastung durch die Kämpfe und auch ihr Schwager kam ums Leben. Während der Besatzung von Butscha wurde ihr Haus und auch das ihrer Eltern zerstört, sodass sie selbst ohne Dach über dem Kopf zurückblieb. Nach dem Tod ihrer Liebsten wollte „Tajana” sich den ukrainischen Streitkräften anschließen, was man ihr jedoch wegen ihrer Traumatisierung zunächst verwehrte.

    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Heute trainiert „Tajana” bei den „Hexen von Butscha” und arbeitet außerdem als Prüferin beim Wasserversorgungsunternehmen. Auch sie sagt, dass es schwierig sei, die Arbeit, ihren Dienst im Freiwilligenverband und die Erziehung ihrer 14-jährigen Tochter unter einen Hut zu bringen. Das Schwierigste sei jedoch nicht die körperliche Erschöpfung, sondern das Unverständnis vieler Menschen: „Nachdem ich mich hierzu entschied, sagten mir Leute: ,Hast du sie noch alle’, ‚Du hast Kinder‘, ‚Warum hast du das gemacht‘, ‚Dein Hauptberuf ist wichtiger, als den Staat zu schützen‘. In solchen Momenten wende ich mich ab und gehe, denn der Schutz unseres Staates ist für mich das Wichtigste, was wir haben.”  

    „Sie verstehen nicht, dass es ohne Sicherheit auch ihren Beruf nicht mehr gibt”,  sagt „Tajana” mit Tränen in den Augen. „Wenn es keine Ukraine mehr gibt, gibt es keine Arbeit, kein Leben, einfach nichts. Nur dank uns Freiwilligen, den Helfern und den Frauen und Männern an der Front, haben sie Arbeit, können schlafen und ihr Leben weiterleben.“ 

    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Für „Tajana” war die Entscheidung, sich dem mobilen Flugabwehrtrupp anzuschließen, durch ihren persönlichen Schmerz bestimmt. Sie sagt, das Training bei den „Hexen von Butscha” habe ihr nach dem Tod ihres Mannes gutgetan. Nun habe sie das Gefühl, endlich wieder zu leben. 

    „Cherry”, 51 Jahre  

    „Cherry” ist durch Zufall bei den „Hexen von Butscha” gelandet. Eigentlich fuhr sie ihre Freundin zu einem Gespräch mit dem Kommandeur und beschloss dann kurzerhand, selbst dem Freiwilligenverband beizutreten. 

    Jetzt dient sie in der Einheit als operative Einsatzleiterin, fährt auf dem Territorium Patrouille und meldet Gefahren. Gleichzeitig arbeitet „Cherry” als Mathematik- und Informatiklehrerin und hat drei Kinder. Sie sagt, dass es schwierig werde, wenn im September die Schule beginne, doch sie möchte etwas zur Gemeinschaft beitragen. 

    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Trotz der körperlichen Herausforderungen genießt „Cherry” ihre Zeit bei den „Hexen von Butscha”. Sie sagt: „Jede hier ist sie selbst, man unterstützt und hilft sich gegenseitig.“ Jeder Ukrainer sollte seinem Land größtmöglichen Nutzen bringen. „Wenn jeder das Land wirklich liebt und schätzt und nicht so tut, als gehe ihn all dies nichts an, wenn jeder ein echter Patriot ist, dann werden wir auf jeden Fall gewinnen. Man darf einander nicht hängen lassen, sondern muss sich nach eigenen Kräften so gut wie möglich unterstützen“, so „Cherry”.  

    Sie ist froh, dass ihre Familie und Freunde ihre Entscheidung für die Territorialverteidigung unterstützen, und glaubt, dass auch ihre Schüler stolz auf sie sein werden. 

    „Kalypso“, 31, Kommandeurin der „Hexen von Butscha” 

    „Kalypso” kam als erste Frau zum Freiwilligenverband in Butscha. Mit ihr begann die Gründung der Fraueneinheit. Deshalb wurde sie zur Kommandeurin ernannt. 

    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Als die vollumfängliche Invasion begann, brachte sie ihre Mutter an einen sicheren Ort und griff selbst zur Waffe. Zunächst arbeitete „Kalypso” in einer schnellen Eingreiftruppe, welche die Gegend patrouillierte und Bombenschutzkeller kontrollierte, um sicherzustellen, dass sie während der Luftalarme nicht verschlossen waren. Außerdem beteiligte sie sich an der Bekämpfung von Saboteuren. Jetzt bildet sie neue Freiwillige aus, um den Himmel über der Region Kyjiw zu schützen. 

    Vor dem Krieg leitete Kalypso die Serviceabteilung einer Ladenkette, die Türen verkauft und arbeitete als Restaurantmanagerin. „Jetzt habe ich keine Zeit mehr für das zivile Leben und widme mich ganz meiner Arbeit im Freiwilligenverband. Es wäre toll, wenn in der ganzen Ukraine Frauen ihre Familien schützen könnten. Wir arbeiten im Team. Jede einzelne ist für die anderen da“, erzählt sie. 

    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Kalypso” ermutigt andere Frauen, sich den „Hexen von Butscha” anzuschließen. Sie sagt: „Wir haben zwar Waffen, aber nicht genügend Hände, um sie zu bedienen, also suchen wir ständig nach Freiwilligen. Viele Männer haben Angst, dass sie zur Armee eingezogen werden, wenn sie sich beim Freiwilligenverband melden, also rekrutieren wir Frauen.“ 

    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Laut Stabschef „Weles“ machen Frauen bereits mehr als die Hälfte im gesamten Freiwilligenverband von Butscha aus. Ihre Zahl ist jedoch nicht ausreichend, weshalb die Rekrutierung fortgesetzt wird, um die „Hexen von Butscha” aufzustocken. 

    „Weles” ist stolz auf die Frauen, die sich dem mobilen Flugabwehrtrupp angeschlossen haben: „Dank ihnen können die meisten Menschen in Kyjiw und unsere Bewohner in Butscha friedlich in ihren Häusern schlafen und reagieren oft nicht einmal mehr auf Luftalarm.“ 

    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

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  • Verstka, gesprochen Wjorstka

    Verstka, gesprochen Wjorstka

    Auf den russischen Großangriff auf die Ukraine folgte in Russland eine bis heute andauernde Welle der Repressionen – vor allem auch gegen unabhängige Medien, von denen zahlreiche ihren Betrieb einstellen oder ins Exil gehen mussten. Gleichzeitig begünstigten Schock und Empörung auch die Gründung einer Reihe neuer Onlinemedien wie The New Tab, die Novaya Gazeta Europe oder Cherta, die meist aus dem sicheren Ausland und mit anonymen Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort arbeiten. Eines davon ist Verstka. Auf dem Blog Inymi slowami des US-amerikanischen Kennan Institutes erzählt die Chefredakteurin Lola Tagajewa die Gründungsgeschichte ihres Mediums, das auch für dekoder zu einer wichtigen Quelle geworden ist.

    „Viel Geld werden wir nicht verdienen, wenn überhaupt welches; doch eins weiß ich sicher – es wird schwierig. Für Medien ist es immer schwierig. Vor allem jetzt.“ So also klang das Traumangebot, das ich Marianna Luschnikowa, der zukünftigen Marketingchefin von Verstka, im März 2022 schickte.

    Marianna und ich hatten gerade unsere ersten Trainings auf den Markt gebracht. Durchaus erfolgreich. Das letzte war für die Niederlassung einer transnationalen Firma gewesen, deren Produkte in jedem Haus zu finden sind, in dem es Babys gibt. Von dem Geld für dieses Training lebten Marianna und ich vier Monate lang, bis Einkünfte von Verstka kamen.

    Ein Start ohne große Ressourcen und prominenten Namen

    Warum rede ich gleich über Geld? Weil ich fast keines hatte. Und Medien haben ohne Geld keine Chance. Also, richtige Medien, nicht das private Blog von Lola Tagajewa. Ein Blog wollte ich nicht, und Gott sei Dank ließ ich die Finger davon. 

    Also, das Geld. Verstka hat seit letztem Jahr über 30 Mitarbeiter, und ich habe eine ungefähre Vorstellung von unserem Jahresbudget. Doch damals hatten wir im Grunde nur zwei Monatsgehälter für drei Journalisten. Einen halbwegs prominenten Namen, mit dem ich Sponsoren hätte ködern können, hatte ich auch nicht. Viel hatte ich also nicht, nur die Gewissheit: Etwas anderes als Journalismus kann ich jetzt nicht machen. Ich bin nicht die Einzige, die seit dem 24. Februar [2022 – dek] wie benommen ist.

    Zu dem Zeitpunkt war ich seit drei Jahren damit glücklich, nicht mehr journalistisch zu arbeiten, und wollte eigentlich gar nicht zurück. Ich bin politische Journalistin und Redakteurin in den 2010er Jahren gewesen: Damals mündete unsere Hoffnung auf Modernisierung unter Medwedew allmählich in Chroniken von Gerichtsprozessen. Meine Kündigung begründete ich damit, dass das Politikressort zur Apokalypse geworden sei. Damals hatte ich noch keinen Schimmer … Doch ich wollte sehen, dass meine Arbeit etwas bringt. Also wandte ich mich einem Bereich zu, den der Staat noch nicht so brutal unterdrückte – Problemen der Geschlechterungleichheit und der häuslichen Gewalt.   

    Ich hatte keine Rückkehrpläne und lehnte alle Jobangebote von Medien ab. Doch 2022 begann der Krieg, und es gab [in Russland – dek] fast keine Medien mehr, die darüber  hätten berichten können. Alle waren geschlossen, geflüchtet, übten Selbstzensur. Im März wurden direkt vor meinen Augen mit besonderem Zynismus Medien vernichtet, für die ich mal gearbeitet hatte: Doshd, Novaya Gazeta – und auf RBC wurde es immer schwieriger, etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Ich wusste nicht, dass der Journalismus am Ende trotz allem überleben würde. 

    Ich hatte großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten

    Ich sah zu, wie Medien geschlossen wurden, und es fühlte sich an, als würden Mauern fallen und Bollwerke einstürzen, die für viele ein sinnvolles Weltbild beschützt hatten, und als würden Massen propagandistischer Untiere die letzten bei Verstand gebliebenen menschlichen Wesen endgültig auffressen. Außerdem hatte ich großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten. 

    Ich habe es nicht so in Erinnerung, dass ich unbedingt ein eigenes Medium wollte. Eher zerrte dieses Gefühl von Ungerechtigkeit an mir, das ein „Ich habe nicht wirklich Lust“ plattwalzt und zu einem „Es muss“ macht. Damals dachte ich auch noch, dass es statt Journalismus nur noch Streams geben würde. Fast alle machten Streams, und viele sahen sie sich auch an, muss man zugeben. Das Ergebnis war eine Art kollektiver Gruppenpsychotherapie, gemischt mit Gesprächsjournalismus. Mir fällt es leichter, psychisch gesund zu bleiben, wenn ich mich als Reaktion auf Stress Hals über Kopf in die Arbeit stürze, statt mit anderen darüber zu sprechen und mir Sorgen zu machen.

    Außerdem hatte ich Fragen, auf die ich keine Antworten fand. Zum Beispiel, was aus diesen Müttern und Ehefrauen wurde, die die Straße nach Kabardino-Balkarien im Kauskasus blockiert hatten, um zu herauszukriegen, was mit ihren in der Ukraine verschollenen Söhnen und Ehemännern passiert war. Nichts außer einer kurzen Nachricht in einem Telegram-Kanal war über ihre Aktion zu finden. Ich wollte aber wissen, wie es nach ihrer Festnahme weitergegangen war und ob sich die Geschichte der „Soldatenmütter“ der 1980er und 1990er Jahre wiederholen könnte, die ihren Kindern nicht nur in die Kampfzonen hinterherfuhren, sondern zu einer starken Kraft gegen den Krieg wurden. Insofern war einer der ersten Texte bei Verstka dieser Protestaktion gewidmet.   

    Da ich sowohl mit Medien als auch mit Start-ups Erfahrung hatte, schätzte ich die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, zwar hoch ein, aber lösbar. Jetzt sage ich mir: „Du hattest keinen blassen Schimmer, Lola. Wenn du das gewusst hättest, hättest du nämlich die Finger davon gelassen.“

    Doch damals war es mir enorm wichtig, Journalismus zu betreiben, soweit ich es mir eben leisten konnte. Wenn nur ein wichtiger Text pro Monat zu schaffen ist, dann soll es eben nur einer sein. Wenn mehr geht – umso besser. Man kann nicht einfach stillsitzen und nichts tun. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.  

    Es gibt wenig, das ich bei der Arbeit so sehr mag wie Fakten. Mit Fakten ist es einfach. Im Gegensatz zu Interpretationen lassen sie dich nie dumm aussehen. Wie ich die Entwicklung von Verstka anlegte, sieht man daran, dass ich dafür meinen eigenen Telegram-Kanal mit gut vierzig Followern hergab, weil ich nicht mit einem neuen Account ganz bei Null anfangen wollte. Der Channel hieß Swobodnyje slowa Loly Tagajewoi (dt. Lola Tagajewas freie Worte) – und auf Telegram heißt Verstka noch immer: svobodnieslova. Die Überzeugung, dass diese vierzig Leute, die mich in ihrer Panik hinzugefügt hatten, als Facebook Mitte März 2022 als extremistisch eingestuft wurde, irgendwie wichtig sind für den Start meines Projekts – das illustriert am besten, wie wenig Ressourcen wir hatten.   

    Der Glaube an eine Idee wiegt viel mehr als ein Startkapital

    Die ersten Autoren waren leicht gefunden – ich postete auf Facebook: Wer möchte bei mir als Journalist oder Journalistin arbeiten? Ich weiß nicht, wieso diese Leute – tolle Autoren, die noch immer für Verstka schreiben – das Vertrauen hatten, dass das ohne Geld und mit einem Planungshorizont von zwei Monaten etwas werden könnte (sie hätten mich ja auch für eine Stadtirre halten können). Vielleicht strahlte ich eine unverwüstliche Sicherheit aus, hier und jetzt das Richtige zu tun. Heute weiß ich hundertprozentig, dass der Glaube an eine Idee und die daraus entstehende Energie viel mehr wiegt als ein Startkapital. Mit Glauben und Energie findet sich das nötige Geld, aber wenn der Glaube fehlt, dann bleiben auch die Entwicklungsperspektiven nebulös. Auch wenn das wie ein Insta-Post über erfolgreichen Erfolg klingt.   

    Wir wollten ungefähr Mitte Mai starten, aber am 25. April schrieb ich spätabends um zehn in den Chat: Morgen früh um sieben geht es los. Wir hatten nichts fertig, weder die Website noch die Social-Media-Auftritte. Dafür hatten wir eine Story, bei der ich mir sicher war: Selbst wenn wir sie handschriftlich auf Zettel schreiben, fotografieren und über meine privaten Accounts posten, ist das der beste Start. Es war die Geschichte einer Mutter in einer Kleinstadt, die die Großbuchstaben Z von den Fenstern des Kindergartens heruntergerissen hatte, in den ihre Söhne gingen. Gefühlt alle meine Kontakte teilten das Video mit ihr, aber keiner wusste, wie diese Heldin hieß. Sie war eine dieser namenlosen Heldinnen des Widerstands, die wir so dringend brauchten und über die wir mehr erfahren wollten. Anja Ryshkowa machte sie ausfindig und interviewte sie. Schon in den ersten 24 Stunden hatten wir zweitausend Abonnenten auf Telegram, und den Text, den wir zunächst nur auf Telegram posteten und erst später auf die Website brachten, lasen hunderttausend Menschen. Mein Redakteurinnen-Gespür hatte mich nicht getäuscht.      

    Ich hatte mir keine festen Ziele gesteckt, wie viele Follower es werden sollten und was ich erreichen wollte – um mich nicht auch noch mit eigenen Erwartungen unter Druck zu setzen. Ich überlegte so: Wenn das Projekt Erfolg hat, werden wir auch Unterstützung für seine Weiterentwicklung bekommen, und alles wird gut. Wenn es aber nichts wird, dann hab ich selbst keine Lust auf so ein Medium. Und ich hatte Glück. 

    Das erste Journalistinnen-Team von Verstka erwies sich als stark. Und ich habe nie geglaubt und glaube immer noch nicht, dass man heutzutage beim Launch eines Medienprojekts auf eine spezielle, geheimnisvolle Nische abzielt, für die man Ressourcen und Mühe investiert. In einer Situation, in der zielgruppenspezifische Werbung keine Option ist und die sozialen Medien kahlgeschlagen sind, erreicht man am Anfang nur Follower, die einem Kollegen zur Verfügung stellen. Also muss man auf Zitierbarkeit setzen. Andere Möglichkeiten sehe ich für ein Medienprojekt ohne Namen und ohne Geld nicht. Nur exklusives Material! Wer braucht ein Nachrichten-Rewrite auf einem kleinen Channel, wenn es Meduza gibt? Und immer der Zeit und den Themen voraus sein, bloß nicht den anderen hinterherhecheln. Das war ein gutes Training für das redaktionelle Gespür – welcher Text wird morgen gebraucht? Was wird am ehesten geteilt und zitiert? Welches gesellschaftliche Interesse ist am Entstehen? Wir mussten die Themen vorgeben, nicht ihnen nachlaufen.              

    Verstka hat alle Kräfte gebraucht, aber auch viel zurückgegeben. Ich weiß gar nicht, was einer Chefredakteurin mehr Freude macht – zuzusehen, wie talentierte, aber noch kaum bekannte Journalisten zu Stars werden, oder mitzubekommen, wie Texte den Nerv des Publikums treffen. 

    Eine weitere richtige Entscheidung war, dass die Marketingchefin schon da war, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen und es irgendein Team gab, so dass einer die Sache lenken konnte. Mit diesem Tipp erspart man sich viel Geld: Ein fähiger Marketingchef aus dem Business ist die Rettung der Redaktion. Einen Text als solchen braucht keiner. Daher halte ich mich an folgende Regel: Wenn der Text keine Nachricht enthält, die automatisch Verbreitung findet, dann schaltet sich die Distributionsabteilung ein und sucht nach Wegen, wie das Material möglichst viele Leser erreicht. Wir können es uns finanziell nicht leisten, den Verstka-Channel für nur tausend Abonnenten zu betreiben, auch nicht für hunderttausend. 

    Im ersten Jahr ernährte sich Verstka von meiner Lebenskraft. Wahrscheinlich auch von der Kraft anderer, die mit mir zusammen dieses Projekt angefangen hatten. Eineinhalb Jahre später war ich ausgelaugt von dieser pausenlosen „Plasmaspende“ und stellte mir die ehrliche Frage: Hätte ich es schonender angehen können? Die ehrliche Antwort war: Nein. Ein Projekt ohne Geld und Namen hätte ohne diesen fulminanten Start keine andere Chance gehabt, in einer so schwierigen Zeit zu überleben und relativ groß zu werden. Wenn wir klein angefangen hätten, hätten wir jetzt vielleicht an die zehntausend Abonnenten. Und die Redaktion bestünde immer noch aus ein paar wenigen Mitgliedern. Wäre ich dann glücklicher und gesünder? Vielleicht. Aber diese Frage hat sich damals nicht gestellt. Der Krieg hat alles verändert.      

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  • Im Land der Mütter

    Im Land der Mütter

    „Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt“, sagt Tatsiana Tkachova. In ihrem Fotoprojekt Motherland erkundet die belarussische Fotografin die Bindung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den vor allem ihre Mutter und ihre Verwandten zu ihrem Zuhause gemacht haben. 

    Tkachova wurde unter anderem mit dem World Press Photo ausgezeichnet. Aktuell lebt sie in Hamburg. Wir haben mit ihr gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

    dekoder: Wie ist das Projekt Motherland entstanden?

    Tatsiana Tkachova: Das erste Foto entstand 2018 während meines Besuchs zu Neujahr. Ich weiß nicht mehr, was dazu beitrug, jedenfalls wollte ich das Leben meiner Mutter auf Kamera festhalten. An den Feiertagen zum Jahreswechsel besuche ich sie immer. Wir schmücken einen Tannenbaum, kochen Weihnachtsessen, reden viel und tauschen Nachrichten aus. Ich glaube, viele können sich sowas auch hier in Deutschland vorstellen. Ich mache immer Fotos, wenn ich bei meiner Mutter bin. Und dann hatte ich die Idee, meine Mama und ihre Schwestern in dem Haus zu fotografieren, in dem sie aufgewachsen sind. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und die Schwestern konnten nicht zu Mama kommen, sie leben woanders in Belarus. Dann ging ich nach Deutschland. Ich hatte aber noch ein Archiv mit Fotos aus den letzten vier Jahren. Für mich war es wichtig, das, was jetzt vorhanden ist, zu einer runden Geschichte zusammenzufügen, soweit das möglich ist. Inspirierend waren für mich dabei Nadia Sablins Geschichte Tjotjuschki (dt. Tantchen) und Tarkowskis Film Zerkalo (dt. Der Spiegel).

    Erzählt das Projekt auch eine besonders belarussische Geschichte?

    Das weiß ich nicht, darüber habe ich nie nachgedacht. Wäre ich in einem anderen Land geboren, hätte ich wohl eine genauso enge Beziehung zu meiner Mutter und dem Ort, wo ich mein erstes halbes Lebensjahr verbracht habe. Ich liebe Belarus, ich bin hier geboren. Um genau zu sein, ist meine Heimat das Haus, in dem meine Mutter wohnt und ihre Schwestern und ihre Eltern gewohnt haben, meine Großeltern. Dieses Haus ist die Hauptfigur meiner Geschichte. Im Garten wachsen Blumen und Bäume, die mein Opa gepflanzt hat. Er und Oma sind längst tot, aber den Garten gibt es noch. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Deswegen finde ich es gut, dass Fotos visuelle Bilder erzeugen, die man schwer in Worte fassen kann, weil jeder eigene hat.

    Geht es also in gewisser Weise auch um Verlust?

    Ich würde nicht von Verlust sprechen. Ich glaube nicht, dass dieses Wort in diesen Kontext passt. Meine Mama lebt noch, und es geht ihr gut. Wir sprechen doch nicht von Verlust, wenn die Kinder zum Studieren in eine andere Stadt gehen oder in ein anderes Land. Das ist ein natürlicher Vorgang. Die Geschichte, die ich erzähle, ist zeitlos. Eine Verbindung zu dem Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, und zu seiner Familie hat jeder. Das bleibt für immer in unserem Bewusstsein. Wenn wir Fotos ansehen, spüren wir die Nähe, die Intimität bestimmter Momente, die nur zwischen einander sehr nahestehenden Menschen passieren. Aber wenn man anfängt zu erklären, scheitert man immer, weil jeder seine einzigartige Erfahrung hat. Es ist das, was Umberto Eco in den Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers beschrieb. Motherland ist ein Porträt meiner Familie und gewissermaßen ein Selbstporträt, das aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den es nicht mehr gibt, weil man nicht in die Vergangenheit zurück kann. 

    Ein anderer Aspekt des Projekts scheint auch die Rolle der Mutter zu sein?

    Mich fasziniert das Phänomen des Mutterseins und wie Frauen imstande sind, das Gerüst einer Familie aufrechtzuerhalten. In meiner Familie war das so. Ich weiß noch, wie jeden Sommer Mutters Schwestern mit ihren Männern und Kindern in unser Elternhaus kamen und wir alle beisammen waren. Irgendwann blieben die Frauen allein, weil die Männer sich mit Opa in die Garage verzogen, um an einem Motorrad herumzuschrauben. Wir saßen im Wohnzimmer, und Oma zeigte uns Stoffe, Kleider, Tücher. Das nannten wir: Schätze bewundern. Ich fragte mich immer: Wozu sollen wir das alles anschauen, wir haben es ja letztes Jahr schon gesehen. Aber die Großmutter fand immer etwas Neues. Sie lachten viel, erinnerten sich an ihre Kindheit, lasen Gedichte. Jetzt besuchen die Verwandten in diesem Haus meine Mutter.

    Wie halten Sie Kontakt zu Ihrer Mutter?

    Ja, meine Mutter hat mich zweimal hier besucht. Ich setze meine Arbeit an Motherland fort. Wir halten genauso Kontakt wie vorher, unterhalten uns oft per Videocall. Natürlich gibt es wegen der Visabeschränkungen ein paar Dinge zu beachten, aber ich hoffe, dass wir uns auch in Zukunft treffen können.

    Haben Sie schon neue Projekte?

    Ich arbeite an mehreren Projekten, aber es ist noch zu früh, davon zu erzählen. Ich hoffe, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Was Motherland betrifft, möchte ich unter anderem die ursprüngliche Idee umsetzen und Fotos von Mamas Schwestern hinzufügen, wenn sie sie besuchen. Und auch ein Buch zu Motherland entsteht gerade.

    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova


    Aus dem Video-Archiv von Motherland, Belarus, 2018-2021
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova

    Fotografie: Tatsiana Tkachova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Team
    Veröffentlicht am: 30.11.2023

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    „Als wäre es ein Horrorfilm“

  • Feldschery – die Dorfdoktorinnen

    Feldschery – die Dorfdoktorinnen

    Bei Geburten und Todesfällen, medizinischen Notfällen oder etwa auch zur Impfung gegen das Coronavirus werden sie gerufen: Feldscherinnen wie Gulgena, Alfira und Nursilja. Feldscher – das deutsche Lehnwort und auch das Berufsbild stammen aus dem Militär. Im Russischen meint feldscher allerdings eine zivile, ausgebildete – nicht studierte – medizinische Fachkraft, die Diagnosen stellt, Patienten behandelt und nur notfalls an einen Facharzt überweist. Die feldschery sind quasi die Dorfdoktoren und ersetzen diese gerade in weitläufigen, dünn besiedelten Gegenden – wie dem Rajon Archangelsk in Baschkirien. Dort hat die Dokumentarfotografin Natalja Madiljan sechs von ihnen für Republic mit der Kamera begleitet.

    Foto © Natalja Madiljan
    Foto © Natalja Madiljan


    Morgens um 5.30 Uhr aufstehen. Bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit macht, muss die Feldscherin Gulgena Chissmatullina noch die Kühe melken und die Milch verarbeiten: Quark, Sahne und Butter macht sie selbst. Um acht Uhr morgens verlässt sie das Haus, um auf dem Weg zum Gesundheitszentrum noch bei zwei Familien vorbeizuschauen. Im Gepäck hat sie ein Dreiliterglas Milch und Hammelfleisch aus der eigenen Wirtschaft – Sadaqa, eine muslimische Gabe der Barmherzigkeit für eine junge Familie, die kürzlich ein neues Haus bezogen und ein eigenständiges Leben begonnen hat.      

    Feldscherin Gulgena Chissmatullina

    Im Dorf Maxim Gorki, Gulgena beginnt ihren Arbeitstag / Foto © Natalja Madiljan
    Im Dorf Maxim Gorki, Gulgena beginnt ihren Arbeitstag / Foto © Natalja Madiljan

    Gulgena arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Feldscherin. Sie leitet das Gesundheits- und Geburtshilfezentrum von Arch-Latyschi, das zwei Dörfer versorgt: Maxim Gorki und Gorny. Die Feldscherin empfängt in dem Zentrum Patienten, fährt zu Notfällen und kommt zur Pflege von Kindern und schwangeren Frauen ins Haus. In Gorki gibt es eine große Schule und ein Wohnheim der Veteranen – auch das fällt in die Zuständigkeit der Feldscherin. Insgesamt kümmert sich Gulgena um 1250 Menschen.  

    Gulgena auf Hausbesuch bei einem alten Ehepaar / Foto © Natalja Madiljan
    Gulgena auf Hausbesuch bei einem alten Ehepaar / Foto © Natalja Madiljan

    Pro Tag kommen 10 bis 15 Patienten in das Gesundheitszentrum. Am Morgen findet die medizinische Pflichtuntersuchung für Fahrer der Dorfverwaltung, Fahrer von Schulbussen und Landmaschinen statt. Die Zahl der Patienten im Dorf ändert sich mit den Jahreszeiten: Im Mai hat niemand Zeit zum Kranksein – man ist mit Aussaat und Gartenarbeit beschäftigt. Im Winter geht‘s. 

    Tag der Covid-Impfung, Dorf Maxim Gorki, Versorgungszentrum von Arch-Latyschi / Foto ©  Natalja Madiljan
    Tag der Covid-Impfung, Dorf Maxim Gorki, Versorgungszentrum von Arch-Latyschi / Foto © Natalja Madiljan

    Die Feldscherin hier auf dem Land kennt längst alle ihre Patienten: Geburten, Todesfälle, Krankheiten, Freud und Leid, alles läuft über den Dorfdoktor.
    „Sie erzählen uns alles, und manchmal verstehen wir gut, warum ein Mensch genau jetzt krank geworden ist, welche Probleme und welchen Stress er durchmacht. Dann muss man auch Psychologin sein“, sagt Gulgena.  

    Jede Feldscherin hat ihre eigenen Strategien zur Erholung nach der Arbeit – Gulgena macht Gymnastik, versucht, viel spazieren zu gehen und besucht die Moschee.

    Feldscherin Alfira Nugamanowa 

    Eine Feldscherin auf dem Land hat keinen freien Tag, ihre Tasche ist immer gepackt: „Wir sind jederzeit startklar. Wenn man uns ruft, kommen wir und helfen.“ Die Feldscherin Alfira Nugamanowa lebt und arbeitet im Dorf Kisgi. Ein unfassbar malerischer, entlegener Ort im Vorland des Ural, an einer Biegung des Flusses Inser. Das Gesundheitszentrum von Kisgi ist ein Holzhaus mit Ofenheizung. Es ist zur Gänze Aufgabe der Feldscherin, zu putzen und den Hof in Schuss zu halten, sie muss ohne Hilfe auskommen. 

    Versorgungszentrum im Dorf Kisgi: Die Feldscherin Alfira Nugamanowa an ihrem Arbeitsplatz / Foto © Natalja Madiljan
    Versorgungszentrum im Dorf Kisgi: Die Feldscherin Alfira Nugamanowa an ihrem Arbeitsplatz / Foto © Natalja Madiljan

    Alfira ist schon seit über 40 Jahren Feldscherin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und Enkelkinder, die alle in Neftekamsk wohnen. Während des muslimischen Fastenmonats Ramadan nimmt sich Alfira Urlaub: In ihrem Alter ist es schon zu anstrengend, gleichzeitig zu fasten und zu arbeiten. Doch einen Teil der Arbeit muss sie auch im Urlaub machen – derzeit laufen die Impfungen gegen Covid, und auch Erste Hilfe müssen die Dorfbewohner immer bekommen können. Während der Vorbereitungen zum Zuckerfest in der Moschee kommt ein Mann zur Feldscherin, um seinen verletzten Finger zu untersuchen und verbinden zu lassen. 

    An einem normalen Arbeitstag ist eine Feldscherin bis zum Mittag im Gesundheitszentrum und nachmittags bei Noteinsätzen und Hausbesuchen. Eigentlich hat sie keine festen Arbeitszeiten: Morgens wie abends kommen Patienten, um ihre Spritzen zu kriegen, und es gibt nächtliche Notrufe. Die Telefonnummer der Feldscherin steht auf der Liste mit den wichtigsten Nummern. Insofern ist Dorfdoktor nicht nur ein Beruf, sondern Berufung. 

    Die Feldscherin hat eine große Hauswirtschaft, um die sie sich vor und nach der Arbeit kümmern muss. Um sechs Uhr morgens melkt Alfira Nagumanowa die Kühe / Foto © Natalja Madiljan
    Die Feldscherin hat eine große Hauswirtschaft, um die sie sich vor und nach der Arbeit kümmern muss. Um sechs Uhr morgens melkt Alfira Nagumanowa die Kühe / Foto © Natalja Madiljan
    Nursilja Chairetdinowa bei einem Noteinsatz im Dorf Kurgasch / Foto © Natalja Madiljan
    Nursilja Chairetdinowa bei einem Noteinsatz im Dorf Kurgasch / Foto © Natalja Madiljan

    „Wenn du siehst, dass ein Mensch, der oft bei dir war, krank ist und im Sterben liegt – natürlich ist das schwer. Oder ein Patient hat einen Infarkt und kriecht vor Schmerzen auf dem Boden, aber der Rettungswagen kommt nicht. Und selber kannst du ihn nicht fahren, weil er nicht transportfähig ist. Du musst ihm also das leben retten: Dann lebt er weiter und freut sich, und du freust dich auch.“  

    Feldscherin Natalja Shaworonkowa

    Natalja Shaworonkowa hält im Gesundheitszentrum von Krasny Silim die perfekte Ordnung. Sanitäterin hat sie keine, eine Putzfrau auch nicht, also lastet die Aufrechterhaltung der Ordnung genau wie die Behandlung der Patienten auf den Schultern der Feldscherin.  
    Natalja wurde in der Oblast Uljanowsk geboren und kam nach Baschkirien, als sie einen jungen Mann aus dem Dorf Silim heiratete. Dort begann sie 1983 ihre Tätigkeit als Feldscherin.  

    Die Feldscherin Natalja Shaworonkowa war kürzlich schwer an Covid erkrankt, hat die Folgen überwunden und arbeitet jetzt wieder  / Foto © Natalja Madiljan
    Die Feldscherin Natalja Shaworonkowa war kürzlich schwer an Covid erkrankt, hat die Folgen überwunden und arbeitet jetzt wieder / Foto © Natalja Madiljan

    Das Versorgungszentrum von Krasny Silim ist für drei weitere Dörfer zuständig: Magasch, Kusnezowka und Lukinsk. Um 7.30 Uhr verlässt Natalja das Haus, um vor Beginn ihres Arbeitstages die Fahrer zu untersuchen. „Bis acht Uhr abends versorge ich Notfälle, aber wenn jemand später kommt, kann ich ihn auch nicht wegschicken“, sagt Natalja. Zu Notfällen geht die Feldscherin zu Fuß.   

    Die Arbeit einer Feldscherin auf dem Land besteht nicht nur in Erster Hilfe und Hauskrankenpflege. Im Sommer muss das Gras gemäht werden, im Winter der Schnee geschaufelt, und auch die Raumpflege ist Pflicht der Feldscherin und der Sanitäterin, sofern es eine gibt. In manchen Gesundheitszentren wird mit einem Ofen geheizt und es gibt keine Wasserleitung. 

    Feldscherin Nursilja Chairetdinowa

    Das Gesundheitszentrum in Terekly befindet sich in einem Gebäude mit der Dorfbibliothek / Foto © Natalja Madiljan
    Das Gesundheitszentrum in Terekly befindet sich in einem Gebäude mit der Dorfbibliothek / Foto © Natalja Madiljan

    Die Feldscherin Nursilja, die das Versorgungszentrum von Terekly leitet, wurde im benachbarten Asow geboren, hat 1985 die Medizinische Fachschule von Belorezk abgeschlossen und als Medizinerin in Ufa und in der Oblast Tscheljabinsk gearbeitet. Als sie einen Mann aus Terekly heiratete, begann sie hier ihre Tätigkeit als Feldscherin – zuerst ab 2003 im Nachbardorf Kurgasch und ab 2010 in Terekly.  
    Nursilja hat fünf Kinder – drei Söhne und zwei Töchter. Die älteren Kinder studieren in Ufa, der mittlere Sohn dient in der Armee, und die jüngeren wohnen noch bei den Eltern und gehen zur Schule.  

     Bevor sie am Morgen zur Arbeit geht, bereitet Nursilja die Wabenrähmchen für die Bienenstöcke vor, während ihr jüngster Sohn vor der Schule noch lernt / Foto © Natalja Madiljan
    Bevor sie am Morgen zur Arbeit geht, bereitet Nursilja die Wabenrähmchen für die Bienenstöcke vor, während ihr jüngster Sohn vor der Schule noch lernt / Foto © Natalja Madiljan

    Nursiljas Tag beginnt wie bei vielen Feldscherinnen um sechs Uhr – sie muss die Kühe melken, die morgendlichen Aufgaben im Haushalt erledigen, dann bringt sie die Kinder zur Schule und fährt selbst zur Arbeit. Auf dem Weg zum Gesundheits- und Geburtshilfezentrum schaut sie bei alten Frauen rein, die ihre Spritzen brauchen, und am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause. Auch Notrufe gibt es: „Außerhalb der Arbeitszeit fährt eigentlich nur der Krankenwagen, aber manchmal kommen sie her, bringen einen Patienten, oder man läuft eben hin. Und wenn‘s durch den Fluss geht, dann eben in Watstiefeln“, erzählt Nursilja. 

    Nursilja Chairetdinowa nimmt jederzeit Patienten auf –  am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause / Foto © Natalja Madiljan
    Nursilja Chairetdinowa nimmt jederzeit Patienten auf – am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause / Foto © Natalja Madiljan

    Ein typisches Gesundheits- und Geburtshilfezentrum – das sind mehrere Räume in einem Verwaltungsgebäude, in dem oft auch die Regionalverwaltung untergebracht ist oder die Post, eine Bibliothek, ein Museum oder ein Kindergarten. Manchmal ist es ein frei stehendes Gebäude, dann ist es meistens aus Holz und renovierungsbedürftig. Die Toilette ist immer draußen, bisweilen in katastrophalem Zustand. Wenn der Zustand des Gebäudes zu erbärmlich ist, dann empfängt die Feldscherin ihre Patienten bei sich zu Hause, auch das kommt vor. 
    Hier in der Region läuft wie überall in Russland ein Programm, in dessen Rahmen in den Dörfern neue Versorgungszentren in Fertigbaucontainern eingerichtet werden. In der Region Archangelsk sind es zwei. 

    Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa

    Gesundheits- und Geburtshilfezentrum im Dorf Absanowo. Die Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa machen sich zu Krankenbesuchen und Hauspflegeeinsätzen  auf  / Foto © Natalja Madiljan
    Gesundheits- und Geburtshilfezentrum im Dorf Absanowo. Die Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa machen sich zu Krankenbesuchen und Hauspflegeeinsätzen auf / Foto © Natalja Madiljan

    Das Gesundheitszentrum im Dorf Absanowo ist ein Holzhaus, schon das dritte seit Dienstantritt der beiden Feldscherinnen: Saituna Mussina, die das Zentrum leitet, und die Hebamme Ramsija Bikbulatowa. Beide sind seit 42 Jahren im Dienst. Das Einzugsgebiet umfasst 850 Menschen, im Sommer werden es mehr, denn dann kommen die Datschenbesitzer

    Fast alle „Mädels“ betätigen sich neben ihren medizinischen Aufgaben und der Hausarbeit auch noch kreativ – viele singen in Folklore-Ensembles, helfen in der Moschee, engagieren sich ehrenamtlich und bemühen sich, auch für sich selbst Zeit zu finden. Alle haben eine Landwirtschaft und machen selber Butter, Sahne und Quark und helfen auch noch anderen. Fast sieht es so aus, als hätte der Tag einer Feldscherin doppelt so viele Stunden wie der anderer Menschen.  

    Feldscherin Saituna Mussina bei einem Hausbesuch in Absanowo / Foto © Natalja Madiljan
    Feldscherin Saituna Mussina bei einem Hausbesuch in Absanowo / Foto © Natalja Madiljan

    Die durchschnittliche Dienstzeit einer Feldscherin beträgt 35 Jahre. Die Feldscherinnen witzeln: Unser jüngstes Mädel ist 45, aber das sind Einzelfälle, die meisten von uns sind über 55. In Russland läuft seit 2018 das Programm Feldscherin auf dem Land, bei dem Mediziner, die aufs Land ziehen, 500.000 Rubel [knapp 5800 Euro – dek] und eine Reihe von Vergünstigungen erhalten. Allerdings wird die Umsetzung dieses scheinbar attraktiven staatlichen Projekts deutlich durch die Schwierigkeiten behindert, mit denen die Neuankömmlinge konfrontiert sind.  

    Haupt-Transportmittel im Dorf – zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Feldscherin Saituna Mussina auf ihrem Weg zu einem Hausbesuch / Foto © Natalja Madiljan
    Haupt-Transportmittel im Dorf – zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Feldscherin Saituna Mussina auf ihrem Weg zu einem Hausbesuch / Foto © Natalja Madiljan

    „Mit zunehmendem Alter begann ich zu verstehen, dass man den Menschen mehr Gutes tun muss, und danach lebe ich jetzt. Wenn einer kommt, während ich Feierabend oder Urlaub habe, verweigere ich nie meine Hilfe. Ich freue mich, wenn Kinder zur Welt kommen, wenn Frauen schwanger werden, wenn jemand zu trinken aufhört. Den Menschen Gutes tun und Liebe schenken – ich bin stolz darauf, in einem Heilberuf tätig zu sein. Ich bin weder reich noch arm, aber ich lebe und freue mich über jeden neuen Tag“, sagt Gulgena Chissmatullina. 

    Gulgenas Arbeitstag endet mit einem Blumenstrauß von Patienten / Foto © Natalja Madiljan
    Gulgenas Arbeitstag endet mit einem Blumenstrauß von Patienten / Foto © Natalja Madiljan

     

    Text und Fotos: Natalja Madiljan
    Original veröffentlicht am 20.07.2021 auf
    Republic
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    veröffentlicht am 13.08.2021

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    „Musik ist eine Schulter zum Anlehnen“

    Russian Woman heißt der Song, mit dem Sängerin Manizha Russland beim diesjährigen ESC vertreten wird. Darin singt sie in einer musikalischen Mischung aus Folklore, Rap und Pop auf Russisch und Englisch über starke Frauen, die jede Mauer durchbrechen können. Manizha selbst wurde 1991 in Duschanbe geboren, während des Bürgerkriegs in Tadshikistan floh sie mit ihren Eltern nach Moskau.
    So viel hybride Identität trifft nicht nur auf Liebhaber, sondern polarisiert: Auf den ESC-Vorentscheid folgten begeisterte Reaktionen genauso wie Anfeindungen. Neben fremdenfeindlichen Kommentaren gab es auch Kritik am Feminismus der Sängerin, die sich außerdem öffentlich mit der LGBTQ-Community in Russland solidarisiert. 

    Manizha, die bereits vor ihrer ESC-Teilnahme in Russland erste Erfolge feierte, hat sich vor allem auf Instagram eine Fangemeinde von rund 400.000 Followern aufgebaut, die Abrufe ihrer aufwändigen Musikvideos auf YouTube erreichen mitunter Millionenhöhe. Forbes zählte sie 2020 zu den aussichtsreichsten russischen KünstlerInnen unter 30. 

    Meduza nahm dies 2020 zum Anlass für ein ausführliches Interview. Die Kulturjournalistin Katerina Gordejewa sprach mit Manizha über die Kindheit in Duschanbe und Moskau, die Anfänge ihrer Karriere, die sie auch nach London führten, und die starken Frauen in ihrer Familie.

    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting
    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting

    I. Manizha und Instagram

    II. Manizha und Social Impact

    III. Kindheit in Tadshikistan


    Katerina Gordejewa: Mit wem verbringst du den Lockdown?

    Manizha: Meine ganze Familie lebt derzeit zusammen in einem Haus. In „friedlichen Zeiten“ waren wir ausgeschwirrt und hatten zu tun, aber jetzt sind wir alle unter einem Dach vereint. Und weißt du, irgendwie sieht man jetzt klarer. Alles, worauf man in der Hektik nicht achtet, die Eigenschaften der Menschen, die einen umgeben. 

    Die Zeit vergeht langsamer und erlaubt es einem, seine Stärken und Schwächen zu analysieren und aufzuspüren: Woran sollte man arbeiten, woran lieber nicht.

    Ich esse ständig und bewege mich nie. Ich mache keine Challenges und keine Trainings per Skype

     Außerdem ist es schön, dass man auf einmal wieder jemanden anrufen kann, der einem wichtig ist, ein bisschen quatschen, fragen, was sich tut, ein bisschen in den Hörer schweigen oder schnaufen. Das hat es lang nicht gegeben: Wir sind die ganze Zeit gerannt.


    I. Manizha und Instagram

    Wann begann dein Erfolg?

    Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin, aber die Haltung meiner Verwandten hat sich verändert, ich bin jetzt Lieblingsschwester, Lieblingsnichte, Lieblingsenkelin.

    Fühlst du dich eigentlich immer noch fremd in Moskau?

    Ich habe Moskau lange Zeit abgelehnt. Ich wollte immer weg von hier. 

    Eine Zeitlang hast du in Petersburg gelebt.

    Ja, in Petersburg und in London. Aber vor etwa drei Jahren habe ich begriffen, dass Moskau meine Stadt ist. Ich liebe Moskau. Für jeden Stein, für die ganze Scheiße, die hier passiert, die ganze Liebe, den Hass. Ich musste lange davor flüchten, mich verstecken, um es zu gewinnen.

    Warum hast du dich dazu entschlossen, deine Karriere über Instagram zu machen? Es gibt ja naheliegendere Arten: Wettbewerbe, Konzertagenturen, Fernsehen. 

    Wegen der Freiheit. Aber da muss ich ausholen: Mit 15 Jahren war ich ein Superstar, gewann das Goldene Grammofon, spielte bei Firmenfeiern und ging auf Tournee. Meine Managerin war damals – und ist es bis heute – meine Mutter: Sie investierte Zeit und Geld in mich, fand Sponsoren und Promoter. Alle wollten, dass alles schön, glamourös, erfolgreich ist. Sie haben mir die Haare kürzer geschnitten und blondiert und mir ein rotes Tutu und ein Korsett angezogen und mich auf die Bühne gestellt. Das brachte Erfolg. Das brachte Geld.

    Sie haben mir die Haare blondiert und mir ein rotes Tutu angezogen

    Aber das war nicht ich. Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt. Aber die Producer sagten: Wer braucht hier Englisch, spinnst du? Also, mein Erfolg dauerte von 15 bis 17, dann bin ich durchgedreht und habe gesagt, dass ich hasse, was ich mache. Und habe offiziell damit aufgehört. 

    Und was haben die Producer gesagt?

    Die zuckten ratlos die Schultern. Mama war natürlich schockiert, aber sagte: „Gut. Dann zeig mir, dass du es selbst kannst.“ Und ich schwamm los.

    Ich packte meine Sachen und fuhr nach Petersburg. Ich studierte an der Uni [Psychologie – dek] und gründete parallel eine Band. Die ganze Zeit dachte ich: „Ich werde Mama beweisen, was ich kann!“ Aber in mir drin wusste ich, dass das Bullshit war. Ich trat in irgendwelchen versifften Underground-Clubs auf, mit scheußlichen Bühnen und miesem Sound, und alles wurde immer schlimmer. Mir wurde klar, dass ich aufhören musste, das ging hier alles den Bach runter. 

    Und dann kommt unser letztes Konzert, und ich weiß, dass ich danach mit all dem aufhören werde, weil es einfach nicht geklappt hat. Ich schlief unterdessen im Auto meiner Freundin, weil ich keinen Schlafplatz hatte, nichts zu essen und kein Geld, und heulte nächtelang. 

    Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt

    Ich trete also ein letztes Mal auf, und nach dem Konzert kommt so ein seriöser Typ im Anzug auf mich zu, neben ihm irgendein durchgeknallter Musiker. Die sagten: „Wir möchten Sie zum Casting einladen, als Sängerin in einer europäischen Musikshow. Wir machen eine Tour: Spanien, England, New York.“ Ich habe nichts zu verlieren, also fahre ich nicht nach Hause, sondern gehe zum Casting. Stelle mich ans Mikrofon und singe. Und da kommt dieser Typ im Anzug rein und sagte: „Mein Gott, wie cool, wie toll! Ich find die gut, die nehmen wir!“

    So begann mein Leben als Prinzessin! Alle wuselten um mich herum, ich war Teil dieser unglaublichen Show. 

    Irgendwann war das aber vorbei – offiziell, weil sie nicht genug Geld hatten. Unterdessen hatte ich in London [den Producer] Michael Spencer kennengelernt, dessen Label mir einen Vertrag anbot. Ich las den Vertrag – der war richtig lausig. Keine Rechte für mich, dafür hätten sie uneingeschränkte Macht über mich gehabt. Ich weiß nicht, woher ich die Eier hatte, aber ich lehnte ab und ging zurück nach Russland. 

    Du hast dich für die Freiheit entschieden?

    Die große Freiheit, die ich so unbedingt wollte, hatte mir eine handfeste Depression beschert. Nach diesem weiten Weg war ich wieder bei Null. Alle rundherum sagten: Du musst dich weiterentwickeln … Aber ich lag tatsächlich tagelang auf dem Sofa und starrte auf Instagram. Und dann fiel mir um drei Uhr nachts plötzlich auf: „Warum stellt keiner Videos auf Instagram?“ Ich sah noch mal nach, und wirklich – kein einziges Video. So, also war ich die erste auf Instagram, die Videos gepostet hat. Ich hab gepostet und gepostet, und kurze Zeit später hatte ich – ohne Fernsehen, ohne Producer, ohne Label und ohne viel Geld – ein Publikum beisammen, das nur meins war. 

    Dann fiel mir plötzlich auf: ‚Warum stellt keiner Videos auf Instagram?‘

    Mein Song Wanja entstand nach einem Ritual bei Indianern in Amerika. Ich hatte bei einem Gentest erfahren, dass ich unter anderem indianische Vorfahren habe, daher bin ich dahin gereist und habe ein Ritual gemacht, das hatte drei Hauptaspekte: Freiheit, Wahrheit und Vertrauen. „It‘s all about the trust.“ Dann begann das Ritual. Ich hatte das Gefühl, 20 Minuten da dringewesen zu sein, aber es waren dreieinhalb Stunden. Als wir danach vom Reservat ins Hotel fuhren, schrieb ich gleich im Auto den Song Wanja

    Mein Song Wanja entstand bei Indianern in Amerika

    Das Lied zog aber überhaupt nicht. Es war das am wenigsten gehörte Lied meiner ganzen Geschichte. Ein richtiger Flop. Ich hab so geweint, ich kann‘s dir gar nicht sagen. Ich war wahnsinnig enttäuscht, wo ich diese Sache doch mit so viel Herzblut angegangen war und sich alles so schön gefügt hatte … Und dann so ein Flop, verstehst du? 

    Wie bist du da rausgekommen?

    Ich wurde sehr krank. Ich versuchte, die Situation loszulassen, weil ich mich auf ein großes Konzert in der Crocus City Hall [im Februar 2020 – dek] vorbereiten musste, aber mir war elend, und ich war völlig kraftlos. Und plötzlich Anfang Januar – ohne mein Zutun – veröffentlicht Juri Dud einen Post. Ich konnte es kaum glauben, als ich auf meinem Handy sah „Juri Dud hat Sie markiert“. Er schrieb, dass ihm Wanja gefallen habe. Was da abging! Die Views stiegen und stiegen! Einen Tag später wurde ich zur Talkshow Wetscherni Urgant eingeladen. Kurz gesagt, das Schicksal des Songs drehte sich um 180 Grad. 

    Warum war dir das Konzert in der Crocus City Hall so wichtig?

    Weil Moskau eine unbezwingbare Stadt ist. Diese Stadt mit einem großen Konzert zu bezwingen ist ein enormer Kraftakt und ein unfassbares Glück. Stell dir vor, in dieser überforderten Stadt, wo alle ums Überleben kämpfen, gelingt es dir, über 4000 Menschen in einem Raum zu versammeln und in einer Idee zu vereinen – sie singen. Und du weißt ganz genau, dass sie sich dir an diesem Abend hingeben. Und du gibst dich ihnen hin. 

    Crocus ist nicht als Ort wichtig – obwohl er heute der einzige ernstzunehmende Saal in ganz Moskau ist –, sondern als Ereignis. Eine so riesige Menge Leute sind für mich als Sängerin, die nicht-kommerzielle Musik macht, ein Geschenk und ein Fest. Dieses Konzert war ein absolutes Glück. Alles lief super.

    Wie und warum hast du dich dazu entschieden, keine kommerzielle Sängerin zu werden, sondern eine Künstlerin mit einer sozialen Botschaft? 

    Mir haben meine Fans geholfen, ins Licht zu treten – ich befinde mich in einem ständigen Dialog mit ihnen. Ich beantworte alle Kommentare, frage: „Was soll ich am Montag singen? Was gefällt euch?“ Ich unterhalte mich mit ihnen, und ich interessiere mich wirklich dafür, was sie beschäftigt, wie ich ihnen helfen kann. Ich bin überzeugt davon, dass Musik heilen kann. Mich hat irgendwann Thom Yorke mit seinen blöden Manifesten aus der Depression geholt. Ich finde, Musik ist eine Schulter zum Anlehnen, wenn es dir schlechtgeht. Wir können der Kunst unseren heftigsten Schmerz anvertrauen und ihn gemeinsam mit ihr durchleben.


    II. Manizha und Social Impact

    Das erste soziale Thema in deinem Werk war häusliche Gewalt. Warum? 

    Erstens wurde ich darum gebeten. Und zweitens weiß ich genug darüber, dass ich das Recht habe, davon zu singen. Ich habe oft genug häusliche Gewalt miterlebt, war in muslimischen Familien oft damit konfrontiert. Am schlimmsten ist, dass die Frauen das okay finden – die Mutter sagt zur Tochter: „Ich wurde geschlagen, und du wirst auch geschlagen. Das hältst du aus.“ In östlichen Familien werden Mädchen so erzogen, dass das Wichtigste ist zu heiraten. „Papa, ich will ein Tattoo.“ – „Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.“ „Papa, ich will singen.“ – „Kannst du, wenn du verheiratet bist.“ 

    ‚Papa, ich will ein Tattoo.‘ – ‚Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.‘

    Das Wichtigste ist, dass der Mann ein braves, ordentliches Mädchen kriegt und er dann entscheidet, ob sie sich ein Tattoo stechen lassen, singen und tanzen darf – oder eben nicht. Und die Gesellschaft akzeptiert das. 

    War es in Tadshikistan in der Sowjetzeit einfacher?

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund, es hing mehr davon ab, in was für einer Familie man lebte. Jetzt ist der Islam strenger geworden: Schon kleine Mädchen tragen Hidjab; die Religion wurde viel mehr zum Kontrollmittel. Noch dazu ist die Lage in Tadshikistan zum Heulen, weil alle Männer zum Geldverdienen ins Ausland fahren. 

    Was passiert mit Tadshiken in Russland?

    Sie trifft absolute Rechtlosigkeit – sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder. Es gibt sehr viele verlassene und aus staatlicher Sicht inexistente Frauen, und noch mehr solcher Kinder.

    Auf Instagram postest du viele Fotos von dir ohne Schminke, Photoshop und ohne all das, was ein Star angeblich sonst noch braucht. War es leicht für dich, so selbstsicher zu werden?

    Würde ich nicht sagen. Aber ich bemühe mich. Ich bemühe mich zu lernen, mich selbst so zu lieben, wie ich bin. Das ist nicht einfach. In Russland gibt es eine Riesenmenge selbstsicherer Frauen. Doch nur ein geringer Prozentsatz würde auf die Straße hinausgehen ohne männliches Feedback.

    Unbedingt ein männliches Feedback? 

    Ja, unbedingt von einem Mann. Uns ist wichtig, wie uns die Männer bewerten. Weil wir mit dem Paradigma groß geworden sind, dass wir Hälften eines großen Ganzen sind, dass wir für uns genommen nicht genug sind. Das macht mich rasend. Ich will etwas Ganzes sein und will einen ganzen Menschen an meiner Seite haben. 

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund. Jetzt ist der Islam strenger geworden

    Erst gestern bin ich durch den Gemüsegarten gegangen und habe ein paar Zeilen zu diesem Thema gedichtet: „Ich dachte nie, nur ein Stück zu sein, zum Glück. Ich bin für mich ein Teil, ein ganzes.“ 

    Ist das der Ursprung deiner Body-Positivity?

    Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe auf Instagram mein allerschönstes Foto gepostet, und die Leute haben kommentiert: „Manizha, bist du schwanger?“ 

    Warst du sauer?

    Früher haben mich solche Kommentare sehr getroffen, gekränkt. Aber dann hab ich verstanden, dass ich mich nicht mehr so sehe wie früher. Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial. Body-Positivity – das ist schon seit der Schule mein Thema. Das ist, wie wir uns als Teenager sehen, wie wir uns in Erinnerung haben. 

    Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial

    Ich war eine Außenseiterin. Noch dazu war ich bucklig, hatte früh einen Busen und lauter Komplexe. Deswegen trug ich weite Kleidung und tat alles, damit man meinen Busen und überhaupt meine Figur auf keinen Fall sehen konnte. Insofern ist Body-Positivity meine Geschichte, ich habe mir selbst die Challenge gestellt: mich so zu sehen, wie ich bin, und gern zu haben. 

    Hast du keine Angst vor Instagram-Sucht? Vor Abhängigkeit vom Publikum, seinen Fragen, Kommentaren, Reaktionen? Ich erinnere mich an deinen Post zur Unterstützung von LGBT und wie du im nächsten Post beklagt hast, dass nach diesem öffentlichen Statement tausend oder sogar noch mehr deiner Follower ihr Abo gelöscht haben. 

    Ja, eine schlimme Sucht ist das, ein schwarzer Spiegel. Aber Instagram ist auch nichts anderes als Fernsehen. Wozu ist man bereit, um seine Popularität zu fördern? Du erwähnst meine Unterstützung für dieses LGBT-Projekt … Ich habe in die Hölle gestarrt, die sich in den Kommentaren zu diesem LGBT-Post auftat, und habe die ganze Zeit gedacht, in was für einer schiefen Welt wir leben: Viele meiner Mitstreiter im Show-Business verbergen ihre Orientierung. Sie singen Lieder für die Hausfrauen in ganz Russland und verdienen Geld damit. Und lügen ihnen was vor. 

    In den Kommentaren zu diesem LGBT-Post habe ich in die Hölle gestarrt

    Ihr ganzes Leben leben sie mit diesen Lügen. Das heißt, du betrittst die Bühne, versammelst da eine riesige Menge und singst, wie doll du sie geliebt hast. Dabei hast du dein Leben lang nicht sie, sondern ihn geliebt! Du hast einen Partner und ein Kind von einer Leihmutter! Warum verrätst du deine Familie? Die Antwort ist ernüchternd: Die Leute haben einen Riesenbammel, ihre Fans zu verlieren – und damit ihre Einnahmen. 

    Das ist Heuchelei, verstehst du? Ich sitze bei einer Preisverleihung, und rundum sitzen Manager und PR-Leute von Stars, die ihre Orientierung verbergen und mit homophoben Witzen um sich schmeißen. Und dann meinen sie noch, ich verteidige Gay Rights nur, weil ich keine Kinder habe. So ein Schwachsinn! Sie glauben, ihre Kinder vor Schwulen zu schützen, dabei arbeiten sie selber für welche. Kohle machen ist okay, aber sonst sind Schwule eine Gefahr für die Gesellschaft. 

    Findest du, dass Russland ein homophobes Land ist?

    Ich finde, dass Russland ein heuchlerisches Land ist. In Russland denkt man immer das eine und sagt das andere. Und das geht seit Urzeiten so. Man hat immer Angst zu sagen, was man denkt, um nicht zu verlieren, was man hat. 

    Hast du auch diese Angst?

    Nein. Wenn du alles sagst, was wahr ist, dann kriegst du ein Publikum, das deins ist, weil du du bist. Ja, manches akzeptieren sie nicht. Nach dem LGBT-Projekt ist, genauso wie nach dem Clip über häusliche Gewalt und den über Schönheit und Selbstliebe, ein Haufen seltsamer, zum Teil aggressiver Kommentare gekommen. Aber das ist besser als Lügen. Einfacher.


    III. Kindheit in Tadshikistan

    Kannst du uns von Tadshikistan erzählen?

    Ja. Ich würde mich an Tadshikistan gern in so bunten Farben erinnern, wie es in meiner Kindheit war. Aber das geht nicht.

    Warum?

    Meine Kindheit zerfällt in zwei Teile – zuerst Tadshikistan, mein Anfang, dann kommt ein gigantisches Loch, und dann Russland. Und das ist bereits ein anderes Ich. Als ob das Leben von Neuem begonnen hätte.

    Woran erinnerst du dich noch aus der Zeit in Tadshikistan? 

    An den Hof. Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Ich habe ein bescheuertes Kleid an und ein Gerstenkorn am Auge. Im Hof steht ein riesiger Behälter mit Wasser, kein Pool, aber so etwas Ähnliches. Es ist heiß draußen, und das Wasser ist eiskalt. Ich gehe hin und tauche meine Hand ins Wasser. Die Hitze lässt nach.

    Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich habe ein bescheuertes Kleid

    In meiner Kindheit war es sehr schön. Viel Grün, viel Sonne und Früchte, eine Insel vollkommenen Glücks. Als meine Großmutter noch lebte, war ich oft dort, aber sie ist vor zehn Jahren gestorben. Seit zehn Jahren kann ich nicht mehr nach Hause fahren. 

    Nur im November 2019 war ich in Duschanbe, um einen Clip für Nedoslawjanka zu drehen. Ich setzte mich am Flughafen in ein Taxi und begriff während der Fahrt, dass das nicht mehr meine Stadt ist. Eine tolle, schöne Stadt voller Leute, die nichts davon wissen, wie es hier gekracht hat, wie geschossen wurde. Sie haben keine Ahnung davon, sie leben hier einfach. Aber ich – ich kann nicht. Die ersten zwei, drei Tage habe ich sehr gelitten, dann habe ich losgelassen. Man muss weitergehen. Den Ort meiner Kindheit gibt es nicht mehr.

    Erinnerst du dich daran, wie ihr aus Duschanbe weggezogen seid?

    Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Das war ein Riesenstress. Ich wollte nicht weg, hatte Angst. Offenbar hat mein Unterbewusstsein alles gelöscht. Als würde man die Augen schließen und wieder aufmachen – und plötzlich ist man in Moskau. Eine Einraum-Mietwohnung mit Kakerlaken, in der wir zu viert leben: Mama, Papa, ich und mein kleiner Bruder. Dann hat Mama sich von Papa scheiden lassen und die drei Kinder ihres Bruders zu uns genommen.

    Erzähl mal von deiner Mutter.

    Meine Mutter ist sehr schön und begabt. Als wir noch in Tadshikistan lebten, war Mama ein richtiger Star. Sie wurde zum Schönheitswettbewerb Miss World eingeladen, sie hatte eine tolle Stimme, sie sang. Aber sie musste arbeiten und fuhr nicht zum Wettbewerb. Seit sie 16 war, nähte sie großartige Mode. Zu ihr kamen die Gattinnen von Ministern und Präsidenten: Wir brauchen etwas zum Anziehen, ein Kleid – nur von Ihnen! Sie hat ziemlich gut verdient. Sie erzählte mir, dass sie sich damals teure Parfums und Jeans leisten konnte, alles, was Mangelware war. Und sie konnte selbst entscheiden, wie sie leben wollte. Ich weiß nicht, wie ich neben ihr keine Feministin hätte werden können. 

    Warst du mit deiner Großmutter per Sie?

    Ja, auch mit Mama. 

    Warum?

    Das ist Tradition. Ich bin gar nie auf die Idee gekommen, sie zu duzen. In Russland habe ich lange gebraucht, mich daran zu gewöhnen, zu Älteren du zu sagen.

    Wie war deine Beziehung zur Großmutter?

    Ich war jeden Sommer drei Monate bei ihr. Meine Großmutter hat mich in Computerkurse geschickt. Ich hab gebrüllt: „Wozu brauch ich das?“, aber sie blieb ganz ruhig: „Du musst das lernen, du musst dich mit Photoshop auskennen, mit Adobe, mit Adobe Premiere und Fotomontage.“ Und: „Du musst Persisch lernen, du musst Englisch lernen. Sprachen sind das Allerwichtigste.“ Ich habe damals nicht verstanden, wozu das alles, aber jetzt schneide ich meine Videos und bearbeite den Sound selber. Ich spreche fließend und schreibe Songs auf Englisch. Also, es ist alles aufgegangen, was meine Oma gesät hat. 

    Meine Großmutter hat mir beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht

    Aber das Wichtigste ist die Freiheit. Sie hat mir mit ihrem Denken und Verhalten beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht. Von meiner Großmutter haben wir unser freies Verhältnis zum Thema Entscheidung, zum Thema Körper, zum Thema Glauben.

    Im muslimischen Tadshikistan ein freies Verhältnis zum Glauben?

    Meine Mutter hatte immer eine Faszination für Buddhismus – niemand hat sie aufgehalten oder davon abgehalten. Mein Papa wird jetzt immer mehr zum Muslim, aber das kam erst in Russland. Trotzdem ist er sehr modern und nicht radikal eingestellt. 

    Warum haben deine Eltern beschlossen wegzugehen?

    Weil Krieg war. Unser Krieg war wahrscheinlich ganz ähnlich wie das, was in der Ukraine passiert ist und nach wie vor passiert. Die Leute versuchten, ganz normal weiterzuleben, aber ob sie wollten oder nicht, der Krieg brach in ihr Leben herein. Einmal landete eine Granate in der Wohnung, die meine Eltern zur Hochzeit bekommen hatten. 

    Wie durch ein Wunder war meine Mama eine Minute zuvor mit mir hinausgegangen zum Wäsche aufhängen. Von der Wohnung ist nichts übriggeblieben. Und genauso ist vom bisherigen Leben nichts übriggeblieben. 

    Vom bisherigen Leben ist nichts übriggeblieben

    Menschen wurden getötet. Niemand brauchte mehr Mamas schöne Kleider und Kostüme, Mamas Schönheit, die Welt brach zusammen. Und Papa und Mama beschlossen, nach Russland zu flüchten. 

    Sprachen sie Russisch? 

    Mama konnte Russisch und auch sehr gut Englisch. Sie war hervorragend gebildet. Aber in Russland musste sie putzen gehen, sie putzte Treppenhäuser und verkaufte in der Unterführung T-Shirts.

    Weil sie Tadshikin ist?

    Es lag nicht daran, dass sie Tadshikin ist. Sie haben in einer neuen Stadt, einem neuen Land, von Null begonnen. Sie mussten ohne Staatsbürgerschaft überleben. Wenn ein hungriges Kind vor dir steht, tust du alles, um es zu füttern. Du arbeitest wahnsinnig viel, legst dich ins Zeug und versuchst, dass wenigstens dein Kind eine Chance hat. So hat es meine Mutter gemacht. 

    Du legst dich ins Zeug, damit wenigstens dein Kind eine Chance hat

    Ich weiß noch, wie ich mit acht Jahren zu ihr gesagt habe, dass ich Sängerin werden will …

    Hast du da schon gesungen?

    Ich habe schon mit fünf Jahren gesungen, und meine Großmutter hat immer gesagt: Manizha muss Sängerin werden. Sie vermietete in Tadshikistan eine Wohnung, legte das Geld in einen Briefumschlag und schickte es nach Moskau. Auf dem Brief stand: „Für die Gesangsstunden meiner lieben Enkelin“. Und Mama schleppte mich, zum Umfallen müde, in die Musikschule, wo damals eine Unterrichtsstunde 50 Dollar kostete.

    Wie ging es dir in der Schule?

    Ich war ein Stubenhockerin, war nie viel draußen, dadurch wurde ich automatisch zur Außenseiterin, weil das nicht den Vorstellungen meiner Mitschüler entsprach. Ich tat mich auch mit Jungs nicht leicht, war schüchtern, hatte Angst. In der Schule war es richtig krass, von moralischer Erniedrigung bis zu Raufereien unter Einsatz von Flaschenhälsen gab es alles. Ich war nicht einmal beim Letzten Läuten dabei, auch nicht auf dem Abschlussball, so mies war mein Verhältnis zu meiner Klasse. Ich wollte niemanden sehen und will es bis heute nicht. 

    Waren das nationalistische Anfeindungen?

    Das auch, natürlich. Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt, beleidigt und gedemütigt worden. Anfangs konnte ich einfach deswegen nicht Paroli bieten, weil ich kein Russisch konnte. 

    Hast du Russisch im Kindergarten gelernt?

    Ja. Ich hab mich in einen Jungen verliebt. Also, ich bin auf ihn zugegangen, ich hab gedacht, das ist ein Mädchen. Er sagte, er sei „eigentlich Mischa“. Da hab ich mich verliebt, warum auch immer. Aber ich bin mir so mickrig vorgekommen, weil ich nicht mit ihm reden konnte. Das heißt, Russisch hab ich gelernt, aber der Spott ist geblieben – im Kindergarten, im Hof, im Bus, in der Schule. Aber mein Glück ist, dass meine Mama Eier aus Stahl hat. 

    Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt worden

    Wenn ich weinte, sagte sie: „Weißt du, was für gebildete Leute die Tadshiken sind? Was wir für einen Stammbaum haben, davon können die nur träumen. Unsere Verwandten – Tadshiken mit dem blauesten Blut, das es nur geben kann – leben über die ganze Welt verstreut, das sind angesehene, ehrenwerte und einflussreiche Familien, die so viel erreicht haben. Nicht, wegen des nationalen Erbes, sondern weil sie von klein auf gelernt haben. Lerne!“ 

    Wann wurde alles anders?

    An der Universität. Da habe ich auch begonnen, kreativ zu sein – anscheinend hatte ich kapiert, wohin mit meiner Energie. Ich war da schon aktive Künstlerin, sang in einem Pop-Projekt und verdiente gar nicht schlecht.

    Und dann hast du Psychologie studiert.

    Ich hätte die Wahl gehabt zwischen der Gnessin-Musikakademie und dem Institut für Schlager und Jazz.

    Warum hast du das nicht gemacht?

    Ich wollte das ganz grundsätzlich nicht. Ich darf mich nicht auf eine einzelne Sache beschränken. Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren. Plus – ich wollte meinen eigenen psychischen Problemen auf den Grund gehen. 

    Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren

    Meine Mama hat nach ein paar Jahren Arbeit als Putzfrau eine Baufirma geleitet und dann noch ein Psychologiestudium an der MGU und eine Psychotherapieausbildung abgeschlossen, woraufhin sie zu Hause als Psychotherapeutin tätig war. Daher sah mein Leben in den letzten Schuljahren so aus: Ich kam nach Hause, ging in die Küche, und da daß schon jemand und wartete, dass Mama im Zimmer die vorangehende Sitzung abschließen würde. Mama hat mir beigebracht, den Wartenden Tee, Kaffee oder Wasser anzubieten. Das tat ich auch, setzte mich dazu, und wir begannen zu reden. 

    Ich habe an der RGGU Psychologie studiert. Ich hatte keine Erwartungen an die Universität. Ich dachte, dass sich die Hölle mit meinen Klassenkollegen auf irgendeine Art hier fortsetzen würde. Aber dann waren es fünf fantastische Jahre voller Liebe. Ich habe meine Universität geliebt, jeden Tag meines Studiums. Über Persönlichkeitspsychologie kam ich zur Kinderpsychologie, da habe ich mich viel mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen beschäftigt. Meine Diplomarbeit schrieb ich zu Besonderheiten der Mutterschaft bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Russland und Tadshikistan. Ich fuhr von Dorf zu Dorf, sprach mit Frauen, die keinen Zugang zu Hilfszentren, Psychologen und Therapeuten haben. 

    Warum hast du das gemacht?

    Ich wollte wissen, woher sie die Kraft nehmen. Mir fiel auf, dass in diesen Dörfern ohne jegliche Therapieangebote die Frauen und ihre Familien mit behinderten Menschen viel sensibler umgehen. Vielleicht ist das etwas Nationales, vielleicht etwas Transnationales, Menschliches, jedenfalls leben sie mit der Überzeugung, dass wenn ein Mensch mit Besonderheiten geboren wird, dann ist er für irgendetwas in diese Welt gekommen, dann hat er eine Bestimmung. Menschen mit Behinderung werden dort verehrt.

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  • Verstecktes Talent

    Verstecktes Talent

    Ein Blick in die Kommentarspalten zeigt, was Mascha Iwaschinzowa (1942 – 2000) zu Lebzeiten nicht für möglich gehalten hätte: Bewunderung und Anerkennung für ihre Momentaufnahmen, die hauptsächlich Sankt Petersburg zeigen. Zehntausende Menschen folgen ihren Schwarz-Weiß-Bildern bereits in den sozialen Netzwerken.

    Schon fast symptomatisch für weibliches Schaffen unterschätzte sie ihre Fotografie chronisch, war davon überzeugt, dass sie von männlicher Konkurrenz überschattet würde. So blieb ihr Talent bis über ihren Tod im Jahr 2000 hinaus versteckt. Erst ihre Nachfahren entdeckten Iwaschinzowas Werke 2017 fein säuberlich geordnet, beschriftet und in Schachteln verpackt auf dem Dachboden ihres Hauses. Der Fund umfasst 30.000 Negative und Abzüge: Sie dokumentieren detailverliebt und charakterstark das Leben im Sankt Petersburg der 1960 bis 1990er Jahre.

    Einige Stimmen vergleichen Iwaschinzowa mit der US-amerikanischen Amateurfotografin Vivian Maier, die ihre Aufnahmen ebenso – in der festen Überzeugung von der Banalität ihrer Kunst – bis zu ihrem Tod geheim hielt.

    Zum Weltfrauentag am 8. März präsentiert dekoder einige Bilder der Fotografin Mascha Iwaschinzowa.

    Selbstportrait, Leningrad, 1976 © Mascha Iwaschinzowa
    Selbstportrait, Leningrad, 1976 © Mascha Iwaschinzowa

    Iwaschinzowa führte ein – in der Sowjetunion unytpisch – beruflich unbeständiges Leben: Sie verdiente ihr Geld unter anderem als Lichttechnikerin, Theaterkritikerin, Bibliothekarin, Sicherheitsbeamtin und Konstrukteurin. Die Konstante in ihrem Leben war die Fotografie, der sie bis kurz vor ihrem Tod treu blieb. 
     

    Piskarewski Prospekt, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa
    Piskarewski Prospekt, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa

     
    links: Garderobiere in der Theaterbibliothek, Leningrad, 1980 / rechts: Tiflis, 1989 © Fotos: Mascha Iwaschinzowa
    links: Garderobiere in der Theaterbibliothek, Leningrad, 1980 / rechts: Tiflis, 1989 © Fotos: Mascha Iwaschinzowa



    Iwaschinzowa hatte einen besonderen Blick für das Alltägliche. Sie nahm Momente auf: mürrische Schuljungen, neugierige Katzen, gedankenverlorene Passanten, Sankt Petersburger Hinterhöfe und gesellige Szenen aus sowjetischen Wohnküchen. Viele ihrer Fotos – gerade auch die Stilleben – bestechen durch eine ungewöhnlich moderne Bildsprache. 
     

    Orechowo, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa
    Orechowo, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa


     

    Twеrskaja Uliza, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa
    Twеrskaja Uliza, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa
    Dworzowaja Ploschtschad, Leningrad, 1991 © Mascha Iwaschinzowa
    Dworzowaja Ploschtschad, Leningrad, 1991 © Mascha Iwaschinzowa
    Pussja und Harlekin, Leningrad, 1977 © Mascha Iwaschinzowa
    Pussja und Harlekin, Leningrad, 1977 © Mascha Iwaschinzowa
    Aprilschnee, Leningrad, 1991 © Mascha Iwaschinzowa
    Aprilschnee, Leningrad, 1991 © Mascha Iwaschinzowa
    April, Leningrad, 1991 © Mascha Iwaschinzowa
    April, Leningrad, 1991 © Mascha Iwaschinzowa
    Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa
    Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa

    Der heroische Arbeiter, die glückliche Familie, im Hintergrund moderne Architektur – die sowjetische Zensur versuchte ein Idealbild in der Fotografie zu etablieren. Iwaschinzowa entgegnete dieser Utopie mit ihren Aufnahmen. Sie fokussierte ebenso die fehlerhaften und schwermütigen Seiten des Lebens in der UdSSR. Iwaschinzowa selbst musste lange Zeit in einer psychiatrischen Klinik verbringen, weil sie ihr zugewiesene Berufe ablehnte. 
     

    Frühling in Leningrad, 1976 © Mascha Iwaschinzowa
    Frühling in Leningrad, 1976 © Mascha Iwaschinzowa
    links: Moskau im August 1988 / rechts: Natascha, Leningrad, 1983 © Fotos: Mascha Iwaschinzowa
    links: Moskau im August 1988 / rechts: Natascha, Leningrad, 1983 © Fotos: Mascha Iwaschinzowa

    Ein immer wiederkehrendes Motiv auf Iwaschinzowas Bildern sind Hunde, aber auch Katzen, Vögel, Pferde und Affen. Während die Fotografin eher auf Distanz zu ihren Mitmenschen blieb, habe sie Gesellschaft von Tieren sehr geschätzt, berichten Tochter Assja und Schwiegersohn Jegor.
     

    Leningrad, 1977 © Mascha Iwaschinzowa
    Leningrad, 1977 © Mascha Iwaschinzowa
    Leningrad,  1977 © Mascha Iwaschinzowa
    Leningrad,  1977 © Mascha Iwaschinzowa
    Anitschkow Most, Newski Prospekt, Leningrad, 1976 © Mascha Iwaschinzowa
    Anitschkow Most, Newski Prospekt, Leningrad, 1976 © Mascha Iwaschinzowa


     

    links: Nabereshnaja Kutusowa, Leningrad, Sommer 1977 / rechts: Lena Gurewitsch, Leningrad, 1979 © Fotos: Mascha Iwaschinzowa
    links: Nabereshnaja Kutusowa, Leningrad, Sommer 1977 / rechts: Lena Gurewitsch, Leningrad, 1979 © Fotos: Mascha Iwaschinzowa

     
    Marta, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa
    Marta, Leningrad, 1978 © Mascha Iwaschinzowa

    Fotos: Mascha Iwaschinzowa
    Text: Emely Schalles
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 08.03.2021

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