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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Landschaft der Trauer

    Landschaft der Trauer

    Kirchen, einstige Adels-Residenzen oder Gutshäuser – der belarussische Fotograf Valery Vedrenko beschäftigt sich mit der belarussischen Geschichte auf dem Landstrich zwischen Polesien im Süden und der Seenlandschaft im Norden von Belarus. Er fotografiert Bauten, die oft wie in die Gegend gewürfelt scheinen: Kleinode, klassizistisch, barock oder gotisch. 
    Allesamt erzählen sie viel über die Geschichte seines Landes, die bis in die Zeit des Großfürstentums Litauen zurück reicht. Einige der Orte sind für die Nachwelt erhalten worden, besitzen sogar Unesco-Weltkulturerbestatus; andere sind sich selbst überlassene Ruinen.

    Vedrenko wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Er hat sich mit unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen einen Namen gemacht, darunter mit Grafiken, Filmen und Malerei. Mit der Digitalisierung, sagt er, fand er einen ganz eigenen Zugang zur Fotografie, seither lässt er die Kunstformen miteinander verschmelzen. Wenn er die belarussischen Baudenkmäler dokumentiert, über die Jahre immer wieder zu ihnen zurückkehrt, hält er sich an digitale Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ohne Filter, ohne Effekte. So sind Bilder entstanden, die auch zeigen, wie schwer es dieses kulturelle Erbe in Belarus hat, einen festen Platz zu finden.

    Njaswísh, Fronleichnamskirche aus dem 16. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2006 / Foto © Valery Vedrenko
    Njaswísh, Fronleichnamskirche aus dem 16. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2006 / Foto © Valery Vedrenko

    dekoder: Ihre Fotografien zeigen Architekturdenkmäler, hauptsächlich Kirchen. Glockentürme zwischen Bäumen, Ruinen im Wald oder imposante Gebäude entlang ausgestorbener Dorfstraßen. Wie kommt es zu dieser Motivauswahl? 

    Valery Vedrenko: Mich interessieren Sujets mit eigener Biografie. Die Wahl der Motive ergibt sich daher quasi von selbst. Die Architekturdenkmäler in den belarussischen Großstädten sind aus ihrem historischen Kontext gerissen und wirken eher wie Museumsstücke, die ihres natürlichen Umfelds beraubt sind. Daher reise ich umher und fotografiere in kleinen Ortschaften und Dörfern, in denen die Landschaft und das Alltagsleben noch mehr oder weniger natürlich sind. Allerdings gibt es von diesen Orten mit jedem Jahr weniger, und auch die Motive selbst verschwinden. Sie werden von den neuen Besitzern nach Gusto umgebaut, während sich die Orte selbst  in ländliche Siedlungen verwandeln, die dem Muster einer belarussischen Agrogorodok entsprechen. 

    Die Fotoserie heißt Landschaft der Trauer. Ist Belarus das Land der vergessenen Ruinen?

    Belarus hat zwei Gesichter. Es gibt das touristische und das lebendige Belarus. Im ersten werden Ihnen ein Dutzend restaurierter Schlösser und Kathedralen präsentiert, im zweiten finden Sie hunderte Kirchen, Gutshäuser und Wirtschaftsgebäude, die zu Ruinen verfallen. Zum historischen Erbe pflegt die Regierung ein Verhältnis wie zum Sport: Wichtig sind nur die Plätze auf dem Podest. Finanzielle Mittel werden nur für die herausragenden Denkmäler bereitgestellt, die Gewinn einbringen und von denen es nicht mehr viele gibt. Um die anderen sollen sich die lokalen Behörden kümmern, die weder über Geld, noch über die fachliche Ausbildung, noch über Infrastruktur verfügen. Deshalb nagt an vielen Architekturdenkmälern in den kleinen Städten und Dörfern der Zahn der Zeit, der leider alles in Ruinen verwandelt. Ich versuche, diese traurige Entwicklung in meinen Bildern festzuhalten, daher der Titel des Projekts.

    Hängt die Tatsache, dass Kulturdenkmäler verfallen und in Vergessenheit geraten auch damit zusammen, dass die Belarussen ihre eigene Geschichte oft schlecht kennen?

    Natürlich. Da kommen wir schon in den Bereich von Politik und der Bildung, die ihr untersteht. Um eine Metapher zu bemühen: Wenn in der Sowjetunion die Geschichte mit dem Jahr 1917 begann, dann hat die Geschichte in Belarus mit der Wahl der heutigen Staatsführung  begonnen. Alles, was davor war, ist kaum von Bedeutung. Die wirkliche Geschichte des Landes kann man nur in den Bibliotheken erfahren, nicht in den Schulbüchern, die alle fünf Jahre je nach aktueller Lage umgeschrieben werden. Ein solches Verhältnis zur Vergangenheit spiegelt sich unweigerlich auch im Zustand des architektonischen Erbes.

    Kann es also sein, dass der Staat kein Interesse daran hat, die Erinnerung an die Geschichte zu bewahren?

    Ich werde Ihnen meinen Standpunkt dazu erläutern: In Belarus gibt es weder eine klare Vorstellung von der eigenen Geschichte noch eine Beziehung zu ihr. Alles unterliegt der politischen Konjunktur. Was gestern noch erlaubt war, ist heute bereits verboten, und umgekehrt. Dieser Umstand wirkt sich auf die Einstellung der Beamten und lokalen Behörden aus, die über den Schutz des architektonischen Erbes entscheiden. Er führt zu Gleichgültigkeit nach dem Motto „Nur nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, nichts übereilen“. Und am einfachsten lässt sich das Problem mit der Antwort lösen: „Dafür ist kein Geld da“.

    Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt entstanden?

    Ich war schon mein Leben lang viel in Belarus unterwegs. Als die Fotografie zu meiner Hauptbeschäftigung wurde, zeichnete sich auch das Genre ab, das mir besonders lag: historische Landschaften. Aus irgendeinem Grund befanden sich die meisten noch erhaltenen Architekturdenkmäler im Westen des Landes. Die Serie (etwa 500 Fotografien) ist das Ergebnis zahlreicher Reisen in diese Regionen und ich beschloss, sie in einem Kunstband zu vereinen. Nach Sichtung und Analyse des aufgenommenen Materials trat jener spezifische Ton hervor, der dem Projekt seinen Namen gab.

    Aus welcher Zeit stammen die Ruinen, die Sie fotografieren, und warum sind sie in so schlechtem Zustand?

    Aus der Zeit zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, als das Großfürstentum Litauen und dann später die Rzeczpospolita  seine Bedeutung verlor und unsere Gebiete an das Russische Reich fielen. Am besten erhalten ist die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Klassizismus, der Jugendstil, die Neugotik … Aber was die Geschichte bis dahin verschont hatte, fiel entweder dem letzten Krieg oder dem Sowjetregime zum Opfer. Die meisten sakralen Bauten und Gutshöfe wurden in Kolchosen verwandelt und solange sie standen, auch genutzt. Doch mit der Zeit wurde alles baufällig, die Gebäude hätten restauriert werden müssen, aber sie wurden, als sie ausgedient hatten, einfach verschlossen und ihrem Schicksal überlassen. In den 1990er Jahren gingen einige Gebäude an die Kirchengemeinden zurück, aber die alten Höfe blieben verwaist.

    Welche Fotografie aus dieser Serie gefällt Ihnen selbst am Besten und warum?

    Da gibt es selbstverständlich nicht die Eine. Aber es gibt eine Fotografie, die ich als Titelbild des Bandes Landschaft der Trauer verwenden wollte. Sie zeigt eine alte Lärche auf dem Friedhof von Ljachawitschy im Bezirk Brest. Ich finde, dass diese Fotografie aus dem Jahr 2013 sehr gut den Reichtum der Vergangenheit und die traurige Gegenwart des historischen Andenkens in Belarus widerspiegelt.

    Gibt es irgendwelche lokalen Initiativen, Projekte oder Hilfen, um Gebäude zu retten, die sich in einem besonders schlechten Zustand befinden?

    Die gibt es. Es gibt Versuche, leerstehende baufällige Gebäude bei Auktionen zu verkaufen. Manchmal, eher selten finden sich tatsächlich Käufer. Aber ich erinnere mich an keinen Fall, in dem das gekaufte historische Gebäude fachmännisch restauriert und entsprechend wieder genutzt wurde. Die für Belarus einzigartigen Schlösser in Shamyslaul und Shaludok haben schon mehrfach den Besitzer gewechselt. Ich war im September dieses Jahres dort und konnte nicht sehen, dass sich an ihrem traurigen Schicksal etwas geändert hätte. In der Regel treten die neuen Besitzer nach drei bis vier Jahren von ihrem Kauf zurück. Sie sind sich dann stärker bewusst, in was für einer Lage sich diese Schlösser befinden: Weit weg von den Hauptverkehrsstraßen – da gibt es keine Infrastruktur. Keine Hotels, keine Cafés, kein Freizeitangebot. Keine brauchbaren Straßen. Sie sehen sich mit zahlreichen Bau- und Sanierungsproblemen konfrontiert und begreifen, dass sie das investierte Geld nie wieder reinholen werden.

    Wie arbeiten Sie normalerweise, wie kann man sich das vorstellen: Suchen und finden Sie Ihre Motive mehr oder weniger zufällig, wenn Sie unterwegs sind? Oder wissen Sie im Voraus, wohin Sie fahren wollen und welches Motiv Sie genau interessiert?

    Da gibt es kein System. Selbst wenn ich an einen mir unbekannten Ort fahre, komme ich unterwegs unweigerlich an Orten vorbei, an denen ich schon mehrmals war. Belarus ist nicht groß. Das macht es leichter, Veränderungen wahrzunehmen und zu dokumentieren, sowohl die positiven als auch die negativen, wenn zum Beispiel etwas instandgesetzt wurde oder ein Haus, das eben noch da war, inzwischen eingestürzt ist. Aber besonders interessant ist, dass ich an mir bekannten Orten jedes Mal Motive entdecke, die ich zuvor noch nicht gesehen habe.

    Wehrschloss von Mir, zunächst in gotischem Stil erbaut, später erweitert und umgebaut, Renaissance- und Barockeinflüsse. Genießt heute Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
    Ruinen der Burg von Nawahrudak, wo der litauische Großfürst Mindaugas seinen Sitz hatte, erbaut im 13. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
    Ursprünglich rein gotische, später umgebaute Christi-Verklärungskirche in Nawahrudak aus dem 14. Jahrhundert. Grundstein von Großfürst Witold gelegt, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
    Klassizistische Kirche aus dem 19. Jahrhundert im Dorf Wischnewo im Norden von Belarus, fotografiert im Jahr 2015 / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche und Kirchturm aus dem 19. Jahrhundert, in einem Dorf nordwestlich von Minsk, fotografiert im Jahr 2013  / Foto © Valery Vedrenko
    Katholischer Golgatha-Friedhof in Minsk, auf dem auch belarussisch-polnisch-litauische Adelsgeschlechter bestattet sind. Im Hintergrund: Kirche der Kreuzerhöhung, im 19. Jahrhundert als Steinkirche (wieder-)errichtet, fotografiert im Jahr 2016  / Foto © Valery Vedrenko
    Kapelle auf einem Friedhof, erbaut im 19. Jahrhundert, Stadt Waloshyn, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche auf einem Friedhof im Städtchen Iwjanez. Ein Wagen zum Transport der Särge steht vor dem Eingang, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
    Kapelle im Wald nahe dem Dorf Hruschauka, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Sie gilt als Grab-Gewölbe der polnischen Adelsfamilie Reitan, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
    Alte Dorfstraße, Warontscha, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
    Njaswish, frühere Residenz des polnisch-litauischen Adelsgeschlechts Radziwiłł aus dem 15./16. Jahrhundert. Seit 2005 mit Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
    Grabstein auf einem Friedhof im Dorf Lasduny, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
    Siedlung Sembin: Ruinen einer Kirche, die im 19. Jahrhundert erbaut wurde, allerdings einen Vorgänger an selber Stelle aus dem 18. Jahrhundert hatte, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
    Eine verfallene Kapelle im Schatten einer alten Lärche auf einem Friedhof in Ljachawitschy, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
    Katholische Kirche in Rubjashewіtschy, eine ländliche Siedlung südwestlich von Minsk. Erbaut im neogotischen Stil Anfang des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche, neogotischer Stil, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2013 / Foto © Valery Vedrenko
    Schloss in Shaludok, das der polnische Architekt Władysław Marconi für die fürstliche Familie Czetwertyński entworfen hatte, erbaut 1908, Neobarock, fotografiert im Jahr 2017  / Foto © Valery Vedrenko
    Kreuzung im Dorf Galschany im Nordwesten von Belarus nahe der litauischen Grenze, fotografiert im Jahr 2014 / Foto © Valery Vedrenko

    Fotograf: Valery Vedrenko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Henriette Reisner
    Veröffentlicht am: 30.09.2021

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     „Mir fällt es schwer, über die Gegenwart zu sprechen, wenn ich die Vergangenheit nicht verstehe.“ In diesem Satz liegt wohl die Quintessenz dessen, was Lesia Pcholka antreibt und was ihre Arbeit ausmacht. Die Belarussin beschäftigt sich als Fotografin, Künstlerin oder Projektmanagerin in unterschiedlichen Formen mit der Aufarbeitung der Geschichte ihres Landes, seiner Kultur und seinen Traditionen. Gerade hat sie mit ihrer Initiative VEHA nach drei Jahren Arbeit zwei Projekte zum Abschluss gebracht: Die beiden Bücher Dsjawotschy wetschar (dt. Jungfernabend) und Aposchni fatasdymak (dt. Das letzte Foto) umfassen 100 Fotografien aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Belarus zum Russischen Zarenreich gehörte, bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der Sowjetunion. Die beeindruckenden Fotos von Hochzeiten und Beerdigungen stammen aus unzähligen Familienarchiven, die Lesia Pcholka in den vergangenen Jahren zusammentragen konnte. Die Bilder zeigen die Veränderung von Traditionen und Ritualen vor dem Hintergrund von gesellschaftspolitischen und kulturhistorischen Wandlungsprozessen in Belarus.

    1915–1925, Sluzk, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Sjarebrnikau. Alle Fotos © VEHA.by
    1915–1925, Sluzk, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Sjarebrnikau. Alle Fotos © VEHA.by

    dekoder: Mit was beschäftigt sich VEHA? Und wie ist das Projekt entstanden?

    Lesia Pcholka: VEHA lässt sich am ehesten als eine unabhängige Initiative beschreiben, die sich mit Archivfotografie und der Alltagsgeschichte der Belarussen beschäftigt. Ich habe sie 2017 gegründet, und zwar als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte. Die wird vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Kriegs konstruiert und über die Angst, dieser könnte sich jederzeit wiederholen. Das öffentliche Narrativ beginnt natürlich mit dem einigermaßen bequemen Jahr 1941 und endet mit den Erben des Sieges (so heißt ein Saal im neuen Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk, in dem Porträts des Präsidenten und seiner Familie ausgestellt sind). Die Erinnerungsmuster, die man uns bietet und die uns zugänglich sind, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Große Vaterländische Krieg aus Sicht der heutigen Regierung, das Großfürstentum Litauen als einer der Vorgängerstaaten von Belarus, aus Sicht der damaligen Opposition. VEHA aber geht es um die Bewahrung der unsichtbaren Geschichte, um das Verstehen der kulturellen Codes auf alten Fotografien und um die Beteiligung jedes einzelnen am Erhalt des kulturellen Erbes. Das erscheint dem gegenwärtigen Regime so langweilig, dass es nicht einmal unter die Zensur fällt. 

    Woher kam die Idee für die Projekte zu den Hochzeits- und Beerdigungsfotos?

    2018 haben wir das erste Buch Nailepschy bok (dt. Die beste Seite) herausgegeben, in dem wir Portraits von Belarussen vor gewebten Teppichen gesammelt haben. Es sind Aufnahmen von armen Leuten auf dem Land in der Zwischenkriegszeit. Sie konnten sich keinen Besuch im Fotostudio leisten, deswegen wird das auf den Fotos imitiert. Das erkennt man nur, wenn man den Kontext kennt, in dem diese Bilder entstanden sind. Auf den Fotos sehen wir schön gekleidete Menschen, die sich von ihrer „besten Seite“ zeigen, um für ihre Nachfahren ein positives Bild von ihrem Leben zu hinterlassen. Nach dem Erscheinen des ersten Buchs beschlossen wir, eine Retrospektive des gesamten 20. Jahrhunderts zusammenzustellen, und mit etwas Glück auch des auslaufenden 19. Jahrhunderts, um zu sehen, wie sich Generation um Generation verändert, um eine visuelle Chronologie zu kreieren. 

    Das beliebteste Thema, das dokumentiert wird, war und ist die Hochzeit. Wir fingen also an, Hochzeitsfotos zu sammeln, um ein Narrativ anhand der Kommunikation von Frauen während der Erstellung eines wjasselnaga wjanka (eines Kranzes aus Kunstblumen für die Braut) herauszuarbeiten. Viele Hochzeitsbräuche, die heute tradiert werden, wurden künstlich geschaffen, ihnen liegt die Idee der Manipulation zugrunde, etwas zu lenken, durch sie werden Politik oder kapitalistische Prinzipien des Konsums umgesetzt. Nicht viele Menschen kennen die Herkunft, Bedeutung und Authentizität der Bräuche. Die Fotografien zeigen die Entstehungszeit von Bräuchen und ihr Verschwinden.  

    Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land, das viele Kriege und Katastrophen erlebt hat. Welchen Einfluss hat dies auf Familienarchive und die Fotografie an sich?

    Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Fotografie ein Privileg der Städter. Um sich fotografieren zu lassen, musste man ein Studio aufsuchen, diese befanden sich meist in der Nähe der Eisenbahn und wurden überwiegend von jüdischen Familien betrieben. Dorfbewohner konnten sich teure Fotografien oft nicht leisten, außerdem hätten sie dafür in die Stadt fahren müssen. Die meisten Familienarchive wurden seit Anfang der 1950er Jahre gesammelt – nachdem die Fotografie nicht mehr an Studios gebunden war und sich schnell ausbreitete. Nicht zu vergessen sind auch die zwei Weltkriege und die Repressionen, als in Familien viele Fotografien einfach vernichtet wurden, um bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen zu verbergen. Derzeit erleben wir einen weiteren Verlust einer ganzen Schicht unserer visuellen Geschichte, weil die Menschen den Wert von Familienfotografie nicht sehen und sie dementsprechend auch nicht in der nötigen Form aufbewahren. 

    Kümmern sich in Belarus nicht die staatlichen Museen um den Erhalt solcher Fotos?

    Doch, aber sie betreiben das völlig losgelöst von den Menschen. Auf den Webseiten der Museen finden sich kaum Fotoarchive, und es ist nahezu unmöglich, an die Bestände zu kommen. Im vergangenen Jahr habe ich selbst versucht, mir die Frage zu beantworten, was denn mit unseren Museen nicht stimmt, und kam zu folgendem Ergebnis: Für 2017 bis 2020 gab es einen Plan, der eine Modernisierung der Museen und eine Digitalisierung der Exponate vorsah, es sollten Kataloge erstellt, neue Technologien bei der Ausstellungs- und Bildungsarbeit eingeführt werden (so stand es im Gesetz zu den Museen und Museumsbeständen der Republik Belarus). Das wurde auch umgesetzt – alle belarussischen Museen haben jetzt eine Webseite. Ich habe es selbst überprüft. Das Problem ist nur, dass es meistens Standardwebseiten sind, die nur ein Minimum an Information enthalten; Kataloge der Bestände finden sich dort gar nicht. Ich habe mit einigen Museumsmitarbeitern gesprochen und sie gefragt, warum die staatlichen Museen so einen schlechten Internetauftritt haben. Die häufigste Antwort war: Fehlende Mittel und die Machtvertikale im Entscheidungsprozess (der sogenannte Plan „von oben“, der einen strengen Rahmen vorgibt). Die zweithäufigste: Die Museumsmitarbeiter wollen die Exponate aus ihren Beständen nicht online präsentieren, weil sie befürchten, dass die Besucher dann nicht mehr ins Museum kommen. Ließe sich das erste mit finanziellen Mitteln lösen, so ist das zweite eine Frage des Umdenkens darüber, was ein Museum eigentlich ist – dafür braucht es Weiterbildung und Zeit. 

    Auf den Beerdigungsfotos sind Freunde und Verwandte um den Sarg der Verstorbenen gruppiert. Was ist das für eine Tradition, und wie ist sie entstanden?

    Das ist eine sehr alte Tradition, solche Fotos finden sich in fast jedem Familienalbum. Besonders verbreitet waren sie in den 1970er Jahren, damals wurden halbautomatische Kameras jedem zugänglich. Im Gegensatz zu europäischen Traditionen wurden Tote nie wie Lebende fotografiert, also mit offenen oder aufgemalten Augen, in netten Posen. So etwas zu tun, galt als ein beleidigender Umgang mit dem Körper des Verstorbenen. Die kanonisierten Traditionen waren ein Porträt vom Verstorbenen im Sarg in Nahaufnahme und unbedingt ein Foto von einer Menge an Verwandten um den Sarg. Während die Trauernden in den 1930er Jahren in die Kamera gesehen und posiert hatten, sahen sie später, ebenfalls posierend, den Toten an, um ihm quasi die letzte Ehre zu erweisen. Im Moment der Aufnahme gehörte es sich nicht, Gefühle zu zeigen (die Angehörigen weinten und klagten nicht); Menschen verschiedenen Alters sahen dem Verstorbenen ruhig und ernst ins Gesicht. Heute berichten sie, dass diese Kollektivaufnahmen angefertigt wurden, „um sich zu erinnern, wer bei der Beerdigung war“, und dass sie daran teilgenommen haben, weil es wichtig sei „Traditionen zu achten“. 

    Werden solche Fotos auch heute noch gemacht?

    Heute wollen viele Menschen ihre Angehörigen nicht tot auf Fotos sehen, sie wollen sie „lebend in Erinnerung behalten“, deswegen werfen sie die Fotos von Beerdigungen weg. Die Erinnerung an den Tod wird aus dem Leben der Menschen verdrängt, was typisch ist für eine postchristliche, atheistische Gesellschaft, die den Tod fürchtet. Beerdigungsfotos werden aus Familienalben entfernt und nur die ältere Generation bewahrt sie aus Tradition auf. Wobei diese Träger der Tradition selbst nicht wirklich erklären können, wozu sie es machen.

    1900–1915, Minsk. Fotostudio von Hirscha Hatouskau. Aus dem Archiv von Ivan Maraŭjeŭ
    1900–1915, Minsk. Fotostudio von Hirscha Hatouskau. Aus dem Archiv von Ivan Maraŭjeŭ
    1920–1939, Brest. Aus dem Archiv von Aliaksandr Paščuk
    1920–1939, Brest. Aus dem Archiv von Aliaksandr Paščuk
    Links - 6. August 1933, Kamjanez, Oblast Brest. Aus dem Archiv von Andrej Astašenia. Rechts - 1936, Polesien. Traditionelles Hochzeitskleid. Foto von Zofja Chamiantoŭskaja. Aus dem Archiv der Stiftung für Archäologie der Fotografie
    Links – 6. August 1933, Kamjanez, Oblast Brest. Aus dem Archiv von Andrej Astašenia. Rechts – 1936, Polesien. Traditionelles Hochzeitskleid. Foto von Zofja Chamiantoŭskaja. Aus dem Archiv der Stiftung für Archäologie der Fotografie
    1930–1940, Oblast Vitebsk. Aus dem Archiv des historisch-kulturellen Museumskomplexes Polazk
    1930–1940, Oblast Vitebsk. Aus dem Archiv des historisch-kulturellen Museumskomplexes Polazk
    1950–1960, Brest. Aus dem Archiv von Alieh Pališčuk
    1950–1960, Brest. Aus dem Archiv von Alieh Pališčuk
    1950–1955 Staryna, Rajon Ljosna, Oblast Vitebsk. Aliena Bierzin and Viktar Varapajeŭ. Aus dem Archiv des Militärmuseums von Ljosna
    1950–1955 Staryna, Rajon Ljosna, Oblast Vitebsk. Aliena Bierzin and Viktar Varapajeŭ. Aus dem Archiv des Militärmuseums von Ljosna
    1950–1960, Hradzianka, Asipovichy Rajon, Mogiljow Oblast. Aus dem Archiv der Familie Byčkoŭ
    1950–1960, Hradzianka, Asipovichy Rajon, Mogiljow Oblast. Aus dem Archiv der Familie Byčkoŭ
    1955–1960 Dzivin, Rajon Kobryn, Oblast Brest. Familie Skraščuk. Aus dem Archiv von Iryna Dajnakova
    1955–1960 Dzivin, Rajon Kobryn, Oblast Brest. Familie Skraščuk. Aus dem Archiv von Iryna Dajnakova
    1957–1958 Smorgonski Rajon, Oblast Hrodna. Archiv von  Siarhiej Lieskieć
    1957–1958 Smorgonski Rajon, Oblast Hrodna. Archiv von Siarhiej Lieskieć
    Ca. 1956 Minsk. Viktar Paŭloŭski and Maryja Lučyna. Aus dem Archiv von Aliaksandr Lučyna
    Ca. 1956 Minsk. Viktar Paŭloŭski and Maryja Lučyna. Aus dem Archiv von Aliaksandr Lučyna
    10. Oktober 1962, Mir, Kareličy Rajon, Oblast Hrodna. Uladzimir and Tamara Rafiejenka. Aus dem Archiv von Voĺha Kalasoŭskaja
    10. Oktober 1962, Mir, Kareličy Rajon, Oblast Hrodna. Uladzimir and Tamara Rafiejenka. Aus dem Archiv von Voĺha Kalasoŭskaja
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1908, Vialikaja Bierastavica, Oblast Hrodna. Paviel Valyncevič am Grab seines Vaters. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1908, Vialikaja Bierastavica, Oblast Hrodna. Paviel Valyncevič am Grab seines Vaters. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1940–1950, Asipovičy Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Archiv von Hanna Čarapko
    1940–1950, Asipovičy Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Archiv von Hanna Čarapko
    1950–1952, Puhačy, Rajon Valožyn, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1950–1952, Puhačy, Rajon Valožyn, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Fotografie von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Fotografie von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1964, Lushki, Rajon Sharkawshchyna, Oblast Vitebsk. Beerdigung von Uladzislaŭ Akušk. Aus dem Archiv von Iryna Skakoŭskaja
    1964, Lushki, Rajon Sharkawshchyna, Oblast Vitebsk. Beerdigung von Uladzislaŭ Akušk. Aus dem Archiv von Iryna Skakoŭskaja
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Totengedenktag Raduniza. Foto von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Totengedenktag Raduniza. Foto von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1985, Ljubіschtscha, Magіljoўskі Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Aus dem Archiv von Andrej Karačun
    1985, Ljubіschtscha, Magіljoўskі Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Aus dem Archiv von Andrej Karačun
    1988, Brest. Foto von Vadzim Kačan. Aus dem Archiv von Vadzim Kačan
    1988, Brest. Foto von Vadzim Kačan. Aus dem Archiv von Vadzim Kačan
    Vorbereitung der VEHA-Ausstellung "Dziavočy viečar" („Jungefernabend”), FAF Galerie | Warschau
    Vorbereitung der VEHA-Ausstellung „Dziavočy viečar“ („Jungefernabend”), FAF Galerie | Warschau

    Fotos: Lesia Pcholka/VEHA
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Maria Rajer
    Veröffentlicht am 27.05.2021

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    Wie ist es, im System des autoritären Staatschefs Alexander Lukaschenko aufzuwachsen? Welche Ängste, Träume und Hoffnungen haben junge Menschen in Belarus? Die Fotografin Julia Autz (geb. 1988) ist während ihres Studiums für insgesamt sechs Monate in das Land gereist um Belarussinnen und Belarussen im Alter von 15 bis 29 Jahren zu begleiten. Sie stellte ihnen die Frage, was sie von der Zukunft erwarten. Ihre Bilder sind zwischen 2017 und 2019 entstanden, vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 und den darauf folgenden Protesten

    Die gebürtige Heidelbergerin beschäftigte sich in ihrer fotografischen Arbeit schon oft mit jungen Menschen. In der Fotoserie While I was waiting stehen junge Belarussinnen und Belarussen im Fokus, die nach Individualität streben: Aktivisten, Künstler, Musiker. Ihre Portraits zeigen sehr intime Momente, häufig aufgenommen in den Wohnungen der Protagonisten. Sie sind ein Rückzugsort, wo sich die jungen Belarussen selbst verwirklichen und dem öffentlichen Raum entfliehen können. 

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    links Dasha, 2018, Belarus │rechts Ulyana, 2018 im Zentrum von Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Dasha, 2018, Belarus │rechts Ulyana, 2018 im Zentrum von Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

    dekoder: While I was waiting – warum haben Sie diesen Titel für Ihr Fotoprojekt gewählt? 

    Julia Autz: So ein Titel ist ja immer schwierig zu finden. Ich habe bei dem Projekt diese Resignation, diesen Stillstand fotografiert, dieses Warten. Die jungen Menschen sitzen da, schauen aus dem Fenster, ziehen sich zurück in die eigenen vier Wände, konzentrieren sich auf das eigene Leben. Sie sind ja in Belarus häufig von dem abgekoppelt, was um sie herum passiert, eben weil der Staat und die Gesellschaft wenig Raum für Selbstentfaltung einräumen. Ich habe dann auch Interviews zu den aktuellen Protesten geführt, unter anderem mit einem Punk, der sagte: „I have been waiting all my life for these protests.“ Die Aussage fand ich passend, weil sie eine Anspielung auf die aktuelle Situation ist und gleichzeitig die Lebenssituation der Menschen vor den Protesten einordnet, eben das Warten und Hoffen auf einen möglichen Wandel.

    Viele Bilder wurden in den Wohnungen der Protagonisten gemacht. Da sind sehr private Momente dabei. War es einfach, so nah an die Jugendlichen heranzukommen? 

    Genau das war mir echt wichtig. Ich wollte diesen Kontrast zeigen, zwischen Innen und Außen. Im öffentlichen Raum müssen sich die Menschen anpassen und nur im Privaten können sie ihre Identität ausleben. Durch eine Bekannte kam ich in Kontakt zu vielen jungen Menschen in Minsk. Ich musste mich schon ein bisschen rantasten, aber irgendwann hat das ganz gut geklappt, weil ich die Leute immer besser kennengelernt habe. Wir haben auch zusammen gefeiert. Immer wenn ich zurück nach Belarus gegangen bin, habe ich sie wieder getroffen und neue Fotos gemacht. Diese Annäherung war also auch ein längerer Prozess.

    Sie haben für das Projekt Menschen mit einer starken Individualität gesucht, unter anderem politische Aktivisten. Was heißt es in einem Land wie Belarus „anders“ zu sein? 

    Es kommt halt sehr drauf an, wo man lebt. Ob in der Provinz oder in Minsk, wo es viele Leute gibt, die bunte Haare oder Tattoos haben. Aber klar, die Gesellschaft ist im Großen und Ganzen sehr konservativ. Es ist schon schwierig, als Andersdenkender oder Andersaussehender seinen Platz zu finden. Anfangs habe ich viele Leute aus der LGBT-Szene fotografiert, Musiker, Künstler, Aktivisten. Aber ich wollte den Kreis dann erweitern, weil ich begriff, dass besonders das Unpolitische in Belarus sehr interessant ist, eben weil der Staat der Gesellschaft das Politische ja in gewisser Weise austreibt. Wer sich politisch engagiert, der bekommt halt irgendwann Probleme.  

    Seit August 2020 hat die belarussische Gesellschaft ja eindrücklich demonstriert, dass sie sich einen Wandel wünscht. Was hatten die jungen Menschen, die Sie getroffen haben, für Hoffnungen in Bezug auf einen Wandel? 

    Viele, die ich fotografiert habe, hatten schon wirklich aufgegeben und keine Hoffnung mehr. Einige haben das Land im Zuge der Proteste bereits verlassen. Es gab auch solche, die optimistisch waren. Aber der Großteil der Leute war sehr resignativ. Klar – wenn sich seit 27 Jahren nichts verändert. 

    Wenn Jugendliche in Deutschland über die Zukunft sprechen, sind da oft ganz viele Pläne: Traumjob, Reisen und so weiter. Selbstverwirklichung ist dabei ein wichtiges Thema. Was bedeutet „Zukunft“ für Jugendliche in Belarus?

    Viele, die ich getroffen habe, haben sehr deutlich im „Hier und Jetzt“ gelebt. Zukunftspläne kann man ja nur machen, wenn man an eine Zukunft glaubt, die für einen lebenswert ist. Zudem ist es nicht so einfach, wenn man in Belarus studiert. An den Unis wird man ja nicht wirklich zu freiem Denken ermutigt. Deshalb wollten viele das Land verlassen, auch um woanders zu studieren und vielleicht irgendwann wieder nach Belarus zurückzukehren. 

    Die Fotos stammen aus der Zeit vor den Protesten. Wissen Sie, was die Proteste bei den jungen Menschen, die Sie fotografierten, verändert haben? 

    Zu den meisten Leuten habe ich noch Kontakt. Anfangs waren sie noch sehr hoffnungsvoll, euphorisch und sind auch auf die Straße gegangen – als es noch die Massendemonstrationen gab. Viele sind auch im Gefängnis gelandet. Dass auch die ältere Generation auf die Straße gegangen ist, das war für viele junge Leute sicher auch motivierend. Auch, dass nicht nur ein paar Künstler und Intellektuelle gegen Lukaschenko sind, sondern sehr viele verschiedene Berufs- und Altersgruppen. Die Solidarität unter all diesen Menschen ist enorm. Nach so vielen Monaten der Proteste und der Repressionen durch den Staat verlieren viele zusehends die Hoffnung. Aber vielleicht werden die Proteste bald wieder größer und vor allem: sichtbarer.

    Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz
    Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz

     

    Vika und Nastya, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Vika und Nastya, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz
    Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz
    Igor, 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Igor, 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
     links Maryna, 2017, Minsk, Belarus │rechts Kristina, 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Maryna, 2017, Minsk, Belarus │rechts Kristina, 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Winter 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Winter 2019, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Dasha, 2019, Minsk, Belarus │ rechts Liza, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Dasha, 2019, Minsk, Belarus │ rechts Liza, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Yan und Yaro bei sich zuhause in Moglew, 2017, Belarus │Ignat in ihrer Wohnung, 2018, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Yan und Yaro bei sich zuhause in Moglew, 2017, Belarus │Ignat in ihrer Wohnung, 2018, Belarus / Foto © Julia Autz
    Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz
    Minsk, 2019, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Marta, 2018, Minsk, Belarus │rechts Slava, Winter 2017 im Studentenwohnheim, Belarus / Foto © Julia Autz
    links Marta, 2018, Minsk, Belarus │rechts Slava, Winter 2017 im Studentenwohnheim, Belarus / Foto © Julia Autz
    Winter 2017, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Winter 2017, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Alina und Jenia auf ihrem Dach, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz
    Alina und Jenia auf ihrem Dach, 2018, Minsk, Belarus / Foto © Julia Autz

    Fotos: Julia Autz
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 21.04.2021

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    «Пока я ждал(a)». Белорусская серия фотографа Юлии Аутц

  • Alexander Gronsky: 2018

    Alexander Gronsky: 2018

    In seinen international ausgezeichneten Serien erkundet Fotograf Alexander Gronsky die Peripherie. Er zeigt die Städte abseits der Zentren und jenseits der Idylle, den Übergang zwischen Beton und Grün in einer Serie wie Pastoral. In der Serie 2018 geht er in die Vororte zweier Städte: Moskaus und Sankt Petersburgs. Und wirft in urbanen Triptycha sehr gegenwärtige Fragen auf.

    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“

    „Wenn früher jemand in eine fremde Stadt kam, fühlte er sich einsam und verloren: andere Häuser, andere Straßen, ein anderes Leben. Aber heute ist alles anders. Wer in eine ihm unbekannte Stadt kommt, fühlt sich dort wie zuhause. In welchen Unsinn sich doch unsere Vorfahren verstiegen. Sie mühten sich mit jedem architektonischen Projekt wieder [von Neuem] ab. Aber heute bauen sie in jeder Stadt ein typisches Kino Raketa, in dem man einen typischen Spielfilm sehen kann.“

    Beginn der sowjetischen Neujahrskomödie Ironie des Schicksals (Ironija sudby, 1975)

    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“

    Der sowjetische Kultfilm Ironie des Schicksals (Ironija sudby) von Eldar Rjasanow, der am Neujahrsabend spielt und an diesem Abend fest im Fernsehprogramm etabliert ist, zeigt schon im kurzen Zeichentrick-Vorspann die Eroberung des Sowjetimperiums durch die Chruschtschowki, die Plattenbauten. Die Auswechselbarkeit der Platte wurde bald zur Metapher der sowjetischen Gesellschaft. Der vielschichtige Neujahrsklassiker Ironie des Schicksals aber greift die Allgegenwart der Platte humoristisch auf und macht sie zur Grundlage einer schicksalhaften Verwechslung. ​

    In seiner Serie 2018 zeigt Alexander Gronsky in urbanen Triptycha und Diptycha Moskauer und Petersburger Vororte von Heute – ein Ironija sudby der Fotografie. Die Fotografien funktionieren als strenge Kompositionen des immer Gleichen genauso wie als spielerische Suchbilder (finde den Unterschied!). 

    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“

    Wie oft in seinen Arbeiten ist Gronsky in der Peripherie, an den Rändern unterwegs und lässt die Grenzen verschwimmen: Moskau oder Petersburg? Ernst oder Ironie? Monotonie oder Vielfalt, die im Detail liegt? Alltag oder Kunst? Wie viel Sowjetunion ist noch? Und was ist Schönheit?
    „Gute Fotografie“, sagte Gronsky mal in einem Interview, „ist jene, die Fragen aufwirft.“

    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“
    Foto © Alexander Gronsky, aus der Serie „2018“

    Fotos: Alexander Gronsky
    Bildredaktion: Andy Heller
    Text: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 30.12.2020

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  • „Ich erlaube mir, ich zu sein“

    „Ich erlaube mir, ich zu sein“

    „Die Geschichte meiner Held*innen ist nicht die Geschichte des Kampfes einer bestimmten Community, sondern der Kampf für ein grundlegendes Menschenrecht – das Recht zu sein.“

    Zum Tag der Menschenrechte bringt dekoder eine Fotostrecke über Transgendermenschen von Oleg Ponomarev. 
    Der 1988 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geborene Fotograf widmet sich in seinen Arbeiten vor allem sozialen und ethnologischen Themen. Auf dekoder erschienen von ihm bisher Sumbur – ein heilsames Durcheinander und Beim Volk der Mari.

    Gender-Dysphorie ist ein furchtbarer Zustand, der einen dummes Zeug machen lässt. Zum Beispiel im Internet nach Hormonen suchen und sie sich spritzen, bevor man mit Ärzten gesprochen hat. Ich bin einer von ihnen, aber es war der einzige Ausweg. – IGNAT / Fotos © Oleg Ponomarev

     

    Meine Eltern haben mir, bis ich zwölf war, keine Geschlechterrollen aufgedrängt, keine Kleidchen angezogen. Ich fühlte mich als geschlechtsloses Tröpfchen. Mit 15 bin ich von zu Hause weg. Mit 16 erfuhr ich dann, dass es Transgender gibt, und mir war sofort klar, was mit mir los ist. Ich begann, mir den Kopf zu rasieren, und sprach von mir in der männlichen Form. Das hat mich irrsinnig erleichtert. Ich kam in dieser Zeit aufs College, wo mich die Jungs völlig unerwartet akzeptierten. „Hier haben wir ja noch einen Kerl.“ – TIM

     

    Die soziale Geschlechterangleichung begann bei mir mit zehn. Als die Probleme mit meiner Mutter losgingen, dachte ich mir eigene Welten aus, Geschichten, in denen ich lebte.
    Meine Adoptivmutter hat mich später vor dem Kinderheim gerettet, wofür ich ihr sehr dankbar bin, doch mit der Familie hat es nicht geklappt. 
    Im Endeffekt bin ich von dort weg und habe mir Arbeit gesucht. Da musste ich mit dem Manager sprechen. Als wir sprachen, hörte ich, dass seine Stimme durch eine Hormontherapie beeinflusst ist. Wir haben dann viel miteinander unternommen und sind jetzt richtige Freunde. Er hat mir bei der ganzen Hormonsache geholfen. – JURA

     

    Die Beziehung zu meinen Eltern wurde nach der Geschlechtsangleichung noch besser, wir haben gelernt, miteinander zu reden, und verstanden uns dann auch besser. Das haben auch alle damit verbundenen Schwierigkeiten möglich gemacht. Ich denke, ich hatte großes Glück. Sowohl von meiner Seite als auch von Seiten meiner Eltern bestand ein riesiges Bedürfnis in Kontakt zu bleiben. – ALEXEJ

     

    Es war dann irgendwann klar, dass ich in Chabarowsk nichts mehr verloren hatte. Ich zog zu meinem Freund nach Petersburg. Ich bin ihm sehr dankbar, möchte mich bedanken, dass er immer für mich da war und mich unterstützt hat. Er ist Künstler. So begann meine Webcam-Laufbahn und Karriere als Porno-Bloggerin. – ALISA

     

    Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter und sie sagte, sie würde weiter Kontakt zu mir haben wollen, würde aber ihrem zukünftigen Mann oder sonstwem in ihrem privaten Umfeld nicht erklären wollen, warum sie einen Kerl mit Bart ihre Tochter nennt. Das ist zwar traurig, aber ich bin froh, dass sie nicht aufhört mich zu lieben. Ja, ich werde nicht bei ihr wohnen, aber sie hat nicht mit mir gebrochen. Ich kenne Leute, denen die Eltern gesagt haben: „Tschüss, ruf uns bitte nie mehr an.“ – MAXIM (Name geändert)

     

    Mit 19 stieß ich auf das Wort Transgender. Es war eine merkwürdige Situation, denn ich war in dieser Zeit verheiratet. Ich war bei Freunden auf einer Feier, und es stellte sich heraus, dass einer der Gäste ein Transmann war. Ich sah ihn – da zog sich etwas in mir zusammen. Er bemerkte meine Reaktion, wir kamen ins Gespräch, ich stellte Fragen, und er sagte, das sei Transgeschlechtlichkeit. Einige Monate später haben mein Mann und ich uns im Frieden getrennt. – NIKITA 

     

    Seit meiner Kindheit habe ich mich für alle möglichen Protagonisten von Computerspielen, Filmen und Animationsfilmen interessiert und bin in diese Rollen geschlüpft. Ich habe sie vollständig imitiert, alle Details bis hin zu Mimik und Gestik übernommen, aber es waren immer nur männliche Rollen. – OLEG

     

    Sobald ich mir erlaubte, mich so zu entwickeln, wie es mir angenehm war, begann ich mich wie auf einen Fingerschnips hin zu feminisieren. Ich erlaubte mir, ich zu sein, und dann kam der Moment, wo ich merkte, was ich tat, doch da hatte ich schon keine Angst mehr. Das ist nicht gut oder schlecht – es ist einfach so. Wenn das dann Feminisierung oder Geschlechtsangleichung heißt, okay. Ich wollte mir einfach nur gefallen und nicht das Bedürfnis haben, mein Spiegelbild anzuspucken. Und ich will leben, ohne zusammengeschlagen zu werden. Das war’s. – MARINA

     

    Mit 25 wurde mir klar: Transsexualität geht mich an. Ich weiß nicht, was meine Orientierung ist. Obwohl mir zu Beginn der Geschlechtsangleichung meine lesbische Identität sehr wichtig war, wichtiger als die Identität als Transfrau. Lesbische Transfrau, das kam sogar in Transkreisen nicht so richtig gut an. Warum eine Geschlechtsangleichung vornehmen, wenn dir Frauen gefallen? Was soll ich machen, soll ich mich zerreißen? Was bin ich nur für eine Tscheburaschka! Ich verstehe das bis heute nicht und stelle mich auf meinen Seminaren oft vor mit den Worten: „Guten Tag. Ich heiße Katja. Ich bin eine Tscheburaschka.“ – KATHARINA, Aktivistin bei T-Deistwije (dt. T-Action)

     

    Ich bin jetzt freier und fröhlicher. Und muss vor meinen Eltern nichts mehr geheimhalten oder Brustbinder verstecken. An die einzelnen Schritte der Geschlechtsangleichung denke ich voller Freude und kann es kaum erwarten. In sozialer Hinsicht habe ich keine Probleme: Alle, mit denen ich zu tun habe, nehmen mich so, wie ich bin, nur Körper und Stimme müssen noch in Ordnung kommen. Das Finale der Angleichung wird für mich das Ausbleiben von Fragen, die mir gestellt werden. – SASCHA

     

    Meine Gender-Dysphorie begann, als ich eine Brust bekam. Ich schaute in den Spiegel und mir war klar, dass da was nicht stimmt, wenn ich so aussehe. Wie wenn jemand geschwollene Beine kriegt und merkt, dass da was nicht stimmt und zum Arzt geht, damit der was dagegen tut. Durch die Angleichung kann ich ich sein. Es fällt mir jetzt leichter mit Menschen zu kommunizieren, ich werde nicht mehr als Frau angesprochen und bin dadurch glücklicher. Ich fühle mich jetzt sicherer. – DAMIAN

    Fotograf: Oleg Ponomarev
    Bildredaktion: Andy Heller
    Original: Takie Dela
    Veröffentlicht am 10.12.2020

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  • Krim. Sommer

    Krim. Sommer
    Gast im Hotel Nowy Swet. Wegen himmelschreiend schlechtem Service und hohen Preisen ist der Kurort bei jungen Menschen nicht beliebt. Die meisten Sommergäste sind Rentner, die sich zurücksehnen in die Zeiten der Sowjetunion / Foto © Stanislava Novgorodtseva
    Gast im Hotel Nowy Swet. Wegen himmelschreiend schlechtem Service und hohen Preisen ist der Kurort bei jungen Menschen nicht beliebt. Die meisten Sommergäste sind Rentner, die sich zurücksehnen in die Zeiten der Sowjetunion / Foto © Stanislava Novgorodtseva

    Fotografin Stanislava Novgorodtseva kennt die Krim aus ihrer sowjetischen Kindheit. Heute trifft sie auf der Halbinsel auf alte Mythen und neue politische Tatsachen.
    Zu ihrem Fotoessay, den Colta veröffentlicht hat, schreibt sie:

    „In der Kindheit war die Krim für mich ein heiliger, unpolitischer Ort, eine Insel mit ganz eigener Mythologie, mit Spuren antiker Zivilisationen. Hier habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen.
    Im Schmelztiegel der Völker hat die Halbinsel Krim eine eigene Identität entwickelt. Im Jahr 1783 wurde dieser Kreuzungspunkt unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Kulturen Teil des Russischen Reichs. Mit Entstehen der UdSSR entwickelte sich die Krim mit ihrer Zarenresidenz zu einem erschwinglichen Erholungsgebiet für den Sowjetmenschen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gehörte die Krim zur Ukraine, im März 2014 stand die Krim plötzlich im Zentrum politischer Auseinandersetzungen. Die neuen Realitäten führten auch bei mir zu Korrekturen im Verhältnis zu diesem Ort. In die Welt der Kindheit und der dortigen Mythologie mischte sich eine neue politische Ebene.“

    Badende am Stadtstrand in Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Open-air Festival im Tal von Tscherkes-Kermen. Vor ihrer Deportation 1944 lebten hier mehrere hundert Krimtataren / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Der Golizyn-Pfad führt am Wasser entlang durch das Naturschutzgebiet Nowy Swet/Nowyj Swit / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     

    Holocaust-Gedenktag in der Jüdischen Gemeinde. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Verlassenes Sanatorium am Ufer des Moinakskoje Osero, dem große Heilkraft zugeschrieben wird / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schlafbezirk von Armjansk / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Orthodoxe Gläubige an Ostern. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Von 2001 bis 2014 fand hier das internationale Open-Air-Festival KaZantip statt. Popowka / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Weinprobe während einer Exkursion durch die Sektkellerei in Nowy Swet/Nowyj Swit / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schönheitssalon mit Fischpeeling. Hursuf / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Bad in der Schwefelquelle. Dshankoiski Rajon, Nowaja Shisn/Nowaja Shittja / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Das alte Schwimmbecken des Internationalen Kinderferienlagers Artek. Seit dem Umbau ist das Gelände komplett verändert, nur wenige Elemente erinnern noch an die sowjetische Vergangenheit. Hursuf / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Schulabsolventinnen an ihrem letzten Schultag, dem „Tag des letzten Klingelns“. Armjansk / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Amateurteleskope auf dem Gelände der Astrophysikalischen Sternwarte der Krim. Dorf Nautschny / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Feriengäste am Strand. Badesaison in Sudak / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Kopie eines britischen Schiffes aus dem 17. Jahrhundert in der Bugas Bucht, Kap Meganom / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Nationales Weltraum-Kontroll- und Testzentrum. Von hier aus wurden zu Sowjetzeiten die ersten Flüge in den Weltraum überwacht. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Das Kap Meganom ist ein beliebtes Kletter- und Wandergebiet. Es gilt als Kraftort, der viele Pilger und spirituelle Menschen anzieht. Kap Meganom  / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Am Kap Fiolent. Der Ort ist beliebt bei wilden Campern und spirituell praktizierenden Touristen / Foto © Stanislava Novgorodtseva

     
    Vergnügungsparks, Bars und Unterhaltungsgeschäfte, die nur während der Saison geöffnet sind. Jewpatorija / Foto © Stanislava Novgorodtseva

    Fotografin: Stanislava Novgorodtseva
    Bildredaktion: Andy Heller
    Original: Colta.ru
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 06.08.2020

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  • Vergangenes, ganz nah

    Vergangenes, ganz nah

    Ein Mann schaut aus einem Zugfenster. Er blickt den Betrachter direkt an, ganz präsent, ernst sieht er aus. Erst auf den zweiten Blick merkt man: Er trägt eine Uniform, eine historische Uniform. Und der Zug … ist auch ein historischer. Und da wird klar: Das ist nicht irgendein Zeitgenosse, das ist Zar Nikolaus II.
     
    Olga Schirnina, eine studierte Germanistin, koloriert alte Schwarzweiß-Fotos. Nicht nur Abbildungen von bekannten Persönlichkeiten, auch Alltagsszenen, Bilder aus Akademien oder auch Kriegsfotos. In Farbe wirkt das Vergangene irritierend nah, das Historische plötzlich ganz aktuell. 

    Streng dokumentarisch ist das nicht. Aber: Wie viel Wahrheit und wie viel Realität transportiert Fotografie? Es sind eben viele Wahrheiten und viele Realitäten. Auch auf den kolorierten, bunten Bildern von Olga Schirnina.

    Russisches Bauernmädchen, 1925 / Alexander Belikow
    Eine Bäuerin und ein junges Mädchen stehen auf hölzernem Flusssteg. Die Bäuerin schultert ein Tragjoch mit zwei Eimern Wasser, Russland 1900er Jahre / Samuel Hopwood
    Prinz Jussupow, Graf Sumarokow-Elston posiert dem Künstler Walentin Serow für ein Porträt mit einem Araber, 1909
    Großherzoginnen Maria und Olga Romanowa, 1912
    Kavallerie, Kosaken, Russische Armee, 1912
    Bildungsinstitut für adlige Mädchen, Irkutsk, 1912
    Iwan Pawlow (1849–1936), russischer Physiologe. Pawlow (Mitte, mit Bart) mit Assistenten und Studenten an der Kaiserlichen Militärmedizinischen Akademie in Sankt Petersburg, vor einer Demonstration seines Experiments an einem Hund, 1912–14
    11. September 1913: Beim 3. Militärflugzeugwettbewerb fiel der Motor der fliegenden Meller-II aus etwa 50 Meter Höhe auf den unten geparkten Doppeldecker Russki Witjas (dt. Russischer Ritter). Es war das einzige Exemplar dieses historischen Flugzeugs. Flugzeugbauer Igor Sikorski hat es nach dem Unfall nie wieder aufgebaut (damals befand sich schon das Flugzeug Ilja Muromez im Bau). Bei der Meller-II wurde die Tragflächenkosntruktion nicht zerstört, dem Piloten gelang eine sichere Landung.
    Der Mann auf der linken Seite ist Adam Gaber-Wlynski – Pilot der Meller-II; in der Mitte Igor Sikorski – Konstrukteur des Russki Witjaz
    Professor Wladimir Makowski im Malerei-Atelier der russischen Akademie der Künste, Sankt Petersburg, 1913
    Flugzeugbeschuss während des Ersten Weltkriegs, 14. Juli 1916
    Zar Nikolaus II., 28./29. Juli 1916
    Ankunft des Zaren Nikolaus II. am Standort der 1. Armee, geführt von Oberbefehlshaber General Alexander Litwinow, 30. Januar 1916, Bezirk Dwinsk
    Wladimir Iljitsch Lenin während des Russischen Bürgerkriegs bei der Parade der Wsewobutsch-Truppen in Moskau am 25. Mai 1919
    Priester Solodkow, der Schiffsarzt und die Katze an Deck der Kagul in Bizerta (Tunesien), 1921
    Anatoli Lunatscharski mit seiner Frau
    Moskau, Sucharew Turm, 1931
    Die ersten Fahrgäste der Moskauer Metro, 1935
    Marine-Aufklärer der Nordflotte 1942 unter dem Kommando des Unterleutnants Petrow / Jewgeni Chaldei
    Leningrad im Zweiten Weltkrieg 1944, Zuschauer des Leningrader Gorki-Theaters
    Sewastopol im Zweiten Weltkrieg, Panzer der Roten Armee, 1944 / Jewgeni Chaldei
    9. Mai 1945 in Moskau: Der Tag des Sieges

    Bildredaktion: Andy Heller
    Kolorationen: Olga Schirnina
    Veröffentlicht am 05.05.2020

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    Oktoberrevolution 1917

    Juli: Gefundene Fotos

    Großer Vaterländischer Krieg

    Dezember: Prokudin-Gorski

    Die Brüder Henkin

  • „Geh hin, ich weiß nicht wohin“

    „Geh hin, ich weiß nicht wohin“

    „Staunend sieht er, über Nacht / auf dem weiten öden Strand / eine große Stadt erstand …“ Fotograf Andrey Ivanov entführt den Betrachter in die surreale Bildwelt russischer Märchen. Dabei entstehen seine Fotos mitten im Hier und Jetzt. Sein Fotobuch Geh hin, ich weiß nicht, wohin («Poidi tuda, ne snaju kuda») gewann den Hauptpreis beim Photobookfest 2018.

    Über das Fotoprojekt, das zwischen 2014 und 2018 entstand, schreibt der Fotograf:

    „Als ich Vater wurde, hatte ich die Idee ein Fotobuch für Kinder zu machen. Ich habe dann angefangen, Motive aus russischen Märchen zu fotografieren. Zunächst eine Serie von inszenierten Bildern, aber dann merkte ich, dass auch einige andere Sujets und Dokumentarfotos gut in diese Märchenreihe passen. Die bei der vorigen Arbeit Identitäts-Index (2012–2015) begonnene Suche nach nationaler Identität entfaltet sich in dem Spielraum zwischen Dokumentar- und inszenierter Fotografie. Das Märchen als authentischste Quelle russischer Archetypen. Nur ein Märchen war’s, nicht mehr – doch sei’s manchem eine Lehr.“ (Das Märchen vom goldenen Hahn von Alexander Puschkin)

    Plötzlich, flammend wie Gewitter, / springen dreiunddreißig Ritter / aus der Flut, in blankem Stahl, / junge Riesen allzumal, / hochgemut, von stolzer Schöne, / auserwählte Heldensöhne, / ein gewalt’ger Reckenchor.

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg /  Foto © Andrey Ivanov

    Nun machte sich Zarewitsch Iwan auf, den Pfeil zu suchen. Er wanderte und wanderte und gelangte schließlich an einen Sumpf. Dort sah er einen Frosch sitzen, der seinen Pfeil hielt. Zarewitsch Iwan sprach: „Fröschlein, Fröschlein, gib mir meinen Pfeil zurück.“ Der Frosch aber antwortete: „Nur wenn du mich heiratest!“ „Wo denkst du hin! Wie kann ich einen Frosch zur Frau nehmen?“ „Nimm mich, so will es dein Schicksal.“

     

    Foto © Andrey Ivanov

    Staunend sieht er, über Nacht / auf dem weiten öden Strand / eine große Stadt erstand, / um das weite Häusermeer / laufen weiße Mauern her, / goldne Kuppeln sieht er blitzen, / Klöster, Kirchen, Turmesspitzen.

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg / Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Geh hin – ich weiß nicht wohin – bring das, ich weiß nicht was.

     

    Alexander Afanassjew (2010): Russische Volksmärchen, Wien, S. 29-55 / Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Weht der Wind vom Meere her, / treibt ein Schifflein auf dem Meer, / das, die Segel ausgebreitet, / leicht und schnell die Flut durchgleitet. / Plötzlich ruft das Schiffsvolk laut: / „Welch ein Wunder! Kommt und schaut! / Auf dem alten Inselland / Eine neue Stadt erstand.“

     

    Märchen vom Zaren Saltan von Alexander Puschkin | Projekt Gutenberg / Fotos © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    „Wer bist du, wackerer Bursche?“, fragte sie.
    „Mach das Fenster auf, ich will es dir erzählen.“ (…)
    Nun saßen sie da und konnten sich aneinander nicht sattsehen. Dann fragte der Zarewitsch die Zarentochter, ob sie seine Frau werden wolle.
    „Ich wäre schon einverstanden”, antwortete sie, „doch ich fürchte, meine Eltern werden es nicht erlauben.“

     

    Der Holzadler
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Roman Eiwadis) / Foto © Andrey Ivanov

    Ein Mäuschen kam gelaufen und wedelte mit dem Schwanz. Das Ei fiel zu Boden und zerbrach.

     

    Das buntscheckige Hühnchen, Moskau, 1978 (aus dem Russischen übertragen von L. Majorowa) / Fotos © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov
    Foto © Andrey Ivanov

    Gerade als er heimkehren wollte, begegnete ihm ein fremdes altes Männchen, das trug ein rotes Blümchen in der Hand.
    „Alterchen, verkauf mir die Blume!“
    „Die Blume ist nicht käuflich, es ist eine Zauberblume und du mußt geloben, daß deine jüngste Tochter meinen Sohn, den hellen Falken Finist, heiratet; dann bekommst du sie umsonst.“

     

    Das Federchen vom hellen Falken Finist / Fotos © Andrey Ivanov

    Die Hexe führte Aljonuschka zum Fluß. Dort aber stürzte sie sich auf sie, band ihr einen Stein an den Hals und stieß sie ins Wasser. (…) Nur das Böckchen wusste alles. Es ließ den Kopf hängen, aß nicht und trank nicht. Morgens und abends lief es am Ufer entlang und rief: 
    „Aljonuschka, lieb Schwesterlein!
    Steig herauf, komm heraus ans Ufer geschwind …“

     
    Schwesterlein Aljonuschka und Brüderlein Iwanuschka
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Margarete Spady) / Foto © Andrey Ivanov

    Iwan-Zarewitsch dankte dem Alten und warf das Knäuel vor sich hin. Das Knäuel rollte dahin, Iwan-Zarewitsch ging hinter ihm drein… Im freien Feld draußen trifft er auf einen Bären … 

     

    Zarewna-Frosch
    Russische Volksmärchen, St. Petersburg, 2016 (aus dem Russischen übertragen von Margarete Spady) / Fotos © Andrey Ivanov

    Der Wolf ging zum Fluss, steckte den Schwanz ins Eisloch. Es war sehr kalt. Der Wolf saß und saß am Fluss, bis zum nächsten Morgen. Doch als er da aufstehen wollte, hatte der Frost seinen Schwanz bereits im Eis gefangen.

     


    Der Fuchs und der Wolf / Foto © Andrey Ivanov

     

    Fotos: Andrey Ivanov
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 23.12.2019

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  • Zweckentfremdet

    Zweckentfremdet

    Dokumentarfotografin Oksana Ozgur kommt aus Nadym in Russlands hohem Norden. Normalerweise verbindet man Nadym mit Erdgasförderung – Ozgur aber stellt in ihren Bildern, die sie dort fotografiert hat, Garagen ins Zentrum. Genauer gesagt: Garagen, die gar keine Garagen mehr sind. Sondern Wohnzimmer, Musikstudio oder Taubenhaus. 

    Das Projekt Inoje Nasnatschenije (dt. Zweckentfremdet) ist während ihres Studiums an der renommierten Petersburger Schule für zeitgenössische Fotografie Dokdokdok entstanden.

    Die Garage eines Designers, alles von Hand gemacht. Das Souterrain soll auch noch eine neue Funktion bekommen und umgestaltet werden / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage eines Designers, alles von Hand gemacht. Das Souterrain soll auch noch eine neue Funktion bekommen und umgestaltet werden / Foto © Oksana Ozgur

    Mitte der 1960er Jahre, Sowjetunion: Industrialisierung und Entwicklung der Autoindustrie verschaffen auch in Russland immer mehr Menschen Zugang zu dem liebsten Kind, dem Auto. Und das soll nicht frieren. Dafür entstehen nun Garagen – speziell im Norden überlebensnotwendig für die Instandhaltung der Gefährten, da niedrige Temperaturen und Permafrostböden eine Herausforderung sind.

    Gerade der Norden wird in den 1970er Jahren aktiv besiedelt. Das führt zu einem ungestümen Wachstum neuer Wohnorte – und nicht wegzudenken aus dem Städtebau ist ein Meer von Garagen.

    Und weil es keine Klubs oder Bars gibt, suchen sich junge Menschen eigene Wege zur Freizeitgestaltung, dazu braucht es einen Raum. Erst wurde dafür nur ein kleiner Teil der Garage abgetrennt. Bis irgendwann die ganze Garage Erholungszweck war und der Garagen-Umbau das Auto als Hobby ersetzte. Die umfunktionierte Garage ist eine Möglichkeit, dem einförmigen Alltag zu entkommen. Jedem Garagenbesitzer Raum für seine Phantasie.

    Viele sprechen von der Garage als ihrer Datscha. Anstelle des Gemüsegartens gibt es dort ein Betonquadrat für schöpferisches Tun. Aber ist die Garage wirklich zweckentfremdet – oder hat man in Russlands hohem Norden ihren wahren Zweck entdeckt? 

    Fotografin Oksana Ozgur hat die Garagen in ihrer Heimatstadt Nadym besucht und in ihrem Projekt Inoje Nasnatschenije (dt. Zweckentfremdet) dokumentiert.

     

    Die Garage ist zu einer Bar mit Heimkino umgebaut. Im Souterrain befindet sich ein weiterer Aufenthaltsraum. Das Auto parkt jetzt woanders / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage ist zu einer Bar mit Heimkino umgebaut. Im Souterrain befindet sich ein weiterer Aufenthaltsraum. Das Auto parkt jetzt woanders / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im Souterrain mit Ofen und Bar. Oben steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im Souterrain mit Ofen und Bar. Oben steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen-Panorama / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen-Panorama / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im ersten Stock, unten steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich im ersten Stock, unten steht das Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich in einer Standardgarage, 5 x 6 Meter / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich in einer Standardgarage, 5 x 6 Meter / Foto © Oksana Ozgur
    Garage in der Standardgröße 5 x 6 Meter, mit Aufenthaltsbereich / Foto © Oksana Ozgur
    Garage in der Standardgröße 5 x 6 Meter, mit Aufenthaltsbereich / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum im Souterrain / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum im Souterrain / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum in einer dreistöckigen Garage, 5 x 12 Meter. Außerdem gibt es eine Banja und zwei Etagen mit Autostellplätzen / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum in einer dreistöckigen Garage, 5 x 12 Meter. Außerdem gibt es eine Banja und zwei Etagen mit Autostellplätzen / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich mit Kamin / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich mit Kamin / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum mit Kamin und Banja im Souterrain. Oben ein Stellplatz für ein Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsraum mit Kamin und Banja im Souterrain. Oben ein Stellplatz für ein Auto / Foto © Oksana Ozgur
    Schlafzimmer in dreistöckiger Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Schlafzimmer in dreistöckiger Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Außenansicht einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    In dieser Garage trifft sich der Motorclub des Ortes. Hier werden die technischen Geräte aufbewahrt und die Klubmitglieder verbringen hier auch ihre Freizeit / Foto © Oksana Ozgur
    In dieser Garage trifft sich der Motorclub des Ortes. Hier werden die technischen Geräte aufbewahrt und die Klubmitglieder verbringen hier auch ihre Freizeit / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich für Treffen mit Freunden. Die Garage ist circa 50 Quadratmeter groß. Ein Teil des Raums ist abgetrennt und zu einem Zimmer umgebaut / Foto © Oksana Ozgur
    Aufenthaltsbereich für Treffen mit Freunden. Die Garage ist circa 50 Quadratmeter groß. Ein Teil des Raums ist abgetrennt und zu einem Zimmer umgebaut / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen, nicht neu / Foto © Oksana Ozgur
    Garagen, nicht neu / Foto © Oksana Ozgur
    Proberaum für Hobbymusiker im Obergeschoss einer Garage. Es gibt auch einen Aufenthaltsbereich mit Kamin und Bar. Der Bau einer Banja ist in Planung. Im Untergeschoss stehen die Autos / Foto © Oksana Ozgur
    Proberaum für Hobbymusiker im Obergeschoss einer Garage. Es gibt auch einen Aufenthaltsbereich mit Kamin und Bar. Der Bau einer Banja ist in Planung. Im Untergeschoss stehen die Autos / Foto © Oksana Ozgur
    Mini-Sporthalle in einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Mini-Sporthalle in einer zweistöckigen Garage / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zum Proberaum für die im Ort ansässige Rockgruppe / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zum Proberaum für die im Ort ansässige Rockgruppe / Foto © Oksana Ozgur
    Raum mit Billardtisch in einer dreistöckigen Garage. Neben dem Stellplatz fürs Auto gibt es noch eine Banja, eine Küche und ein Schlafzimmer. Ein Zugang zum Dach ist in Planung / Foto © Oksana Ozgur
    Raum mit Billardtisch in einer dreistöckigen Garage. Neben dem Stellplatz fürs Auto gibt es noch eine Banja, eine Küche und ein Schlafzimmer. Ein Zugang zum Dach ist in Planung / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage ist zu einem Tonstudio umgebaut. Oben ist der Stellplatz für das Auto, im Souterrain ist das Studio / Foto © Oksana Ozgur
    Die Garage ist zu einem Tonstudio umgebaut. Oben ist der Stellplatz für das Auto, im Souterrain ist das Studio / Foto © Oksana Ozgur
    Laden für Motorenöle in zwei umgebauten Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Laden für Motorenöle in zwei umgebauten Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zu einem Taubenschlag. Im Erdgeschoss befinden sich die Vogelkäfige für die Quarantäne, im selbst eingezogenen ersten Stockwerk sind die Räume für die Vögel. Es gibt einen Zugang zum Dach. / Foto © Oksana Ozgur
    Standardgarage, umgebaut zu einem Taubenschlag. Im Erdgeschoss befinden sich die Vogelkäfige für die Quarantäne, im selbst eingezogenen ersten Stockwerk sind die Räume für die Vögel. Es gibt einen Zugang zum Dach. / Foto © Oksana Ozgur
    Die Druckerei der städtischen Zeitung befindet sich in zwei nebeneinanderliegenden eingeschossigen Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Die Druckerei der städtischen Zeitung befindet sich in zwei nebeneinanderliegenden eingeschossigen Garagen / Foto © Oksana Ozgur
    Arbeitsplatz des Vorsitzenden der Garagen-Kooperative im ersten Stock einer zweistöckigen Garage – die Gesamtfläche beträgt 180 Quadratmeter / Foto © Oksana Ozgur
    Arbeitsplatz des Vorsitzenden der Garagen-Kooperative im ersten Stock einer zweistöckigen Garage – die Gesamtfläche beträgt 180 Quadratmeter / Foto © Oksana Ozgur
    Garage als Raum für Kreativität / Foto © Oksana Ozgur
    Garage als Raum für Kreativität / Foto © Oksana Ozgur
    Typische Garagenanlage im Norden Russlands / Foto © Oksana Ozgur
    Typische Garagenanlage im Norden Russlands / Foto © Oksana Ozgur

    Fotos und Text: Oksana Ozgur
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 31.10.2019

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  • Einfache Momente – Alltag der Perestroika

    Einfache Momente – Alltag der Perestroika

    Gennady Bodrov wurde 1957 nahe Kursk geboren. Und in Kursk hat er auch fotografiert, bis ans Ende seines Lebens 1999. In der Anthologie der russischen Fotografie im 20. Jahrhundert, an der das Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere in Moskau arbeitet, ist Bodrov der Künstler, der die 1980er und 1990er Jahre repräsentiert.
    Dabei wird er erst posthum allmählich entdeckt. Er arbeitete als Pressefotograf, seine Kunst brachte ihm dennoch zu Lebzeiten zahlreiche Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben und vier Einzelausstellungen auch im Ausland ein. Es war vor allem der befreundete Moskauer Fotograf und Kurator Alexander Lapin, der Bodrov mit der inoffiziellen Szene der russischen Fotografie vernetzte. 

    Linkes Foto – Freundinnen (Arbeiterinnen), 1983 | Rechtes Foto – ohne Titel, 1980er Jahre / Fotos © Gennady Bodrov
    Linkes Foto – Uhr, 1989 | Rechtes Foto – ohne Titel, 1993 / Fotos © Gennady Bodrov
    Linkes Foto – Ferien, 1980er Jahre | Rechtes Foto – Alte Treppe, 1978 / Fotos © Gennady Bodrov
    Fleisch, 1991 / Foto © Gennady Bodrov

    Einfache Motive, der Titel der aktuellen Ausstellung im Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere in Moskau, könnte über fast jeder der Alltagsszenen stehen, die Bodrov fotografierte. In schwarz-weiß wirken sie wie aus der Zeit gefallen. Das Jahr und der Ort (meist war es Kursk) der Szenerie sind schwer auszumachen, ja, unwichtig. Bodrov fängt Stimmungen und Atmosphäre ein. In der Tradition von Henri Cartier-Bresson sucht er nach dem decisive moment, dem entscheidenden Augenblick. Und so wird er doch zum fotografischen Chronisten der 1980er und 1990er Jahre, er, der sich immer als „sozialer Fotograf“ verstand. 

    Serien wie 1000-letije kreschtschenije Rusi (dt. Tausendjährige Taufe der Rus) zeigen, wie religiöse Traditionen während der Perestroika in den 1980er Jahren allmählich wiederbelebt werden, ein Karkassen-Haufen erzählt vom aufreibenden Alltag in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und des gesellschaftlichen und ideologischen Umbruchs.

     


    Selbstgedreht, 1987 / Foto © Gennady Bodrov
    Aus der Serie „Schlangestehen für importierte Stiefel“, 1990/1991 / Foto © Gennady Bodrov
    Linkes Foto – Baum, 1996, aus der Sammlung des Staatlichen Museums für Bildende Kunst (Moskau) | Rechtes Foto – ohne Titel, 1980er Jahre / Fotos © Gennady Bodrov
    Ohne Titel, 1993 / Foto © Gennady Bodrov
    Aus der Serie „Tausendjährige Taufe der Rus“, 1988 / Foto © Gennady Bodrov

    Gennady Bodrov zeigt in seinen Fotografien, dass die Perestroika auch, aber nicht nur von Aufbruch und Chaos geprägt war. Und fiel den Auswüchsen der Zeit in den sogenannten Wilden 1990ern selbst zum Opfer: Vor 20 Jahren, am 14. Februar 1999, wurde er bei einem Raubüberfall erschossen. Die Moskauer Ausstellung im Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere, die seinem Werk gewidmet ist, läuft noch bis zum 22. September 2019.

     

    Aus der Serie „Tausendjährige Taufe der Rus“, 1988 / Foto © Gennady Bodrov
    Aus der Serie „Alte Russen“, 1980er Jahre / Foto © Gennady Bodrov
    Neugierig, aus der Serie „Tausendjährige Taufe der Rus“, 1988 / Foto © Gennady Bodrov
    Gennady Bodrov, 1957–1999 / Foto © unbekannter Autor

    Fotos: Gennady Bodrov, mit freundlicher Genehmigung des The Lumiere Brothers Center for Photography
    Bildredaktion: Andy Heller
    Text: dekoder-Redaktion
    veröffentlicht am 13.08.2019

    Dieses Visual wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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