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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Im Land der Mütter

    Im Land der Mütter

    „Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt“, sagt Tatsiana Tkachova. In ihrem Fotoprojekt Motherland erkundet die belarussische Fotografin die Bindung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den vor allem ihre Mutter und ihre Verwandten zu ihrem Zuhause gemacht haben. 

    Tkachova wurde unter anderem mit dem World Press Photo ausgezeichnet. Aktuell lebt sie in Hamburg. Wir haben mit ihr gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

    dekoder: Wie ist das Projekt Motherland entstanden?

    Tatsiana Tkachova: Das erste Foto entstand 2018 während meines Besuchs zu Neujahr. Ich weiß nicht mehr, was dazu beitrug, jedenfalls wollte ich das Leben meiner Mutter auf Kamera festhalten. An den Feiertagen zum Jahreswechsel besuche ich sie immer. Wir schmücken einen Tannenbaum, kochen Weihnachtsessen, reden viel und tauschen Nachrichten aus. Ich glaube, viele können sich sowas auch hier in Deutschland vorstellen. Ich mache immer Fotos, wenn ich bei meiner Mutter bin. Und dann hatte ich die Idee, meine Mama und ihre Schwestern in dem Haus zu fotografieren, in dem sie aufgewachsen sind. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und die Schwestern konnten nicht zu Mama kommen, sie leben woanders in Belarus. Dann ging ich nach Deutschland. Ich hatte aber noch ein Archiv mit Fotos aus den letzten vier Jahren. Für mich war es wichtig, das, was jetzt vorhanden ist, zu einer runden Geschichte zusammenzufügen, soweit das möglich ist. Inspirierend waren für mich dabei Nadia Sablins Geschichte Tjotjuschki (dt. Tantchen) und Tarkowskis Film Zerkalo (dt. Der Spiegel).

    Erzählt das Projekt auch eine besonders belarussische Geschichte?

    Das weiß ich nicht, darüber habe ich nie nachgedacht. Wäre ich in einem anderen Land geboren, hätte ich wohl eine genauso enge Beziehung zu meiner Mutter und dem Ort, wo ich mein erstes halbes Lebensjahr verbracht habe. Ich liebe Belarus, ich bin hier geboren. Um genau zu sein, ist meine Heimat das Haus, in dem meine Mutter wohnt und ihre Schwestern und ihre Eltern gewohnt haben, meine Großeltern. Dieses Haus ist die Hauptfigur meiner Geschichte. Im Garten wachsen Blumen und Bäume, die mein Opa gepflanzt hat. Er und Oma sind längst tot, aber den Garten gibt es noch. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Deswegen finde ich es gut, dass Fotos visuelle Bilder erzeugen, die man schwer in Worte fassen kann, weil jeder eigene hat.

    Geht es also in gewisser Weise auch um Verlust?

    Ich würde nicht von Verlust sprechen. Ich glaube nicht, dass dieses Wort in diesen Kontext passt. Meine Mama lebt noch, und es geht ihr gut. Wir sprechen doch nicht von Verlust, wenn die Kinder zum Studieren in eine andere Stadt gehen oder in ein anderes Land. Das ist ein natürlicher Vorgang. Die Geschichte, die ich erzähle, ist zeitlos. Eine Verbindung zu dem Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, und zu seiner Familie hat jeder. Das bleibt für immer in unserem Bewusstsein. Wenn wir Fotos ansehen, spüren wir die Nähe, die Intimität bestimmter Momente, die nur zwischen einander sehr nahestehenden Menschen passieren. Aber wenn man anfängt zu erklären, scheitert man immer, weil jeder seine einzigartige Erfahrung hat. Es ist das, was Umberto Eco in den Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers beschrieb. Motherland ist ein Porträt meiner Familie und gewissermaßen ein Selbstporträt, das aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den es nicht mehr gibt, weil man nicht in die Vergangenheit zurück kann. 

    Ein anderer Aspekt des Projekts scheint auch die Rolle der Mutter zu sein?

    Mich fasziniert das Phänomen des Mutterseins und wie Frauen imstande sind, das Gerüst einer Familie aufrechtzuerhalten. In meiner Familie war das so. Ich weiß noch, wie jeden Sommer Mutters Schwestern mit ihren Männern und Kindern in unser Elternhaus kamen und wir alle beisammen waren. Irgendwann blieben die Frauen allein, weil die Männer sich mit Opa in die Garage verzogen, um an einem Motorrad herumzuschrauben. Wir saßen im Wohnzimmer, und Oma zeigte uns Stoffe, Kleider, Tücher. Das nannten wir: Schätze bewundern. Ich fragte mich immer: Wozu sollen wir das alles anschauen, wir haben es ja letztes Jahr schon gesehen. Aber die Großmutter fand immer etwas Neues. Sie lachten viel, erinnerten sich an ihre Kindheit, lasen Gedichte. Jetzt besuchen die Verwandten in diesem Haus meine Mutter.

    Wie halten Sie Kontakt zu Ihrer Mutter?

    Ja, meine Mutter hat mich zweimal hier besucht. Ich setze meine Arbeit an Motherland fort. Wir halten genauso Kontakt wie vorher, unterhalten uns oft per Videocall. Natürlich gibt es wegen der Visabeschränkungen ein paar Dinge zu beachten, aber ich hoffe, dass wir uns auch in Zukunft treffen können.

    Haben Sie schon neue Projekte?

    Ich arbeite an mehreren Projekten, aber es ist noch zu früh, davon zu erzählen. Ich hoffe, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Was Motherland betrifft, möchte ich unter anderem die ursprüngliche Idee umsetzen und Fotos von Mamas Schwestern hinzufügen, wenn sie sie besuchen. Und auch ein Buch zu Motherland entsteht gerade.

    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova


    Aus dem Video-Archiv von Motherland, Belarus, 2018-2021
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova

    Fotografie: Tatsiana Tkachova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Team
    Veröffentlicht am: 30.11.2023

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    „Als wäre es ein Horrorfilm“

  • Bilder vom Krieg #15

    Bilder vom Krieg #15

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Norman Behrendt

    Luftschutzbunker im „Institut für Automation“ in Kyjiw, 25.10.2023 / Foto © Norman Behrendt
    Luftschutzbunker im „Institut für Automation“ in Kyjiw, 25.10.2023 / Foto © Norman Behrendt

    dekoder: Sie haben gerade einen Monat lang als „Artist in residence“ in Kyjiw gearbeitet. Warum geht man als Künstler in ein Land, das sich im Krieg befindet?

    Norman Behrendt: Der Düsseldorfer Maler Paul Maciejowski hatte die Idee, Künstlern aus Deutschland einen Aufenthalt in Kyjiw zu ermöglichen. Der Titel Ich komme und sehe trifft es sehr gut: Nach bald zwei Jahren sind wir alle ein bisschen abgestumpft und viele wollen nichts mehr vom Krieg hören. Dort hinzufahren, den Alltag zu erleben und den Menschen zu begegnen, war unser Ziel. Als Künstler teilen wir unsere Erfahrungen aus dieser Zeit und können so weiter für das Thema sensibilisieren. In meiner Arbeit beschäftige ich mich schon länger mit der Architektur von Metro-Systemen; da war ich neugierig zu sehen, wie sich die Metro in Kyjiw von einem Transportsystem zu einem Schutzraum verwandelt.

    Dieses Foto ist auch in einem Luftschutzbunker entstanden. Wie kam es dazu?

    Bevor ich nach Kyjiw kam, habe ich mich gefragt, ob ich dort überhaupt konzentriert arbeiten kann, oder ob ich ständig von Fliegeralarm unterbrochen werde. Tatsächlich hat es fast zwei Wochen gedauert, bis wir zum ersten Mal einen Alarm hatten. Unser Atelier war in einem großen Gebäude, in dem zu Sowjetzeiten das Institut für Automation untergebracht war. Seit einigen Jahren arbeiten dort verschiedene Künstlergruppen. Da gibt es im Keller einen richtigen Bunker mit dicken Betonwänden und schweren Stahltüren. In Kyjiw haben alle auf ihren Handys eine App, die bei Angriffen anzeigt, wo der nächste Schutzraum ist. Aber es kamen gar nicht so viele Menschen in diesen Schutzraum. Die ukrainischen Künstler haben einfach weiter gearbeitet. Die Flugabwehr fängt ja glücklicherweise das Meiste ab.

    Das war in den ersten Tagen des russischen Überfalls anders. Auf der Tafel, die dort an der Wand hängt, hat jemand bei jedem Alarm das Datum notiert …

    In dem Bunker suchen auch viele Leute Zuflucht, die in der Nähe wohnen oder arbeiten, auch Familien mit Kindern. Diese Daten vermitteln etwas von dem bedrückenden Gefühl, jeden Tag in diesen Bunker zu müssen. Und niemand weiß, wie lange das dauern wird. Ende März hören die Aufzeichnungen auf, aber wir wissen ja, dass der Krieg immer noch andauert. Die Zeichnungen lassen vermuten, dass Kinder sich die Zeit mit Malen vertrieben haben. Das zeigt, dass selbst an so einem Ort die Fantasie lebendig ist.

    Haben Sie auch in der Metro fotografiert?

    Dafür hätte ich eine Erlaubnis gebraucht, die hatte ich nicht. Aber mich hat sehr beeindruckt, wie routiniert die Kyjiwer mit der Situation umgehen. Viele Schulklassen bringen sich bei einem Luftalarm in der Metro in Sicherheit, deshalb sind dort sehr viele junge Leute. Die Metro in Kyjiw ist sehr tief, teilweise bis zu hundert Meter unter der Erde. Da fühlt man sich sehr sicher. Das Bahnpersonal hat dann faltbare Hocker ausgeteilt, man konnte sich setzen, man konnte auf die Toilette gehen. Und die ganze Zeit fuhren auch die Züge weiter. Menschen kamen und gingen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, die Stadt hat eine beeindruckende Resilienz, sie lebt einfach ihr Leben weiter. Wüsste man nicht, dass sich das Land im Krieg befindet, würde man sich vielleicht über die Kontrollposten in der Stadt und die Militärfahrzeuge auf den Straßen wundern. Die Leute gehen zur Arbeit, die Restaurants haben geöffnet, auf den Straßen ist viel Verkehr. Trotzdem merkt man natürlich in Gesprächen, wie der Krieg die Menschen belastet.

    Was kann Kunst an so einem Ort schaffen?

    Zusammen mit dem Berliner Fotografen Eric Pawlitzky haben wir eine Skulptur gebaut, die aus einem Notausgang und zwei Lüftungsschächten besteht. Aus den Lüftungsschächten waren Geräusche und Ansagen aus der Berliner U-Bahn und der Kyjiwer Metro zu hören. Die Idee war, eine symbolische Verbindung zwischen der deutschen und der ukrainischen Hauptstadt zu schaffen, die seit September 2023 auch Partnerstädte sind. Wir können als Künstler keine U-Bahn-Linie zwischen Berlin und Kyjiw bauen, aber wir können die Idee einer echten Verbindung der beiden Städte in die Köpfe pflanzen. 

    Ihr Aufenthalt in der Ukraine war ja an sich auch eine solche Verbindung. Wie ist das bei den Künstlern in Kyjiw angekommen?

    Die Künstler, aber auch die Menschen generell, die wir getroffen haben, waren alle sehr dankbar. Es bedeutet ihnen viel, wenn andere ganz konkret ihre Verbundenheit mit ihrem Land zeigen. Im Moment kommen außer NGO-Vertretern und Journalisten nur wenige Ausländer. Wir wurden unglaublich warmherzig aufgenommen. Ab 21. November werden unsere Arbeiten im Zentrum für Moderne Kunst M17 gezeigt. Das ist eine unglaubliche Ehre.

    Foto: Norman Behrendt
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 16.11.2023

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Die schwindende Macht der Angst

    Bilder vom Krieg #12

    BILDER VOM KRIEG #13

    Bilder vom Krieg #14

    Christopher Nunn: War Rooms

  • Christopher Nunn: War Rooms

    Christopher Nunn: War Rooms

    Der britische Fotograf Christopher Nunn hat eine Gabe, Dinge zum Sprechen zu bringen. Beim Ansehen seiner Arbeiten spielen sich ganze Geschichten im Kopf des Betrachters ab. Nach Beginn des verdeckten Krieges gegen die Ukraine im Donbass 2014 fotografierte er Fernsehgeräte in Wohnräumen und Behörden, einige in russisch kontrolliertem Gebiet gelegen, einige auf Gebiet unter ukrainischer Kontrolle. Einige Geräte zeigten die russische Sicht der Welt in der Version der staatlichen Propaganda, auf anderen liefen ukrainische Sender. Infowar nannte er das Projekt. In seinem jüngsten Projekt War Rooms geht es wieder darum, dass der Krieg in die Häuser der Menschen eingedrungen ist. Aber diesmal nicht durch den Fernseher, sondern in seiner ganzen realen Brutalität.

    Eine von Besatzern verwüstete Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Eine von Besatzern verwüstete Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn

    dekoder: Wie finden Sie die Orte, an denen Sie diese Fotos aufnehmen?

    Christopher Nunn: Ich habe bei diesem Projekt mit der ukrainischen Regisseurin Oksana Karpovych zusammengearbeitet. Ihr Film Intercepted soll im kommenden Jahr erscheinen. Die meisten Bilder entstanden während der ukrainischen Gegenoffensive im Jahr 2022 in der Region Charkiw. Wir hatten einen großartigen Producer, Artem Fysun, der selbst aus Charkiw stammt. Er hat uns in unterschiedliche Städte und Dörfer geführt, die gerade erst befreit worden waren nach Monaten russischer Besatzung.

    Wie gefährlich war es, dort zu arbeiten?

    Piwnitschna Saltiwka, ein Wohnviertel am Stadtrand von Charkiw, ist einer der am stärksten zerstörten Orte. Das Viertel wurde praktisch in eine Geisterstadt verwandelt. Das erste Mal, als wir dort hinfuhren, war kurz vor der Gegenoffensive, und die russischen Stellungen lagen noch sehr nahe an Charkiw. Wir mussten ein paar Minuten nach unserer Ankunft schon wieder gehen, weil etwa 100 Meter die Straße hoch „Grad“-Raketen eingeschlagen waren. Das war zu der Zeit die tägliche Realität der Menschen dort. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer leben heute noch immer in dieser dauernden Angst.

    Küche einer Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Küche einer Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn

    Als Betrachter fragt man sich, ob diese Räume schon lange verlassen sind, oder ob das Geschoss gerade erst eingeschlagen hat?

    Einige der Gebäude befanden sich im Zentrum von Charkiw und wurden nur wenige Stunden vor unserer Ankunft bombardiert. Einige der Bilder habe ich in der Region Kiew aufgenommen, diese wurden während der frühen Phasen der Invasion beschädigt. Die Zerstörung ist allgegenwärtig, aber die Ukrainer beeilen sich auch, zerstörte Gebäude entweder schnell zu reparieren oder abzureißen. Wir wussten daher, dass die Räume, die wir betraten, vielleicht nicht lange in diesem Zustand existieren würden.

    Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass gar nicht alle Räume durch Artillerie verwüstet wurden. Einige sind auch einfach verlassen, weil die Einwohner fliehen mussten. In anderen haben Besatzer gehaust.

    Genau. Wir sehen einen Raum, der auf die eine oder andere Weise durch den Konflikt verändert wurde und in einem Zustand der Unordnung ist. Die Räume waren im Grunde Tatorte und sie zeigen die Folgen des russischen Krieges: Tod, Vertreibung, Besatzung und Zerstörung. Je besser man die Ukraine und ihre Kultur kennt, desto mehr Details erkennt man auf den Bildern. Alltägliche Dinge wie bestimmte Tapetenmuster, die man in der Ukraine häufig findet, Ikonen oder das Blumenmuster auf einem Kochtopf zum Beispiel. Viele Wohnungen waren noch für Weihnachten und Neujahr geschmückt. Die Ukrainer begehen Weihnachten am 7. Januar, und am 24. Februar begann die Invasion.

    Wohnzimmer in Borodjanka, Gebiet Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Wohnzimmer in Borodjanka, Gebiet Kyjiw / Foto © Christopher Nunn

    Gibt es etwas, was Sie an diesen Orten besonders berührt hat?

    Abgesehen von der menschlichen Tragödie dieses Krieges und dem Leid, das er verursacht, war es immer traurig, auf verlassene oder sterbende Haustiere zu treffen, oder einfach die Spuren des friedlichen Lebens zu sehen, das nicht mehr existiert. Wir haben viele zerstörte Schulen gesehen, das ist auch sehr bedrückend.

    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Verwaltungsgebäude nach Abzug der russischen Besatzer, Kutusziwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verwaltungsgebäude nach Abzug der russischen Besatzer, Kutusziwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Küche einer Wohnung in Irpin, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Küche einer Wohnung in Irpin, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Klassenzimmer einer zerstörten Schule im Dorf Wilchiwka, Gebiet Charkiw /: Foto © Christopher Nunn
    Klassenzimmer einer zerstörten Schule im Dorf Wilchiwka, Gebiet Charkiw /: Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern genutzte Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern genutzte Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verlassene Wohnung in Bezirk Piwnitschna Saltiwka, Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verlassene Wohnung in Bezirk Piwnitschna Saltiwka, Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern verwüstetes Haus im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern verwüstetes Haus im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Schlafzimmer im Zentrum von Charkiw nach russischem Beschuss / Foto © Christopher Nunn
    Schlafzimmer im Zentrum von Charkiw nach russischem Beschuss / Foto © Christopher Nunn
    Verlassenes und geplünderte Haus in Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verlassenes und geplünderte Haus in Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörtes Haus in der vor Kurzem befreiten Stadt Kamjanka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörtes Haus in der vor Kurzem befreiten Stadt Kamjanka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Rathaus der Stadt Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Rathaus der Stadt Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Wilchiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Wilchiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn

    Fotografie: Christopher Nunn
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 09.11.2023

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Bartosz Ludwinski

    Diana, acht Jahre alt, vor dem Haus ihrer Großeltern im Donbass. Diana wurde gezwungen, ihr Zuhause im russisch besetzten Gebiet zu verlassen. Als sie an einem vermeintlich sicheren Ort in der Ukraine ankam, begannen die Kinder, sie als „Separatistin“ zu beschimpfen. Sie entgegnete ihnen, dass ihr Vater in Bachmut für das Land kämpfe. Jetzt ist ihr Vater tot. Aufgenommen am 2. August 2023. / Foto © Bartosz Ludwinski

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto gemacht hast?

    Bartosz Ludwinski: Am 2. August 2023 fuhr ich mit zwei anderen Freiwilligen einer NGO, die Evakuierungen und Hilfseinsätze im Donbass durchführt, in die Frontstadt Tschassiw Jar. Ich habe mich der NGO im Sommer 2023 angeschlossen. Vorher, kurz nach Beginn des Krieges, hatte ich mich als Fahrer für Hilfskonvois gemeldet. Für mich ist es wichtig, etwas zurückzugeben, sonst fühle ich mich schnell als Nutznießer. Am Tag zuvor hatten wir also von einer möglichen Zwangsevakuierung der verbliebenen Kinder in der Umgebung erfahren. Zwischen 60 und 70 Kinder waren aber noch vor Ort. Also machten wir uns auf die Suche nach ihnen.

    Was für einen Eindruck hattest du von Tschassiw Jar?

    Während wir durch den Ort fuhren, schlug unweit von uns eine Granate ein. Es müssen etwa 200 Meter gewesen sein. Eine Frau kam uns auf ihrem Fahrrad entgegen und fuhr einfach geradeaus durch eine weiße Rauchwolke. Die Granate hatte sie nur knapp verfehlt, aber sie beeilte sich nicht einmal. Viele der Menschen, die nahe der Front geblieben sind, sind schwer traumatisiert und nehmen die Gefahr um sie herum nicht mehr wahr, es sei denn, sie betrifft ihr direktes Zuhause. In solchen Momenten versuchen wir, die Menschen zur Flucht zu motivieren. 

    Schließlich traft ihr auf das Mädchen auf dem Foto, die achtjährige Diana. Was ist ihre Geschichte?

    Diana war gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause. Wir sprachen sie an und erfuhren von ihrer Geschichte. Auch ihre Großeltern kamen heraus und zeigten uns das Haus, das mehrfach von Grad-Raketen getroffen worden war. Diana war zuvor in einen anderen Teil der Ukraine geflohen, der als relativ sicher gilt. Dort wurde sie in der Schule von den anderen Kindern als „Separatistin“ beschimpft. Sie antwortete zwar, dass ihr Vater in Bachmut für die Ukraine kämpfe, aber das interessierte die anderen Kinder nicht. „Du bist eine Separatistin“, sagten sie immer wieder. Als wir sie trafen, war Diana gerade wieder in den Donbass zurückgekehrt. Heute ist ihr Vater tot und mit ihm sein Bruder. Beide sind an der Front gefallen. Diana hat nur noch ihre Großeltern. Die wiederum befinden sich in einem Rechtsstreit mit der eigenen Familie um das Land des verstorbenen Vaters. Das war eine Realität, die mich sehr bewegt hat. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, begleitet mich ein Gefühl der Ohnmacht und Fassungslosigkeit.

    Wie war es für dich, als Fotograf in der Ukraine zu arbeiten?

    Es ist schwierig, zu beschreiben, wie es ist, in einem vom Krieg zerrütteten Land zu leben. Man lernt, seine Gedanken und Ängste zu kontrollieren, einige besser als andere. Während meiner Zeit dort habe ich jedoch vor allem viel Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft erfahren und enge Freundschaften geschlossen. Mir war es wichtig, den Krieg authentisch und ehrlich aus meiner Perspektive zu zeigen, aber natürlich auch aus der Perspektive der Ukrainer. Dafür habe ich Wochen und Monate mit ihnen zusammengelebt und konnte so ihre alltäglichen Gedanken, Ängste und Hoffnungen besser verstehen. Das erfordert natürlich viel Zeit und ist nicht jedem möglich. 

    Was wünschst du dir hinsichtlich des Fotojournalismus in Kriegsregionen?

    Generell wünsche ich mir mehr Zeit für den Journalismus. Das Bild eines Fotografen, der sich kurz in ein Kriegsgebiet abseilt und dann für immer von dort verschwindet, gefällt mir nicht. Dennoch ist mir klar, dass es oft unvermeidbar ist. 

    Inwiefern haben diese Erfahrungen dich als Fotografen und deine Arbeitsweise beeinflusst? 

    Natürlich beeinflussen all diese Erlebnisse, wie man auf unsere Welt blickt. Gerade der westliche Lebensstil mit all seinem Konsum und seinen Sorgen erscheint einem absurder denn je. Man hinterfragt sich und seine Umwelt nach der Rückkehr. Für kurze Zeit hatte ich das Gefühl, mich innerlich aufzulösen, bevor ich mich wieder an das Leben zu Hause gewöhnen konnte. Durch meine Erfahrungen im Krieg sehe ich aber auch Ereignisse oder Probleme zu Hause viel gelassener. Als Fotograf bin ich natürlich gewachsen und habe mich weiterentwickelt. Im Grunde hat sich an meiner Arbeitsweise nichts geändert. Aber ich denke, ich bin heute besser in der Lage zu erkennen, wann ich visuell überreizt bin und die Kamera für eine Weile weglegen muss. 

    BARTOSZ LUDWINSKI, geboren 1983 in Stettin, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Münster. Das Fotografieren brachte er sich selbst bei. In der Ukraine dokumentiert er das Leben der Menschen im Krieg. Seine Werke und Reportagen wurden in verschiedenen deutschen und internationalen Medien veröffentlicht, darunter etwa der Spiegel und das Magazin der Süddeutschen Zeitung.


    Fotos: Bartosz Ludwinski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 16.10.2023

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nazar Furyk

    Ein alter Mann namens Tarassowitsch holt eine Waschmaschine aus einem zerstörten Hochhaus. Das Haus wurde zu Beginn der Invasion von russischer Artillerie getroffen. Tarassowitsch hatte darin gewohnt. Irpin war im vergangenen Jahr intensivem Beschuss ausgesetzt. Unter der heftigsten Zerstörung litten das Stadtviertel Irpinsky Lypky und seine Vororte, denn die befanden sich während der Schlacht um Kyjiw im Epizentrum der Kämpfe. Beide Fotos wurden im Mai 2023 im Stadtviertel Irpinsky Lypky aufgenommen.  / Foto © Nazar Furyk

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du die Fotos gemacht hast?

    Nazar Furyk: An dem Tag war ich zum vierten Mal in dem Stadtteil Irpinsky Lypky. Ich hörte die Ankündigung, dass mehrere Hochhäuser in diesem Gebiet abgerissen werden sollten. Nachdem die Russen diese Gebäude teilweise bombardiert hatten, konnte niemand mehr darin wohnen. Die Abrissarbeiten zogen sich über mehrere Wochen. Jedes Mal, wenn ich dorthin kam, konnte ich sehen, wie das baufällige Haus nach und nach dem Erdboden gleichgemacht wurde. Manchmal standen auch Einheimische neben mir und beobachteten den Abriss. So lernte ich einen Mann kennen, der sich mit dem Namen Tarassowitsch vorstellte. Er ging in das Haus, in dem seine Wohnung gewesen war, um nachzusehen, ob er noch etwas mitnehmen könnte.

    Hast du mehr von der Geschichte dieses Mannes erfahren?

    Tarassowitsch ist während der gesamten Zeit der Besatzung in Irpin geblieben. Überlebt hat er nur durch einen glücklichen Zufall. Seine Wohnung wurde zwar durch den Beschuss beschädigt, aber er ging trotzdem dorthin zurück und versteckte sich. Immer mehr streunende Hunde kamen in das Haus. Einer von ihnen zog bei Tarassowitsch ein, und sie lebten zusammen. So verbrachte der Mann dort einige Tage und beobachtete, wie russische Bomben auf die Wohngebiete der Stadt fielen. Nach einem weiteren Beschuss brannte schließlich fast seine gesamte Wohnung ab – mitsamt dem Hund, der sich unter seinem Bett versteckt hatte. 

    Wie bildest du den Krieg in deinen Arbeiten ab?

    Wenn ich in befreite Gebiete zurückkehre, ist es mir wichtig, die Geschichte der Menschen und ihrer Umgebung aus einer zeitlichen Perspektive heraus zu erzählen. 
    Auf diese Weise ist es mir möglich, unsere Tragödien und unseren Schmerz im individuellen und kollektiven Gedächtnis festzuhalten. Man könnte sagen, dass die meisten meiner Arbeiten ein kontinuierlicher Prozess sind. Es ist ein endloser Zyklus, der mit unserem Gedächtnis und unseren Bildern arbeitet. 

    Aus welchem Motiv heraus fotografierst du die Auswirkungen des Krieges?

    Ich möchte zeigen, wie sich die grausamen und verheerenden Folgen des Krieges in den Menschen und in der Umgebung manifestieren. Und ich denke, dass alles, was Fotografen jetzt dokumentieren oder filmen, nicht nur ein Beweis für die Verbrechen ist, die Russland an der Ukraine und den Ukrainern begangen hat, sondern auch ein Teil des Prozesses der Herstellung von Gerechtigkeit und einer zukünftigen Bestrafung der Russen. Es ist für uns alle eine Möglichkeit zu erkennen, dass dieser grausame Krieg Menschen auf ganz unterschiedliche Weise zerstört. Auch wenn die Verletzungen nicht immer sichtbar sind, zerstören sie uns sowohl von innen als auch von außen.

    An welchem Projekt arbeitest du aktuell? 

    Seit über einem Jahr arbeite ich an einer großen Fotoserie. Ich fotografiere die Region Kyjiw und ihre Städte und Dörfer. Ich kehre häufig dorthin zurück. In Irpin, dort, wo die Fotos aufgenommen wurden, war ich schon häufiger, ebenso wie in den anderen Städten der Region. Ich beobachte und dokumentiere die Veränderungen der Umgebung, der Menschen dort und ihre Einstellung zu dieser Umgebung. Als der Wiederaufbau der Kyjiwer Region nach der Besetzung begann, wurde mir klar, dass sich die Dinge, die ich jetzt fotografiere, in ein paar Wochen vielleicht schon wieder verändert haben werden. Die Bilder dieser Veränderungen werden dann wahrscheinlich aus unserem Gedächtnis verschwinden. Aber die Bilder aus dieser Zeit und die Erfahrung dieser Transformation – die bleiben erhalten.

    Nazar Furyk, geboren 1995 in Kolomyia im Westen der Ukraine, lebt und arbeitet als unabhängiger Fotograf in Kyjiw. Seine Werke wurden international in renommierten Galerien und Museen ausgestellt und in zahlreichen Magazinen veröffentlicht.

    Bildredaktion: Andy Heller
    Fotos: Nazar Furyk
    Veröffentlicht am 10.10.2023

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  • Unbequeme Archive: Moskau im Krieg

    Unbequeme Archive: Moskau im Krieg

    Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft. 

    dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des Krieges, eine Sammlung vom Juli 2022.

    Verteidigungsministerium der Russischen Föderation vom Gorki-Park aus gesehen, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?

    Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar. 

    Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?

    Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.

    Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?

    Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.

    Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?

    Nein, den Eindruck habe ich nicht. 

    Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?

    Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
         

    Gedenkmarsch „Unsterbliches Regiment“ auf der Twerskaja Straße, 9. Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Riesiger Bildschirm an der Fassade eines Verwaltungsgebäudes zur Ausstrahlung von Putins alljährlicher Rede an sein „Parlament“ / Foto © Alexander Gronsky
    Bolschoi-Theater am 9. Mai 2022, zum Tag des Sieges „geschmückt“ mit einer vergrößerten Kopie des sowjetischen Marschallordens „Sieg“ und Bannern sowjetischer Fronten im Zweiten Weltkrieg / Foto © Alexander Gronsky
    Haus des Unternehmers. Das Plakat wirbt für die Teilnahme an einem Wettbewerb für Drohnenentwickler. Links eine Bushaltestelle mit Werbung für den Dienst als Vertragssoldat in der russischen Armee / Foto © Alexander Gronsky
    Reklametafel mit Werbung für den neuen russischen Propagandafilm „Nürnberg“ – laut Kritikern ein antiamerikanischer Blockbuster voller Verschwörungen, dessen Handlung vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse spielt, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Probe für die Siegesparade am 8. Mai 2023 — Atomrakete „Jars“. Im Hintergrund ein Werbeslogan der staatsnahen Alfa-Bank: „Für die Klugen und Freien“ / Foto © Alexander Gronsky
    Militaristisches Wandbild, das auf „Die drei Recken“ von Viktor Wasnezow aus dem späten 19. Jahrhundert anspielt, wobei es eher wie eine Parodie darauf aussieht, Juli 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Figur eines altrussischen Kriegers mit einem Z, dem Symbol der Kriegspropaganda, auf dem Schild. Eisskulpturenausstellung im Museon-Park neben der neuen Tretjakow-Galerie, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Erdbeer-Kiosk. Links daneben ein Stand, an dem man sich zur Armee melden kann, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Betonzaun mit propagandistischer Bemalung und Überschrift „Befreiung Europas“. Mit Georgsbändern, die zum Symbol der putinistischen Aggression und Propaganda geworden sind, und einem Wegweiser nach Berlin, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Bildschirm mit Werbung der Söldnertruppe Wagner mit dem Slogan „Schließ dich der Siegermannschaft an“, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm auf der Eissportarena des Zentralen Sportclubs der Armee ZSKA. Vor dem Hintergrund eines noch aus vorrevolutionären Zeiten allen russischen Staatsbürgern bekannten Gemäldes von Iwan Schischkin und Konstantin Sawizki, „Morgen im Kiefernwald“, aus dem Jahr 1886. Dazu ein Zitat des sowjetischen Schriftstellers Michail Scholochow: „Geliebtes, lichtes Vaterland! All unsere unendliche Liebe gilt dir. All unsre Gedanken sind bei dir“, Juni 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Porträt eines russischen Soldaten mit der Losung „Dank der Heldentat“, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Propagandistische „Installation“ zum Tag des Sieges. Im Hintergrund schimmert  durch ein Baustellennetz ein altes sowjetisches Propaganda-Wandbild: „Wir bauen den Kommunismus“, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Komposition: Fenster eines Verwaltungsgebäudes leuchten in Form des Buchstaben Z, dem Symbol der russischen Aggression, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Wort „Jetzt“ an der Wand eines Gebäudes aus der Breshnew-Zeit. Juni 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    Fotografie: Alexander Gronsky
    Bildredaktion: Maksim Sher
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 31.08.2023

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  • Menschen im Sumpf

    Menschen im Sumpf

    Es sind Bilder von Szenen und Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Pferdekarren, hölzerne Kanus als Transportmittel, unbefestigte Straßen, Frauen, die Flachs schlagen. Vielleicht stellte sich auch bei Louise Arner Boyd (1887–1972) dieser Eindruck ein, als die berühmte Forscherin 1934 das südliche Belarus mit seinen wilden Sümpfen und Wasserwegen bereiste. Schließlich kam sie aus den damals vergleichsweise hochmodernen USA in diese archaisch wirkende Region, die in Belarus von einem nahezu mystischen Faszinosum umweht ist und der der Schriftsteller Iwan Melesh (1921–1976) mit seinem Epos Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal setzte. 

    „In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen“, schreibt die Slawistin Nina Weller in einem Feature für Deutschlandfunk. „Das Bild des Menschen im Sumpf steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der Mensch im Sumpf verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil.“

    Die Fotos, die Louise Arner Boyd auf ihrer Reise durch die Sümpfe machte, geben auch einen Eindruck von dieser kulturellen Mystik. Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat sie für seine Leser wiederentdeckt. Die einzigartigen Bilder stammen aus der Sammlung der American Geographical Society Library, die an den University of Wisconsin-Milwaukee Libraries aufbewahrt wird. Wir zeigen eine Auswahl.

    Vor fast 90 Jahren, im Jahr 1934, unternahm die berühmte US-amerikanische Forscherin und Reisende Louise Arner Boyd nach der Teilnahme an einem internationalen Geographenkongress in Warschau eine dreimonatige Reise durch die Länder der sogenannten Kresy. Sie reiste mit dem Auto von Przemyśl in Polen über Lwiw, Kowel, Kobrin, Pinsk, Kletsk, Njaswish und Slonim nach Wilna. Ihre Fotos und Notizen über die Länder des heutigen Belarus, Polens, der Ukraine und Litauens können uns viel über das Leben der Menschen erzählen, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Region lebten. Dabei schenkte die Reisende dem belarussischen Polesien, dem Fluss Prypjat und seinen Nebenflüssen sowie der Hauptstadt der Region – Pinsk – besondere Aufmerksamkeit. 

    Wir bieten einen Blick in das Alltagsleben der Bewohner von Polesien in der Zwischenkriegszeit, das die Reisende in ihren Fotos festgehalten hat, begleitet von ihren ureigenen Bildunterschriften bzw. Anmerkungen.

    Ein Bauer mit Pflug und Pferd in einem Boot in den Prypjatsümpfen, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Familie steht am späten Nachmittag am Ufer der Prypjatsümpfe, dahinter ihr Haus. Links eine Frau beim Wäschewaschen, 1. Oktober 1934
    „Die Menschen hier besitzen ihr eigenes Grundstück, und die Grundstücksgrenzen sind entlang der Uferpromenade durch Markierungen gekennzeichnet. Sie bemessen ihr Eigentum nach Sznwry, was Seil bedeutet. Sie sagen: ,Ich habe so viele Sznwry‘, anstatt in Hektar zu messen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Mann fischt von einem Kanu aus, Prypjatsümpfe, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Zwei Frauen stehen in einem Kanu und waschen Wäsche, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Segelboot auf dem Fluss Pina in der Nähe von Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Männer beim Abladen von Heu von Lastkähnen am Markt von Pinsk, 30. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Lastkahn, beladen mit Holz, nähert sich Pinsk, 30. September 1934
    „Viele dieser Lastkähne kommen aus der Nähe der Grenze zu Russland.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Passagierschiff legt am Ufer in Pinsk an, 30. September 1934
    „Dies ist die Art von Seitenrad-Dampfer, wie sie auf dem Prypjat und seinen Nebenflüssen verwendet werden.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen in einem mit Baumstämmen beladenen Kanu vor Pinsk, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen sitzen in Kanus am Pinsker Markt, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Markt von Pinsk: Karren mit Heu und Birkenrinde, die für die Herstellung von Sandalen genutzt wird, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Stand mit Stiefeln auf dem Markt in Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Pferdekutsche auf der Hauptstraße in Pinsk am Markttag, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Verkaufsstände auf dem Pinsker Marktplatz, 3. Oktober 1934
    „Stände auf dem Marktplatz oberhalb der Uferpromenade. Töpferwaren, Holzwaren, Eisenwaren und so weiter auf Gehweg und Straße.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Mutter und Kind stehen neben einem strohgedeckten Gebäude, 1. Oktober 1934
    „Im Vordergrund rechts steht ein hölzernes Instrument zum Tragen von Flachs. Das Gebäude verfügt über gewebte Seitenwände, um eine Belüftung zu ermöglichen, und ist mit Stroh aus Riedgras gedeckt. Im Hintergrund stehen aufrecht am Zaun zwei Stangen zum Löschen von Dachbränden. An einem Ende befindet sich eine Bürste zum Ausschlagen der Funken und am anderen Ende ein Eisenhaken zum Abziehen des brennenden Strohs.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Automobil auf einer unbefestigten Straße östlich von Kobryn, 29. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Frauen dreschen Flachs, 2. Oktober 1934
    „Scheune und Getreidespeicher. Links bearbeiten zwei Frauen Flachs. Rechts eine hölzerne Egge. Ein Bündel Roggen. Diesen Leuten ging es gut. Sie waren sauber und die Kinder trugen gute Kleidung. Sie waren orthodox-griechische Katholiken, und ihre Kirche befand sich zwischen den Kiefern.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Drei Dorfbewohner sitzen zusammen, 7. Oktober 1934
    „Nahaufnahme von Männern in einem Dorf. Links: langer Bart, in der Mitte Schnauzer, rechts: glatt rasiert.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Pferd zieht große Baumstämme, östlich von Iwazewitschy, 8. Oktober 1934
    „42 Meilen östlich von Iwazewitschy. Wagen mit Holzstangen, die die Hinterräder verbinden und dazu dienen, das hintere Ende der langen Baumstämme zu lenken. Form einer Wünschelrute. Links die Vorderseite eines weiteren Wagens.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd“/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Kreuze auf einem Dorffriedhof, 5. Oktober 1934
    „Friedhof. Hohe unbemalte Kreuze ohne Namen oder Erkennungszeichen. Pflöcke markieren, wo die Toten begraben sind. Moos auf den Kreuzen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion

    Mit freundlicher Genehmigung der The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

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  • Zufluchtsort Tbilissi: Junge Russen im Exil

    Zufluchtsort Tbilissi: Junge Russen im Exil

    Für den Kreml sind sie Verräter, doch auch im Exil schlägt ihnen nicht selten Ablehnung entgegen: Laut Schätzungen haben seit dem 24. Februar 2022 bis zu einer Million Menschen Russland verlassen. Aus Angst vor Repressionen oder davor, in den Krieg geschickt zu werden, aus Protest gegen den Kreml, aus Scham oder Ekel – die Exilgründe sind zahlreich, ebenso die Zielländer. Viele hat es in die EU oder etwa nach Serbien verschlagen, andere in die südkaukasischen Länder oder in die Türkei. Die zentralasiatischen Staaten sind beliebt, einige fliegen nach Argentinien: Dort geborene Kinder erhalten automatisch die argentinische Staatsbürgerschaft, ihre Eltern können dann ebenfalls recht unkompliziert Argentinier werden. 

    Manche Exilanten empfinden, dass „Russen die neuen Deutschen“ sind: In ihrer neuen Heimat fühlen sie sich nicht willkommen, die Diskussion, ob es „gute Russen“ gibt, ist wohl ähnlich heftig, wie die Diskussionen über „gute Deutsche“ nach dem Zweiten Weltkrieg – Stichwort kollektive Verantwortung. Andere berichten etwa, dass einige Einheimische in Zentralasien nun den Spieß umdrehen – und sie genauso schlecht behandeln wie Russen die Gastarbaitery aus Zentralasien.

    Schon lange vor dem Krieg haben hunderttausende Russen mit den Füßen abgestimmt. Mit der sukzessiven Verschärfung der Repressionen seit der Zerschlagung der Bolotnaja-Bewegung 2011–2012 haben vor allem junge und gebildete Menschen Russland verlassen. Seit dem Beginn der russischen Großinvasion ist weiterer Braindrain zu beobachten – was laut Analysten einerseits Wirtschaftswachstum in die Exilländer bringt, andererseits aber auch Preissteigerungen. Zunehmend werden Russen im Exil als Gentrifizierer wahrgenommen. 

    Das Bild, das dabei gezeichnet wird, ist jedoch einseitig: Nicht nur junge ITler mit sechsstelligen Jahreseinkünften haben Russland den Rücken gekehrt, auch viele Kreative, Medienschaffende und zivilgesellschaftliche Akteure sind ins Exil gegangen. Der Fotograf Maximilian Gödecke und der Journalist Fabian Schäfer haben fünf von ihnen in der georgischen Hauptstadt Tbilissi aufgesucht. Aus dem Exil heraus bilden sie eine aktive Zivilgesellschaft, die sich ganz unterschiedlich gegen den Krieg und für ihre neue Heimat engagiert. 

    Agatha, 22, schaut auf das nebelige Tbilissi. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB bedrohte und observierte sie, weil ihr Vater in der Opposition engagiert ist. „Am 24. Februar hat mich mein Vater angerufen. Es war sofort klar, dass wir nicht in Moskau bleiben können.“ Die Modedesign-Studentin engagiert sich in einer georgischen Ehrenamts-Gruppe auf Telegram. / Foto © Maximilian Gödecke
    Agatha sitzt auf dem Balkon und raucht mit ihrer Mitbewohnerin eine Zigarette. / Foto © Maximilian Gödecke
    Ksenija, 35, arbeitete zuletzt für eine Organisation, die russische Beamte bei Fragen der Digitalisierung berät und schult. „Als ich auf Telegram vom Kriegsbeginn gelesen habe, war ich gelähmt. Ich wusste, dass jetzt alles anders wird.“ Seit Herbst engagiert sie sich bei Motskhaleba – eine NGO, die ukrainischen Geflüchteten in Georgien hilft. „In Russland war ich bei einer NGO aktiv, die politische Häftlinge unterstützt. Ich verachte die russische Propaganda – aber was kann ich tun? Menschen helfen, die Hilfe brauchen.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Der Kasache Artur, 23, kam für seine Ausbildung als Koch nach Jekaterinburg. Dort eröffnete er eine vegane Bäckerei, die anarchisch organisiert war und als Treffpunkt von Regimekritikern bekannt war. „Eines Tages rief mich die Polizei an, die mich für einen Extremisten hält. Ich würde aus Russland ausgewiesen. Wenn ich das Land nicht freiwillig verlasse, würde ich in Abschiebehaft kommen.“ In Tbilissi gründete er mit Mitstreitern das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. „Ich kann mir ein Leben ohne Aktivismus nicht vorstellen. Wir wollen die vegane Küche in Georgien bekannter machen und einen Raum für linke Gruppen bieten. Alle Trinkgelder spenden wir an die Ukraine.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. / Foto © Maximilian Gödecke
    Links: Portrait von Artur in seiner Wohnung. / Rechts: Die Theatermacherin Polina stellt die Figuren in ihrem kleinen Theater zurecht. / Foto © Maximilian Gödecke
    Polina, 29, kam mit besonderem Gepäck aus Sankt Petersburg nach Tbilissi: Ein kleines Figurentheater. Das brachte sie auch zu ukrainischen Waisenkindern aus Cherson, die aus der Ukraine geflohen sind. „Am Anfang hatte ich total Angst, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Ich kannte den krassen Hintergrund der Kinder, dass ich aus Russland bin, war gar kein Problem. Wir haben ein kleines Stück mit den Puppen kreiert. Alles war voller Liebe und Hoffnung und Verspieltheit.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Polina zieht die Gardine zu. / Foto © Maximilian Gödecke
    Der Journalist Danil, 45, hat es seit dem Krieg nicht mehr in Sankt Petersburg ausgehalten – auch wenn er seine Frau und seine Kinder dafür zurücklassen musste. „Ich wollte sofort raus aus Russland.“ In Tbilissi arbeitet er für Paper Kartuli, ein lokales zweisprachiges Online-Magazin. „Georgier:innen und Russ:innen haben oft wenig miteinander zu tun. Wir wollen sie aus ihren Bubbles herausholen.“ Im Keller der Redaktion hat er zusätzlich im Januar eine Bar eröffnet, in der sich vor allem oppositionelle Journalistеn aus Russland austauschen. / Foto © Maximilian Gödecke

    Fotografie: Maximilian Gödecke
    Text: Fabian Schäfer 
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am: 10.08.2023

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  • Bilder vom Krieg #12

    Bilder vom Krieg #12

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Brendan Hoffman

    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman
    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman

    [bilingbox]dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto aufgenommen hast?

    Brendan Hoffman: Ich habe dieses Foto am 13. Juni dieses Jahres gemacht, also nur eine Woche nachdem russische Streitkräfte den Staudamm von Nowa Katschowka im Süden der Ukraine gesprengt hatten. Die Menschen waren (und sind) immer noch wütend und schockiert darüber. Es ist eine so sinnlose Katastrophe. Die Sprengung scheint keinen anderen Zweck zu haben, als die ukrainische Zivilbevölkerung zu bestrafen. Aber die Ukrainer sind darin geübt, schnell zu reagieren. Also fanden die Menschen Wege, um sich gegenseitig zu helfen und gelassen zu bleiben.

    Den größten Teil des Tages habe ich in einem Tierheim verbracht, das Haustiere aufnahm, die bei der Überschwemmung von Cherson ausgesetzt worden waren. Den ganzen Tag von Hunden und Katzen umgeben zu sein – das ließ die Welt irgendwie in Ordnung erscheinen. Am Abend machte ich mich dann auf den Weg, um das Gebäude bei perfektem Licht einzufangen. Es ist immer noch schwer zu glauben, dass dies ein realer Ort ist. Es ist eines der wenigen Fotos, von dem ich schon im Vorhinein wusste, dass ich es machen wollte. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass dort ein Inlineskating-Kurs für Kinder stattfinden würde. Das war reines Glück. Für mich sind diese Kinder der Inbegriff von Freiheit.

    Wie würdest du deine Erfahrungen als Fotograf während des Krieges gegen die Ukraine beschreiben?

    Meine Erfahrungen sind insofern etwas ungewöhnlich, als dass ich ein dauerhaft in der Ukraine lebender Ausländer bin. Meine Frau ist Ukrainerin. Als die Invasion begann, konnte ich nicht einfach wieder nach Hause gehen. Zu allem Überfluss war meine Frau Ende Februar letzten Jahres im sechsten Monat mit unserem ersten Kind schwanger. Wir erlebten die erste Phase der Invasion zu Hause in unserem Schlafzimmer in Kyjiw. Dann verließen wir die Stadt. Etwa einen Monat lang arbeitete ich weiter, so gut es eben ging. Aber dann musste ich mich darauf konzentrieren, eine neue Wohnung in einem anderen Land zu finden und mich rechtzeitig dort einzuleben, um unseren Sohn auf der Welt willkommen zu heißen.

    Vor einem Jahr kehrten wir schließlich in die Ukraine zurück. Ich gehe nicht oft an die Front, sondern bleibe meist in Kyjiw. Das ist zwar manchmal gefährlich, aber es gibt mir die Möglichkeit, zu erkunden, wie der Krieg alles berührt – auch abseits der Front. Und, wie alles trotzdem weitergeht.

    Wie sollten Fotografen den Krieg deiner Meinung nach abbilden?

    Ich denke, wir müssen über einzelne Fotos hinausdenken und uns auf den Gesamteindruck konzentrieren, den wir als Fotografen vermitteln. Es gibt visuelle Klischees. Wenn man die bedient, kann das dazu führen, dass fade, sich wiederholende und zu vereinfachte Bilder entstehen. Daran bin ich genauso schuld wie jeder andere auch. Soweit es möglich ist, müssen wir versuchen, ehrlich und klar zu zeigen, wie der Krieg ist: nicht nur für die Soldaten oder für die Opfer eines Raketenangriffs. Sondern für all die Millionen von Menschen, die ihn durchleben. Das kann kompliziert sein.

    Gerätst du manchmal auch an den Rand deiner Möglichkeiten als Fotograf – insbesondere seit Beginn des Krieges?

    Es gab Momente – zum Beispiel, als 2014 das Malaysia-Airlines-Flugzeug MH17 über dem Osten der Ukraine abgeschossen wurde –, in denen ich keine Fotos von dem machen wollte, was vor mir lag. Es war zu grausam, und solche grausamen Fotos würden mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nicht veröffentlicht werden. Ich wollte das nicht tun und auch nicht dabei gesehen werden, wie ich solche Fotos mache. Es war, als ob die Leute eine falsche Vorstellung davon bekommen würden, was die Aufgabe eines Fotografen ist. Später bedauerte ich, dass ich die Bilder nicht gemacht hatte. Als historische Dokumente wären sie wichtig gewesen. Das ist es, was die Leute normalerweise meinen, wenn sie fragen, was auf einem Foto gezeigt werden kann oder sollte: Wie drastisch und blutig darf es sein, was ist akzeptabel? Krieg, das ist eine Frau, die von einer russischen Rakete aus ihrer Wohnung im 17. Stock in Kyjiw gesprengt wird und in Dutzenden von Teilen auf dem Parkplatz landet. Das war etwas, das ich letzten Monat gesehen habe. Die hässliche Realität zu vermeiden, fühlt sich an, als würde man die Wahrheit verbergen und einen Kreislauf des Tötens aufrechterhalten. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig ist, drastische Bilder zu machen, wenn man sie vor Augen hat – aber auch sehr genau darüber nachzudenken, wie sie, wenn überhaupt, gesehen werden.

    Wie lässt sich deine Position als Fotograf in der Ukraine beschreiben?

    Ich habe Glück, denn ich habe einen festen Arbeitsplatz und im Gegensatz zu vielen meiner ukrainischen Kollegen kann ich das Land verlassen, wann immer ich will. Ich bin zwar ziemlich eng mit der Ukraine verbunden, aber es ist trotzdem nicht mein Land. Ich werde nicht zum Kampf einberufen werden. Es ist ein schwieriger Balanceakt: Um gute Arbeit zu leisten, muss man einen Ort gut kennen, aber für mich ist auch eine gewisse Distanz erforderlich. Das war am Anfang am schwierigsten zu erreichen. Jetzt gibt es viele Momente, in denen ich weniger Beobachter sein möchte und stattdessen in irgendeiner Weise aktiver beteiligt sein möchte.~~~dekoder: Can you remember the day when you took the image? 

    Brendan Hoffman: I took this picture on June 13 of this year, so it was only a week after Russian forces blew up the hydroelectric dam at Nova Kakhovka, in southern Ukraine. People were (and are) still angry and in shock about it – such a pointless catastrophe that didn’t seem to have any function but to punish civilians and destroy infrastructure that supports some of the richest farmland in the world. Still, Ukrainians are practiced at leaping to action so people were finding ways to help and generally being stoic. I had spent most of the day at an animal shelter that was housing pets abandoned when Kherson flooded. Being surrounded by dogs and cats all day made the world feel kind of alright.

    How does the photo make you feel when you now look at it? 

    It’s still hard to believe this is a real place. It’s so perfect for the age. This is a rare photo that I knew ahead of time I wanted to make, and I made a special trip one evening to catch it with the perfect light. I had no idea there would be a children’s rollerblading class, however. That was pure luck, but to me those kids are freedom incarnate. 

    What were your experiences as a photographer during the war?

    I’m slightly unusual as far as my experience, in that while I am a foreigner, I live permanently in Ukraine and my wife is Ukrainian. When the full-scale invasion began, I couldn’t just do my assignment and then leave to go home again. To top it off, in late February of last year, my wife was nearly six months pregnant with our first child. We experienced the opening salvo of the invasion at home in our bedroom in Kyiv, and left the city the next day. I continued working as best I could for about a month but ultimately I had to focus on finding a new place to live in a different country and getting settled in time to welcome our son into the world. 

    We returned to Ukraine a year ago and I’ve been working pretty intensively since then, but again with a somewhat unusual role. I don’t often go to the front lines and instead mostly stay in Kyiv, which is sometimes dangerous but more often gives me the opportunity to explore the fascinating and telling ways that the war touches everything, but everything still carries on. 

    In your opinion: How should photographers depict the war?

    We have to think beyond individual frames to focus on the overall impression we give. There are deadline pressures and visual cliches that can conspire to produce bland, repetitive, and oversimplified imagery, and I’m as guilty as anyone of that. But to the extent possible, we really need to try to show with honesty and clarity of thinking what war is like, not just for soldiers or the victims of a missile attack, but for all the tens of millions of people living through it. It can be complicated.

    Where do you feel your own limits? Could you reflect on your own photographic position, especially within the context of the on-going war? 

    There have been times – for example, when Malaysia Airlines flight MH17 was shot down over eastern Ukraine in 2014 – when I felt like a vulture and did not want to take pictures of what was in front of me. It was too graphic, and such graphic photos wouldn’t be likely to be published anyway. I didn’t want to do it and I didn’t want to be seen doing it. It was like people would get the wrong idea about what a photographer’s purpose is. Later, I had regrets that I hadn’t made the pictures. I still think they were too graphic to be published, but they would be important as historical documents. This is normally what people mean when they ask about what can or should be shown in a photo: how graphic and bloody is acceptable? Of course, that’s what war is, it’s a woman blown out of her 17th floor apartment in Kyiv by a Russian missile and landing in the parking lot in dozens of pieces. That was something I saw last month. It’s a dilemma because avoiding the ugly reality feels like hiding the truth and perpetuating a cycle of killing. I’ve come to the conclusion that it’s important to make graphic pictures when presented with them but to be very thoughtful about how, if ever, they are seen.

    As for my overall photographic position, I’m lucky. I have steady work and unlike many of my Ukrainian colleagues, I can leave the country when I want to and take a break, or I could pack up and move away entirely. While I’m pretty deeply enmeshed in Ukraine, it is still not my country and I’m not going to be called up to fight. It’s a tricky balance: doing good work requires deep knowledge of a place but for me, it also requires a certain detachment. That was the hardest thing to achieve early on, and now there are a lot of times when I would like to be less of an observer and instead be more actively involved in some way.[/bilingbox]

    BRENDAN HOFFMAN

    geboren 1980 im US-Bundesstaat New York, lebt und arbeitet in Kyjiw. Er ist Mitbegründer des Prime Collectives, eine internationale Gruppierung aus Fotografen, Filmemachern und bildenden Künstlern, die sich in ihren Werken mit Fragen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Seit 2013 dokumentiert er vor allem die Geschehnisse in der Ukraine. Seine Arbeiten wurden weltweit vielfach veröffentlicht und ausgestellt.
    Regelmäßig verfasst er Beiträge für Medienhäuser wie die New York Times und National Geographic.


    Bildredaktion: Andy Heller
    Foto: Brendan Hoffman
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 28.07.2023

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    „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    Sozialer und kultureller Widerstand in Belarus – auf diese Themen hat sich Yauhen Attsetski unter anderem in seiner fotografischen Arbeit fokussiert. So ist das preisgekrönte Fotoprojekt Messed up entstanden, in dem er das Leben der Musikerinnen der gleichnachnamigen Hardcore-Punkband in der west-belarussischen Stadt Hrodna dokumentiert. Einem größeren Publikum wurde er bekannt, als er die Entstehung des Platzes des Wandels in Minsk während der Proteste 2020 begleitete. Mittlerweile lebt Attsetski mit seiner Frau Julia in Lwiw. In der Ukraine, wo er gerade seine erste Ausstellung hatte, hält er die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das gesellschaftliche Leben fest. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und sein Leben in der Ukraine gesprochen, zudem zeigen wir eine Auswahl seiner Bilder. 

    Nach den russischen Raketenangriffen auf das ukrainische Energie-Netz sind Teile von Lwiw ohne Strom. In den Häusern auf der linken Seite gibt es Strom, auf der rechten Seite beleuchten die Menschen ihre Wohnungen mit Taschenlampen oder Kerzen. / Foto © Yauhen Attsetski

    dekoder: Sie wohnen heute in Lwiw. Wie kam es dazu? 

    Yauhen Attsetski: Im Sommer 2021 kam der KGB zu meiner Frau Julia, Hausdurchsuchung. Nach den Ereignissen im Land im Jahr 2020 hatten wir keinerlei Illusionen auf eine faire Rechtsprechung. Es war ein Signal. Also zogen wir mit unseren beiden Katzen nach Kyjiw. Ein halbes Jahr später begann der Krieg.

    Ich gestehe, ich hatte kaum geglaubt, dass so etwas möglich ist. Wir überlegten zwei Tage lang, blieben zunächst noch in der Stadt. Doch nach einer Nacht, die wir in den Büroräumen von Julias Firma verbrachten und in der wir Salven von Maschinengewehren und wohl auch Panzerfeuer hörten, beschlossen wir weiterzuziehen. Wie durch ein Wunder fanden wir einen Bus und kamen nach Lwiw, wo wir von unserer Freundin Alina aufgenommen wurden. Für die ersten drei Monate war ihre Wohnung unser neues Zuhause. Über Alina kamen wir auch in Kontakt mit den anderen Belarussen in Lwiw. Das gemeinsame Leid einte uns, mit vielen von ihnen sind wir heute befreundet.

    Viele Belarussen sind wegen der Repressionen in die Ukraine geflohen und dann vor dem Krieg in andere Länder. Warum sind Sie geblieben?

    Zuerst wollten wir nach Polen ausreisen. Doch in den ersten Wochen war der Lwiwer Bahnhof ein einziges Chaos, in einen Zug zu kommen, war unrealistisch. Wir beschlossen, einige Zeit abzuwarten, und nach ein paar Wochen hatten wir uns schon an die Stadt gewöhnt. Uns interessierte das, was hier vor sich ging. Ich holte die Kamera hervor und begann zu fotografieren. Ich spürte, dass die Ukraine eine Chance hat standzuhalten. In diesem Moment wollte ich an der Seite der Ukrainer sein. Als Autor hielt ich die Geschehnisse fest, als Mensch half ich dem Land, so gut ich konnte. Für uns Belarussen ist es sehr wichtig zu sehen und zu erleben, dass Gerechtigkeit existiert, dass man Terror abwehren kann. Deshalb bin ich hiergeblieben, um diese Erfahrung aufzusaugen. Heute ist mein Glaube an ein gutes Ende so stark wie nie zuvor.

    Was sind das für Projekte, an denen Sie gerade arbeiten?

    Seit 2020 verlässt mich das Gefühl nicht, dass wir einen historischen Umbruch erleben, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind. Als Dokumentarfotograf ist es mir wichtig, diese Zeit einzufangen und festzuhalten.

    In meinem Projekt verfolge ich gleichzeitig mehrere Stränge. Der erste sind die sozialen Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Kultur, zudem auch noch in einem Moment großer Herausforderung, weshalb ich das Objektiv auf die sozialen Reaktionen richte. Parallel dazu halte ich unseren Alltag fest. Das ist Tagebuchfotografie mit einer kleinen Analogkamera. Das Leben im Krieg, das sind nicht nur Explosionen, Angst und Kampf. Die Menschen im Krieg finden zusammen, stehen enger beieinander. Der dritte Strang sind Schwarzweißporträts meiner Freunde. Hauptsächlich sind das Belarussen, die wie ich beschlossen haben, in Zeiten des Krieges in der Ukraine zu bleiben.

    Belarus gilt der Ukraine als Co-Aggressor. Wie ist für Sie das Leben in der Ukraine?

    In den ganzen 15 Monaten seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine war ich nur wenige Male mit Aggression gegenüber Belarussen aufgrund ihrer Nationalität konfrontiert. Ich denke, die Mehrheit der Menschen versteht, dass wir gute Gründe haben, noch hier zu sein. Wir alle helfen der Ukraine wie wir können – mit Taten, Informationen, Geld. Wir haben Kerzen für die Schützengräben gebastelt, Tarnnetze geflochten, manche haben auf dem Bahnhof geholfen. Als Autor habe ich meine Arbeiten bei wohltätigen Aktionen zugunsten der Unterstützung der Ukraine verkauft. Besonders möchte ich das Engagement unserer Freundin Tanya Hatsura-Yavorska hervorheben. Aktuell sammelt sie schon zum zweiten Mal Spenden für Vakuumpumpen für Unterdrucktherapie zur Behandlung von Kriegswunden. Zudem baut sie ein Rehazentrum für Soldaten, die gegen Russland kämpfen. Im November 2022 organisierte Tanja das belarussisch-ukrainische Filmfestival Na Mjashy (dt. An der Grenze), auf dem die ukrainischen Zuschauer mehr über Belarus erfuhren, und die belarussischen über die Ukraine.

    Welche künstlerische Herangehensweise ist Ihnen bei Ihrer Arbeit wichtig?

    Als ich die sozialen Reaktionen fotografierte, ging ich maximal auf Abstand. Ich fokussierte auf das Geschehen selbst, nicht auf den Menschen. Ich betrachtete die Prozesse, nicht das individuelle Heldentum. Wenn du vom Krieg weit entfernt bist, wird sein Bild oft von Bildern von der Front geprägt, von der Zone der aktiven Kampfhandlungen. Aber das Leben geht überall weiter, das ganze Land, in jedem Winkel, reagiert auf den russischen Angriff. Mir war es wichtig zu zeigen, dass das Leben im Krieg in erster Linie eben das Leben ist, in all seinen Ausprägungen, Leid, Freude, Kampf. Manchmal scheint es, dass gar nichts passiert, doch wenn du dann hinausgehst, kannst du nicht übersehen, in welchem Zustand sich das Land befindet: Plakatwände, Werbung, Radio, Fernsehen – überall Krieg; Menschen in Militäruniform, Panzerigel, mit Säcken verbarrikadierte Fenster – all das gehört gerade zum Bild einer jeden ukrainischen Stadt. All das hinterlässt ohne Frage Spuren bei den Menschen. Und bei alldem freuen wir uns, erholen wir uns, reisen wir. Dieses Gefühl wollte ich mit meinem Projekt vermitteln.

    Was planen Sie für die Zukunft?

    In Minsk hatte ich eine Schule für Fotografie, ФШ1 (FSch1). Neben der Ausbildung beschäftigten wir uns damit, ein Netzwerk aufzubauen, uns war es wichtig, junge Fotografen zu unterstützen. Wir organisierten Filmabende, gaben Fotografen eine Bühne, luden erfahrene Kollegen zu Artist Talks ein, organisierten Partys. Diese Arbeit würde ich gern wieder aufnehmen. Leider hat sich das Netzwerk seit 2020 auf verschiedene Länder verteilt. Ein Großteil der Leute war noch in Minsk und in Warschau. Ich würde die Kontakte gern wieder aufbauen. Es wäre großartig, wenn die Menschen sich wieder treffen und kreativ arbeiten könnten. Für diejenigen, die in der Heimat geblieben sind, will ich Online-Veranstaltungen organisieren, doch am wichtigsten sind persönliche Treffen. Wir haben ein solches Treffen bereits in Warschau durchgeführt, es war sehr herzlich und lebensbejahend.

     

    Julia und ihre Katze Fujuza flüchten während der Luftangriffe auf Lwiw ins Badezimmer. Das Bad ist der einzige Ort in der Wohnung, der dem Zwei Wände-Prinzip gerecht wird / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Katze Fujuza hat sich selbst in den Koffer gepackt / rechts: Oxana mit Blumenvase nach Alinas Geburtstag. Alina gehört zur belarussischen Community in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Julia kuschelt mit Katze Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Julia, Alina, Tanja und Jas arbeiten während eines Luftangriffs. In den ersten Kriegsmonaten wurde empfohlen, die Fenster zu verdunkeln, also auch das Licht auszuschalten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Tanja und ihr Hund Kailas in ihrer Wohnung in Kyjiw / rechts: Tisch in Alinas Wohnung / Fotos © Yauhen Attsetski
    Alina umarmt Tanja bei einer Veranstaltung im Menschenrechtszentrum in Tschernihyw / Foto © Yauhen Attsetski
    Oleg ist Belarusse, er lebt in Charkiw. Im November 2022 wurde er Mitglied der belarussischen Community in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Die Küche in Julias und Shenjas Wohnung in Lwiw nach einer Party / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Julia mit ihrer Katze Petra / rechts: Fujuza trinkt Wasser aus dem Hahn / Fotos © Yauhen Attsetski
    Ikonen in der Mietwohnung, in der Julia und Shenja leben. In Lwiwer Wohnungen sind Ikonen keine Seltenheit / Foto © Yauhen Attsetski
    Plausch auf dem Balkon: Alina, Danik, Julia, Jegor und Kätzchen Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Kater Uwashajemy (dt. Sehr geehrter) / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Sonniger Tag in Lwiw im Februar 2023 / rechts: Religiöse Malerei an einem Gebäude in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Mascha auf einem Ausflug nach Werchowina, eine Stadt in den Karpaten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Oxana auf einer Party / rechts: Anissa mit einem Kopfschmuck, den sie auf der Reise in die Karpaten in einem Haus gefunden hat / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Jegor auf dem Balkon ihrer Mietwohnung in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick aus dem Zugfenster, auf dem Weg in die Berge / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Fujuza versteckt sich hinter dem Vorhang / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia trinkt einen Cocktail / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick auf Werchowina aus dem Gebäude des Busbahnhofs / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Shenjas und Julias Wohnung / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia entspannt im Pool / Fotos © Yauhen Attsetski
    Hund Kailas im Kofferraum / Foto © Yauhen Attsetski

    Fotografie: Yauhen Attsetski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Tina Wünschmann
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 04.07.2023

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