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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #6

    Bilder vom Krieg #6

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lisa Bukreyeva

     

    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva
    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva

     

    Lisa Bukreyeva
    „Krieg ändert alles“

    [bilingbox]Krieg ändert alles. Er berührt alles, was du gewohnt bist und kennst. Die Stadt ändert sich, als würden ihr Zähne wachsen. Ich habe mein ganzes Leben in Kyjiw gelebt, doch hat es niemals so desolat und aggressiv gewirkt. Viele Kontrollposten, Gräben, Panzersperren und Sandsäcke. Überall. Ich spürte, dass Kyjiw bereit war zum Kampf.

    Krieg ist die schrecklichste Erscheinungsform des Menschseins. Kein Film, kein Buch, kein Foto kann den Schrecken dessen vermitteln, was da geschieht. Selbst ein Mensch, der es erlebt, ist sich nicht des gesamten Schmerzes bewusst, denn es ist unmöglich, damit zu leben. Doch ich denke, eine Künstlerin kann und sollte darüber sprechen, meine Arbeit ist dokumentarisch, aber auch emotional.
    Gleichzeitig denke ich, dass Fotografie Herzen berühren kann. Haben Sie Fotos aus Butscha oder Mariupol oder Asowstal gesehen? Jedes Mal, wenn ich die Namen dieser Städte ausspreche, habe ich diese Bilder vor Augen. Brauchen wir ein solches Foto? Ganz, ganz sicher. Das Mindeste, was es schafft: Es fängt ein, wie fragil die Menschlichkeit ist.

    In jedem Fall ist Fotografie subjektiv. Wir können diesen Krieg auf einer politischen Ebene gewinnen, doch wir werden ihn nie in den Köpfen der Russen gewinnen. Sie werden weiter nach einem Genozid lechzen. Daher ist eine Brücke zwischen unseren Kulturen unmöglich. Und es gab nie eine. Die Ukrainer sind immer zu dieser Freundschaft gezwungen worden, unsere Identität und Kultur wurden dabei ausradiert.

    Seit Beginn von Russlands Großinvasion bin ich in Kyjiw. Und bin immer noch hier. Ich glaube, meine Erfahrung gleicht der anderer Ukrainer. Es ist ein grenzenloser Schmerz und Schrecken. Die Zeit steht still. Es ist immer noch der 24. Februar, der 25. Februar beginnt erst, wenn der letzte russische Soldat unser Land verlassen hat.

    Es ist auch nicht einfach zu fotografieren, denn hinter jedem Einschussloch in einer Mauer, einem Zaun oder einem Fenster verbirgt sich Tragik. Dann triffst du Menschen, die die Besatzung überlebt haben, du unterhältst dich mit ihnen, und in ihren Augen spiegelt sich der gesamte Horror dessen, was sie durchgemacht haben.~~~War changes everything. It touches absolutely everything you are used to. The city is changing, it’s like his teeth are growing. I’ve lived my whole life in Kyiv, but he’s never looked so desolate and aggressive. Many checkpoints, trenches, anti-tank hedgehogs and sandbags. They were literally everywhere. It felt like Kyiv was ready to fight.

    War is the most terrible manifestation of humanity. No film, book or photograph can convey the horror of what is happening. Even the person living in it is not fully aware of all this pain, because it is impossible to live with it. But I think an artist can and should talk about it, and my work is documentary, but it’s also emotional. 
    At the same time I believe that the photograph is capable of breaking hearts. Have you seen pictures from Bucha or Mariupol, Azovstal? Every time I say the names of these cities I have before my eyes these shots. Do we need such a photo? Absolutely sure. At the very least, it encapsulates how fragile humanity is. 

    In any case, photography is subjective. We can win this war at the political level, but we will never win it in the minds of the Russians. They will still be hungry for genocide. So no bridges between our cultures are possible. And they never existed. Ukrainians have always been forced into this friendship, while erasing our identity and culture. 

    Since the beginning of Russia’s full-scale invasion, I have been in Kiev. And I’m still here. I think my experience is similar to other Ukrainians. It’s endless pain and horror. Time has stopped for us, we still have the 24th of February, and the 25th will come when the last Russian soldier leaves our land.

    It’s not easy to take pictures either, because behind every bullet hole in the fence or window is tragedy. Then you meet the people who survived the occupation, you talk to them, and all the horror they’ve been through is reflected in their eyes.[/bilingbox]

    LISA BUKREYEVA

    geboren 1993, lebt und arbeitet seit 2019 als Fotografin in Kyjiw

    AUSZEICHNUNGEN

    2021 Italian Street Photography festival |finalist
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL | Gewinnerin der Kategorie Street Art Photo 
    2021 PEP New Talents | shortlist
    2022 Baku Street Photography festival 

    AUSSTELLUNGEN 

    2022 Nulid Gallery, Island
    2022 PEP, Kommunale Galerie, Berlin
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL
    2020 ICP Concerned, New York, USA
    2019 Kyiv Photo Fair, Ukraine

    VERÖFFENTLICHUNGEN u. a. in The New York Magazine, Der Spiegel, Die Zeit, Blind, Bird In Flight u.v.m.

    BÜCHER

    2021 ICP Concerned. Global Images for Global Crisis
    2021 Ukraine XYZ


    Foto: ​​Lisa Bukreyeva
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 27.07.2022

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  • Bilder vom Krieg #5

    Bilder vom Krieg #5

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Igor Chekachkov

    Marina, Kostja und Wlad kommen aus Kyjiw, zu dritt leben sie nun in einem Wohnheim in Lwiw, Juni 2022 / Foto © Igor Chekachkov
    Marina, Kostja und Wlad kommen aus Kyjiw, zu dritt leben sie nun in einem Wohnheim in Lwiw, Juni 2022 / Foto © Igor Chekachkov

    IGOR CHEKACHKOV
    „Was macht das Gefühl von Zuhause aus – und was passiert, wenn man dieses Gefühl verliert?“ 

    [bilingbox]Als russland [sic!] die Ukraine überfiel, war ich gezwungen, meine Heimatstadt Charkiw zu verlassen. Ich bin nach Lwiw gegangen und habe ziemlich bald damit begonnen, das Leben der vertriebenen Menschen zu dokumentieren. Das Thema interessiert mich, weil ich jetzt selbst ein Vertriebener bin. Und indem ich Menschen fotografiere, die ihr Zuhause verlassen haben, hinterfrage ich auch meine eigene Position und meine Gefühle.

    Dieses Foto habe ich in einem Wohnheim aufgenommen, in dem Vertriebene leben. Marina, Kostja und Wlad sind Freunde aus Kyjiw. Sie haben gemeinsam Film studiert und sind zu Beginn der Invasion nach Lwiw gezogen. Jetzt leben sie zusammen in einem kleinen Zimmer in einem Wohnheim.

    Vor etwa zehn Jahren habe ich in Charkiw an der Fotoserie Daily Lives gearbeitet, die zeigt, wie Menschen zusammenleben und sich gemeinsame Räume teilen. Diese Serie setze ich heute in einem ganz anderen Kontext fort – ich dokumentiere, wie Menschen, die gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen, in Notunterkünften zusammenleben. Als ich Charkiw gerade verlassen hatte, lebte ich in einem Haus in der Nähe von Lwiw mit etwa 20 anderen Vertriebenen zusammen. Dann zog ich an einen anderen Ort, und wir waren nur noch zu sechst. Diese Erfahrung machte mich neugierig darauf, wie andere Vertriebene zusammenleben.

    Ich versuche, die Grenzen der Dokumentarfotografie zu erweitern und neue Formen der Darstellung des Krieges zu finden. Dokumentar- und Pressefotografen leisten eine großartige Arbeit, aber es gibt viele von ihnen auf der ganzen Welt. Deshalb möchte ich experimentieren und mich auf persönlichere Themen konzentrieren. Ich habe das Gefühl, dass ich noch mehr Zeit brauche, um darüber nachzudenken, was gerade passiert, was ich damit machen kann und was dabei die Rolle des Fotografen ist. 

    Mit meiner Fotografie frage ich, was das Gefühl von Zuhause, von Heimat ausmacht und was passiert, wenn Menschen dieses Gefühl verlieren. Wie Werte sich wandeln, wenn wir mit etwas so Schrecklichem konfrontiert sind, wie sich unsere Persönlichkeit verändert. Das sind die Fragen, die ich mir selbst stelle, und auch den Menschen, die ich fotografiere.

    Kann Kunst eine Brücke bauen zwischen der Ukraine und russland? Ich hatte immer das Gefühl, dass Kunst der beste Weg ist, um Brücken zwischen Kulturen zu bauen, aber jetzt bin ich nicht mehr so optimistisch. russland hat so viele Dinge getan, um Hass in ukrainischen Herzen zu säen, und die Ukrainer werden für eine ganze Weile keine Brücken zu russland bauen wollen. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen, solange russland weiterhin die Ukraine angreift. Die Menschen, die uns angegriffen haben, sind von der Kunst nicht berührt; die, die es doch sind, würden nicht in ein anderes Land einfallen. Deswegen denke ich, dass wir Künstler nicht viel tun können. Die Kunstwerke werden nie von Kreml-Politikern oder russischen Soldaten gesehen werden. Aber ich hoffe, dass Kunst – und Fotografie im Besonderen – helfen kann, eine solche Katastrophe in Zukunft zu verhindern.~~~When russia invaded Ukraine, I was forced to leave my hometown Kharkiv to western Ukraine. I’ve settled down in Lviv and shortly I started documenting displaced people. I am interested in this subject because now I am a displaced person myself, and by photographing people who left their homes I am also questioning my position and my feelings.

    This photograph was taken in the dorm, which is inhabited by displaced people. Marina, Kostya and Vlad are friends from Kyiv. They were studying cinematography together and moved to Lviv at the beginning of the invasion. Now they live together in a small room in the dorm. 

    About 10 years ago I was working on a “Daily Lives” series in Kharkiv, depicting how people live together and share common spaces. Now I continue this series in a very different context — I document how people who were forced to leave their homes and live together in shelters. When I just left Kharkiv I was living in a house not far from Lviv with about 20 other displaced. Then I moved to another place and there were just six of us. This experience made me interested in how other displaced people live together.

    I am trying to push the boundaries of documentary photography and searching for new forms of depicting the war. Documentary and news photographers are doing a great job, but there are plenty of them from all over the world and that’s why I want to experiment and focus on more personal topics. I feel that I still need more time to reflect on what is going on, what I can do with it and what is the role of the photographer now. 

    With my photography I am questioning what is the feeling of home and what happens when people lose it. How values change when we face something so dreadful and how it changes our personality. These are the questions I ask myself, as well as the people I photograph. 

    Can art build bridges between Ukraine and russia? I always felt that art is the best way to build bridges between cultures, but now I am not so optimistic. russia did so many things to plant hate in Ukrainians hearts and Ukrainians will not want to build bridges with russia for quite a while. At least I can’t imagine this happening while russia continues to attack Ukraine. People, who attacked us, are not touched by art; the ones who are will not invade another country. This is why I don’t think we (artists) can do much. The work of art will never be seen by Kremlin politicians or russian soldiers. But I hope that art, and photography in particular, can help to prevent this kind of disaster in the future.[/bilingbox]

    IGOR CHEKACHKOV

    1989 in Charkiw/Ukraine geboren. Begann 2008 zunächst als Fotojournalist zu arbeiten und fand schließlich zur Arbeit als künstlerischer Fotograf. 

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Maison de la Photographie, Lille
    2021 – Interphoto Festival, Białystok
    2021 – Mystetskyi Arsenal, Kyjiw
    2019 – Dongsung Market Art Project in Daegu/Südkorea
    2019 – Einzelausstellung während des Hybrid-Kunstfestivals, Madrid
    2019 – CEPA Gallery, Buffalo, New York
    2018 – EEP Berlin
    2017 – Fotofestival Odessa/Batumi

    PUBLIKATIONEN
    u.a. in British Journal of Photography, Bird in Flight, P3 uvm.


    Foto: Igor Chekachkov
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: dekoder
    Veröffentlicht am 13.07.2022

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  • Alexander Gronsky: Moskau während des Krieges

    Alexander Gronsky: Moskau während des Krieges

    Alexander Gronsky ist einer der berühmtesten russischen Landschaftsfotografen. Er fotografiert seit vielen Jahren Straßen, Brachflächen, Höfe und Plattenbauten. Seine Fotos werden in Berlin, Paris, Riga und New York gezeigt. 
    Gronsky blieb nach dem 24. Februar in Russland und fotografierte: in Stadtstraßen und Randgebieten. Der Fotograf sagt gegenüber Meduza, dass er gar nicht anders kann, als an Bekanntem anzudocken und so einen Weg aus der Starre zu finden. Was hat sich in Russland über diese Monate verändert? „Im Grunde nichts. Und gleichzeitig alles“, sagt Gronsky. „Allein das Datum verändert das Verhältnis zu den Bildern, verleiht einem normalen Motiv enorm viel mehr an Kontext.“

    Die folgenden Fotografien sind in Moskau entstanden, und zwar während der ersten drei Monaten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Alexander Gronsky schreibt dazu:

    „Ich habe geträumt, dass ein Atomkrieg begonnen hat, in Moskau drei Explosionen. Es ist klar, das war’s. Das war’s einfach. Ich kriege im Traum keine Panik, ich denke einfach nur, okay, dann geh ich los und knipse, wie sich alles verändert hat.

    Für mich ist dieser Traum wortwörtlich zu nehmen. Seit Anfang des Krieges fotografiere ich Moskau und spende die Fotos für Hilfsprojekte in der Ukraine. Dahinter steht kein besonderes künstlerisches Konzept, es ist einfach ein fassungsloses Sich-im-Kreis-Drehen. 

    Nichts hat sich geändert, und alles hat sich geändert. 

    Ich fotografiere, verschicke das Foto, jemand hängt es sich an die Wand und schickt jemandem, der es braucht, 150 Euro. Ganz schlichte Handlungen, die mir sehr helfen.“

    „За мир“ ( „Sa mir“) – „Für den Frieden“
    „За мир“ ( „Sa mir“) – „Für den Frieden“
    „Frühling – der Tag des Sieges naht“
    „Frühling – der Tag des Sieges naht“

    Fotos: Alexander Gronsky
    Übersetzung: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am: 07.07.2022

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Krieg im Namen des Sieges von 1945

    Bilder vom Krieg #4

    März: Alexander Gronsky

  • Bilder vom Krieg #4

    Bilder vom Krieg #4

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber

    Links: eine leere russische Munitionskiste und zerstörtes Kriegsgerät in Butscha/Ukraine, Juni 2022
    Rechts: Oleksandra, 21, kurz vor der Ausgangssperre in Lwiw/Ukraine, Juni 2022
    © Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber

    Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber
    „Verschiedene Perspektiven erzählen“

    Am Abend, an dem wir Oleksandra in Lwiw treffen, ist die Stadt voller Menschen. Lautes Grölen schallt durch die Gassen. Das Grau ist dem Grün der Bäume gewichen. Und die Wintermäntel den kurzen Kleidern. Seit unserem letzten Aufenthalt in der Ukraine sind zwei Monate vergangen. Die sonnigen Tage lassen den Krieg abseits der Front jetzt noch surrealer erscheinen. In Lwiw haben die Cafés geöffnet und Alkohol darf wieder ausgeschenkt werden – zumindest bis 21 Uhr. Drei Gruppen von Männern in Camouflage und gelben Armbinden patrouillieren durch die Straßen. Sie gehören der Territorialverteidigung an, die überall im Land eingesetzt wird, auch um die eigenen Bürger*innen zu kontrollieren.
    Die Stimmung ist ausgelassen, aber die ersten Bars machen schon zu. Um 23 Uhr fängt die Ausgangssperre an. Oleksandra sitzt lässig auf dem linken Bein ihres Kumpels Wolodymyr. „Wir sind kein Paar“, sagt er „sie ist lesbisch. Wenn meine Freundin uns so sehen würde, wäre sie trotzdem ganz schön eifersüchtig.“ Die junge Frau schaut auf ihren Kumpel herunter und zieht eine Augenbraue hoch. „Danke fürs Outing,“ sagt sie, und fängt an zu erzählen:

    „Ich komme aus einer sehr konservativen Familie, mein Vater will nicht, dass meine Mutter arbeiten geht. Seit der Krieg angefangen hat, ist die Situation sehr angespannt. Mein Vater hat Angst, mobilisiert zu werden. Und wir alle haben Angst davor, wie viele Familien sind wir von seinem Einkommen abhängig. In der Ukraine sagt man: „Sprich nicht öffentlich über Probleme in der Familie.“ Und „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ Auch von meiner Mutter höre ich diese Sprüche.
    Leider ist die Ukraine ein sehr konservatives Land. Die meisten Menschen sind religiös und die Rechte von Frauen und LGBT Personen sind eingeschränkt. Ich höre so oft – in meinem Job, in der Uni, im privaten Umfeld: „Du bist nur ein Mädchen, du bist nicht stark genug.“ Aber was ich momentan erlebe ist das Gegenteil. Die Frauen sind viel stärker als die Männer. Viele Frauen, die ich kenne, sagen, dass sie kämpfen würden, wenn es sein müsste. Ich würde es auch tun. Auch wenn die Gefahr für uns Frauen von überall ausgehen kann. Eine Soldatin, die an der Front gekämpft hat, wurde von ihren Kameraden vergewaltigt. Als sie darüber mit dem Kommandeur der Truppe geredet hat, sagte er zu ihr, sie müsse gehen. Wenn sie so über die Soldaten rede, würde sie die ukrainische Armee beschämen. Der Vorfall dürfe in der Kriegssituation nicht öffentlich gemacht werden. Sie sprach trotzdem darüber. Und wurde nach Hause geschickt. Der Mann, der sie vergewaltigte, ist weiterhin in der Truppe.
    Der schlimmste Satz derzeit ist: „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“ Ich höre ihn ständig, wenn ich mich über die Situation von Frauen und LGBT Personen aufrege. Vor dem Krieg war es schon schlimm genug, aber jetzt ist es noch schlimmer, weil gar keine Kritik mehr erlaubt ist. Wenn ich mich darüber aufrege, wie Frauen beim Militär behandelt werden, beschimpfen mich alle – Männer und Frauen. Sie sagen zu mir: „Was willst du mit diesem Feminismus, jetzt ist nicht die Zeit dafür. Du fällst deinen Leuten in den Rücken, du musst die Armee unterstützen! Warum machst du die Soldaten schlecht? Warum konzentrierst du dich so sehr auf EINE vergewaltigte Frau?“ Ich sage ihnen, das ist nicht die einzige Frau, die vergewaltigt wurde. Es ist nur die erste, die sich bis jetzt getraut hat an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich kenne viele Frauen in der Armee. Alle haben Angst vergewaltigt zu werden.“

    Wir haben den ganzen März und drei Wochen im Juni gemeinsam in der Ukraine gearbeitet. Von Anfang an war es uns wichtig nicht nur Fotos zu zeigen, sondern auch den Geschichten der Menschen Raum zu geben, um die Situation in der Ukraine fernab des schnellen, tagesaktuellen Journalismus zu dokumentieren und dabei verschiedene Perspektiven zu erzählen. Auch, um die Vielschichtigkeit dieses Krieges aufzuzeigen, beschäftigen wir uns in unserer Arbeit vor allem mit Einzelschicksalen und persönlichen Geschichten. Dabei merken wir, dass viele Menschen über bestimmte Themen im Moment nicht sprechen wollen, weil sie Angst haben, dass ihre Kritik missverstanden werden könnte. Oleksandra ist eine der Wenigen, die sich traut, das offen anzusprechen.

    Jedem Portrait geht ein langes Gespräch voraus. Dabei wechseln wir uns ab, wer aufschreibt und wer fotografiert. Mit vielen Protagonist*innen sind wir in ständigem Kontakt und bei unserem zweiten Besuch im Juni haben wir einige wieder getroffen, Freundschaften sind entstanden. Wir erleben, wie sich die Stimmung der Menschen verändert, und ergänzen so unseren Blick von außen mit einem Blick von innen.

     

    HELENA LEA MANHARTSBERGER
    geboren 1987 in Innsbruck, lebt in Wien
    Studium Internationale Entwicklung an der Uni Wien, Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der HS Hannover und am DMJX in Aarhus, Fotografie am ISI Jogjakarta, Indonesien. Global Challenges and Sustainable Developments an der Angewandten in Wien und der Tongji University, Shanghai.
    Freie Foto- und Videojournalistin, Mitarbeiterin beim Verein ipsum und Teil des Selbstlaut Kollektivs.

    AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt Haus, Berlin
    2021 – sex work – lock down, Einzelausstellung, Reich für die Insel, Innsbruck
    2021 – VGH Fotopreis, Finalist, GAF Eisfabrik, Hannover
    2021 – Portraits Hellerau, Technische Sammlung Dresden
    2021 – Fotofestiwal Łódź, Polen
    2020 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover
    2020 – Athens Photo Festival, Benaki Museum, Griechenland
    2020 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist 
    2019 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist 
     
    2022 – RLB Kunstpreis
    2021 – Hellerau Portraits Award
    2021 – VGH Fotopreis (finalist)
    2020 – Digital Storytelling Award, LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus
    2020 – Bird in Flight Price (finalist)

    PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stern Crime, Financial Times, Dummy, BBC 
     

    LAILA SIEBER
    geboren 1989 in Freiburg, Deutschland
    Studium der Audiovisuellen Medien an der Hochschule der Medien Stuttgart und Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover, sowie an der KASK School of Arts in Gent, Belgien.
    Freie Foto- und Videojournalistin, Mitbegründerin des Fotomagazins BLUME und visuelle Künstlerin. 

    AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)
    2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt-Haus, Berlin
    2021 – Award of Excellence in CPOY 76 Spot News
    2019 – On poetry and what remains, Jaleh Galerie, Teheran, Iran (Einzelausstellung)
    2019 – Visa pour l’image, Perpignan, Frankreich
    2018 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover

    PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel, Al Jazeera, Süddeutsche Zeitung



    Fotos und Text: Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 28.06.2022
     

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    Bilder vom Krieg #3

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ​​Jędrzej Nowicki

    Glassplitter in Charkiw, 19. März 2022 / Foto © ​​Jędrzej Nowicki
    Glassplitter in Charkiw, 19. März 2022 / Foto © ​​Jędrzej Nowicki

    ​​Jędrzej Nowicki
    „Ein Funken Licht, selbst in dunkelsten Zeiten“

    [bilingbox]Das Foto mit Glassplittern vor einem stark zerstörten Wohnblock im Bezirk Saltiwka in Charkiw hat mir wieder einmal gezeigt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten einen Funken Licht gibt. Das Bild ist vom 19. März 2022. Charkiw befand sich damals mitten in einer brutalen Belagerung, und Saltiwka – einer der größten Schlafbezirke der Stadt – lag direkt an der Front. Tausende Bewohner von Charkiw lebten nur noch unter der Erde, die humanitäre Krise spitzte sich zu. Es war sehr bewegend und herzzerreißend, die zweitgrößte ukrainische Stadt zu dieser Zeit zu sehen. 

    Fast zwei Monate später fuhr ich wieder dorthin. Die russischen Truppen waren zurückgedrängt worden, Menschen kehrten zu den Ruinen ihrer Häuser zurück, das Leben normalisierte sich wieder. Es ist eine neue Normalität, doch war sie nicht von Dauer. Während ich diesen Text schreibe, steht Charkiw unter schwerem Beschuss – niemand weiß, was das bedeutet. Ist es einfach eine Mahnung der Russen, dass sie noch da sind, oder wollen sie vielleicht einen zweiten Totalangriff auf Charkiw starten? Also fahre ich wieder mit Helm und kugelsicherer Weste durch die Stadt. Erkundige mich ständig bei Einheimischen nach den sichersten Routen und Stadtteilen, wo es weniger gefährlich ist zu arbeiten.

    Kein einziges Leben wird zurückkommen, und es wird Jahrzehnte brauchen, bis dort wieder eine friedliche Region entstehen kann. Genau wie mein geliebtes Warschau Jahrzehnte brauchte, nachdem es vor 80 Jahren in Ruinen verwandelt wurde. Heute blüht der Flieder wieder und die Luft flirrt in den endlosen Sommernächten. Eine Stadt, die überlebt hat.

    Diese zutiefst menschliche Fähigkeit, immer Licht im Dunkel zu finden, treibt mich an als Fotograf und fasziniert mich als Mensch.~~~This photograph of shattered glass laying in front of a heavily damaged block in the Saltivka district of Kharkiv reminded me that even in the darkest times there always is a glimpse of light. The picture was taken on the 19th of March. Kharkiv was back then in the middle of a brutal siege and the Saltivka district – biggest dormitory suburb of the city – was its very frontline. Thousands of Kharkiv’s residents moved to live underground and humanitarian crisis was a pressing issue. To see Ukraine’s second-largest city at that time was a moving and rather heartbreaking experience. I decided to revisit Kharkiv after nearly 2 months. Russian troops had been pushed back, people started coming to their ruined houses, life was getting normal back again. New normality it is though and it is not given forever. As I’m writing this text now Kharkiv is being heavily shelled – no one knows what this might mean. Whether it’s just a reminder from Russians that they’re still there or maybe they will attempt to prepare a second full-scale attack on Kharkiv? So again I find myself driving around the city in a helmet and vest. Constantly checking with locals safest routes and neighbourhoods where it is relatively safe to work. 
    No lives will be returned and rebuilding a peaceful region will take decades.  

    As it took decades for my beloved city of Warsaw – turned into ruins some 80 years ago now blooming with lilac, with the air vibrating with the noise of endless summer nights. The city that survived. 
    This deeply humane ability to always find light in darkness is what drives me as a photographer and fascinates me as a human being.[/bilingbox]

     

    JĘDRZEJ NOWICKI

    geboren 1995, lebt in Warschau/Polen
    Er ist ein Dokumentarfotograf mit Fokus auf Osteuropa und bislang vor allem auf Belarus. Er hat auch im Nahen Osten und in Afrika gearbeitet.


    AUSSTELLUNGEN, STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2021 – World Report Award
    2021 – Luis Valtuena Award
    2019 – Ian Parry Scholarship


    PUBLIKATIONEN
    Le Monde, Die Zeit, Newsweek, The Guardian, The Wall Street Journal  uvm.


    Foto: ​​Jędrzej Nowicki
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 02.06.2022

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Robin Hinsch

    Einkaufszentrum Retroville, Kyjiw, 2022 © Robin Hinsch
    Einkaufszentrum Retroville, Kyjiw, 2022 © Robin Hinsch

    ROBIN HINSCH
    „Auf diesem Parkplatz könnten auch wir stehen“

    Ich bereise die Ukraine seit 2010. In meiner Serie Kowitsch untersuche ich, wie die Lebenswirklichkeit der Menschen ständigen Veränderungen ausgesetzt ist. Ich fand und finde die Ukraine allein deshalb interessant, weil sie peripher und zentral zugleich ist und schon immer war. Bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion gab ein Ringen um Einfluss auf das Land, ob nun aus Ost oder West. Dieser Zustand der Identitätsfindung oder des – im etwas überspitzen Sinne – nation building ist, was mich an der Ukraine interessiert. 

    Als ich Anfang März in Lwiw ankam, lag allgemeines Unbehagen in der Luft, unterstützt vom Dröhnen des Bombenalarms. Doch die Situation blieb noch diffus. Dies änderte sich schlagartig, als die ersten Raketen auch in Lwiw einschlugen. Immer drastischer wurde dieses Bild, je weiter ich in den Osten fuhr. Nach einiger Zeit im Südosten des Landes beschloss ich, nach Kyjiw zu fahren. In dieser Zeit schlug ein Iskander-Marschflugkörper in das Einkaufszentrum Retroville ein und hinterließ einen gigantischen Radius der Zerstörung. 

    Für mich steht dieses Bild stellvertretend für diesen entpersonalisierten Krieg, den Schrecken und das Leid, das Menschen sich gegenseitig zufügen können. Es ist ein Versuch im Betrachter, in der Betrachterin das Gefühl zu wecken, selbst auf diesem Parkplatz zu stehen.

     

    ROBIN HINSCH

    geboren 1987
    Er studierte Fotografie an der HfG Karlsruhe in der Klasse von Elger Esser, an der Hochschule Hannover bei Prof. Ralf Mayer und Prof. Rolf Nobel, an der HfBK Hamburg bei Silke Großmann und schloss sein Studium mit einem Master in Fotografie an der HAW Hamburg bei Prof. Vincent Kohlbecher ab. 

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Kowitsch, Galerie Melike Bilir, Hamburg, Eröffnung am 2. Juni 2022, 19 Uhr

    2022 – Gute Aussichten, Haus der Fotografie, Hamburg

    2021 – Fotofestiwal, Lodz

    2020 – Willy Brandt Haus, Berlin

    STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – PH Museum Photography Grant (Shortlist)
    2022 – Copenhagen Photo Award (Shortlist)
    2022 – Hellerau Portrait Award (Shortlist)
    2021 – Gute Aussichten Award
    2020 – Sony Grant

    PUBLIKATIONEN u.a. in Spiegel, CNN, Guardian, Rolling Stone, National Geographic, Süddeutsche Zeitung Magazin u.v.m.


    Foto: Robin Hinsch
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Veröffentlicht am 23.05.2022

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  • Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #1

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ELENA SUBACH

     

     

    Links: Eines der Zelte an der Grenze, in denen sich Flüchtlinge ausruhen, aufwärmen und medizinische Hilfe bekommen. Ushgorod, Ukraine, Februar 2022
    Rechts: Olena aus Charkiw in einem Schutzraum in Lwiw, ein kurzer Zwischenstopp auf ihrem Weg in die EU. Ukraine, April 2022
    Fotos © Elena Subach

    ELENA SUBACH
    „Wir spüren keine Zukunft mehr“

    [bilingbox]Ein Mensch aus Mariupol hat mir einmal gesagt: „Für die Evakuierung musste man eine andere Person werden – halb-leer und semi-neu. Anders hattest du keine Chance, aus der Stadt herauszukommen. Du wirst eine Person ohne Vergangenheit, denn sie wird dir weggenommen, ein Mensch, dessen Erinnerungen keine materielle Grundlage mehr haben. Du stehst ohne alles da, sogar ohne die Gräber deiner Eltern.“

    Die Fotos habe ich in Schutzräumen für Binnenflüchtlinge in Lwiw aufgenommen. Theater, Schulen, Bibliotheken, Kindergärten und Büros wurden in Schutzräume umgewandelt. Außerdem nehmen die Bewohner von Lwiw auch viele Menschen bei sich zu Hause auf. Lwiw in der Westukraine, die Stadt, in der ich lebe, ist heute ein wichtiger Fluchtort für mehr als 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des Krieges von zu Hause fliehen mussten. Einige von ihnen werden nach Hause zurückkehren können, einige nicht, weil es nichts gibt, wohin sie zurückkehren können. Die Städte, aus denen sie kommen, sind womöglich dem Erdboden gleichgemacht, wie zum Beispiel Mariupol.

    In einem Team von Gleichgesinnten arbeite ich an einem Projekt, bei dem wir die Geschichten von Menschen aufzeichnen, die wegen des Kriegs gezwungen waren, von zu Hause zu fliehen. Das Ziel unseres Projekts ist eine Dokumentation mit Fakten und den tragischen persönlichen Geschichten dieser Menschen. Nach Fertigstellung wollen wir der Welt dieses Projekt zeigen, obwohl das wahrscheinlich noch lange dauern wird.

    Mein Ansatz beim Fotografieren ist mittlerweile ein anderer als in den ersten beiden Kriegswochen, als ich die Serie Chairs at the Border aufgenommen habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ich dürfe den privaten Raum der Menschen nicht verletzten, denn es würde ihnen Zeit rauben, die sie brauchen, um sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Ich habe nicht gewagt, in ihre sowieso schon fragile und zerstörte Privatsphäre einzudringen, obwohl ich mir der historischen Bedeutung und Wichtigkeit des Moments bewusst war. Auch für mich selbst war alles seltsam, so dass ich mich auf die Suche nach Spuren der Anwesenheit von Menschen begab – das waren Dinge, die sie zurückgelassen hatten. Ich habe einige Stillleben fotografiert. Stühle mit Gegenständen, die dort noch lagen. Das waren für mich Inseln inmitten der Wellen von Menschen, auf denen man innehalten und kurz ausruhen konnte.

    Mittlerweile höre ich den Geschichten von Menschen zu und fotografiere sie dann. Manchmal unterhalten wir uns mehrere Stunden, denn jetzt haben sie Zeit und das Bedürfnis, uns von sich zu erzählen. Sehr oft setzen sich diese Bekanntschaften fort. Wir haben ihre Kontaktdaten und versuchen zu helfen, wo wir nur können.

    So entstand auch dieses Portrait von Olena, 44. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn Jaroslaw (1 Jahr und 7 Monate alt) und ihrer Schwiegermutter aus Charkiw geflohen. Ungefähr zehn Tage nach Kriegsbeginn war Olenas Mann aus dem Haus gegangen, um nach Wasser für die Familie zu suchen. Auf dem Rückweg geriet er in ein Feuergefecht, fiel in ein durch eine Explosion entstandenes Erdloch und brach sich ein Bein. Der Krankenwagen erreichte sie wegen der scharfen Kämpfe in dem Gebiet erst nach zwei Tagen. Nach einem Monat im Keller wurde das Kind allmählich krank und Olena beschloss, die Stadt zu verlassen. Sie stiegen in einen Zug, der Menschen evakuierte, und kamen nach Lwiw. Ihr Mann und ihre Mutter blieben in Charkiw.

    Im Krieg erinnern mich die Menschen mehr und mehr an Bäume. Sie sind stark und mächtig, die Tiefe ihrer Wurzeln ist um Vieles größer als die Höhe ihrer Stämme. Doch nun werden diese Bäume entwurzelt und weggeworfen. Nicht jeder kann sich tief genug eingraben, um wieder Wurzeln zu schlagen, nicht jeder wird im Frühling blühen und im Herbst gelbe Blätter kriegen. Wir, alle Ukrainer, spüren keine Zukunft mehr. Alles, was wir noch haben, sind Fragmente der Erinnerung an das, was vor Februar geschah. Aber viele von uns haben nichts mehr.~~~One guy from Mariupol once told me, “In order to be able to evacuate from there, you had to become a different person—half-empty and semi-new. Otherwise, you had no chance to leave the city. You become a person with no past as it has been taken away, a person whose memories have no material basis. There is nothing you are left with, not even the graves of your parents.“
    The photos you can see here were taken in Lviv shelters for internally displaced persons. Theaters, schools, libraries, kindergartens, and offices have been converted into shelters. Moreover, Lviv residents also take in many people at their own homes. Today, Lviv in Western Ukraine, the city, where I live, has become a great refuge for more than 200,000 Ukrainians who have been forced to flee their homes because of the war. Some of them will be able to get back home, and some will not because there will be nowhere to return to. The cities where they lived may be wiped off the face of the earth, as is the case with Mariupol. 
    With a team of like-minded people, I am working on a project which deals with recording the stories of people who were forced to flee their homes because of the war. The end goal of the project is the creation of a document of recorded facts and tragic personal stories of those people. We aim to show this document to the world when the project is ready, although I understand that this may not happen soon.

    Now my approach to taking photos is different from what it was during the creation of Chairs at the Border series in the first two weeks of the war. At that point in time, I felt that I could not violate people’s private space, because it would take their time, which they would rather like to use saying goodbye to their relatives. I did not dare to interfere in their already fragile and ruined private space, although I understood the historicity and importance of the moment. Also, for me personally, everything was strange, so I looked for traces of people’s presence—the things which remained after they left. I took a number of still life photos. I photographed chairs with the objects left on them, since they seemed to me like islands among waves of people, that is, places where one could stop and rest for a moment.

    Now I listen to people’s stories before taking their photos. Sometimes we talk for a few hours because now they have time for it and feel the need to tell us about themselves. Very often these acquaintances have a continuation. Having the contacts of the people, we try to help them as much as possible. 
    This is a portrait of Olena, 44. She fled Kharkiv with her young son Yaroslav, who is 1 year and 7 months old, and her mother-in-law. About 10 days after the start of the war, Olena’s husband left home to find and bring water to the family. On the way back, he came under gunfire, fell into a pit left after the explosion and broke his leg. The ambulance was able to reach them only in 2 days, because fierce battles were fought in their area. After a month of hiding in the basement, the child began to get sick and Olena decided to leave the city. They boarded an evacuation train and arrived in Lviv. Her husband and mother stayed in Kharkiv.

    In wartime, people remind me more and more of trees. They are strong and powerful, the depth of their roots is many times greater than the height of their trunks. However, now these trees are uprooted and thrown away. Not everyone can bury themselves enough to take root again, not everyone will bloom in spring and turn yellow in autumn. Now, all of us Ukrainians no longer feel the future. All we have left are the fragments of memories of everything that happened before February. But many of us have nothing left.[/bilingbox]

     

    ELENA SUBACH

    geboren 1980 in Tscherwonohrad, Ukraine
    Wirtschaftsstudium an der Staatlichen Universität Wolyn
    Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Nationalgalerie Lwiw, Kuratorin, visuelle Künstlerin

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Home again, Willy-Brandt-Haus, Berlin

    2022 — In Ukraine, Gallery at Dobbin Mews, New York

    2021 — Odesa Photo Days festival, Who is next to you?, Museum of Odesa Modern Art

    2019 — City of Gardens, EEP Berlin (Einzelausstellung)

    2019 — Woven Matter at Unseen, Amsterdam

    2019 — Fotofestival Lodz


    PUBLIKATIONEN u. a. in Weltkunst, SZ Magazin, Vogue Polska, Guardian (UK)


    Fotos: Elena Subach
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am: 10.05.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #2

  • Fototagebuch aus Kyjiw

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Von Anfang März bis Ende April 2022 erzählt Mila Teshaieva auf dekoder aus ihrer Heimatstadt im Krieg. Ab dem 24. Juni 2022 ist dieses Fototagebuch in einer Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen, Berlin, zu sehen.

    Russische Version

    Staub steigt auf aus den Trümmern eines zerbombten Hauses in Borodjanka, 13. April 2022 / Foto © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Staub steigt auf aus den Trümmern eines zerbombten Hauses in Borodjanka, 13. April 2022 / Foto © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 24. April 2022

    [bilingbox]Über die letzten Wochen fahre ich jeden Tag in kleine Städte und Dörfer nordwestlich von Kyjiw.
    Vom ersten Tag an, als die russische Armee abzog und die Überlebenden aus ihren Kellern kamen, zitternd, um die enorme Landschaft des Todes um sich herum zu entdecken. Bis zum letzten Tag, an dem alle kaputten russischen Panzer von den Straßen entfernt und die meisten vorläufigen Gräber in den Gärten und Höfen ausgehoben sind. All diese letzten Wochen schweige ich mit meinem Tagebuch. Ich schweige auch mit mir selbst.
    Auch die Feuerwehrleute schweigen, die unter den Ruinen neunstöckiger Häuser in Borodjanka nach Leichen suchen. Auch die Freiwilligen schweigen, die mit Lastern kommen, um die Leichen aufzusammeln, die in schwarzen Plastiksäcken in einer Reihe liegen.
    Das Schweigen kommt, weil es unmöglich ist zu begreifen, was geschehen ist. Zu begreifen, dass es geschieht. Es gibt innen drin keinen Platz für Trauer, nicht einmal für Wut. Es ist, als wäre die riesige Betonmauer, die die Menschen in Borodjanka unter sich begraben hat, auch auf uns niedergestürzt, die wir Zeugen vom Danach sind. 

    In diesen letzten Wochen habe ich mich fast vollständig vom Fotografieren auf Video verlegt. Fotos waren nicht genug. Denn es gibt Menschen, die sprechen müssen. Solche, die in ihrem Haus die Demütigung durch Feinde erlebt haben, durch Feinde, in deren Macht es lag, zu töten oder zu verschonen. Wie gern würde ich all diese Menschen umarmen, wie gern würde ich ihnen ihr Fieber nehmen können. Ein Freund aus Berlin schrieb mir: „Komm weg von dort, um deines Lebens willen.“ Aber ich kann hier nicht weg. Dies ist kein Krieg von jemand anderem, ich kann nicht weg und vergessen – wo immer ich bin, ist er bei mir. Um mich herum offenbart sich meine eigene Geschichte. Und mir ist wichtig, das zu dokumentieren. Vielleicht spreche ich später darüber.~~~These last weeks, I am going every day to small cities and villages’ northwest of Kyiv. 
    Since the first day, when Russian army left and those remained survivors got out of the basements, trembling, to discover this immense landscape of death around them.  To the last day, when all rotten Russian tanks are removed from the streets and most of the temporary graves in gardens and yards are dogged out. All these last weeks I am silent with my diary. I am also silent with myself. 
    So silent are fire-workers, who are searching for bodies under the ruins of 9-store houses in Borodyanka.  So silent are those volunteers who come with track to pick up bodies lying in line in back plastic packs. 
    This silence comes from the impossibility to comprehend what happened. To comprehend that is happening. There is no place inside for grief, there is no even anger. Ist like this massive concrete wall that burried people in Borodyanka crushed down also on us, who witness the aftermath. 
    These last weeks I almost fully switched from photography to video. photography seemed to be not enough. Because there are others, who need to speak. those who went through humiliation of having enemy in their homes, enemy that had power to kill or spare. I wish I can hug all of them, I wish I can take away their fever. A friend from Berlin wrote me “get out of there, for the sake of life”. But I can’t get out. This is not someone else war, I cant leave and forget, wherever I go it stays with me. My own history is unfolding around me. This what is important for me to document now. I might speak about it later.[/bilingbox]


    Butscha, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Butscha, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 4. April 2022

    [bilingbox]An dem Abend nach Butscha erreicht mich eine Nachricht: Ein sehr lieber Freund hat in Mariupol sein Leben verloren. Mantas. Genial, gutaussehend, mutig und enorm großzügig, von Frauen geliebt, von Männer angebetet, fast wie ein Gott. Götter sollen unverwundbar sein, so hat er bis vor wenigen Tagen in Mariupol gedreht.
    An diesem Abend zerbirst mein Panzer in kleine Teile. Am Morgen höre ich, dass Russland die Fotos aus Butscha als Fake bezeichnet. Ich setze die Teile wieder zusammen und sichte meine Fotos von toten Körpern auf den Straßen. Ich bin mit einer komplexen Frage konfrontiert: Ich muss sie zeigen und ich muss dabei auf die Gefühle derer achten, die sie anschauen.~~~In the evening after Bucha I receive news: the very dear friend lost his life in Mariupol. Mantas. genius, handsome, fearless and uniquely generous,  loved by women and adored by men. almost like God. Gods shall be invulnerable that’s why he was filming in Mariupol until last days. 
    That night the panzer (броня) around me crumbles into pieces. In the morning I hear that Russia announced photos from Bucha being fake. I gather my pieces together and go through photographs of dead bodies on the streets. I face complex question here: I must show and tell what I saw and I need to care about feelings of those who see it. [/bilingbox]


    Butscha bei Kyjiw, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Butscha bei Kyjiw, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 3. April 2022

    [bilingbox]Der Tod verfolgt mich derzeit. Ich weigere mich immer noch, ihn hereinzulassen, indem ich mich in eine Art Klumpen verwandle, mit nach außen gerichteten Dornen, die denen ähneln, die jetzt auf allen Straßen und Wegen meines Landes liegen. Doch als ich den letzten Kontrollpunkt vor der Straße von Kyjiw nach Shytomyr überquere, erwartet mich der Tod an jeder Ecke und flüstert mir zu: „Schau her, wende deinen Blick nicht ab.“ 

    Wir fahren auf schmalen Waldwegen nach Butscha und Irpin, fahren langsam, weichen Granatsplittern, Überresten russischer Panzer und Leichenteilen derer aus, die in mein Land kamen, um es zu zerstören. Am Ortseingang von Butscha stehen Reste einer Immobilienwerbung: Ihr Traumhaus im Wald. 

    Die schwarzen leeren Augen dieser Häuser blicken auf die Straßen, wo ein kleiner Bus mit der Aufschrift Cargo 200 fährt und Leichen aufsammelt. Die Männer, die mit Cargo 200 unterwegs sind, arbeiten schwer in den letzten Tagen, aber sie haben immer noch zu viel zu tun. Die von den Russen getöteten Menschen liegen überall, in Wohnungen, Häusern und Kellern, begraben in den Gärten, in verschiedenen Massengräbern in allen Ecken der Stadt. Ich gehe die Straße entlang, halte respektvollen Abstand, betrachte die Posen, in denen der Tod sie erwischt hat, und frage mich, was diejenigen gedacht haben, die beschlossen, ihnen das Leben zu nehmen.

    Die Überlebenden der Stadt kommen aus ihren Verstecken, viele lächeln fröhlich, als ob das neue Leben schon da wäre und alle Schrecken hinter ihnen lägen. Sie nehmen unsere Hände und bedanken sich dafür, dass wir gekommen sind, dass wir hinsehen, dass wir uns kümmern. Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges fehlen mir die Worte, hier habe ich nichts zu sagen. Die Menschen bekommen kleine Pakete mit Lebensmitteln und verschwinden wieder. 

    Der Tod schaut mir vom Straßenrand aus zu, wo noch vor einer Stunde die Leiche einer Frau mit rot lackierten Fingernägeln lag, die Reste der Immobilienwerbung knarren im Wind.~~~Death follows me these days. I still refuse to let it in, turning myself into some kind of lump, with spikes directed outside, spikes similar to those that lie now on all the roads and streets of my country. But as I cross the last checkpoint before the Kyiv Zhyitomir road, death is waiting me on every corner, whispering “look here, don’t turn your eyes away”. We are driving narrow forest roads leading to Bucha and Irpin, driving slow, avoiding shell fragments, remains of Russian tanks and body parts of those who came to my land to destroy it. At the entrance to Bucha, the piece of real estate advertisements reads “have your dream home in the forest”. Black empty eyes of those homes are looking to the streets, where small bus marked “Cargo 200” is moving along the town, collecting dead bodies from the streets. Several men doing their work with Cargo 200 are working hard those last days, but there are still too much to do for them. People killed by Russians are everywhere, in the flats, houses, and undergrounds, buried in the gardens, in various mass graves in all corners of the town. I walk along the street, keeping respectful distance, looking at the poses in which death caught them, wondering what was a thought of those who decided to take their life.

    Survivors of the town come out of their hideouts, many smile happily, like new life already here and all the horrors are behind. They take our hands, thanking for coming, for seeing, for caring. First time since beginning of the war I lack words, here I have nothing to say. People get small boxes with food and disappear again. Death is watching me from the side of the road, where the body of a woman with a red manicure was laying just an hour ago, and remnants of real estate advertisement creaks in the wind.[/bilingbox]


    Im Stadtviertel Podil, Kyjiw, 31. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Im Stadtviertel Podil, Kyjiw, 31. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 31. März 2022
    [bilingbox]Heute ist gefühlt der erste echte Frühlingstag. Und der erste Tag ohne Luftalarm, zumindest bis jetzt. Vielleicht hat beides zusammen die Straßen Kyjiws plötzlich so lebendig gemacht. Mädchen mit hohen Absätzen, Fahrradfahrer, wo waren die den ganzen letzten Monat? Die Stadt kehrt zur Normalität zurück, wenn das Wort „normal” überhaupt in Frage kommt. Die Stadtverwaltung hat gerade angekündigt, dass es schon ab morgen wieder kulturelle Veranstaltungen geben wird, ab 1. April, auch Kino und Theater. Allerdings mit dem Hinweis, dass sich bei erneutem Luftalarm alle Theaterbesucher umgehend in die Keller begeben sollen. Ich stelle mir vor, wie es ist, mit Hamlet im Bunker zu sitzen und scrolle durch die Ticketangebote.~~~Today feels to be the first real day of spring. And the first day when there were no air raid signals, at least so far. Maybe the combination of these two factors made the streets of Kyiv so alive. Girls on high hills, bicyclists, where they were all this last month? The city comes back to normality, as far as the word “normal” could be considered. The city administration just announced that Cultural Events will start as soon as tomorrow, April 1st, including cinemas and theater. Though with the note that with the renewed air raids all theater visitors should immediately move underground. I imagine sitting in the bomb shelter with Hamlet and start scrolling online tickets sales.[/bilingbox]


    Kyjiw, 27. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Kyjiw, 27. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder


    Kyjiw, 28. März 2022

    Jetzt geht der Krieg schon mehr als einen Monat. Ein Monat sind 30 Tage, und jeder Tag bringt Nachrichten aus dem ganzen Land, die der Verstand ablehnt zu begreifen. Jeden Tag sage ich allen, die ich in Kyjiw treffe, den sinnlosen Satz: „Alles wird gut.“ In diesem Satz gibt es ein Moment der Nichtakzeptanz dessen, was geschieht. Nichtakzeptanz als Überlebensinstinkt. Ich kann die von russischen Soldaten getöteten Kinder nicht in mich hineinlassen, verschließe mein Gehirn und meine Seele, damit ich nicht selber zu einer Brandstätte werde. Jeden Tag denke ich, dass das, was schon passiert ist, das Schlimmste ist, was geschehen konnte, mehr geht nicht. Und dann bricht ein neuer Tag an.

    In den letzten Tagen denke ich viel über das Leben und über Schuldgefühl nach. Ich möchte so sehr, dass die Menschen nach Kyjiw zurückkehren, ich freue mich wie ein Kind, das den Weihnachtsmann trifft, wenn ich in der Stadt ein wiedereröffnetes Café sehe. Doch nach dem Stolz und Glücksgefühl, dass das Leben weitergeht, überrollt mich ein Schuldgefühl. Schuld, in Kyjiw einen Kaffee zu genießen, während in demselben Moment ein Haus am Rande meiner Stadt brennt. Schuld, mit Freunden laut zu lachen, während tausende Menschen in meinem Land schluchzen vor Gram und Entsetzen. Meine Gedanken berühren sich mit den Gedanken vieler, die hier geblieben sind. Ein Monat Krieg ist sehr lang. Ich spüre, dass für mich persönlich der Verzicht auf die Freude des Augenblick, das Akzeptieren der mir selbst auferlegten Kriegsregeln eine Erniedrigung bedeuten, die ich nicht akzeptieren kann. Deswegen gehe ich mit meinem Morgenkaffee hinaus auf den Balkon und sage der Nachbarin, dass alles gut wird.


    Kyjiw, 20. März 2022. Tatjana, eine Freiwillige der Zoo Patrol in Kyjiw, rettet Haustiere aus verschlossenen Wohnungen. In den ersten Kriegstagen sind viele Menschen in Panik abgereist, weil sie dachten, dass sie nur ein paar Tage nicht da sein werden, haben sie ihre Katzen und Hunde in den verschlossenen Wohnungen zurückgelassen. In den letzten Wochen haben sie sich mit der Zoo Patrol in Kyjiw in Verbindung gesetzt und darum gebeten, die Tiere zu retten. © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
     

    Kyjiw, 21. März 2022

    In der vergangenen Woche werde ich in Kyjiw jeden Tag von der Sonne geweckt, die durch die kleinsten Spalten eindringt und mir keine Chance gibt, die Begrüßung des Morgens zu verpassen. Die Vorhänge an den Fenstern in Kyjiw werden nachts fest zugezogen, das ist die Verdunklung in der Stadt, in der mindestens achtmal am Tag Luftalarm heult, der begleitet ist von ohrenbetäubenden Salven der Luftabwehr. Das Geräusch des Luftalarms löst quälende Unruhe aus, eine Angst, die auf halbem Weg zwischen Brustkorb und Magen zu spüren ist.

    Ich verbringe diese Tage in Kyjiw mit sehr unterschiedlichen Menschen, mit Olga, einer Rentnerin, mit Freiwilligen von Zoo Patrol, mit Rischad, einem Friseur, und vielen anderen. Wo auch immer wir sind, beim Klang des Luftalarms fallen wir in Schweigen und schauen einander in die Augen, als würden wir prüfen, ob der Angstklumpen in uns auftaucht, dann atmen wir aus und arbeiten weiter. Über die 26 Tage, die der Krieg nun dauert, ist dieser kurze Moment des Aufkommens und der Überwindung der Angst zur Norm geworden, zur Notwendigkeit, um weiterzuleben, um die zu unterstützen, die es in diesem Moment noch schwerer haben als du. 
    Jeden Tag zur Mittagszeit erklingt aus den Lautsprechern auf dem Maidan ein altes Lied über die Liebe zu Kyjiw. Manchmal mischen sich die Klänge des Liedes mit dem Heulen des Luftalarms. Ich schaue mir die Menschen an, die vorbeigehen, wenn das Lied erklingt, das alle kennen, und in diesem Moment lächeln sie. Und die Sonne durchflutet die Stadt, die unbesiegbar ist.



    Kyjiw, 18. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Kyjiw, 18. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Lwiw, 15. März 2022

    [bilingbox]Ich übernachte in einer Wohnung zusammen mit meinen Freunden aus Kyjiw, die nach Kriegsausbruch nach Lwiw gezogen sind. Dort ist es ihnen schon in den ersten Kriegstagen gelungen medizinische Hilfsleistungen aus Israel zu organisieren, sie kaufen Medikamente und verteilen sie an Kliniken und Privatleute in der ganzen Ukraine. Shenka, Sersho, Ljocha, Julia – wir kennen uns alle schon lange, wir wurden älter, aber die Art unser Unterhaltung ist dieselbe – wir lachen jede Sekunde, über uns selbst, über die anderen, bei unserem Treffen jetzt ist es nicht anders.

    Am Morgen, wir sitzen auf dem Boden ihrer kleinen Küche und trinken gerade Kaffee, bekommt Shenka eine SMS von ihrer Mutter. Auf dem Handy ist ein Foto ihres Hauses in Kyjiw zu sehen, ein neunstöckiges Hochhaus aus der Sowjetzeit, vor nur einer Stunde ist eine russische Rakete eingeschlagen, das Haus steht in Flammen. Shenka guckt auf ihr Handy, ich sehe, wie ihr Gesicht einfriert, sie weigert sich, es zu glauben, sie ruft ihre Mutter an und sagt: „Nein, das ist nicht unser Haus.“ Ich höre die Stimme ihrer Mutter, ruhig und leise. „Es ist unser Haus“, sagt sie, „wir haben kein Zuhause mehr. Wir haben keine Geschichte mehr.“

    Shenka ist kein Mensch, der schnell aufgibt, sie sagt, macht nichts, kein Problem, wir gewinnen diesen Scheißkrieg und dann bauen wir uns ein neues Haus. Am Abend treibt sie eine Kiste Bier auf – die ihr freundlicherweise jemand gegeben hat, ein ziemlicher Schatz in diesen Tagen, in denen es in der Ukraine verboten ist, Alkohol zu verkaufen. Wir sitzen in ihrer Küche, wir konzentrieren uns nicht auf das, was gerade passiert ist, und wir lachen wieder.~~~I stay overnight in a flat with my friends from Kyiv, who since beginning of the war moved to Lviv and since first days of the war managed to organize stable system of donations from Israel for which they buy and distribute medicine for hospitals and individuals all over Ukraine. Zhenka, Serzho, Leha, Julia, – we know each other long time, we became older, but the style of our conversation remains the same – we laugh every second, at ourself, at others, and our current meeting is not different.
    In the morning we drink coffee sitting on the floor in their tiny kitchen as Zheka gets a message from her mom. On her phone is a photograph of their house in Kyiv, nine stores soviet house, Russian rocket hit it just an hour ago, the house is burning. Zheka looks at her phone, I see how her face gets frozen, she refuses to believe, she calls her mother saying “no, no, it’s not our house”. I hear her mother voice calm and quiet. „That’s it“, mother says, „we don’t have home anymore. We don’t have history anymore“.
    Zheka is not a person to fall in despair. she says -that’s nothing, no problem, we win this fck war and then we build us new house. In the evening she gets box of beer  – kindly given to her by someone, quite a treasury these days as no alcohol is allowed for sale in ukraine. We sit in their kitchen, we don’t focus on what just happened, and we laugh again.[/bilingbox]


     



    Lwiw, 14. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Lwiw, 14. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Lwiw, 14. März 2022
    [bilingbox]

    Ich habe Lwiw nie so überfüllt gesehen wie in diesen Tagen. Die Stadt wurde plötzlich zu einer neuen Hauptstadt des Tuns, ein weltweites Hub, wo alles und jeder ankommt und abfährt. Es beginnt schon an der Grenze, die ausländische Freiwillige zu Fuß in Richtung Ukraine passieren, während gegenüber Scharen von Frauen und Kinder darauf warten, auf die andere Seite zu gelangen. Überfüllte Züge mit Flüchtlingen aus dem Osten kommen an und fahren voll mit Soldaten und humanitärer Hilfe aus dem Westen wieder ab. Universitätsprofessoren sind damit beschäftigt, in einem Theater der Stadt Berge von Kinderkleidung und Spielzeug zu sortieren, während in einem schicken Restaurant tausende Brote für Soldaten geschmiert werden.

    Ich kam nach Lwiw, um mich nach einer ziemlich anstrengenden Zeit in Kyjiw etwas auszuruhen, aber hier ist keine Ruhe zu sehen; jeder, den ich treffe, ist damit beschäftigt entweder die Evakuierung von Leuten aus dem Osten oder die Lieferung von Rettungswesten in den Osten zu organisieren, alles in einem Rhythmus und Grad an Konzentration, wie sie vorher keiner dieser Menschen kannte. Es ist überwältigend und berührend gleichzeitig, ich fühle mich wie inmitten eines Ameisenhaufens, wo jeder seine Funktion kennt, alle zusammen für eine gemeinsame Aufgabe – das Ende des Krieges.~~~I’ve never seen Lviv as overcrowded as it is these days. It suddenly became some kind of new capital of action, worldwide hub where everything and everyone is arriving and departing. It starts already at the border, where foreign volunteers are walking into Ukraine, and just the opposite direction staying crowds of women and children waiting to get to the other side. Trains arrive overloaded with refugees from East and depart loaded by soldiers and humanitarian help from West. University professors are busy, sorting mountains of children cloth and toys in in a town theatre, while thousands of sandwiches for soldiers being prepared in a fancy restaurant.

    I went to Lviv, to get some rest after quite intensive time in Kyiv but here is no rest visible; everyone I meet is busy, organizing evacuation of people from East or supply of life vests to East, in a rhythm and in a state of concentration not known to these people before. It’s overwhelming and touching at the same time, and I feel being inside anthill, where everyone knows its function, all together for one common task – the end of the war.[/bilingbox]


     



    Rajon Wassylkiw, 9. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Rajon Wassylkiw, 9. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 10. März 2022

    [bilingbox]Vor einigen Jahren hatten meine Freunde eine für die Ukraine untypische Geschäftsidee: Sie verwandelten ein völlig unbekanntes Dorf bei Kyjiw in ein Lavendelparadies. Sie begannen mit einem kleinen Hang neben dem Haus, jedes Jahr wurde die Fläche größer, sie lernten aus den Fehlern, freuten sich über Erfolge und schließlich – im vergangenen Jahr – hatten sie ihren ehrgeizigen Traum verwirklicht: Ein Lavendelpark, mit einer Brücke, einem Park, hingegossen in lilafarbenen Wellen über die Wassylkiwer Hügel. Dieses Jahr versprach wahrlich erfolgreich zu werden und sie für die Jahre der Arbeit zu belohnen.

    Wir kommen in ihr von Lavendelduft erfülltes Haus, in dem sie bleiben wie in einer Burg. Nach einer Explosion im Öllager im benachbarten Wassylkiw brachten sie ihre Kinder nach Rumänien und sind dann zurückgekehrt, nach Hause. Sergej patroulliert mit den Nachbarn jede Nacht durchs Dorf. Er hat keine Waffe, nur ein qualitativ hochwertiges Messer, mit dem er bislang noch nicht so recht umgehen kann und sich an den Händen verletzt. Julia hilft auf einer benachbarten Plantage beim Kleinschneiden von Pilzen, die dann in die Stadt gebracht werden, wo man auf Essen wartet. Sweta koordiniert die Evakuierung von Menschen aus Kyjiw. An den Abenden schalten sie das Licht aus, um keine Aufklärungstrupps anzulocken, und scrollen dann bei Kerzenschein durch die Berichte von der Front. Ab und zu fliegt etwas über das Haus hinweg und es gibt ein verzögertes Geräusch. Nach 14 Tagen Krieg haben meine Lavendelfreunde gelernt zu unterscheiden, was diese Geräusche mit sich bringen. Ich möchte gern bei ihnen bleiben, in diesem Haus, wo der Kaffee sehr lecker ist, wo es warm ist und nach Lavendel riecht.~~~Несколько лет назад мои друзья начали необычный для Украины бизнес: они превратили никому не известную деревню возле Киева в лавандовый рай. Начав с небольшого склона возле дома, они каждый год расширялись, учились на ошибках, радовались успехам, и в прошлом году, наконец, реализовали свою амбициозную мечту – открыли Лавандовый Парк, фиолетовыми волнами раскинувшийся на гектарах Васильковских холмов. Этот год обещал быть по-настоящему успешным и должен был вознаградить их за годы работы. 
    Мы приехали в ним, в их дом, пахнущий лавандой, ставший для них крепостью. После взрыва нефтебазы в соседнем Василькове они вывезли детей в Румынию и вернулись обратно. Сергей вместе с соседями каждую ночь патрулирует деревню. У него нет оружия, только очень хороший нож, которым он пока что не умеет пользоваться и то и дело ранит об него руки. Юля занимается нарезкой шампиньонов на дружественной соседской плантации; шампиньоны они отправляют в Киев, туда, где не хватает еды. Света координирует эвакуацию людей из Киева. Вечерами они выключают свет,  чтобы не привлекать диверсантов, и при свете свечей читают сводки с фронта. Время от времени над домом что-то пролетает и с запозданием доносится звук. За 14 дней войны мои лавандовые друзья научились различать, что несут в себе эти звуки. Мне очень хочется остаться с ними в этом доме, где очень вкусный кофе, тепло и пахнет лавандой.[/bilingbox]


     


     

    Zerstörtes Wohnhaus in Wassylkiw, südlich von Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Zerstörtes Wohnhaus in Wassylkiw, südlich von Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 9. März 
    [bilingbox]Seit meinen ersten Tagen in der Ukraine habe ich meine Gefühle für mich behalten und versucht, positiv in die Zukunft zu schauen, durch Tränen hindurch gelächelt, versucht, die zu trösten, die es brauchten. Ich habe mich an den Lärm der Luftangriffe gewöhnt und an den Lärm von Explosionen. Irgendwie habe ich den Krieg von mir weggehalten, doch nun dringt er langsam ein in Körper und Seele. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich mitten in einem Kreuzfeuer stand – der erste Kriegstraum seit meiner Ankunft. In meinem Traum fühlte es sich an, als hätte ich mich an den Krieg gewöhnt.~~~Since my first days in Ukraine I’ve kept my emotions inside, trying to be positive about future, smiling through the tears, trying to comfort those who needed it. I’ve got used to the sound of air attacks and to the sounds of explosions. Somehow I have been rejecting this war but now it slowly penetrates body and soul. Last night I had a dream about staying in-a cross fire, the first dream of war since my arrival here. And in my dream the war felt like something I got used to live with.[/bilingbox]



    Der Hof am Schutzraum, in dem seit 12 Tagen 310 Menschen leben. Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Der Hof am Schutzraum, in dem seit 12 Tagen 310 Menschen leben. Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

     

    Kyjiw, 8. März

    [bilingbox]Es ist der 8. März. Ich spreche mit Menschen in einem Schutzraum. Ein Mann hat irgendwo Blumen gefunden. In rund einer Stunde wollen sie allen Frauen in dem Schutzraum Blumen schenken.~~~It’s 8 March. I am speaking with people in the shelter. A man found somewhere flowers. And in about an hour they want to present flowers to all the women in the shelter.[/bilingbox]


     


    Irpin © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 7. März 2022

    [bilingbox]Am Tag nach unserem Besuch in Irpin warteten schon Tausende Menschen unter der Brücke, um über den Fluss zu gelangen. Die Kämpfe sind in die Stadt vorgedrungen, der Kommandeur Sascha geht nicht mehr ans Telefon. Doch die Stadt ist noch nicht eingenommen.

    Gestern erzählte uns ein Kyjiwer Abgeordneter, sie würden versuchen, über einen humanitären Korridor für Zivilisten in Irpin zu verhandeln. Ein Abkommen wurde geschlossen, ein paar Stunden später wurde eine Gruppe von rennenden Menschen von einer Mörsergranate getroffen, acht Menschen starben.

    Bei Dämmerung hielten wir uns einige Kilometer entfernt von Irpin auf, als der Kommandeur der Gebietsverteidigung mit diesen Nachrichten aus der Stadt kommt. Er kann seine Tränen auch vor der Kamera nicht zurückhalten, als er uns von dem Horror erzählt, den er dort grad miterlebt hat.

    Heute, am 7. März sind wir wieder am Eingang zur Stadt. Die Schüsse sind so nah, dass ich nicht in die Nähe der Brücke gelangen kann. Einer nach dem anderen fahren die Krankenwagen von der Brücke von Irpin zum Stadtrand von Kyjiw, die letzten Bewohner sind evakuiert.

    Doch die Stadt Irpin ist noch nicht eingenommen.~~~

    Next day after our visit to Irpin, there were already thousands of people waiting under the bridge to cross the river. Fighting moved inside the town and commander Sascha was not picking up phone anymore. Still the town of Irpin hasn’t been taken. 

    On 6.03.22 a deputy of Kyiv told us they are trying to negotiate a humanitarian corridor in the city for civilians. Agreement has been made and some hours later, group of running people were hit by the flying mine inside the town, leaving eight people dead. In the dusk we were staying some kilometers away from Irpin, when the commander of territorial defiance came with these news from the town. He couldn’t keep tears even in front of camera telling of horrors he just witnessed there. 
    On 7.03.22 we approached the entrance of the town again. Gunshots were so close that I couldn’t get any close to the bridge. Ambulances were running once by once from Irpin bridge to edge of Kyiv, last people were evacuated.  
    Still the town of Irpin hasn’t been taken.[/bilingbox]


     


    Irpin, 4. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 4. März 2022

    Eine Brücke über den kleinen Fluss – der kürzeste Weg aus dem Zentrum von Kyjiw in die bewaldete Vorstadt Irpin – wurde von ukrainischem Militär am zweiten Kriegstag gesprengt. Momentan ist das der einzige Weg aus der Vorstadt heraus, in der rund 60.000 Menschen leben. In alle anderen Richtungen steht die russische Armee, erinnert mit minütlichem Beschuss höflich an ihre Anwesenheit.
    Wir möchten nach Irpin, dort erwartet uns Sascha Morkuschin, in Personalunion Bürgermeister und Kommandeur der Gebietsverteidigung. Das Treffen mit ihm in der unter Beschuss stehenden Vorstadt haben Freunde von Freunden organisiert, denn jetzt sind alle Freunde von Freunden auch deine Freunde. Der Weg zu dem Treffen ist nicht einfach. Nachdem du auf dem Weg Dutzende Kontrollposten passiert hast, kommst du zu der zerstörten Brücke, stellst das Auto ab, gehst unter die Brücke, überquerst das Flüsschen auf eilig verlegten Kieferbrettern, kletterst über Betontrümmer und wartest dann auf ein Auto, hinter dem Steuer Männer mit Maschinenpistolen, das dich an einen Ort bringt, von dem du sofort wieder verschwinden möchtest.
    Der Bürgermeister und Kommandant ist ein gutmütiger dicker Mann, der zusammen mit dem Chef des Wohnungsamtes, einem Tischlermeister, und anderen Menschen aus ähnlichen Berufsgruppen schon 10 Tage die Stadt verteidigt.
    Die Explosionen werden häufiger und wir ziehen uns langsam zurück zur Brücke. Aus Riwne sind Busse gekommen, von der dortigen Baptistengemeinde organisiert, um Menschen aus der Stadt zu holen – und viele von denen, die bisher nicht daran gedacht haben, sehen nun ein, dass das womöglich eine der wenigen Chancen zur Flucht ist.
    Der Übergang über den Fluss auf den dünnen Kieferbrettern ist immer stärker frequentiert, die Menschen tragen in Wolltücher gewickelte Hunde und Katzen, ein anderer hat ein super-schickes Fahrrad als einziges Gepäckstück, wieder einer schleppt ein paar riesige Koffer. Wie wenig Zeit bleibt gerade, um zu entscheiden, was man mitnimmt, wie wenig Kraft für diesen Weg, wie viel Angst vor dem Ungewissen. Sie balancieren über die dünnen Bretter so schnell sie können, dann eilen sie los, sehen mich nicht, obwohl ich direkt daneben stehe, und schlussendlich erreicht mich das Grauen, das hier und jetzt geschieht, ein unendlicher Schmerz dringt in mich ein, denn ich verstehe nicht, warum ihnen, warum uns dieses Grauen widerfährt.
    Und dann überkommt mich Zorn. Zorn auf die, die dieses Grauen hierher gebracht haben.


     

    Maidan, Kyjiw, 3. März 2022 / © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 3. März 2022, am Nachmittag

    [bilingbox]Kyjiw bereitet sich auf den Kampf vor. Es geschah über Nacht, wir sind aufgewacht und nun sind an fast jeder Ecke Barrikaden errichtet. Ich gehe zu einer hin, ungefähr hundert Menschen jeden Alters bewegen sich wie Ameisen, schnell, ruhig, organisiert. Alte Männer füllen gemeinsam mit jungen Hipster-Mädchen Flaschen mit Molotowcocktails. Andere bauen Mauern aus Autoreifen und Sand. Wir reden, wir lachen, ich umarme Menschen, die ich grad erst getroffen habe, wir versprechen uns, uns bald wiederzusehen. Dieser Moment gibt mir ein Gefühl der Ruhe, irgendwie verschwinden all meine Ängste und meine Zweifel darüber, ob ich nicht doch rechtzeitig fliehen sollte.
    Irgendetwas ist so richtig an diesen Menschen, die in der Stadt bleiben, die bereit sind zum Schlimmsten und voll Hoffnung auf das Beste. Ihre Kraft hat nichts Pathetisches, ihr Vertrauen ist überzeugend. Plötzlich fühle ich mich sicher mit ihnen, mit denen, die jetzt in Kyjiw sind, mit denen wir teilen werden, was als nächstes kommt.
    Ich treffe an diesem Tag so viele unterschiedliche Menschen, von zivilen Verteidigern bis hin zu einem Parlamentsabgeordneten, und alle sagen im Grunde dasselbe: Die Russen können Kyjiw zerstören, doch es ist nicht möglich, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören. Keiner von ihnen will sterben, aber keiner von ihnen ist willens zu kapitulieren.
    Es hat etwas Besonderes – diese Art von Freiheit, wenn du sie erstmal geschmeckt hast, wenn du sie erlebt hast, dann gibt es keinen Weg zurück.~~~Kyiv preparing for the fight. It just happened overnight and we woke up with barricades being constructed on practically every corner. I approach one of those, where around 100 people of all ages are moving like ants, fast, quiet, organized. Old men together with young hipster-looking girls are filling bottles with Molotov cocktail. Others build walls filled with car tires and sand. We talk, we laughs, I hug with people I just met, we promise to see us soon again. I feel calm from this moment, somehow all my fears and doubts of timely escape are going away.
    Something is very right with these people, who stay in town, who are ready for the worse but firmly hope for the best. Their strength is totally not pathetic, their confidence is convincing.  I suddenly feel safe with them, those who are now in Kyiv, with whom we might share what comes next.
    I meet with so many different people this day, from young civil defenders to a member of Parlament and all basically say same thing. Russians can destroy Kyiv but its not possible to destroy Ukraine and Ukrainians. Nobody of them wants to die but nobody agrees to surrender.
    There is something special about this essential sense of freedom, once you taste it, once you lived with it, there is no way back[/bilingbox]


     

    Wolodymyr Park, Kyjiw, 2. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 3. März 2022

    [bilingbox]Ich bin in Kyjiw, meiner Stadt, meiner Heimat, laufe durch die Straßen im Zentrum, wo fast jeder Stein eingeschrieben ist in mein Leben. Es ist kalt draußen und normalerweise würde ich gleich in eines der gemütlichen Lokale gehen, ein paar Freunde anrufen und ein Glas Wein mit ihnen trinken. Doch heute ist hier nichts normal. Ich bin die einzige, die hier über den Chreschatik spaziert, die Hauptstraße von Kyjiw. Die meisten Freunde von mir haben Kyjiw eilig verlassen, als die Stadt auf einmal jeden Tag und jede Nacht von Raketen getroffen wurde. Etwas Undenkbares passiert, etwas, das mein Gehirn sich weigert zu akzeptieren. Der KRIEG ist hier, in meinem Land, in meiner Stadt. 

    Am Tag des Angriffs entschied ich mich, nach Kyjiw zu fahren. Das dringende Bedürfnis hier zu sein hat nichts zu tun mit dem Berichten aus der heißen Zone. Wenn der Krieg in mein Zuhause kommt, möchte ich irgendwie zu Hause sein. Es geht hier nicht um Fotografie, es geht um mich, meinen Ort, meine Geschichte und die Geschichte der ganzen Welt, die derzeit hier stattfindet.
    Ich bin aufgewachsen im Bann der Geschichten meiner Großmutter, die die ganze Zeit während der Nazi-Besatzung von 1941 bis 1944 in Kyjiw war, und meines Großvaters, der Militärmusiker war und bis Königsberg und in die Mandschurei kam. Nie war Krieg für mich real, aber jetzt ist er hier. Meine Nichte und mein Cousin riefen mich am dritten Kriegstag an, als sie in den nördlichen Außenbezirken der Stadt unter Beschuss saßen, sie weinten vor Angst, baten dringlich, ich möge auf die Straßen von Berlin gehen und ihnen helfen, sie beschützen. Es waren Tausende auf den Straßen, rund um die Welt, aber kann das helfen?

    Ich laufe durch die Straßen im Zentrum von Kyjiw, leere tote Straßen einer Stadt im Krieg. Neben dem Gebäude der Stadtverwaltung steht eine alte Frau, allein. Als wir näherkommen, bittet sie uns dringlich, wir mögen helfen, die deutsche Kanzlerin zu erreichen, sie sagt, sie würde wissen, wie man Putin stoppt, die weiß es ganz sicher. Wir gehen weiter.~~~I am in Kyiv, my city, my home, walking the streets in downtown, where almost every stone is inscribed into my essence. It’s cold outside and normally I would soon sneak into one of cozy restaurants around and call some friends to join me for glass of wine. But today nothing is normal here. I am the only person walking on Khreschatik, the main street of Kyiv. Most of my friends have left the city in a rush, as rockets started hitting town every day and night. Something unthinkable is going on, something that my mind refuses to accept. The WAR is here, in my country, in my city.
    I took decision to go to Kyiv in the first day of attack. The urge to be here is not connected with reporting from the hot zone. But when war comes to my home I somehow want to be home. This is not really about photography, this is about me, my place, about my history and the history of whole world that currently happens here.
    I’ve grown up being fascinated by stories of my grandmother, who spent whole Nazi occupation in 1941-44 in Kyiv and my grandfather, who was an army musician and went as far as Königsberg and Manchuria. War never seemed real for me but now its here. My niece and my cousin called my on third day of the war, as they were sitting under shelling in the northern outskirts city, crying from fear, begging me to go to the streets of Berlin to help them, to protect them. There were thousands on the streets all around the world, but would it help?
    I am walking central streets of Kyiv, empty dead streets of town in the war. Next to the town administration an old woman stands, alone. As we approach, she begs us to help to reach german kanzler, she says she knows how to stop Putin, she knows for sure. We walk away.[/bilingbox]


     

    © Ostkreuz
    © Ostkreuz

    Mila Teshaieva ist in Kyjiw geboren und aufgewachsen. Seit 2010 lebt sie auch in Berlin. Seit 2004 arbeitet Mila Teshaieva an Langzeitprojekten auf den Gebieten der ehemaligen UdSSR, insbesondere widmete sie die letzten Jahre dem Kaukasus und der Region um das Kaspische Meer. Erschienen sind ihre Bilder auf den Seiten des Courrier international, British Journal of Photography, Time Magazine, Magazine Lightbox und vielen anderen. Für ihre fotografische Arbeit hat Mila Teshaieva bereits zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten.

    Publikationen (Auswahl):
    InselWesen, Kehrer Verlag, 2016
    Promising Waters, Kehrer Verlag, 2013

    Einzelausstellungen (Auswahl):
    MIT Museum Boston (USA 2018)
    Museum Europäischer Kulturen (Berlin 2017)
    Haggerty Museum of Art (USA 2015)
    Blue Sky Gallery (USA 2015) 
    Museum an der Westküste (Föhr 2014) 


    Foto: © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Text: Mila Teshaieva
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf

  • In entlegenen Dörfern

    In entlegenen Dörfern

    Dörfer ticken anders als dicht besiedelte Großstädte, und noch einmal mehr, wenn sie in Grenznähe zu den Nachbarländern liegen: Der Minsker Dokumentarfotograf Siarhei Hudzilin interessiert sich für diese sehr spezielle Kultur. Über mehrere Jahre fotografierte er in den grenznahen Dörfern von Belarus.
    Neben den persönlichen Projekten, die er verfolgt, arbeitet Hudzilin seit 2011 als Fotojournalist für das unabhängige, in Belarus inzwischen blockierte, Online-Portal Nasha Niva. Auch in der New York Times und bei National Geographic wurden seine Bilder veröffentlicht. Zur Dokumentarfotografie fand er in seiner Zeit bei der Armee, als er begann, den kargen Alltag der Rekruten in den Kasernen festzuhalten und für diese Bilder ausgezeichnet wurde. 

    Im Interview berichtet er von seinen Besuchen in den Dörfern – sowohl an der Grenze zur Europäischen Union, als auch zu Russland und zur Ukraine – und davon, wie schwierig das Leben in diesen Orten ist, zum Beispiel im Norden, wo der Aswejasee wichtiger ist als die Hauptstadt Minsk. Mit seinen Bildern gibt er einen sensiblen Einblick in diesen Alltag.

    Ein junges Mädchen steht in der Stadt Dsisna inmitten von roten Backsteinruinen. Sie gehören zu einem früheren Krankenhaus, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Dsisna gilt als kleinste Stadt des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin

    dekoder: In welche Orte sind Sie für Ihre Bilder gefahren und was macht diese Gegenden genau aus?

    Siarhei Hudzilin: Als ich dieses Projekt entwickelt habe, wählte ich die entlegensten bewohnten Orte von Belarus. Im Norden ist das Asweja, im Süden Kamaryn, im Westen Wyssokaje und im Osten Chozimsk. Das sind praktisch alles Grenzgebiete. Sie sind geprägt von den jeweiligen Ländern und Grenzen. Die Grenze zur EU beispielsweise ist klar definiert, und diese klare Abgrenzung lässt die belarussische Identität sehr eindeutig hervortreten. An der EU-Grenze herrscht Visumspflicht und es gibt eine Sprachbarriere. Daher ist das Alltagsleben der Bewohner dieser Gegend kaum beeinflusst. Die Grenzen zur Ukraine und zu Russland sind dagegen fließend – der Einfluss dieser Kulturen auf die Identität der Menschen ist dort stärker spürbar. In der Nähe der Ukraine nimmt man das Ukrainische in der gesprochenen Sprache und auch in den Nachrichtensendungen wahr, in diesen Regionen sehen die Einwohner ukrainische Fernsehsender und interessieren sich sogar für ukrainische Politik. Dort bildet sich dadurch eine besondere Identität heraus, die Menschen fühlen sich zum Teil einer eigenen ethnischen Gruppe zugehörig, den Polessiern
    An der östlichen Grenze zu Russland ist die Situation ähnlich, und überhaupt, das ist ganz interessant, gibt es diese Grenze eigentlich gar nicht, auch historisch gesehen, schon seit seit mehreren Jahrhunderten nicht (angefangen von der Aufteilung der Rzeczpospolita im 18. Jahrhundert, dann kam das Russische Reich, dann die Sowjetzeit, und nun ist es der mythische Unionsstaat). Die Einflüsse sind dort stark: Die Bewohner der Grenzstädte fahren nach Russland zur Arbeit und betrachten eher Großstädte in Russland als ihre Metropolen, statt Minsk in Belarus.         

    Sie waren in Asweja, wo es ja auch den beeindruckenden Aswejasee gibt. Wie leben die Meschen dort an diesem nördlichsten Punkt mit und neben dem See?

    Der Norden von Belarus ist die Region, die wirtschaftlich am wenigsten entwickelt ist. Asweja ist ein sehr depressiver Ort, eine aussterbende Kleinstadt. Das Einzige, was dort womöglich Potenzial hat, ist Tourismus. Alles, was ich dort fotografieren konnte, waren Menschen, die ums Überleben kämpfen.   

    Die Besonderheit dieser Gegend ist, dass sie im Grenzdreieck zwischen der EU und Russland liegt. Wie sieht der Alltag mit diesen Nachbarn dort aus? Und hat sich das Leben über die vergangenen Jahre verändert?

    Das Leben hat sich nicht sonderlich verändert. Die EU-Grenze ist für die dortigen Einwohner weniger durchlässig. Das liegt nicht nur an den Visa, sondern auch am niedrigeren Lebensstandard im Vergleich zu Lettland. Russland dagegen bringt vor allem wirtschaftliche Vorteile, viele Fischer verkaufen ihren Fang aus dem Aswejasee in Russland. Der Alltag ist hier unverändert, diese Orte verkommen und sterben immer weiter aus. Obwohl das belarussische Landleben durchaus beginnt sich zu transformieren. Teils haben Covid-19 und die Digitalisierung der Wirtschaft Einfluss auf diese Entwicklung: Viele Menschen, die im Homeoffice arbeiten, verlegen ihren Hauptwohnsitz nach und nach in die Dörfer. Und die pflegen in dieser dörflichen Umgebung natürlich einen anderen Lebensstandard.    

    Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt genau entstanden?

    Mich hat die kulturelle Identität der Belarussen und der Zustand des Landes im „Hier und Jetzt“ interessiert, ich wollte mich aber auf keinen Fokus und kein Gebiet festlegen – was und auf welche Weise ich fotografieren wollte. Daher brauchte ich eine Art Koordinatensystem und habe mich aus dem Geografieunterricht an die äußersten geografischen Punkte von Belarus erinnert. Ich habe gesehen, dass diese Orte quasi weiße Flecken sind, denn es gibt davon praktisch keine Fotos. So kam es zu dem Entschluss, hinzufahren und Aufnahmen zu machen. Zumal die Frage nach den Grenzen für Belarus sehr wichtig ist: Grenzen existieren in Werten, in der Kultur, in Denkweisen und sogar in der Sprache. 
    Dieser Dualismus ist vielleicht schon anthropologisch begründet – zwei Sprachen (Russisch und Belarussisch), zwei Fahnen (die offizielle rot-grüne und die nationale weiß-rot-weiße), Stadt und Land als zwei Existenzformen der belarussischen Kultur. Deswegen habe ich mich für abgelegene Orte entschieden, an denen die Gegensätze vielleicht am sichtbarsten und frei vom Einfluss moderner, massenkultureller Trends der Großstädte sind. Daher trägt das Projekt auch den Titel Along the Edge (dt. Am Rand entlang) – es ist gewissermaßen ein Querschnitt entlang der Ränder des belarussischen Raumes, nicht nur im geografischen, sondern auch im sozialen und kulturellen Sinne.          

    Wie wählen Sie die Motive für Ihre Bilder aus?

    Vor jeder Fahrt mache ich eine kleine Recherche, studiere diverse Quellen und versuche, Kontakte zu Einheimischen zu knüpfen. Vor Ort bemühe ich mich dann aber, kein bestimmtes Programm zu verfolgen, und lasse mich von der Umgebung inspirieren. Das hat etwas von einem Spiel. Auf diese Art glaube ich, in das Leben der Räume und Menschen eindringen zu können, die ich fotografiere. Ich muss einfach viel herumlaufen und mit Leuten sprechen, die ich nicht kenne, wobei ich denen dann immer erzähle was ich hier überhaupt mache und vorhabe. Bei konzeptuellen Projekten ist das natürlich nicht so, da dauern die Aufnahmen manchmal nur wenige Stunden.   

    Gibt es ein Lieblingsbild, das Sie von dort mitgebracht haben?

    Da habe ich die Qual der Wahl, aber am besten gefällt mir wahrscheinlich das erste Foto des Projekts – das weiß gekleidete Mädchen auf den Ruinen. Für mich steht es gewissermaßen als Bild von Belarus: Weite Räume mit riesigen Ruinen und Rätseln, aus Trümmern und Fragmenten verschiedener Kulturen und aus Einsamkeit. Das ist eine Leere, in der alles möglich ist, doch das Ergebnis ist unvorhersehbar und es gibt keine klaren Regeln und Algorithmen.

    Belarus ist ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Großstädten lebt. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in solchen Dörfern und der politischen Lage insgesamt?

    Diese Gegenden verkommen immer mehr, und die Bevölkerung zieht weg. Die einzige Besonderheit ist, dass an solchen Orten die Hauptstadt Minsk sehr weit weg ist und wenn Menschen von hier wegziehen, dann um Arbeit in der nächsten Stadt, maximal in der Gebietshauptstadt zu suchen. Die aktuelle politische Situation erinnert mich ebenfalls an den Zustand in Grenzgebieten. An diese Zonen, in denen keine konkreten Regeln, Normen und traditionellen Gesetzmäßigkeiten greifen. Wir haben gleichsam eine Grenze des Normalen überschritten, und dahinter beginnen Chaos und Instabilität. Und wir als Bewohner eines solchen Raumes befinden uns jetzt in diesem Grenzzustand. 
    Aber ich glaube, dieser Zustand tritt bei jeder Art von Veränderung auf. Ich für mich sehe hier eine organische Verbindung mit dem Projekt Am Rand entlang: Dieses An-der-Grenze-Sein hat sich jetzt über ganz Belarus ausgeweitet. Wenn du daher als Dokumentarfotograf oder -filmer, als Künstler oder einfach als Mensch die Kraft und die Fähigkeit aufbringen kannst, das Unbeständige in den Griff zu kriegen und Sinn und Ziel im Leben zu finden, dann bist du verpflichtet, diese Zeit zu durchleben und bestimmte Werte und Bedeutsamkeiten für die Zukunft festzuhalten.


    Norden

     

    Ein Mann läuft über den gefrorenen Aswejasee im Norden von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine Frau vor einer Kirchenmauer in Asweja / Foto © Siarhei Hudzilin
    Der Blick aus einem Wohnungsfenster fällt auf einen Schulbus, der am winterlich eisbedeckten Aswejasee vorbei fährt / Foto © Siarhei Hudzilin
    Bewohner von Druja – ein Agrogorodok im Norden an der Grenze zu Lettland – setzen über den Grenzfluss Dswina zu einer Insel über, auf der sie ihre Kühe weiden lassen … / Foto © Siarhei Hudzilin
    … Auf der Insel angekommen, haben sie ihre Kühe gemolken und tragen im Dunkeln vor Tagesanbruch die Milch davon / Foto © Siarhei Hudzilin

    Süden

     

    Im Dorf Kamaryn, in der Woblasz Gomel, spielt ein Junge Federball. Kamaryn ist der am südlichsten gelegene Ort von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
    Straßenszene auf dem Land: Ein Ehepaar auf einem Motorrad / Foto © Siarhei Hudzilin
    Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges vor einem Gedenkstein im Stadtzentrum von Kamaryn – zum Tag des Sieges am 9. Mai / Foto © Siarhei Hudzilin
    Stofftiere in Plastiktüten sind das Handelsgut einer Frau, die im Dorf Retschyza an der Grenze zur Ukraine (Woblasz Gomel) zum Bahnhof eilt. Dort stoppen international verkehrende Züge, und der Verkauf von Waren an die Passagiere ist für Einheimische eine Möglichkeit, Geld zu verdienen / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine Gänseschar auf der Hauptstraße des Agrogorodok Turow / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine ältere Dame in der Stadt Dawyd-Haradok: Das Kopfsteinpflaster, auf dem sie steht, stammt aus vorsowjetischen Zeiten. In früheren Jahrhunderten gehörte die Stadt zu unterschiedlichen Herrschaftsbereichen, zum Großfürstentum Litauen, zur Polnisch-Litauischen Adelsrepublik und zum Russischen Reich / Foto © Siarhei Hudzilin

    Westen

     

    In den Abendstunden sitzt eine junge Frau im Zentrum der Stadt Wyssokaje vor einer Lenin-Statue. Wyssokaje ist der am weitesten westlich liegende Ort des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin

    Osten

     

    Im Wald nahe Chozimsk sammelt eine Frau Pilze und passiert den Grenzstein zwischen Belarus und Russland. Die Grenze existiert nur formell, ohne Grenzposten oder -kontrollen / Foto © Siarhei Hudzilin
    Ein Pferd grast in Chozimsk, Woblasz Mahiljou (russisch: Mogiljow) / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine Frau am Zaun vor ihrem Haus in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin
    Ein angelnder Mann nahe dem Dorf Schaladonauka. Sein Auto hat er hinter sich inmitten der Birken abgestellt / Foto © Siarhei Hudzilin
    Chozimsk bei Nacht / Foto © Siarhei Hudzilin
    Busbahnhof in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin

    Fotos: Siarhei Hudzilin
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Text: dekoder-Team
    Veröffentlicht am 17.01.2022

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    Blick in das Innere von Belarus

    Bunt bestickte Kissen und Tücher, Teppiche an den Wänden, grelle Fototapeten und Plüschtiere, Gardinen mit traditionellen Mustern und Ornamenten – dazwischen ältere Frauen mit Kopftüchern oder Männer mit Schirmmütze. Ein belarussische Fotograf reist seit Jahren durch seine Heimat und fotografiert die traditionellen Inneneinrichtungen und Wohnräume von Dorfbewohnern, die sich durch eine Mischung aus Folklore, Tradition und Modernität auszeichnen und viel über das ländliche Belarus erzählen. Es ist eine Kultur, die zusehends verschwindet. 

    Der Fotograf, der mehrfach für seine Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, hat sich vorgenommen, diese Kultur fotografisch zu bewahren. In seiner Fotografie und Kunst beschäftigt er sich häufig mit Fragen von Identität, Brauchtum und archaischen Ritualen in seiner Heimat. 

    Mohnblumen auf Tassen und Tischdecken: Bei Wjaljanzіna Wassiljeuna Tscharnuschewitsch, zuhause im Dorf Chwajensk im Süden von Belarus / Foto © Anonym

    dekoder: Wie ist Ihr Fotoprojekt  Traditioneller Wohnraum entstanden?

    Fotograf: Vor etwas mehr als zehn Jahren konnte ich bei der Arbeit an anderen Fotoprojekten wie beispielsweise Pahanstwa (dt. Heidentum) beobachten, wie das belarussische Dorf sozusagen visuell verschwindet: die Farben der Häuser und Einrichtungen, die alte Art, Wohnraum gemütlich zu gestalten, die Wände mit den Familienfotos. Damit verschwindet auch die Bedeutung der Familie, in der die Traditionen und ein bestimmtes Wertesystem wichtig waren. In jedem Haus gab es eine Bilderwand mit Ikonen und Fotos aller Verwandten; gestickte oder handgenähte Ruschniki und Bilder, handgewebte oder handgeknüpfte Wandteppiche. Diese Kultur verschwindet zusehends, zusammen mit der ältesten Generation. Wenn die Großmutter stirbt, werfen die Kinder und Enkel praktisch alles weg und renovieren das Haus nach ihrem Geschmack, bis die alte Ästhetik vollständig zerstört ist. 
    Und mir als Fotograf ist klar: Wenn dieses Thema in Belarus niemand aufgreift, wenn das niemand dokumentiert und systematisiert, dann wird eine riesige Inselwelt der visuellen Kultur verlorengehen. Im Moment liegt das Projekt wegen Corona natürlich brach: Wenn ich, Gott behüte, infiziert in ein Dorf kommen würde, dann würde im schlimmsten Fall das ganze Dorf sterben.

    Wie finden Sie die Häuser mit solch außergewöhnlichen Einrichtungen?

    In jedem meiner Projekte gibt es eine Art Lotsen. In diesem Fall begann alles mit der alten Kazjaryna Pantschenja aus dem Dorf Pahost, das im Südosten von Belarus liegt. Mit ihr verbindet mich eine herzliche Freundschaft. Ihr stehen im Umkreis von 50 Kilometern alle Türen offen! Als Respektsperson kommt sie wirklich überall rein, alle kennen sie. Sie sagt dann einfach mal: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“
    Für mich ist das ein großes Glück, weil ich nicht stundenlang alles erklären und Vertrauen aufbauen muss. Das verkürzt die Aufwärmphase auf fünf Minuten, und das ist viel wert: So kann ich pro Tag sieben bis zehn Fotos machen. Wenn ich einfach die Dörfer abklappern würde, würde ich eine, höchstens zwei Sessions pro Tag schaffen. 
    Außerdem ist es wichtig, überraschend bei den Leuten aufzutauchen, dann sieht das Inventar natürlich aus. Manchmal verwandelt sich ein Haus vor deinen Augen in ein mustergültiges Vorzeigearrangement, alles wird aufgeräumt und geputzt – aber solche Fotos passen nicht in mein Projekt, die mache ich nur so und schenke sie den Hausbewohnern. Die Traditionellen Wohnräume sind etwas anderes. 
    Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie. Ich möchte vielmehr zu den Wurzeln der Fotografie zurückkehren, den Dreck und die Details einfangen, die man normalerweise nicht sieht. Ganz zu Beginn war das der wichtigste Unterschied der Fotografie zur erhabenen Kunst der Malerei – das Festhalten und die Produktion von Realität in ihrer authentischen Form. 

    Wie ist diese spezielle Form der Inneneinrichtung in Belarus entstanden?

    Man kann sagen, es ist eine Kombination aus den materiellen und kreativen Möglichkeiten der Hausleute und den jeweiligen regionalen Traditionen. Aber es gibt definitiv immer Elemente, die in ganz Belarus gleich sind: sehr viele Familienfotos in einem gemeinsamen Rahmen, die praktisch alle Generationen zeigen, gestickte traditionelle Ornamente oder Alltagsszenen. Die Farben der Wände sind dagegen überall anders. Während man im östlichen Belarus immer bunte Tapeten hat und viele bunte, handgewebte Wandteppiche und Ruschniki aufhängt, sind die Wände im Westen einfarbig, meistens grün oder blau. Und weil zwei Kriege nicht nur die Menschen getötet, sondern auch ihre Holzhäuser zerstört haben, sind die Möbel und Einrichtungsgegenstände ärmlich und spärlich und wiederholen sich oft von Haus zu Haus.

    Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land – findet man diese Form der Einrichtung nur in Dörfern oder auch in Städten?

    Wie in anderen Ländern ist auch in Belarus der Prozess der Urbanisierung, der vor allem am Ende des Zweiten Weltkrieges von der sowjetischen Führung vorangetrieben wurde, noch nicht abgeschlossen. Derzeit leben nur 25 Prozent der Menschen in Dörfern, drei Viertel der Bevölkerung sind Städter. 
    Spricht man über die Dynamik, so war das in den letzten 60 Jahren eine Revolution: 1959 haben noch 5,5 Millionen Menschen im Dorf gelebt und 2,5 Millionen in der Stadt. Das heißt, heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Es kommt deswegen vor, dass die Kinder der Dorfbewohner die visuelle Kultur der älteren Generation auch in die Stadt mitgebracht haben. 

    Wie reagieren die Leute, wenn Sie sie in ihrem Wohnzimmer fotografieren wollen?

    Na ja, für sie bin ich irgendein Herr Wichtig aus Minsk, der mit einem fertigen Foto im Kopf ankommt und nur ins Haus reingehen muss, den Bewohner hinsetzen, die Fenster schließen, damit das Licht stimmt – und fertig. Die Aufnahmen selbst sind schnell gemacht, fünf bis zehn, maximal 15 Minuten. Es gibt daher auch nicht wirklich ein Gespräch: Drehen Sie den Kopf, setzen Sie sich aufs Bett, danke für die Aufnahmen. Und wohin soll ich die Fotos schicken – denn praktisch alle Teilnehmer bekommen entwickelte Fotos geschenkt. In vielen Fällen waren die Leute schon gestorben, wenn ich ihnen ein paar Monate später die Fotos bringen wollte … 

    Findet man auch bei der jüngeren Generation solche Inneneinrichtungen?

    Ich glaube, es gibt bei uns kein Traditionsbewusstsein, und angesichts des rasenden Tempos der Urbanisierung fehlte das vielleicht schon von Anfang an. Jede Generation der letzten 100 Jahre hat gelernt, an einem neuen Ort zu leben, unter neuen Bedingungen und mit einem anderen Lebensstandard, und vor allem: immer in einem neuen Haus. Die Großeltern lebten in einem Holzhaus im Dorf, ihre Kinder zogen in ein Zimmer im Wohnheim oder in eine Chruschtschowka, deren Kinder wiederum wohnten erst mal in einer Mietwohnung und erwarben oft erst später Eigentum. Aber bevor sie einzogen, machten sie auf jeden Fall Euroremont, kauften Möbel von IKEA und brachten Hängedecken aus Plastik an. So ganz pauschal gesagt. Niemand wollte das alte Zeug erben, wo man sich doch in Belarus für eine ländliche Herkunft immer geniert hat, was ein zusätzlicher Grund dafür war, die visuelle Kultur des Dorfes hinter sich zu lassen. 
     

    Zwischen bestickten Kissen auf dem Sofa: Wolha Nikalauena Mahnawez und ihr Ehemann, der das Dorfoberhaupt ist, in Kudrytschy / Foto © Anonym

     

    In Chwajensk: Tamara Lukjanauna Tscharnuschewitsch in ihrem Wohnzimmer / Foto © Anonym

     

    Matrona Filipauna Kaschkewitsch vor einer Panorama-Fototapete, in Pahost, mehr als 100 Kilometer östlich von Minsk / Foto © Anonym

     

    Ruschniki, Kissen, Plüschtiere – Kazjaryna Pantschenja in Pahost. Wie der Fotograf im Interview erzählt, öffnete sie ihm viele Türen in den Dörfern im Umkreis: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“ / Foto © Anonym

     

    In Pahost Iwan Zimafejewitsch Shochna an einem Holztisch, hinter ihm ein Wandbild mit Fransen / Foto © Anonym

     

    Im Süden von Belarus, im Dorf Chlupin: Hanna Akimauna Totschka. Unter dem Rahmen mit Familienbildern hängt ein Zettel mit groß gedruckten Notrufnummern / Foto © Anonym

     

    Hanna Ryhorauna Shuk vor einer modern tapezierten Wand. Auf den Sesseln liegen traditionelle Häkeldeckchen, Saruddse / Foto © Anonym

     

    Im Dorf Láchauka: Hanna Kirylauna Tschapjalewitsch auf ihrem Sofa / Foto © Anonym

     

    Schwerer Wandteppich, leichte Kissen: Maryja Michailauna Sankewitsch in Pahost / Foto © Anonym

     

    Mit Zierkissen und Stickdecken lieber zurückhaltend: Iwan Iwanawitsch Lewanjuk in seinem Haus / Foto © Anonym
    Vor Kissenburgen: Wolha Dsmitryjeuna Jakuschewitsch im Dorf Tschernіtschy / Foto © Anonym

     

    Rotes Telefon, geblümte Gardinen: Maryja Paulauna Holad in Chwajensk  / Foto © Anonym

     

    „Im Westen sind die Wände einfarbig“, sagt der Fotograf. Bei Maryja Filipauna Mamai im Dorf Saruddse sind sie in Brauntönen gehalten / Foto © Anonym

     

    Iryna Franzauna Simnizkaja in ihrem Haus im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Litauen vor holzvertäfelter Wand in Grün / Foto © Anonym

     

    „Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie“, sagt der Fotograf. Krywitschy: Dorfbürgermeister Mikalai Serafimawitsch Lewadouski in seinem Haus / Foto © Anonym

     

    Kanstanzinauka im Nordwestenvon Belarus: Nadseja Iwanauna Katowitsch auf ihrem Sofa, das mit Häkeldeckchen dekoriert ist / Foto © Anonym

     

    Maryja Michailauna Kusmitsch mit ihrer Katze in ihrem Haus in Pahost / Foto © Anonym

     

    Ikonenbilder umhüllt von einem Ruschnik: Natalja Dsmitryjeuna Kusmitsch vor ihrer Küchenwand in Pahost / Foto © Anonym

     

    Zwischen geblümten Vorhängen: Michail Sacharawitsch Tschetschko in Pahost / Foto © Anonym

    Fotos: Anonym
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Text: dekoder-Team (das Interview wurde schriftlich geführt)
    Veröffentlicht am 18.11.2021

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