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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Reise nach Tuwa

    Reise nach Tuwa

    Tuwa (oder Tywa, beide Namen exististieren parallel) gelang es über mehrere Jahrhunderte, sowohl Teil von China als auch – als unabhängige Republik – ein Teil der Sowjetunion zu sein. Sie trat als eine der letzten 1944 in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) ein.

    Heute ist Tuwa eine der ärmsten und unzugänglichsten Regionen Russlands: Die turksprachige Republik ist mit dem übrigen Russland im Grunde nur über eine Autostraße verbunden, laut Rosstat lebten hier im Jahr 2017 40 Prozent der Einwohner unter dem Existenzminium.

    Wie die turbulente politische Geschichte sich auf den Alltag der Tuwinen ausgewirkt hat, zeigt der Fotograf Max Sher auf Zapovednik.

    Die Turkstämme, die auf dem Gebiet des modernen Tuwa lebten, gerieten im 13. Jahrhundert unter mongolische Herrschaft. Als die Mongolei im 17. und 18. Jahrhundert langsam der chinesischen Qing-Dynastie unterworfen wurde, kam auch das Gebiet des heutigen Tuwa unter chinesische Herrschaft.
    Während der chinesischen Revolution im Jahre 1911 und 1912 zerfiel das Reich. Tuwa (damals trug es den mongolischen Namen Uranchai) wurde von China abgespalten und dann zum russischen Protektorat namens Urjanchaiski Krai. Als solches existierte es nur einige Jahre, denn das Russische Reich zerfiel ebenfalls. 
    Im Jahr 1921 wurde die Unabhängigkeit der Tuwinischen Volksrepublik ausgerufen. In Tuwa existiert bis heute die Meinung, dass die hinter den Kulissen getroffene Entscheidung der Regierungsclique, Teil der UdSSR zu werden, gesetzeswidrig gewesen sei, denn es gab kein Referendum, ja nicht einmal eine parlamentarische Abstimmung.

    Anerkannt wurde die Sowjetrepublik allerdings nur von der UdSSR und der benachbarten Mongolei; die wiederum wurde in diesem Moment nur von der Sowjetunion als unabhängiger Staat anerkannt. Für die übrigen blieb Tuwa, wie auch vorher, eine chinesische Provinz. Die Mongolei machte sich derweil für ein Referendum in Tuwa stark, bei dem es um den Beitritt zur Mongolei gehen sollte. Dabei berief man sich auf Gemeinsamkeiten bei Bräuchen und Glauben, wie auch darauf, dass das chinesische Qing-Imperium Tuwa nicht direkt, sondern über einen mongolischen Statthalter verwaltet hatte.
    China, das die Unabhängigkeit der Äußeren Mongolei, seiner ehemaligen Provinz, im Jahr 1949 anerkannt hatte, sagte sich nie offiziell von seiner Oberhoheit über Tuwa los.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Der Blick vom Gebirgspass Noljowka im Sajangebirge auf die Turan-Ujuk-Senke – dieser Blick eröffnet sich als Erstes, wenn man über den historischen Us-Trakt nach Tuwa hineinfährt. Die Berge des Sajangebirges dienen als natürliche Grenze, die Tuwa eine relativ isolierte Lage gewährleistet. Im rechten Teil des Bildes ist der Ussinski Trakt zu sehen, die Autostraße Jenissei R257. Es ist die einzige Transport-Ader, die Tuwa mit dem übrigen Russland verbindet.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Die Stadt Turan wurde 1885 von russischen Umsiedlern gegründet, als Tuwa noch zu China gehörte.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Das Zentrum von Kysyl, der Hauptstadt von Tuwa, mit ungefähr 117.000 Einwohnern

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Buddhistischer Stupa Dupten-Scheduplin in der Nähe der Siedlung Sug-Aksy im Westen von Tuwa, erbaut 2010. Ein Stupa entspricht einer Kapelle, gewöhnlich markiert er einen bedeutenden Gedenkort. Im Hintergrund das Alasch-Hochland

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Boris Erentschinowitsch Sodunam, oder einfach Baschky (tuwinisch für Lehrer), gründete 1990 die erste buddhistische Gemeinde in Tuwa

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Das Portrait des Dalai Lama, geschmückt mit Gebetsbändchen und -fahnen (Chadak), aufgestellt in der Ruine des Ustuu-Churee-Klosters in der Nähe der Stadt Tschadan im Westen Tuwas.

    Nach einem Umsturz durch die Stalinisten wurde das Kloster zerstört und die Mönche verfolgt. Im Jahr 2008 wurde das Kloster mit Unterstützung des gebürtigen Tschadaners Sergej Schoigu wiederaufgebaut.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Owaa-Khoomeishi: Der Platz für Riten und Feierlichkeiten mit dem Tuwinischen Kehlkopfgesang (Khoomej) am Ufer des Jenissei im Zentrum von Tuwa

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    „Schamanismus ist keine Religion, sondern die Grundlage aller Religionen“, sagt der Schamane Dugar-Sjurjun Oorshak. „Gott ist eine allumfassende Energie. Buddha, Jesus und alle anderen sind nur Bilder.“ Einst künstlerischer Leiter am Theater von Tuwa, gründete er 1990 nach der Einführung von Glaubens- und Religionsfreiheit die erste schamanische Gemeinschaft in Tuwa.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    2014 wurde am Zusammenfluss von Großem und Kleinem Jenissei im Zentrum von Kysyl das Denkmal „Mittelpunkt Asiens“ mit skytischen und chinesischen Motiven errichtet. Warum ausgerechnet dieser Ort das Zentrum Asiens sein soll, ist allerdings nicht bekannt.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Nach dem Bau des Sajano-Schuschensker Wasserkraftwerks am Jenissei in den 1980er Jahren hat sich das Klima laut Bewohnern und Umweltschützern drastisch verändert: Es wurde wärmer und feuchter mit häufigen Starkregen.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Schimizi Chumbun (in der Mitte mit roter Jacke, auf dem Schoß sitzt ihre Urenkelin Santschira) wurde in dem schwer zugänglichen Tal des Flusses Katschyk geboren und hat dort ihr ganzes Leben lang gelebt. Sie hat 16 Kinder, 90 Enkel und 19 Urenkel.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Valentina Kenden melkt ein Yak auf der Nomaden-Weide ihrer Eltern im Flusstal des Katschyk. Valentina lebt in dem 120 Kilometer entfernten Ersin und arbeitet dort als Krankenschwester. Nach Katschyk kommt sie in den Ferien, um Eltern und Bruder in der Landwirtschaft zu helfen. 

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Bajyr-Kys Bantschyk (links) und Valentina Sambyr zeigen das traditionelle Gerben von Kuhhaut, aus der anschließend Schuhe gemacht werden.

    Der Ort Katschyk liegt 3 Kilometer von der mongolischen Grenze entfernt, bis zur nächsten Bezirksstadt sind es 120 Kilometer über Bergwege, die im Winter oft unbefahrbar sind. Die Bewohner, die Tuwinisch, Mongolisch und Russisch sprechen, erzählen, dass die Grenze bis in die 2000er Jahre nicht markiert war, weswegen sich die Bewohner der grenznahen Gebiete problemlos besuchen konnten und sich gegenseitig Vieh klauten. In dem Gebiet wohnen knapp über 300 Menschen, teils im Ort, teils auf nomadischen Weiden in den angrenzenden Tälern. Es gibt hier weder Polizei noch Ärzte noch Läden noch eine stabile Telefonverbindung. Strom gibt es nur abends über einen tragbaren Generator, dafür aber eine Schule und Internet. 

    In den 1960er Jahren wurden mehrere ländliche Ortschaften zusammengelegt, alle Bewohner Katschyks wurden 100 Kilometer westlich nach Naryn umgesiedelt. Doch über die letzten 30 Jahre ist Katschyk wiederauferstanden. Kürzlich wurde ein eigener Sumon (dt. Gebiet) Katschyk gegründet.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Die Teilnehmer des jährlichen Fests Naadym bauen eine Jurte für den traditionellen Wettbewerb um das schönste Interieur. Naadym ist ein wichtiges Element der modernen tuwinischen Identität; bei dem Fest finden vielerlei Wettbewerbe statt.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Sieger-Jurte beim Wettbewerb um das schönste Interieur

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Start des 15-Kilometer-Wettritts. Zum Wettkampf werden Jockeys ab 6 Jahren zugelassen.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Autos von Zuschauern und Teilnehmern an den Wettkämpfen des Naadym

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Junge Einwohner von Kysyl vor dem städtischen Theater. Von den 322.000 Einwohnern bezeichneten sich bei der Volkszählung von 2010 82 Prozent als Tuwinen und 16 Prozent als Russen.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Das Portrait von Sergej Schoigu am Ortseingang der Stadt Tschadan im Westen von Tuwa. Schoigu wurde 1955 in Tuwa geboren als Sohn der Viehzucht-Spezialistin Alexandra Kudrjawzewa aus Luhansk und des Parteifunktionärs Kushuget Schoigu.

    Sergej Schoigu ist der erste gebürtige Tuwiner, der eine politische Karriere jenseits der Grenzen der Republik gemacht hat. Nachdem Schoigu zum Verteidigungsminister ernannt worden war, begann in Tuwa ein Persönlichkeitskult um ihn: In Tschadan gibt es eine Sergej-Schoigu-Straße, in seinem Elternhaus wurde ein Museum eröffnet.

    Ein Bewohner Tschadans, der einige Jahre in Moskau studiert hat, erzählt, welch einzigartige Schutzfunktion seine Meldeadresse in der Sergej-Schoigu-Straße für ihn hatte: Die Polizei hielt ihn einmal an, um „die Dokumente zu prüfen“. Als sie seine Adresse sahen, gaben sie ihm den Pass sofort zurück und ließen ihn weiterfahren.

    Text und Fotos: Max Sher
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 24.07.2019

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  • Moos und Öl

    Moos und Öl

    Fotograf Igor Tereschkow war auf den Erdölfeldern im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen unterwegs. 50 Prozent des russischen Erdöls, so schreibt der Fotograf, würden dort gefördert. Tereschkow hat die Chanten in ihrem Alltag begleitet – ganz plastisch erzählen seine Fotos dabei auch von Zerstörung: „Das Öl wirkt auf das Filmmaterial wie auf die Umwelt: es dringt ein, brennt sich ein und zerlegt es.“

    Zu seiner Fotoreportage schreibt der Fotograf auf Takie Dela:

    Jedes Jahr gibt es in Russland mehr als 18.000 Unfälle, die zu Ölverschmutzungen führen. 1,5 Millionen Tonnen Öl gelangen so in die Umwelt. Das ist ungefähr doppelt so viel wie bei der Ölpest 2010 auf der Plattform Deepwater Horizon. Damals hatte sich im Golf von Mexiko eine der größten technogenen Katastrophen ereignet.
    Die Ursachen für die Ölverschmutzungen in Russland liegen vor allem in der Abnutzung und Korrosion der Rohrleitungen: Einige Rohre sind mehr als 30 Jahre alt, obwohl die Haltbarkeit nur zehn bis 20 Jahre garantiert ist.

    Rentiere, die vor einem Lasso Reißaus nehmen, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Rentiere, die vor einem Lasso Reißaus nehmen, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Im Sommer 2018 habe ich mich – mit Unterstützung der Freiwilligenbewegung #НеЗаливайМнеТут (#NeSaliwajMneTut, #StopOilSpills), Greenpeace Russland und dem Projekt 7×7 Gorisontalnaja Rossija (Horizontal Russia) –
    in die Jugra, den Autonomen Kreis der Chanten und Mansen aufgemacht, um die Folgen der Ölverschmutzung zu fotografieren.

    Eingesandete Erdölleitungen, Mamontowskoje-Erdöllager, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Eingesandete Erdölleitungen, Mamontowskoje-Erdöllager, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Havarien dieser Art beeinflussen dort die gesamte Umwelt und bedrohen die Lebensweise der indigenen Bevölkerung. In der Nähe der Großstadt Surgut, in der ländlichen Siedlung Russkinskaja, lebt Antonina Tewlina aus dem Volk der Chanten. Ihre Eltern führen bis heute ein traditionelles Nomadenleben und hüten auf ihrem Land Rentiere. Insgesamt besitzt die Familie circa 600 Hektar Land, was für hiesige Verhältnisse eine stattliche Fläche ist. Laut Antonina hielten die Eltern in ihrer Kindheit einige hundert Rentiere, jetzt sind es zusammen mit den Jungtieren nicht mehr als 60.

    Frauen in traditioneller Kleidung der Chanten, Russkinskaja, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Frauen in traditioneller Kleidung der Chanten, Russkinskaja, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Insgesamt werden im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen ungefähr 50 Prozent des russischen Erdöls gefördert. Die Erdölfelder überschneiden sich teilweise mit den Lebensräumen der Urbevölkerung. Hier ansässige Erdölarbeiter scherzen, dass das gesamte Territorium ein einziges großes Lizenzgebiet sei. Mittlerweile führt der Weg zum Territorium der Tewlins über einen Kontrollpunkt. Um Gäste zu empfangen, greifen die Bewohner manchmal zu dem Trick, ihnen traditionelle Kleider anzuziehen. Sonst musst du, wenn du nicht in den Listen des TschOP  aufgeführt bist, zur Umgehung des Kontrollpunktes einige Kilometer durch Moor und Sumpf zurücklegen. Weiter dann im Auto über unbefestigte Straßen, die nicht auf Karten verzeichnet sind, dann noch ungefähr zehn Kilometer zu Fuß durch Minidörfchen [Wohnplätze der halbnomadisch lebenden Rentierzüchter – dek], durch Moor, in das du bis zur Hüfte einsinkst, über Flechten und Moos, das unter den Füßen federt wie ein Trampolin.  

    Tschum und Rentierherde, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Tschum und Rentierherde, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Antonina Tewlina sagt: „Rentierflechten sind für die Tiere wie Brot, wenn sie beschädigt werden, braucht es 30 Jahre, damit sie sich regenerieren.“

    Junges Rentier mit Bastgeweih, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Junges Rentier mit Bastgeweih, Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow

    Die Fotos für das Projekt Moos und Öl wurden auf Schwarzweißfilm gemacht und vor dem Entwickeln in eine Flüssigkeit mit Öl getunkt, das aus den Verschmutzungen im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen stammt. Bei all seiner Organik wirkt das Öl auf die gelatinehaltige Filmschicht wie auf die Umwelt – es dringt ein, brennt sich ein und zerlegt sie.

    Eine Ökologin neben einer ölgefüllten Grube  / Foto © Igor Tereschkow
    Eine Ökologin neben einer ölgefüllten Grube / Foto © Igor Tereschkow

     

    Abgebrannter Wald in der Nähe der Erdölverschmutzungen, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Abgebrannter Wald in der Nähe der Erdölverschmutzungen, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Antonina Tewlina, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Antonina Tewlina, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Rentierhaut. Für die Chanten ist das Rentier alles: Freund, Transportmittel, Nahrung. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Rentierhaut. Für die Chanten ist das Rentier alles: Freund, Transportmittel, Nahrung. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina vor ihrem Tschum. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina vor ihrem Tschum. Sommerweide der Tewlins, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
     Das Schneemobil Buran kommt auch im Sommer zum Einsatz, in Notfällen kommt man damit in Sumpf und Moor schnell voran, Jugra  / Foto © Igor Tereschkow
    Das Schneemobil Buran kommt auch im Sommer zum Einsatz, in Notfällen kommt man damit in Sumpf und Moor schnell voran, Jugra / Foto © Igor Tereschkow
    Erdölverschmutzung am Ölfeld Mamontowskoje / Foto © Igor Tereschkow
    Erdölverschmutzung am Ölfeld Mamontowskoje / Foto © Igor Tereschkow
    Rentiergeweihe kommen bei der Verzierung von Kleidung und sogar für Details der Rentier-Geschirre zum Einsatz / Foto © Igor Tereschkow
    Rentiergeweihe kommen bei der Verzierung von Kleidung und sogar für Details der Rentier-Geschirre zum Einsatz / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina / Foto © Igor Tereschkow
    Swetlana Stanislawowna Tewlina / Foto © Igor Tereschkow
    Junge Rentiere am Sanky-Lor-See / Foto © Igor Tereschkow
    Junge Rentiere am Sanky-Lor-See / Foto © Igor Tereschkow

    Fotos und Text: Igor Tereschkow/ Takie dela
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am: 27.06.2019


    Der Autonome Kreis der Chanten und Mansen liegt etwa 3000 Kilometer nordöstlich von Moskau im Föderationskreis Ural
    Der Autonome Kreis der Chanten und Mansen liegt etwa 3000 Kilometer nordöstlich von Moskau im Föderationskreis Ural

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  • Müde Helden und bröckelnde Nymphen

    Müde Helden und bröckelnde Nymphen

    Mit den gigantischen Monumenten und spektakulären Bilderstürmen der Wendezeit hielt sich Fotograf Igor Mukhin nur kurz auf. Stattdessen erkundete er in seinem Langzeitprojekt seit den späten 1980er Jahren bis ins Jahr 2017 die Reste der sowjetischen Utopie in der Provinz. Hier fand er auf Plätzen, in Parks und vor Krankenhäusern das untere Ende der sozrealistischen Kunstproduktion: billige, kleine Gipskopien bekannter Werke, die ihren ursprünglichen Kontext der Erholungsparks oder Pionierpaläste verloren hatten und sich selbst überlassen dahindämmerten. 

    Was Denkmalstürzer in den Zentren des Landes publikumswirksam inszenierten, vollbrachte an den Rändern, im Schatten der Geschichte, der Zahn der Zeit und manchmal auch die unsichtbare Hand von Vandalen. Mukhin holt die Überreste der sowjetischen Zukunftsmärchen ins Bild, zukunftsfrohe Fußballer in Aktion, fürsorgliche Mütter mit ihren Kindern, zum Sprung ansetzende Schwimmerinnen … Dabei lassen Mukhins Bilder die üppigen Reize, die Sinnlichkeit und Lebensfreude der antik anmutenden Figuren, mit denen die sowjetische Zukunft ausstaffiert war,1 durchaus ihre Wirkung entfalten: Die Tristesse der nicht eingetroffenen, längst überfälligen Utopie ist beklemmend oder poetisch. In der späten Sowjetunion war allen klar, dass die Antike im Laufe von Jahrhunderten zerfiel, aber die sowjetische Ewigkeit schon nach 20 oder 30 Jahren den Charakter von Ruinen angenommen hatte.

    In den krisengeschüttelten 1990er Jahren sprachen die Menschen in Metaphern des Zerfalls über den Niedergang des Sozialismus: in Erzählungen von rinnenden Dächern und bröckelnden Fassaden. Die bröckelnden Körper der Götter und Helden, der Milchmädchen, Speerwerferinnen und Mütter, der Kosmonauten und Parteiführer hatten ihre Aura schon vor der Wende verloren. 1991 schien sich in ihnen der Bogen vom Aufbau des Sozialismus bis zu seinem Fall zu verkörpern. Doch der Fall war nicht endgültig, schon Ende der 1990er kehrten einige auf ihre Sockel zurück.

    Igor Mukhins Fotografien sind eine Hommage an die sichtbar werdende Zeitlichkeit des Sozialistischen Realismus, auch an seinen Hang zu Vervielfältigung und Serialität. Das Auge seiner Kamera richtet sich nicht auf die Bilderstürze in den Hauptstädten, sondern auf den langsamen Verfall der für alle Ewigkeit mit ausgestrecktem Arm in die Zukunft weisenden Leninstatuen in Provinzstädten, im wuchernden Gebüsch von Plattenbausiedlungen oder aus der Zeit gefallen vor aktuellen Werbeballonen. Er spürt abblätternde Grüppchen von Müttern mit Kindern vor Kleinstadt-Krankenhäusern auf und Pioniere, die sich in peripheren Grünanlagen auf ihre Speere stützen. Die Helden von gestern fristen ein vergessenes Dasein auf dezentralen Straßenkreuzungen. Nicht nur das Material, auch die Gesten wirken müde.

    Josef Stalin, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Josef Stalin, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Karl Marx, Moskau, 2001 | Rechtes Foto – Josef Stalin, Gari, Georgien, 2017 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Karl Marx, Moskau, 2001 | Rechtes Foto – Josef Stalin, Gari, Georgien, 2017 / Fotos © Igor Mukhin
    Stalins Grab an der Kremlmauer, Moskau, 2010 / Foto © Igor Mukhin
    Stalins Grab an der Kremlmauer, Moskau, 2010 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin, Pawlowski Possad, Moskau, 1994 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin, Pawlowski Possad, Moskau, 1994 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Wladimir Lenin, Kiewer Bahnhof, Moskau, 1991 | Rechtes Foto – Wladimir Lenin, Aluschta, Krim, 1991 /  Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Wladimir Lenin, Kiewer Bahnhof, Moskau, 1991 | Rechtes Foto – Wladimir Lenin, Aluschta, Krim, 1991 / Fotos © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin und Karl Marx, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1988 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin und Karl Marx, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1988 / Foto © Igor Mukhin
    Hammer und Sichel, Kantemirowskaja, Moskau, 1989 / Foto © Igor Mukhin
    Hammer und Sichel, Kantemirowskaja, Moskau, 1989 / Foto © Igor Mukhin
    Pioniere, Podkumok, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Pioniere, Podkumok, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Fußballspieler „Spartak“ – „Dinamo“, Shelesnowodsk, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Fußballspieler „Spartak“ – „Dinamo“, Shelesnowodsk, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Frjasino Stadion, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Frjasino Stadion, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Alupka, Krim, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Alupka, Krim, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Park Pokrowskoje-Streschnewo, Moskau, 1993 / Foto © Igor Mukhin
    Park Pokrowskoje-Streschnewo, Moskau, 1993 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Fußballspieler, Sotschi, 1993 | Rechtes Foto – Sotschi, 1993 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Fußballspieler, Sotschi, 1993 | Rechtes Foto – Sotschi, 1993 / Fotos © Igor Mukhin
    Städtischer Strand, Gelendshik, 2005 / Foto © Igor Mukhin
    Städtischer Strand, Gelendshik, 2005 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Sanatorium M O. Swenigorod, 1991 | Rechtes Foto – Batumi, 2008 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Sanatorium M O. Swenigorod, 1991 | Rechtes Foto – Batumi, 2008 / Fotos © Igor Mukhin
    Platz Krestjanskaja Sastawa, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Platz Krestjanskaja Sastawa, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Maxim Gorki, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Maxim Gorki, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Ernst Thälmann, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Ernst Thälmann, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Denkmal zu Ehren Felix Dshershinskis, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Denkmal zu Ehren Felix Dshershinskis, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Busbahnhof, Ordshonikidse, Ukraine, 1993 | Rechtes Foto – Juri Gargarin, Moskau, 1990 /  Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Busbahnhof, Ordshonikidse, Ukraine, 1993 | Rechtes Foto – Juri Gargarin, Moskau, 1990 / Fotos © Igor Mukhin

    Zum Weiterlesen:
    Mukhin, Igor (2018): In Search of Monumental Propaganda, Berlin

    Fotos: Igor Mukhin
    Bildredaktion: Andy Heller
    einführender Text: Monica Rüthers

    Veröffentlicht am 22.02.2019

    1.Kruk, Sergei (2008): Semiotics of visual iconicity in Leninist ‘monumental’ propaganda, in: Visual Communication 7 (2008) 1, S. 27-56 

    Dieses Visual wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Nicht menschengemacht – 10 Fotos von Sergey Maximishin

    Nicht menschengemacht – 10 Fotos von Sergey Maximishin

    Der preisgekrönte russische Dokumentarfotograf Sergey Maximishin formulierte für sich einst sechs Kriterien, die ein gutes Foto ausmachen:

    • • ein gutes Foto ist immer überraschend
    • • ein gutes Foto lässt einen nicht los
    • • ein gutes Foto kann man nicht nachmachen
    • • ein gutes Foto ist ehrlich
    • • ein gutes Foto kann man nicht einfach am Telefon wiedergeben
    • • ein gutes Foto ist „nicht menschengemacht“

    Während die ersten fünf Kriterien verständlich und plausibel sind, wirft das letzte mehrere Fragen auf. Wie?! „Nicht menschengemacht“? Der Fotograf geht doch selbst mit seinem Fotoapparat irgendwohin und hält die Kamera oder befestigt sie auf dem Stativ, drückt auf den Knopf. Aber gemeint ist damit: Jedes wirklich gute Foto entsteht gleichzeitig durch ein Wunder, das man nicht vorprogrammieren, vorbestimmen oder vorhersehen kann. 
    Unter anderem darum geht es in den kleinen Erzählungen von Sergey Maximishin, die die 100 Bilder in seinem Buch 100 Fotos von Sergey Maximishin (Sankt Petersburg, 2015) begleiten. 

    dekoder hat zu Weihnachten zehn Fotos aus diesem Buch ausgewählt. Wir sind uns sicher, dass diese ehrlichen Bilder die Leser überraschen und nicht loslassen werden. Auch wenn Fotografieren und Telefonieren zu den Feiertagen gehört: Versuchen Sie nicht, Maximishins Bilder nachzumachen oder sie einfach am Telefon wiederzugeben – denn die sind „nicht menschengemacht“. 

    Tosnenski Rajon, Leningradskaja Oblast, Russland, 2004 / Fotos: © Sergey Maximishin
    Tosnenski Rajon, Leningradskaja Oblast, Russland, 2004 / Fotos: © Sergey Maximishin

    Die französische Frauenzeitschrift Elle hatte mich mit einer Reportage über russische Frauen beauftragt. Ich präsentierte der Redaktion eine Liste mit möglichen Heldinnen: eine Eiskunstlauftrainerin, eine neue russische Ehefrau, eine Kindergärtnerin, eine Restauratorin der Eremitage und eine Milchbäuerin. Die Elle stimmte zu, aber nur unter der Bedingung, dass die Heldinnen allesamt hübsch und glamourös wären.

    Jemand, der nicht vom Fach ist, kann sich gar nicht vorstellen, auf welche Probleme man stößt, wenn man für Magazine arbeitet. Einmal sollte ich für eine englischsprachige Zeitschrift in Saudi-Arabien eine Reportage über Kasan fotografieren. Ich bekam eine Liste von Dingen zugeschickt, die man auf den Bildern nicht sehen durfte: Neben Alkohol, Menschen mit Hunden, Männern mit freiem Oberkörper standen auch Frauen in kurzärmeliger Kleidung auf der Liste. Draußen herrschte eine Bullenhitze, und ich antwortete der Redaktion, es gebe in Kasan nur einen Menschen in langen Ärmeln: mich. Ich habe nämlich eine Sonnenallergie.

    Genauso ist es mit Texten: Viele Zeitschriften haben eine Liste von Wörtern, die nie auf ihren Seiten erscheinen dürfen. Ein Hochglanzmagazin für Männer hat es seinen Autoren zum Beispiel verboten, das Wort „Liebe“ zu benutzen – es würde die Leser irritieren. Und der französische Journalist, mit dem ich für die Elle zusammenarbeitete, klagte über eine redaktionelle Sperrliste von Begriffen, die für die Leser angeblich zu kompliziert seien. Angeführt wurde sie von dem Wort „Paradox“.

    Wo bekommt man glamouröse Milchbäuerinnen her? Ich rief den wunderbaren Fotografen Shenja Astaschenkow an. Er arbeitet seit 30 Jahren für die Zeitung Tosnenski Westnik und kennt nicht nur alle Milchbäuerinnen im Bezirk Tosnenski, sondern, da war ich mir sicher, auch alle Kühe. „Ja!“, sagte Shenka, „Glamouröse haben wir! Werden dir gefallen!“

    Die Mädels erwarteten uns schon in Kriegsbemalung. Wie sich herausstellte, war eine der Schwestern die Karriereleiter aufgestiegen und arbeitete mittlerweile als Besamungstechnikerin. Umso besser, fand ich. Während wir durch den Kuhstall gingen, fiel mir auf, dass eine der Kühe sich immer zu den Menschen reckte, Aufmerksamkeit suchte. Ich stellte die jungen Frauen zu der liebebedürftigen Kuh, sagte ihnen, sie sollen ernst und immer schön ins Objektiv schauen. Die Kuh enttäuschte mich nicht und reckte die Lippen zum Kuss. Und dann sandte uns Gott auch noch einen Mann mit Schubkarre.


    Sabaikalski Krai, Russland, 2006
    Sabaikalski Krai, Russland, 2006

    Von Tschita nach Krasnokamensk sind es mit dem Zug 15 Stunden. Von Kransnokamensk bis an die chinesische Grenze – eine. Den besten Blick auf die Stadt hat man von einer Anhöhe aus, die die hiesigen Bewohner „Liebeshügel“ nennen: Mitten in der vollkommen flachen Steppe eine lange schmale Reihe von Hochhäusern. Rechts außen – Urangruben. In der Mitte – der zentrale Platz mit den goldenen Kuppeln. Links außen – ein Stahlbetonwerk und die Zone.

    In der Strafkolonie von Krasnokamensk saß Michail Chodorkowski den ersten Teil seiner Haftstrafe ab. Seine Frau und seine Mutter waren zu einem Besuch angereist. Im Auftrag der Weltwoche sollte ich zusammen mit dem deutschen Journalisten Jens Hartmann hinterherfahren, um sie zu interviewen und über den Inhaftierungsort zu berichten.

    Mit der Ankunft des Häftlings von föderaler Bedeutung war die Stadt aufgeblüht. Der nicht abreißende Strom an Geschäftsreisenden – Polizisten, Justizmitarbeiter, Anwälte, Journalisten – führte zu einem sprunghaften Wachstum von Unternehmen im Dienstleistungssektor. Und trotzdem blieb das Angebot hinter der Nachfrage zurück: Das einzige Hotel der Stadt platzte aus allen Nähten.

    Man verdoppelte die Anzahl der Betten, indem man die (ohnehin schon kleinen) Zimmer halbierte. Ich musste mit einer schmalen Box mit Heizung Vorlieb nehmen, Jens bekam die Heizungsrohre. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil es brütend heiß war, Jens hat kein Auge zugetan, weil er fast erfroren wäre.

    Am nächsten Morgen fuhren wir los, um Chodorkowskis Mutter zu fotografieren, wie sie aus dem Lager kommt. Die Bullen waren so schlau, etwa 800 Meter vor dem Tor ein Schild anzubringen: „Foto- und Videoaufnahmen verboten“. Ich ging daran vorbei und stellte mich vor dem Tor auf, ohne die Kamera auszupacken. Ein Polizist gesellte sich zu mir. Als Marina Filippowna in Begleitung der Anwältin im Tor erschien, schob sich der Polizist vor mich. Ich versuchte, meine Kamera rauszuholen, aber der Bulle brüllte: „Keine Fotos vom Objekt!“ und wollte mir die Kamera aus der Hand reißen. „Das ist kein Objekt, das ist eine Mutter!“, schrie die Anwältin zurück, aber der Moment war vorbei. Die Fotos konnte ich vergessen.

    Danach saßen wir mit Marina Filippowna und Irina Chodorkowskaja in einem Café. So vertrieben wir uns den Tag. Den ganzen nächsten Tag hatten die Chodorkowskis zu tun, also machte ich ein paar Aufnahmen von der Stadt, Jens unterhielt sich mit dem hiesigen Popen, und dann machten wir einen Ausflug ins Stahlbetonwerk, wo, so sagte man uns, Chodorkowskis Mitinsassen arbeiteten.

    Am Tor angekommen hupten wir – man machte uns auf. Wir fuhren aufs Gelände – niemand sagte ein Wort. Wir liefen durch die Werkhallen, warteten, dass uns jemand von hinten zurückrief – alles still. Wir fanden die Häftlingsbrigade. Wir stellten uns vor, unterhielten uns, die Gefangenen schlugen mir einen Deal vor: Du gibst uns deine Kamera und hundert Dollar, und wir liefern dir morgen die allerbesten Fotos von Chodorkowski. Ich ärgerte mich sehr, dass ich keine einfache Knipse dabei hatte (später sah ich solche Bilder in irgendeiner Zeitung), aber meine Arbeitskamera schien mir dann doch zu kostbar. Und so fuhren wir wieder – niemand sagte ein Wort. So ist das manchmal.

    Am Abend nahmen Irina und Marina Filippowna den Zug nach Hause. Jens und ich setzten uns in ein Taxi, fuhren zu irgendeinem Bahnhof – ich wollte die Frauen im Zugfenster fotografieren. Dann fuhren wir auf schnellstem Weg zum Flughafen nach Tschita. Etwas zu schnell – wir kamen um fünf Uhr morgens an. Unser Flug ging um zehn, der Flughafen machte erst um acht auf (ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt), draußen -30 °C. Das Flughafenhotel war ebenfalls zu; wir hämmerten an die Tür, der Nachtwächter rief die Polizei. Die Bullen kamen, sahen ein, dass uns der Kältetod erwartet, und befahlen, uns reinzulassen. Am Morgen hoben wir planmäßig ab.

    Das Bild habe ich quasi im Vorbeigehen geschossen. Mir war klar, dass ein Kreml aus Eis eine starke Metapher ist, und ich mich dort ein bisschen umsehen musste. So ist es immer: Hast du die Kulisse, warte auf den Darsteller, hast du einen Darsteller, such die Kulisse. Aber mit einem derart gewaltigen Exponat habe ich natürlich nicht gerechnet. Dieses Foto ist später viele Male veröffentlicht worden, und ich habe mich sehr gefreut, als die berühmte Kuratorin und Herausgeberin Leah Bendavid genau dieses Bild für das Buch Siberia: In the Eyes of Russian Photographers auswählte.


    Tobolsk, Russland, 2005
    Tobolsk, Russland, 2005

    Ein Freund von mir sagte, als er dieses Bild sah: „Das Lächeln des Sauron“. An dem jungen Mann ist nichts Dämonisches – er heißt Sascha und ist Fahrer beim Kulturkomitee der Stadtverwaltung von Tobolsk. Sie schickten mir Sascha und seinen Buchanka-UAZik zu Hilfe, als wir für die russische GEO eine Reportage über Tobolsk machten. Das Bild ist entstanden, als wir zusammen mit dem Journalisten Alexander Moshajew abends mit der Fähre über den Irtysch setzten. Wir zwei waren an Deck gegangen, Sascha, der Fahrer, war im Auto geblieben, und es war schwer, dieses Dreieck zu übersehen – die Zähne, die Kirche, das Kreuz. In der Kamera war kein Film mehr, ich hatte schon alle Vorräte für den Tag aufgebraucht. Nur noch eine alte 800er Rolle, die seit Monaten im Fotokoffer rumlag, war noch da (dass ich mich überhaupt erinnerte!) – ein exotisches Teil für die damalige Zeit. Während ich den Film einlegte, wanderte die Kirche von selbst zum linken Rand des Autofensters, ich konnte gerade noch ein paar Bilder schießen. Und wie das immer so ist, unabhängig davon, wie viele Schüsse man macht – es ist immer genau das eine richtige Bild dabei.

    Sascha hat sich nicht nur mit seinem blendenden Lächeln verewigt, sondern auch mit dem Spruch: „Fleisch ohne Wodka fressen nur die Hunde“. Als ich einmal eine Reportage über russischen Wodka für eine deutsche Kochzeitschrift machte, gefiel meinem deutschen Kollegen Saschas Lebensweisheit so gut, dass er sie als Überschrift für den Artikel benutzte.


    Oserkowski-Lachszucht, Kamtschatka, Russland, 2006
    Oserkowski-Lachszucht, Kamtschatka, Russland, 2006

    Aus der Oserkowski-Lachszucht werden die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran. Wenn sie groß genug sind, eilen sie nach Hause, einem Instinkt folgend, den man homing nennt. Die wenigen Lachse, die es schaffen, den Wilderern zu entwischen, kehren in ihre Geburtsfarm zurück. Dort presst man aus den Weibchen die Fischeier und sammelt sie in Eimern. Die Männchen betäubt man mit einem Holzknüppel, schlitzt ihnen die Bäuche auf und schüttet die Fischmilch in die Eimer mit dem Kaviar. Dann werden die Weibchen und Männchen auf einen Laster geladen und in die Resteverarbeitung geschickt – zum Essen sind sie nicht mehr geeignet. Aus den befruchteten Eiern schlüpft die Fischbrut. Die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge werden in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran …

    Genauso geht es in der Natur zu, nur dass es niemanden gibt, der die Setzlinge wiegt und misst, die Männchen mit einem Knüppel erschlägt und die Kadaver in ein Auto lädt.

    Und wieder mal ein Foto darüber, dass man Gott eine Chance geben muss. Wie oft hat der Arbeiter Fische geworfen, wie oft habe ich auf den Auslöser gedrückt. Und nur bei einem von hundert geschossenen Bildern hat sich alles gefügt. Was dem Betrachter als phänomenales Glück erscheint, ist in der Regel ein Werk der Statistik.


    Sankt Petersburg, Russland, 2000
    Sankt Petersburg, Russland, 2000

    Noch ein Foto, das nur zum Teil mir gehört. Die Pressevorführung einer Ausstellung zu Iwan Aiwasowski. Die Museumsmitarbeiter waren noch nicht ganz fertig, als die Presse schon da war. Wir wurden vom Wachpersonal durchgeführt, eine große Gruppe – Fotografen, Kameraleute, schreibende Journalisten. Ein paar meiner Kollegen blieben vor der Glasvitrine stehen und begannen zu fotografieren.

    Das, was dir einfach so zufliegt, weißt du weniger zu schätzen. Ich schickte das Bild zusammen mit den anderen weg und vergaß es. Ich dachte, so eins haben viele.

    Ein paar Monate später fiel das Foto zufällig meiner Frau in die Hände. Mascha sagte: „Wow!“, was selten passiert und wirklich ein Grund ist, sich Gedanken zu machen. Ich durchsuchte die Timelines der Agenturen und stellte fest, dass es zwar ähnliche Fotos gab, aber genau so eins hatte niemand. Ich schickte das Bild an Rossija Press Foto, und es gewann in der Kategorie Kultur.

    Das Bild ist vor allem unter Kuratoren und Museumsleuten beliebt. „Jeder Kurator kippt vom Stuhl vor Lachen, wenn er sieht, wie die Frau auf dem Foto die Vitrine putzt. Wir alle haben das schon mal gemacht, nur lagen wir dabei vielleicht nicht alle auf dem Boden“, schrieb Anne Tucker, [ehemals] Kuratorin am Museum of Fine Arts in Houston.


    Sankt Petersburg, Russland, 2004
    Sankt Petersburg, Russland, 2004

    Am zehnten Tag des heiligen Monats Dhul-Hidscha feiern die Muslime im Gedenken an die Opferbereitschaft des Propheten Ibrahims Kurban Bayrami das islamische Opferfest. Nach dem Gebet muss jeder rechtschaffene Muslim Allah einen Hammel, eine Kuh oder ein Kamel opfern. Das Opfertier darf keine physischen Blessuren aufweisen. Vor der Schlachtung muss man die Worte „Bismillah, Allahu Akhbar“ aussprechen. Das Fleisch soll in drei Teile geteilt werden: Ein Drittel soll man zu Hause essen, ein Drittel bedürftigen Verwandten oder Bekannten geben und das restliche Drittel Armen spenden, in Übereinstimmung mit dem Koran: „So esset davon und speiset den Bedürftigen und den Bittenden.“

    Die Händler verkauften die Hammel von Lastwagen. Mir fiel auf, dass einer der Käufer mit seinem Hammel nicht zum Parkplatz ging, sondern ihn in Richtung Moschee schleifte, also folgte ich ihm und versuchte im Gehen zu fotografieren. Wahrscheinlich ist so der „Mitzieheffekt“ entstanden, den man auf dem Foto sieht. Als Artjom Tschernow und Andrej Polikanow mit mir die Fotos für den Band auswählten, musste ich dieses Bild buchstäblich durchdrücken: Meine Kollegen reagierten relativ kühl, ich aber leide fast körperlich, wenn ich diese Respektlosigkeit vor dem Tod sehe, mich durchbohrt der Blick des verurteilten Tieres, das sich (buchstäblich!) an das Leben klammert. Hoffnung ohne Hoffnung.

    Barthes schreibt in Die helle Kammer: „Im Jahre 1865 versuchte der junge Lewis Payne den amerikanischen Außenminister W. H. Seward zu ermorden. Alexander Gardner hat ihn in seiner Zelle fotographiert; er wartet auf den Henker. Das Foto ist schön, schön auch der Bursche: das ist das studium. Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein, und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist.“ Gut möglich, dass das eines der Bilder ist, die nur mir und niemandem sonst gefallen. Es gibt auch Fotos, die sehr beliebt sind und bei denen ich keine Ahnung habe, was an ihnen so gut sein soll.

    Abdallah ibn ʿAbbas, der Cousin des Propheten, berichtete: „Einst sah der Gesandte Allahs einen, der sein Messer schärfte, während er mit einem Fuß auf der Schnauze des Schafs stand und das Schaf zu ihm hinaufsah. Da fragte der Prophet den Mann: Warum schärftest du dein Messer nicht, bevor du das Tier zu Boden warfst? Willst du ihm etwa zweimal das Leben nehmen?“


    Sankt Petersburg, Russland, 2003
    Sankt Petersburg, Russland, 2003

    Die Dreharbeiten im Internat dauerten drei Wochen. Zum Abschied wollte ich ein bisschen feiern, kaufte eine Torte aus Schokowaffeln und Kekse. Die Regisseurin Ljudmila Arkadjewna warf den elektrischen Samowar an, die jungen Leute setzten sich im Speiseraum auf ihre gewohnten Plätze, wie beim Mittagessen. Im Bild ist eine Uhr zu sehen – das ist einer der seltenen Fälle, wenn auf dem Film, wie in einer EXIF-Datei, die Aufnahmezeit festgehalten ist.

    Die Jungs und Mädels tranken Tee, alberten herum, kokettierten, stritten sich. Aus über hundert Schüssen habe ich das Bild ausgewählt, auf dem fast nichts passiert, ich finde, so liest sich die Allusion auf das berühmte Fresko besser heraus.

    Nur die Optik hat mich etwas im Stich gelassen: Ich habe die Aufnahmen mit einem billigen 50mm-Plastikobjektiv gemacht, das mir kurz davor runtergefallen war. Der linke Bildrand ist leicht verschwommen.

    Das Foto war schon bekannt, bevor es den World Press Photo Award gewonnen hat. Hin und wieder begegnet es mir in unerwarteten Situationen, mit unerwarteten Lesarten. Einmal fragte mich jemand, ob ich absichtlich gewartet hätte, bis die Uhr sieben vor zwölf zeigt. Als ich nicht recht verstand, sagte er: „Naja, es sind doch zwölf Apostel, und am Tisch sitzen sieben!“


    Kamtschatka, Russland, 2006
    Kamtschatka, Russland, 2006

    Der letzte Tag der Reise, das Pflichtprogramm war geschafft. Der Autor Pyotr Vail, mit dem ich die Reportage-Serie zu Kamtschatka machte, flog zurück nach Moskau. Ich hatte noch einen halben Tag, bis mein Flug ging. Ich beschloss, einen Blick auf die berühmten Thermalbäder zu werfen. Als ich mich etwas umgeschaut hatte, verstand ich, dass ich den höchsten Punkt suchen musste. Zum Glück hatten die Betreiber eine Klappleiter.


    Sankt Petersburg, Russland, 2003
    Sankt Petersburg, Russland, 2003

    Fast zweihundert Journalisten waren zur Abschlusskonferenz des Petersburger Dialogs gekommen. Präsident Putin und Kanzler Schröder wurden erwartet. Nach dem Sicherheitscheck versammelten sie uns im riesigen Auditorium, niemand durfte raus, und Putin kommt ja nie weniger als zwei Stunden zu spät. Alle 15 Minuten rief mich die Redaktion von Izvestia an, für die ich damals arbeitete, und verlangte nach fröhlichen Fotos von Putin und traurigen von Schröder. Die Ausgabe ging um zwei Uhr mittags in Druck. Nur fünf Minuten zu spät, und die Fotos würden direkt in die Tonne wandern.

    Endlich trafen die Staatschefs ein. Die Journalisten stürzten los, um einen Platz im riesigen Saal zu ergattern. Putin und Schröder setzten sich an einen langen Tisch weit weg voneinander, und ich ärgerte mich, dass ich mir einen frontalen Blickwinkel ausgesucht hatte – von der Seite fotografiert, hätte man optisch die Entfernung zwischen den Personen verkürzen können. In unserem Rücken waren die Vorhänge im Halbkreis zugezogen. Plötzlich kämpfte sich ein Lichtstrahl durch eine Lücke und fiel direkt auf Putins Gesicht, während Schröder im Schatten blieb. Alle hörten auf zu fotografieren, wegen der ungleichmäßigen Beleuchtung war ein gutes Doppelporträt unmöglich. Und ich denk mir so, Putin sieht doch gar nicht so schlecht aus, ganz hübsch. Drücke ein paar Mal ab. Der Präsident schaut zu mir hoch – und so ist dieses Bild entstanden.

    Auf dem Weg nach draußen fragte ich den amerikanischen Fotografen, den ich beim Warten kennengelernt hatte: „Und, wie war’s?“ „Zu förmlich“, sagte der. Dann musste es schnell gehen, die Redaktion wartete. Ich schnappte mir ein Taxi, fuhr ins Labor, entwickelte den Film, suchte noch im Taxi auf dem Weg nach Hause ein Foto raus, mit fröhlichem Putin und traurigem Schröder. Das scannte ich zu Hause ein, schickte es raus und vergaß den Auftrag.

    So wäre das Bild verschütt gegangen, wenn nicht mein Freund Sergej Tjagin auf einem Fotoportal ein Bild von Putin veröffentlicht hätte, das er genau im selben Moment, mit demselben Lichteffekt geschossen hatte, nur im Profil. Es hagelte Kommentare: „Guckt mal, wie toll!“ Ich wurde neidisch: Ich hab auch so eins! Fand den richtigen Filmausschnitt (nur drei Bilder), steckte ihn in den Scanner. Eine Minute später erschien dieses Bild auf dem Monitor.

    Die höchste Anerkennung für einen Fotografen ist es, wenn ein Bild es schafft, durch die dünne Expertenschicht zu dringen und Menschen zu erreichen, die sonst mit Fotografie wenig am Hut haben. Wenn es sich quasi unter’s Volk mischt. Wenn man sich an das Bild erinnert, aber nicht mehr an den Künstler. Für mich ist das größte Kompliment die Frage: „Ach, dann haben Sie das Foto gemacht?“ Ich hoffe sehr, dass das eines dieser Bilder ist.

    Und noch was: Erstaunlicherweise wird das Foto sowohl von Putins Befürwortern wie von seinen Gegnern aufgenommen. Jeder sieht darin das, was er sehen will.


    Sankt Petersburg, Russland, 2003
    Sankt Petersburg, Russland, 2003

    Das Verlagshaus Conde Nast hatte Illustrationen für einen Reiseführer zu Sankt Petersburg bestellt. Ich bekam eine Liste von Orten, die ich fotografieren sollte. Unter anderem das Restaurant Sow IljitschaDer Ruf des Iljitsch. Ich wählte die Nummer. Die Administratorin sagte mir, in Anwesenheit der Gäste seien Aufnahmen nicht erlaubt, aber tagsüber könne ich kommen.

    Zwei schelmische Kellnerinnen in einer Mischung aus Pionier- und Gesundheitshelfer-Uniform bereiteten den Laden für den Abendbetrieb vor. Die eine wischte die Lenin-Büsten auf dem Fensterbrett ab. Ich fotografierte sie und behielt im Hintergrund das Iljitsch-Porträt an der Wand im Blick. Dann schob sich beim Tischabwischen ihre Kollegin vor die Linse.

    „Geh mal weg, du störst den Mann! Dein Arsch verdeckt das ganze Bild!“, sagte die erste Kellnerin.

    „Vielleicht ist mein Arsch ja auch nicht so übel!“, erwiderte die zweite kokett und beugte sich nach vorne.

    Vielleicht hat sie sogar recht, dachte ich schon zu Hause, als ich nach einem passenden Bild suchte.

    Fotos: Sergey Maximishin
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Veröffentlicht am 24.12.2018 

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    Dmitry Markov: Лето – Sommer

    Dmitry Markov, geboren 1982 in der Oblast Moskau, nahm in der russischen Fotoszene einen besonderen Platz ein. Als Dokumentarfotograf war er kein Beobachter von außen, vielmehr nahm er am Geschehen seiner Bilder und am Leben seiner Protagonisten aktiv und leidenschaftlich teil.

    Mitte der 2000er Jahre wechselte Markov aus der Journalistik in den Bereich Sozialarbeit. Sein fotografisches Thema waren Menschen in der russischen Provinz und das grausame Leben, dessen Abbildungen auf Russisch oft als tschernucha (dt. in etwa Schwarzmalerei) bezeichnet werden. Für Markov waren es aber in erster Linie Menschen, die als Menschen respektiert werden müssen.

    Bekannt wurde Markov vornehmlich durch das Internet. Als visuelle Notizen für Sozialarbeit öffnete er ein Instagram-Account, dem 2024 über 880.000 Menschen folgen. Für seine Fotos wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem als erster russischer Fotograf mit dem Getty Images Instagram Grant (2015).

    Am 16. Februar 2024 ist Markov im Alter von 41 Jahren gestorben. dekoder veröffentlicht einige Aufnahmen aus seiner umfangreichen Serie vom Sommer 2018 und lässt den Fotografen in einem Interview mit The Village selber zu Wort kommen.

    (aktualisiert am 23. Februar 2024)

    „Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht“ - Fotos © Dmitry Markov
    „Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht“ – Fotos © Dmitry Markov

    The Village: Warum fotografieren Sie mit dem iPhone und nicht mit einer guten Kamera?
    Dmitry Markov: Alle wollen da immer einen Grund für finden. Warum soll ich denn bitteschön nicht mit meinem Telefon fotografieren? Es ist bequem für mich, mit dem iPhone mache ich meistens die Aufnahmen, die ich später bei Instagram hochlade. Am beliebtesten sind die Fotos, die mir persönlich ziemlich banal erscheinen. Es gibt eine Reihe recht abgedroschener Motive, die man endlos reproduzieren kann und sie bewegen die Menschen trotzdem, wenn sie sich mit Fotografie nicht besonders auskennen. Aber ich finde es langweilig, weil ich dieses Motiv schon tausendmal gesehen habe. Das, was mich interessiert, findet manchmal überhaupt keine Resonanz. Die Jungs, die Saltos von Garagen machen, sind so ein typisches, abgenutztes Motiv, das es schon tausendfach gibt. Da finde ich zum Beispiel ein Foto, das den Blick eines Jungen vor einem Häuserblock einfängt, viel interessanter.

    Bei Ihren Protagonisten handelt es sich oft um Arme, Minderjährige, Betrunkene. Denken Sie, dass ein Fotograf das Recht hat, fremdes Leben dem Blick der Öffentlichkeit preiszugeben? Ist es ethisch vertretbar, Straßenfotografie im Netz hochzuladen? 
    Einmal war ich in Pskow in einem Sammeltaxi unterwegs, ein Fahrgast war auf Drogen und völlig fertig. Als er abgeführt wurde, habe ich reflexartig ein Bild gemacht, dieses Foto habe ich selbstverständlich nirgendwo veröffentlicht. Der Mann war nicht gerade in einem ansehnlichen Zustand und man konnte sein Gesicht erkennen. Wenn ich einfach nur Menschen auf der Straße fotografiere, gehe ich von meinen eigenen Moralvorstellungen aus: Bilder, die mir unangemessen erscheinen, veröffentliche ich nicht. Wenn ich ein Foto von einem Betrunkenen hochlade, bin ich nicht weniger betrunken als er und wir sind Freunde. Ich weiß ja: Das ist mein Kumpel Wassja und später wird er das Bild, wo man ihn mit der Schnauze auf die Haube eines Polizeiwagens drückt, als sein Profilbild übernehmen. Petja dagegen mag solche Bilder nicht, wir sind einfach Freunde, verbringen Zeit zusammen, aber Aufnahmen von einem betrunkenen Petja kommen nicht ins Netz.

    Sergej Maximischin nannte Russland einmal das am wenigsten fotografierte Land der Welt. Sehen Sie das auch so?
    Ja, genauso ist es. Klar, ich war auch in Nord- und Südamerika, aber da habe ich nichts fotografiert. Wozu soll ich schon in New York fotografieren? Da gibt es genug Leute, die das übernehmen können. Aber wenn ich durch Russland fahre, scheint mir jede weitere Aufnahme wie ein Puzzleteil für mein großes Gemälde.

    Sie sind es sicher gewohnt, dass Ihre Bilder hart kritisiert werden. Mit Ihren Augen betrachtet erscheint Pskow als eine äußerst trostlose Stadt.
    Ich denke, die Menschen sollten ihre eigenen Augen benutzen, finden Sie nicht? Die Dinge auf ihre Weise ansehen. Ich fotografiere das, was mich interessiert. Es heißt nicht umsonst, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Wenn ein Mensch nur das Objekt meines Fotos sieht, beispielsweise einen Invaliden oder einen betrunkenen Soldaten, und nichts als negative Assoziationen hat – was soll ich dem schon sagen? Das Einzige, was mich stört, ist, wenn meine Follower meine Protagonisten durch den Dreck ziehen. Diese Fallschirmjäger sind, egal wie sie gerade aussehen, nach wie vor die Verteidiger unseres Vaterlandes.

    Und haben das Recht, sich manchmal gehen zu lassen?
    Genau. Auch ich bin alles andere als perfekt in dieser Hinsicht. Und der Mensch, der diese beleidigenden Kommentare schreibt, war sicher auch schon mal in so einer Situation. Und auch Obdachlose sind Bürger unseres Landes wie alle anderen. Wenn jemand schreibt: „Mit diesen Fotos entstellen Sie das Bild Russlands“, frage ich mich: Welches verf*** Bild? Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht, sie nicht verkleidet oder irgendwo ausgegraben. Sie interessieren mich, so wie Giljarowski die Leute in den Obdachlosenheimen der Chitrowka interessiert haben. Wenn das jemandem unangenehm ist, was ich gar nicht ausschließe, zwingt ihn ja niemand, sich meine Bilder anzusehen, sich zu quälen und diesen Kaktus trotzdem zu fressen. Außerdem gibt es wesentlich mehr Menschen, die mit dem, wie ich die Dinge sehe, etwas anfangen können.

    Früher haben Sie als Journalist bei Argumenty i Fakty gearbeitet. Wie sind Sie zur Fotografie und karitativen Arbeit gekommen?
    Ich wurde mal in ein Kinderheim eingeladen, um ein paar Fotos zu machen. Ich fuhr einmal hin, dann noch ein paar Mal, und bin dabei geblieben. Das war 2005, der Freiwilligendienst in Russland war erst im Entstehen. 2007 kam ich in ein Heim in der Oblast Pskow, dort suchte man Freiwillige für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Ich meldete mich für die Gruppe der Ältesten. Kleine Kinder zu fotografieren ist ziemlich einfach, sie sind viel offener, aber mit Jugendlichen ist es schwierig, ich habe die Herausforderung gesucht. Einen Monat habe ich in dem Heim gearbeitet und bin dann noch lange dort geblieben.

    Diese Arbeit wird nicht besonders gut bezahlt. Hatte das keinen Einfluss auf Ihre Entscheidung?   
    Nein. Damals hatte mich das Leben dort so gepackt. Da war etwas, das ich im Journalismus lange vermisst hatte: Ich konnte mich eingehend mit einem Thema beschäftigen. Zunächst war ich freiwilliger Helfer in einem Kinderheim, danach habe ich mit den Jugendlichen, die aus dem Kinderheim herauskamen, gearbeitet. Als eine Einrichtung für diese Jugendlichen eröffnet wurde, habe ich dort als Erziehungshelfer gearbeitet. Ich fing an, viele soziale Fragen besser zu verstehen als der Durchschnittsbürger.

    Es heißt oft, die Sozialfotografie sei eine Art Spekulation, man fotografiere Motive, bei denen man davon ausgeht, dass sie den Leuten ans Herz gehen.
    Das sehe ich auch so. Mein Lehrer Alexander Lapin hat meine Fotografien aus dem ersten Jahr überhaupt nicht ernst genommen. Erst als ich aufs Dorf zog und mich mit dem Leben der Waisen und benachteiligten, in Obhut genommenen Kinder wirklich vertraut gemacht hatte, nahm er mir ab, dass ich das Thema nicht einfach ausbeute, sondern es mich wirklich beschäftigt. Wahrscheinlich ist es nicht sehr nett, das zu sagen, aber ich habe ein moralisches Recht, diese Kinder und Jugendlichen zu fotografieren, mit denen ich mehrere Jahre zusammengelebt habe. Es gibt viele andere und einfachere Möglichkeiten, sich einen Namen zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass es auf Instagram solche Wellen schlagen würde. Während meiner Arbeit im Internat und beim Fonds fotografierte ich mit einer einfachen Kamera, aber irgendwann kam ich in eine Sackgasse. Entweder war das Thema erschöpft oder meine Ideen. Ein Jahr lang habe ich die Kamera nicht angerührt. Instagram hatte ich mir nur zum Spaß zugelegt, einfach um an der Fotografie dranzubleiben. 


    Fotos: Dmitry Markow
    Bildauswahl: Olga Osipova / Bird in Flight
    Interview: Aljona Kork / The Village (27. Oktober 2017, gekürzt)
    Übersetzung: Maria Rajer
    Veröffentlicht am 09.10.2018

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  • Gulag-Museum unter besonderen Bedingungen

    Gulag-Museum unter besonderen Bedingungen

    Das Museum Perm-36 wurde am 5. September 1995 gegründet. Es ist der einzige in Russland erhaltene Gebäudekomplex eines stalinistischen Arbeitslagers. In den Sowjetjahren saßen hier viele Dissidenten ein, darunter Wladimir Bukowski, Sergej Kowaljow und hunderte andere Polithäftlinge. 
    Beinahe 18 Jahre lang war das Museum in den Händen einer unabhängigen Organisation, doch dann beschloss der Staat, es unter seine Kontrolle zu bringen. Die Organisation, die das Museum gründete und betrieb, wurde zunächst zum ausländischen Agenten erklärt und hat sich 2016 selbst aufgelöst. Max Sher hat 2015 das einzigartige Museum für Meduza fotografiert.

    Einfahrtstor zum Arbeitslager
    Von der Fernstraße Perm-Tschussowoi abbiegen in Richtung des Dorfes Kutschino: Dort befindet sich das Museum „Perm-36“ 
    Kontrollpunkt mit Verwaltungs- und Besuchsräumen, oben Stabsunterkunft, rechts Einfahrtstor und Zaun
    Mehrfachumzäunung des Lagers
    Wohnbaracke aus den 1940er bis 1950er Jahren
    Inneneinrichtung einer Wohnbaracke (Rekonstruktion)
    Fenster der Strafisolationszelle (SchISO) bzw. Karzer
    Gattersäge
    Rote Ecke in der Wohnbaracke. Hier schrieben die Häftlinge Briefe
    Besuchszimmer für kurze Treffen ​
    Besuchszimmer für längere Treffen ​
    Spion an der Tür zum Karzer
    Diese Allee dürfte es eigentlich nicht geben, weil das ganze Lager einsehbar sein sollte. Sie wurde in der Zeit angepflanzt, als ehemals hochgestellte Mitarbeiter des NKWD-KGB und des Innenministeriums verurteilt im Lager einsaßen (1953 bis 1972) 
    Kontrollpunkt des „Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen“ („Sonderregime für besonders gefährliche Wiederholungstäter“) 500 Meter vom Stammlager entfernt. Die einzige Abteilung dieser Art in der späten UdSSR für wiederholt politisch Verurteilte war 1980 gegründet worden
    Eingang zum Kontrollpunkt der Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen
    Wohnbaracke auf dem Gelände des Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen. Der Holzzaun links versperrte zusätzlich den Blick aus den vergitterten Fenstern
    Blick aus einem „Spazierhof”, links der Wach-Balkon
    Wachturm auf dem Gelände des Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen

    Fotos: Max Sher
    Übersetzung der Bildunterschriften: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 05.09.2018

     

    Dieses Visual wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Bei den Nenzen

    Bei den Nenzen

    Die Nenzen gehören zu den indigenen Völkern Russlands. Die meisten von ihnen leben im hohen Norden: An der arktischen Barentssee liegt der Autonome Kreis der Nenzen, östlich grenzt er an den Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen. Dort leben ein paar Tausend der insgesamt rund 45.000 Nenzen als Nomaden. Das Rentier bestimmt die Lebensweise dieser Hirten, es ist ihnen Nahrungsquelle, Transportmittel und Lebensgrundlage. 

    Fotografin Stanislava Novgorodtseva hat die Rentiernomaden der Nenzen einen Monat lang begleitet, auf dem Weg vom Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen bis in die etwas südwestlicher gelegene Republik Komi.

    Die Beziehung der Nenzen zu ihren Rentieren ist sehr respektvoll. Jedes Rentier hat eine Aufgabe. Für den Transport spannen sie die Rentiere vor hölzerne Schlitten. Reitrentiere sind der ganze Stolz ihrer Besitzer, ein Reitrentier wird niemals geschlachtet. Einzelne Jungtiere, die sogenannten Awki, werden gezähmt. Wie ein Haustier leben sie mit einer Familie im Tschum, dem kegelförmigen Zelt der Nenzen. Ein Nenzen-Hirte ist eng mit seinen Tieren verbunden und kann sie unterscheiden. Eine Мarke haben sie dennoch, allein, damit es nicht zu Streitigkeiten mit anderen Hirten kommt.

    Die Rentiernomaden siedeln in Familienverbänden, die in zwei bis fünf Tschum leben. Neben der Rentierhaltung gehen sie auch fischen und zur Jagd. In den Wintermonaten ziehen sie mit ihren Tieren in die Nähe von Städten, wo sie Geschäfte in ihrer Reichweite haben. Auch wenn die Nenzen dort Lebensmittel aller Art erhalten, dominiert auf ihrem Speiseplan vor allem eins: Rentierfleisch – roh, gesalzen, getrocknet oder gekocht. Auch das Blut der Rentiere ist beliebtes Lebensmittel.

    Während die Nenzen mit ihren Tieren durch die Tundra ziehen, müssen ihre Kinder in die Schule und bleiben deswegen in den Städten, wo sie bei Verwandten oder in Internaten leben. Heute gibt es auch Rentierhirten mit Universitätsabschluss, besonders gefragt sind Tiermediziner. Stolz sind viele Nenzen vor allem auf Simjon Jawtyssy. Er tauschte das Rentier gegen das Flugzeug und war der erste Pilot der Nenzen.


    Die Nenzen gehören zu den indigenen Völkern Russlands. Etwa 45.000 Nenzen gibt es. Im Vergleich ist das viel: Andere sogenannte „kleine Völker des hohen Nordens“ sind vom Aussterben bedroht.
    Die Sowjetisierung und die Modernisierung hat die Lebensweise der Nenzen von Grund auf verändert. Viele Nenzen leben in Städten und beherrschen die nenzische Sprache, die mit den finno-ugrischen Sprachen zur uralischen Sprachfamilie gehört, nicht mehr. 
    Viele Traditionen sind verloren gegangen, heute gibt es bei den Nenzen aber auch viele Synkretismen aus Orthodoxie, Schamanismus und anderen Religionen.

    Die größte Bedrohung für die nomadische Lebensweise der Rentierhirten ist die Erdgas- und Ölproduktion, deren Förderung die Lebensgrundlage der Rentiernomaden nachhaltig gefährdet.

    Fotos: Stanislava Novgorodtseva
    Protokoll (nach Aufzeichnungen der Fotografin): Tamina Kutscher
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 30.08.2018

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    Leuchtturmwärter am Ende der Welt

  • Die Brüder Henkin

    Die Brüder Henkin

    St. Petersburg, 1990er Jahre. Eine alte Dame stirbt und hinterlässt eine Wohnung mit allerlei Krimskrams. Neben anderem Gerümpel finden die Nachkommen zufällig einige Kästchen mit alten aufgerollten Negativstreifen. Einfache Familienfotos, die eh in alten verstaubten Fotoalben zu finden sind, mutmaßen die Erben zunächst und beachten die Rollen nicht weiter. Außerdem sind die Filme so alt, dass sie beim ersten Antasten zu Staub zu zerfallen drohen. Aus reiner Neugier entscheiden sich die Erben fast zwanzig Jahre später, die Filme doch zu scannen.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen – in jeder der in Papier gewickelten Rollen sind einige Filmschnipsel – vier, acht, fünfzehn Aufnahmen, selten alle 36. Der erste Schnipsel ist gescannt und alles wie erwartet: Es sind Fotos des Großvaters, Leningrad, 1920-30er Jahre, Familie, Bekannte, Verwandte … Ab dem zweiten wird es aber spannend – dieselbe Zeit, aber plötzlich: Berlin. Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine ganze Geschichte zweier Städte und zweier Leben, erzählt von zwei Brüdern: Jewgeni und Jakow Henkin.

    dekoder veröffentlicht einen Bruchteil dieses Fotonachlasses, einige Aufnahmen zum ersten Mal.

    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther

    Die alte Dame, die die Negative aufbewahrte, war Sofia Henkin (1910-1994), die jüngere Schwester von Jewgeni (1900–1938) und Jakow Henkin (1903–1941). Die drei Geschwister stammen aus Rostow am Don, wo sie in einer wohlhabenden jüdischen Familie aufgewachsen sind. Die Erbin Olga Maslova Walther erzählt: „Sofia erinnerte sich an lustige Geschichten, Gedichte, Liedchen und sprach nie darüber, wie dieses glückliches Leben jäh abbrach, wie die Eltern verstarben und welche Ereignisse genau sie zwangen, Rostow am Don zu verlassen.” Sicher ist nur, Ende der 1920er Jahre leben Jakow mit seiner Familie und sie in Leningrad; Jewgeni ist spätestens seit 1926 in Berlin.

    Geschichte einer untergegangenen Welt

    Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine untergegangene Welt wieder neu, eine äußerst tragische Geschichte, in der vieles noch unklar bleibt und die grundsätzlich aufgearbeitet werden muss. Zwei Städte, Berlin und Leningrad, die beide einst Hauptstädte großer europäischer Reiche waren, die beide im Ersten Weltkrieg auf verschiedene Weise bittere Niederlagen erlebten, entwickeln sich schrittweise zu Metropolen zweier totalitärer Regime. In die Bilder dringt oft unauffällig diese Realität ein, die beiden Brüdern zum Verhängnis wird und beide Länder in einen weiteren Krieg führt.

    Das alles wissen weder die Fotografen noch die Menschen, die fotografiert werden. Die dargestellte Welt ist von einer besonderen Atmosphäre, von scheinbarer Leichtigkeit des Daseins, von Sinnlichkeit und Freude gekennzeichnet, wie sie die hunderte, meist anonymen Gesichter auf den Fotos widerspiegeln.

    Beide Brüder waren keine hauptberuflichen Fotografen. Jakow war Wirtschaftsingenieur, Jewgeni studierte Schiffsmaschinenbau an der Technischen Universität Berlin und arbeitete danach als Musiker. Trotzdem zeugen die über 7000 Fotografien aus dem Nachlass der Brüder von ihrer großen Begeisterung für dieses Medium sowie von ihrer außergewöhnlichen fotografischen Begabung, die weit über die Grenzen der Amateurfotografie hinausgeht. Beide fotografierten hauptsächlich privat, bekamen aber immer wieder Aufträge, vor allem was die Dokumentation von Sport- und Massenereignissen anbelangte.

    Stummfilm ohne Untertitel

    Hunderte und tausende Gesichter machen den gesamten Fotobestand zu einem Gruppenportrait vor dem Hintergrund eines Zeitalters. Manche – zufällige Passanten, Bauarbeiter, Marktverkäufer – erscheinen nur einmal, um dann in Vergessenheit zu geraten. Einige tauchen mehrfach auf und erzählen kleine Geschichten – von einem Pionierlager bei Leningrad, vom Berliner Zoo, von Autorennen, Demonstrationen, Restaurants oder von einem Brand. Wenige Gesichter nur kommen immer wieder vor, werden zu lebendigen Protagonisten mit persönlichen Eigenschaften und schaffen ganze Sujetlinien.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther
    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther

    Zu diesen Menschen zählen nicht nur Familienmitglieder wie Sofia Henkin oder Jakows Ehefrau Frida, die namentlich bekannt sind. Da sind auch Freunde und Kollegen, wie zum Beispiel die Mitarbeiter des Heinrich-Hertz-Institutes in Berlin, mit denen Jewgeni zusammen einen Thereminvox baut, oder die Musiker, mit denen Jewgeni auf verschiedenen Bühnen auftrat, wie etwa im Konzerthaus Clou in Berlin-Friedrichstadt. Oder auch Lebensgefährten, wie eine schöne Berlinerin, mit der Jewgeni Ruderboot fährt, im Wald spazieren geht, verschiedene Veranstaltungen oder Freunde besucht.

    Wenn man sich lange mit diesen Fotos beschäftigt, bekommt man das seltsame Gefühl, dass all diese Leute alte und gute Bekannten seien, die aber keine Stimme und keine Namen haben. Wie ein Stummfilm ohne Untertitel.

    Bemerkenswert sind die vielen Gemeinsamkeiten und Parallelen in den Bildern der beiden Brüder, obwohl die Aufnahmen völlig unabhängig voneinander entstanden sind. Beide scheinen sich für ähnliche Themen zu interessieren und verwenden vergleichbare Kompositionsprinzipien, so dass es nicht immer einfach zu sagen ist, wer genau welche Fotos aufgenommen hat, und manchmal weiß man auf den ersten Blick auch nicht wo: Ist das Berlin oder Leningrad?

    Hauptthemen sind Portraits von Frauen und Kindern, Freunden und Bekannten, Straßenszenen, Massen- und Sportveranstaltungen, Tiere, Autos und Landschaften. Viele davon wurden nicht einfach spontan aufgenommen, sondern häufig unter Rückgriff auf ikonographische Traditionen, etwa das Motiv Mutter mit Kind, sorgfältig ins Bild gesetzt.

    „Es lebe der große Stalin“

    An dem von ihnen fotografierten, brodelnden Leben nehmen beide Fotografen aktiv teil (manchmal lassen sie sich auch von anderen fotografieren, so dass sie auf einem Filmabschnitt sowohl Fotografen als auch Fotografierte sind), die Entwicklung zweier totalitärer Regime betrachten sie etwas aus der Ferne. Scheinbar auch ohne große Angst, eher mit Neugier. Jewgeni geht mit Freunden durch Berlin spazieren und stolpert plötzlich über eine Anzeige auf der Litfaßsäule mit dem Aufruf „Die Juden aller Welt wollen Deutschland vernichten! Kauf nicht beim Juden!”. Er holt seine Kamera, macht ein Foto und geht weiter. Ein anderes Mal nimmt er die NS-Militärparade entlang der Straße Unter den Linden auf oder das Wahl-Transparent „Für den deutschen Sozialismus“ auf der Pariser Straße. Aber das alles geschieht nur unter anderem, nebenbei.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)

    Auf den Fotos von Jakow sind die Stalin- und Lenin-Portraits in einem Stadion zu sehen, manchmal auch nur an der Seite des Fotos, die riesige Aufschrift „Es lebe der große Stalin“ oder eben die Parade bewaffneter Sportler. Ob er den sozialistischen Optimismus der Stalinzeit teilte, ist nicht bekannt. Aber selbst wenn, war es spätestens 1937 damit vorbei.

    Erstaunlicher als die Gemeinsamkeiten in den Bildmotiven sind die Parallelen im tragischen Schicksal der Brüder. Jakow Henkin, der das ganze Leben in Russland verbrachte, fiel 1941 unter deutschen Kugeln an der Leningrader Front. Sein Bruder Jewgeni, dessen Leben über viele Jahre hindurch eng mit Deutschland verbunden war, musste als Jude 1936 das Land verlassen, wurde aber im Dezember 1937, zur Zeit des Großen Terrors, in Leningrad als deutscher Spion vom NKWD verhaftet und nach wenigen Wochen erschossen. Sein Status als „Volksfeind“ löschte seinen Namen aus der Familiengeschichte. Sofia Henkin wusste von seiner Verhaftung, doch es gelang ihr nicht, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Später vermied sie es, darüber zu sprechen.

    Beispiel reiner Fotokunst

    Entdeckt wurde der Fotobestand erst 2012, als keiner mehr gefragt werden konnte. Sofias Erbin Olga Maslova Walther gründete 2016 die NGO Henkin Brothers Archiv mit Sitz in Lausanne und konnte die Staatliche Eremitage in St. Petersburg begeistern, diese Fotos in einer Sonderausstellung zu zeigen. Die Schau, die es im Sommer 2017 in die Bloombergs Liste der zehn besten Ausstellungen weltweit geschafft hat, verwurzelte die Fotos nicht nur im historischen, sondern auch im künstlerischen Kontext. Der Fotograf Dmitry Konradt, der den Fotobestand 2012 entdeckte, sieht die Fotos nicht nur als historische Quelle, sondern als „ein Beispiel reiner Fotokunst. Und geboren ist sie nicht aus dem Bestreben, Kunst zu machen, sondern ausschließlich dank der Begabung der Fotografen“.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Leningrad, Foto - Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina

    Text: Leonid A. Klimov
    Fotos © Olga Maslova Walther /  Henkin Brothers Archive


    Veröffentlicht am 08.02.2018

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Danila Tkachenko: Родина – Motherland

    Danila Tkachenko: Родина – Motherland

    Danila Tkachenko, geboren 1989 in Moskau, ist einer der wichtigsten russischen Fotografen seiner Generation. Seine Ausbildung machte er an der renommierten Rodchenko School of Photography and Multimedia in Moskau; schon früh gewann er internationale Preise: Escape heißt sein Projekt, für das er Einsiedler in russischen Wäldern fotografierte und 2014 mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet wurde. 
    Seine neue Serie heißt Родина – Motherland. Sie ist wahrscheinlich seine radikalste. Tkachenko hat dafür alte Holzhäuser in Brand gesteckt. Außenrum Dunkel.
    Die Serie hat in Russland für viel Aufsehen gesorgt, und nicht nur positive Resonanz gefunden. Denkmalschützer drohen gar, den Fotografen anzuzeigen. Dabei waren die Häuser unbewohnt und verfallen. Der Politologe und Historiker Sergej Medwedew mischt sich auf Facebook in die aufgebrachte Diskussion ein. 
    In Berlin ist Danila Tkachenkos Serie Родина – Motherland noch bis zum 3. Februar 2018 in der Kehrer Galerie zu sehen.

    Fotos © Danila Tkachenko/Kehrer Galerie, Berlin
    Fotos © Danila Tkachenko/Kehrer Galerie, Berlin

    Dieser Tkachenko ist einfach genial. Seit Malewitsch hat niemand mehr so meisterhaft mit dem russischen Raum zu arbeiten vermocht. Tkachenkos Inbrandsetzung eines Dorfes ist ein enorm tiefsitzender Archetypus: von Brandrodung bis zum Brand von Moskau 1812, von Pugatschow bis Chowanski, von Nikolai Polisskis Land Art bis zu den letzten Aktionen Pjotr Pawlenskis – doch der direkte Vergleich ist für mich das Schwarze Quadrat.

    Es genügt nicht, die Leere zu erkennen, man muss sie markieren, benennen – und genau das tut Tkachenko. Es ist eine sehr drastische Aktion (und juristisch offenbar nicht lupenrein), aber sie ist nicht schmerzhafter als der langsame Tod der Dörfer, die es auf der Landkarte gar nicht mehr gibt.

    Der Sterbeprozess dauert bereits ein halbes Jahrhundert, und irgendjemand musste ihn dokumentieren – nicht als ewige Klage der Jaroslawna, von der Dorfprosa der 1960er bis zu den heutigen Rodisten und Ökodörfern, sondern in Form einer künstlerischen Geste: Das Tote tot nennen und den Teufelskreis der Nostalgie durchbrechen. Bei uns weinen sie gern aus dem Autofenster raus der russischen Welt nach (ich nehme mich da nicht aus), betrauern das verlorene Kitesh, ach was, Atlantis gar, und leben im Zustand einer unaufhörlichen Apokalypse. Tkachenko schlägt hier einen klaren postapokalyptischen Ton an: Genug geweint, wir müssen weiterleben, wie unsere Vorfahren, die Wälder niederbrannten, Steppen und Dörfer, Einsiedeleien (manchmal sich selbst gleich mit) und Gutshöfe – und weiterzogen auf das nächste Stück Land.

    Und nicht zufällig passiert das alles im Jahr des zerknitterten 100-jährigen Revolutionsjubiläums. Mitten im Zerfall des Imperiums der Kultur 2, den Auflösungserscheinungen des späten Putinismus kommt Tkachenko (wie vor ihm Pawlenski) mit der revolutionären Botschaft der Kultur 1, der Kultur des Feuers und der Selbstzerstörung, vor der die Gesellschaft instinktiv Angst hat. Bemerkenswert, wie Denkmalschützer aus Krochino die niedergebrannten Häuser kurzerhand zum „Kulturerbe“ erklärten – genauso wie die Tür der Lubjanka zum Kulturerbe erklärt wurde, weil dort Babel und Meyerhold gefoltert wurden: Anscheinend werden bei uns die Dinge genau dann zum Kulturerbe, wenn man sie anzündet.

    Fotos: Danila Tkachenko
    Text: Sergej Medwedew
    Übersetzung: Ruth Altenhofer

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  • Dezember: Prokudin-Gorski

    Dezember: Prokudin-Gorski

    Dies ist eine der eigentümlichsten Episoden aus der Geschichte der russischen Fotografie, und sie ist bis heute noch nicht vollständig erforscht.

    Ein junger Mann aus einer St. Petersburger Adelsfamilie begeistert sich für das damals noch junge Fach Chemie. Er studiert bei Dimitri Mendelejew, dem russischen Entwickler des Periodensystems der Elemente. 1889 geht Sergej Prokudin-Gorski („so der Name unseres Helden“, müsste man schreiben, wäre man sein Zeitgenosse) nach Berlin, wo er für zwei Jahre an der Technischen Universität unterrichtet. Zugleich forscht er zur Darstellung der Spektralfarben in der Fotografie und schließt Bekanntschaft mit Adolf Miethe, ebenfalls Chemiker. Miethe hatte eine Technik entwickelt, um mittels dreier übereinander projizierter Schwarzweiß-Diapositive (die Farbfotografie im eigentlichen Sinne wurde erst 1935 von Kodak praxistauglich gemacht) eine vollfarbige Abbildung eines fotografierten Objektes zu erhalten.

    1901 kehrt Prokudin-Gorski nach St. Petersburg zurück. Er entwickelt die fotochemischen Methoden weiter, die er in Berlin erlernt hat, und in ihm reift ein Plan heran: Er will die Menschen, Landschaften und Bauwerke Russlands fotografisch dokumentieren – in Farbe. Etwas ähnliches hatten vor ihm nur die Peredwishniki versucht, aber sie waren Maler gewesen, ihre Ausrüstung beschränkte sich auf Palette und Staffelei. Prokudin-Gorski würde mehr benötigen: Die modernste Fotoausrüstung seiner Zeit, zerbrechlich, schwer und voluminös – und eine Menge Geld. Er musste den Zaren für sein Vorhaben begeistern. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch ein Portrait des Schriftstellers Lew Tolstoi, das er bei einer Audienz an die Wand projizierte.

    Nikolaus II finanzierte ihm ein mobiles Labor, das in einer Pferdekutsche untergebracht wurde und sogar einen Eisenbahnwaggon mit einem zweiten Labor. Und er stellte ihm Dokumente aus, die es ihm ermöglichten, sich auf den geplanten Routen frei zu bewegen – keine Selbstverständlichkeit im damaligen Russland. 1909 machte Prokudin-Gorski sich auf den Weg. Bis 1915 bereiste er das Zarenreich: den Westen Russlands, die Wolga-Gebiete, den Kaukasus, Mittelasien, Teile von Sibirien. Er fotografierte seine Sujets, wie er sie vorfand: Es mischen sich Arbeitsszenen, Ansichten industrieller Anlagen, Stadtpanoramen, Portraits. Insgesamt entstanden so über 3.000 Aufnahmen.

    Zur geplanten großen Wanderausstellung seiner Bilder kam es in Russland nicht mehr, bald nach Beginn des ersten Weltkriegs versiegte die Finanzierung. 1917, nach der Oktoberrevolution, musste Prokudin-Gorski das Land verlassen, ging erst nach Norwegen, dann nach London und schließlich nach Paris, wo er 1944 starb. Sein Archiv wurde von der Library of Congress (Washington DC) erworben und ist heute in digitaler Form öffentlich zugänglich.

    Die von Adolf Miethe entwickelte Technik, die Prokudin-Gorski verwandte, beruhte auf dem Prinzip dreier verschiedenfarbiger Filterscheiben (rot, grün und blau), die vor drei vertikal übereinander angeordneten Glasplatten-Negativen angebracht waren. Auf diese Weise konnte nur jeweils das entsprechende Teilspektrum des Lichts auf die einzelne Glasplatte einwirken. Während der Aufnahme wurden die Platten eine nach der anderen belichtet.

    Zum Betrachten der Bilder existierte ein spezieller Dreifarben-Projektor, der die drei nacheinander entstandenen Einzelbilder, wiederum durch entsprechende Farbfilter, an die gleiche Stelle projizierte, so dass sich ein vollfarbiges Bild ergab.

    Diese additive Dreifarben-Fotografie bringt einige Besonderheiten mit sich, so scheint etwa ein bewegtes Objekt in verschiedenen Farben zu schillern – unten in der Fotoserie zu sehen beim Wasser auf dem Bild des Schleusenwärters Karlinski oder auch beim Gesicht eines der Besatzungsmitglieder des Dampfschiffs Scheksna. Hier finden sich weitere technische Details zu dieser längst vergessenen Fotografier-Methode.

    Prokudin-Gorski wurde 1863 auf dem Familiengut Funikowa Gora im Gouvernement Wladimir geboren. Mit ihm und seinem Werk befassen sich verschiedene Buchveröffentlichungen, auf Deutsch unter anderem beim Gestalten-Verlag. Ein russisches Internet-Projekt widmet sich der Erforschung seiner Reisen und seines Werks, ein anderes rekonstruiert die Aufnahmeorte und dokumentiert ihren heutigen Zustand im Vergleich zum historischen. Einen Dokumentarfilm auf Prokudin-Gorskis Spuren drehte 2013 der Moskauer Journalist Leonid Parfjonow. Wohl keine andere visuelle Quelle erschließt die Realitäten des späten russischen Zarenreichs mit solcher Unmittelbarkeit wie die Aufnahmen dieses wissenschaftsbegeisterten Forschers und Fotografen.

    Oben: Selbstbildnis Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorski am Flüsschen Skuritskhali, bei Batumi, Georgien, 1912

     

    Bahnhof von Borodino. Als Fotolabor ausgerüsteter Eisenbahnwaggon, Borodino, 1911
    Bahnhof von Borodino. Als Fotolabor ausgerüsteter Eisenbahnwaggon, Borodino, 1911

     

    Preobrashenski Kirche, innerhalb der Kremlmauern, Belosersk, 1909
    Preobrashenski Kirche, innerhalb der Kremlmauern, Belosersk, 1909

     

    Mittagessen während der Heuernte, 1909
    Mittagessen während der Heuernte, 1909

     

    Kornblumen im Roggenfeld, 1909
    Kornblumen im Roggenfeld, 1909

     

    Bauernmädchen, 1909
    Bauernmädchen, 1909

     

    Holzfäller am Fluss Swir, 1909
    Holzfäller am Fluss Swir, 1909

     

    Zwischen dem Staubecken am Fluss Tschussowaja und dem Reschotka-Flüsschen, 1912
    Zwischen dem Staubecken am Fluss Tschussowaja und dem Reschotka-Flüsschen, 1912

     

    Hütte des Siedlers Artemi, mit Spitznamen Kot [Kater], der seit über 40 Jahren dort lebt, 1912
    Hütte des Siedlers Artemi, mit Spitznamen Kot [Kater], der seit über 40 Jahren dort lebt, 1912

     

    Ernte nahe dem Dorf Bytschi, 1912
    Ernte nahe dem Dorf Bytschi, 1912

     

    Mühlen im Bezirk Jalutorowsk im Gouvernement Tobolsk, 1912
    Mühlen im Bezirk Jalutorowsk im Gouvernement Tobolsk, 1912

     

    Beim Spinnen von Garn, Dorf Iswedowo, 1910
    Beim Spinnen von Garn, Dorf Iswedowo, 1910

     

    Blick über die Stadt von der Kreml-Mauer aus, Belosersk, 1909
    Blick über die Stadt von der Kreml-Mauer aus, Belosersk, 1909

     

    Igumen Xenofont, Vorsteher des Klosters in Werchoturje, 1910
    Igumen Xenofont, Vorsteher des Klosters in Werchoturje, 1910

     

     

    Links: Wundertätige Ikone der Gottesmutter Hodegetria in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, Smolensk, 1912.
    Rechts: Phelonion aus Seidenbrokat, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, an der Schulterpartie perlenbestickter karminroter Samt. Im Museum von Rostow Weliki, 1911

     

    Mönche bei der Feldarbeit, Kartoffelsaat. Gethsemane-Kloster, 1910
    Mönche bei der Feldarbeit, Kartoffelsaat. Gethsemane-Kloster, 1910

     

    Friedhof des Uspenski-Klosters, 1909
    Friedhof des Uspenski-Klosters, 1909

     

    Links: L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 23. Mai 1908 (der Verbleib des originalen Negatives ist unbekannt, hier handelt es sich um die Reproduktion eines durch Prokudin-Gorski selbst angefertigten dreifarbigen fotolithografischen Abzugs)
    Rechts: Arbeitszimmer von L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 1908

     

    Links: Im Museum von Borodino. Kugeln und Geschosse aus der Schlacht bei Borodino (1812), 1911
    Mitte: Befestigungsanlagen auf dem Schlachtfeld von Borodino, wo ein Denkmal errichtet werden soll, 1911
    Rechts: Gemälde von Napoleon, zwischen 1905 und 1915

     

    Grenze zwischen Europa und Asien bei der Bahnstation Urshumka. In der Nähe von Tscheljabinsk, 1910
    Grenze zwischen Europa und Asien bei der Bahnstation Urshumka. In der Nähe von Tscheljabinsk, 1910

     

    Wolgaquelle, 1910
    Wolgaquelle, 1910

     

    Pinchus Karlinski, 84 Jahre alt. Davon 66 im Dienst als Schleusenwärter der Tschernigow-Schleuse, 1909
    Pinchus Karlinski, 84 Jahre alt. Davon 66 im Dienst als Schleusenwärter der Tschernigow-Schleuse, 1909

     

    Dampfschiff Tjumen des Verkehrsministeriums, auf dem Prokudin-Gorski den Fluss Tobol befuhr. Prokudin-Gorski ist auf dem Deck des Schiffes zu sehen, an einem Tisch sitzend, 1912

     

    Mannschaft des Dampfschiffs M. P. S. Scheksna, auf dem Prokudin-Gorski von der Mündung des Flusses Swir bis Rybninsk fuhr, 1909
    Mannschaft des Dampfschiffs M. P. S. Scheksna, auf dem Prokudin-Gorski von der Mündung des Flusses Swir bis Rybninsk fuhr, 1909

     

    Blick auf die Stadt Tobolsk von Norden. Vom Glockenturm der Preobrashenskaja-Kirche aus, 1912
    Blick auf die Stadt Tobolsk von Norden. Vom Glockenturm der Preobrashenskaja-Kirche aus, 1912

     

    Herstellung von Stahlbeton-Rahmen für die Wände einer Schleuse, Beloomut, 1912
    Herstellung von Stahlbeton-Rahmen für die Wände einer Schleuse, Beloomut, 1912

     

    Eine Speiche wird aus einem Damm gezogen (nach der Methode von Poiré), 1909
    Eine Speiche wird aus einem Damm gezogen (nach der Methode von Poiré), 1909

     

    Signalmast beim Dorf Burkowo, 1909
    Signalmast beim Dorf Burkowo, 1909

     

    Schmelzöfen der Eisenhütte bei Satka, 1910
    Schmelzöfen der Eisenhütte bei Satka, 1910

     

    Österreichische Kriegsgefangene vor einer Baracke nahe Kiappeselga / Kannesemga, 1915
    Österreichische Kriegsgefangene vor einer Baracke nahe Kiappeselga / Kannesemga, 1915

     

    Arbeit in der Eisenmine, bei Bakal, Ural 1910
    Arbeit in der Eisenmine, bei Bakal, Ural 1910

     

    Auf der Draisine über die Murmansk-Bahnstrecke, bei Petrosawodsk, 1915
    Auf der Draisine über die Murmansk-Bahnstrecke, bei Petrosawodsk, 1915

     

    Brücke der Transsibirischen Eisenbahnlinie über den Fluss Kama nahe Perm am Ural, 1910
    Brücke der Transsibirischen Eisenbahnlinie über den Fluss Kama nahe Perm am Ural, 1910

     

    Die Evgenieski-Mineralwasserquelle Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Die Evgenieski-Mineralwasserquelle Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Versand des Borshomi-Mineralwassers. Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Versand des Borshomi-Mineralwassers. Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Menschen in Dagestan, zwischen 1905 und 1915
    Menschen in Dagestan, zwischen 1905 und 1915

     

    Links: Bambus-Hain. Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Rechts: Knurrhahn. Batumi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Eine Gruppe von Arbeitern bei der Tee-Ernte (griechische Frauen), Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Eine Gruppe von Arbeitern bei der Tee-Ernte (griechische Frauen), Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    In der Abwiege-Abteilung der Teefabrik von Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    In der Abwiege-Abteilung der Teefabrik von Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Haus von Umsiedlern mit einer Gruppe von Landarbeitern bei Nadeshdinsk, zwischen 1905 und 1915
    Haus von Umsiedlern mit einer Gruppe von Landarbeitern bei Nadeshdinsk, zwischen 1905 und 1915

     

    Beobachten einer Sonnenfinsternis am 1. Januar 1907. In der Nähe der Bahnstation Tschernjajewo im Tian-Shan-Gebirge oberhalb der Saljutkin-Minen, Golodnaja Steppe 1907
    Beobachten einer Sonnenfinsternis am 1. Januar 1907. In der Nähe der Bahnstation Tschernjajewo im Tian-Shan-Gebirge oberhalb der Saljutkin-Minen, Golodnaja Steppe 1907

     

    Die rechte Kuppel der Sher-Dor-Moschee, Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Die rechte Kuppel der Sher-Dor-Moschee, Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Der Emir von Buchara, zwischen 1905 und 1915
    Der Emir von Buchara, zwischen 1905 und 1915

     

    Sarten-Frau in einem Paranja, Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Sarten-Frau in einem Paranja, Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Studenten in einer Medresse (Islamschule), Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Studenten in einer Medresse (Islamschule), Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Friseure auf dem Registan in Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Friseure auf dem Registan in Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Arbeiter, zwischen 1905 und 1915
    Arbeiter, zwischen 1905 und 1915

     

    Hanffeld, 1910
    Hanffeld, 1910

     

    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.12.2016

     

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