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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Alexander Vasukovich ist einer der bekanntesten belarussischen Fotografen der jüngeren Generation. Seine Bilder erschienen in zahlreichen internationalen Zeitungen und Publikationen. Bereits seit dem Beginn des Euromaidan dokumentiert er die Ereignisse in der Ukraine, so auch den russischen Krieg seit 2014.

    In seiner Heimat wurde er im Oktober 2023 festgenommen, offiziell wegen Teilnahme an den Protesten im Jahr 2020. Dennoch gelang ihm die Flucht nach Polen, wo er derzeit lebt. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und den Krieg in der Ukraine gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.

    Natalija, 44 Jahre, im Krankenhaus von Browary, Oblast Kyjiw. Sie wurde am 14. März in Tschernihiw am Bein verwundet, 24.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    dekoder: Sie waren bereits 2013 auf dem Maidan, um die dortigen Ereignisse fotografisch festzuhalten. Warum diese Entscheidung, aus Belarus in die Ukraine zu fahren? 

    Alexander Vasukovich: Damals stand meine Karriere als Fotograf noch am Anfang, aber ich hatte bereits Erfahrung mit Aufnahmen bei Protesten gemacht: nach den [belarussischen] Präsidentschaftswahlen 2010, als die Kundgebungen mit gewaltsamer Auflösung und Haftstrafen für viele Beteiligte endete, darunter auch die Präsidentschaftskandidaten.  

    Vom ersten Maidan im Jahr 2004 hatte ich nur gehört, deshalb beschloss ich hinzufahren, als der zweite begann. Mich begeisterte, wie die Ukrainer für ihre Freiheit kämpften. Ich sah Menschen, die bereit waren, für ihre Ideen sogar ihr Leben zu opfern. Ich sah, wie den Ukrainern der Sieg gelang, und genau das wollte ich auch in meiner Heimat sehen. Deshalb fotografierte ich auch nach Beginn des Krieges im Osten der Ukraine weiter jene Menschen, die nicht einmal den Kampf fürchteten. Ich wollte die Freiwilligen zeigen, die auf der Welle des Siegesgefühls vom Maidan in den Krieg gezogen waren, um auch dort zu gewinnen. Vor Ort wurde mir dann klar, dass das im Krieg bedeutend schwieriger ist.  

    Diese Reisen wurde zur Grundlage für das sehr persönliche und schmerzhafte Projekt Commemorative photo (dt. Gedenkfoto), mit dem ich an den Wert des menschlichen Lebens erinnern wollte. Der Tod von Menschen, die wenige Augenblicke vorher noch lebendig neben mir standen, hat mich sehr getroffen. Ich schickte dann Fotos an die Angehörigen und sprach mit ihnen. So wurde dieser Krieg, obwohl ich Ausländer bin, auch ein wenig zu meinem. Deshalb konnte ich auch 2022 nicht aufhören zu fotografieren. 

    Die Fotos in dieser Auswahl stammen vor allem aus dem ersten Jahr der russischen Invasion. Nach welchen Kriterien haben Sie die Bilder ausgewählt? 

    Ich sehe drei zentrale Gründe dafür, dass die Bilder hauptsächlich aus dem ersten Jahr stammen. Da ist zum einen die Intensität dessen, was passierte, dann die Abwesenheit von Einschränkungen und Regulierungen, wo man sich aufhalten durfte, und drittens die Veränderung meiner Wahrnehmung dessen, was vor sich ging.  

    Zu Beginn des Krieges war es wesentlich einfacher, irgendwo hinzufahren und zu fotografieren. Niemanden interessierte, was du machst, du konntest in Ruhe irgendwo sein und beobachten, was passiert. Es gab befreite Gebiete, die man leicht erreichen konnte, um die Folgen der Kriegshandlungen zu dokumentieren, mit den Menschen zu sprechen, alles zu sehen, was passiert war, bevor aufgeräumt wurde. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Regeln tauchten auf. Bei meiner zweiten Reise konnte ich schon nicht mehr dorthin fahren, wohin ich wollte: Für viele Orte war die Begleitung durch einen Presseoffizier erforderlich, und da es nicht so viele gab, war das mit Wartezeiten verbunden.  

    So viel Zeit hatte ich nicht, also fuhr ich mit dem Motorrad los, weil das mein einziges Transportmittel war, und ich vor dem ersten Schnee zurück sein musste. Damals konzentrierte ich mich auf Bachmut: Ich war sehr beeindruckt, wie die Menschen dort zwischen den Stellungen lebten, während über ihren Köpfen tagelang Geschosse hin und her flogen, die manchmal nicht ans Ziel kamen und auf den schmalen Streifen zwischen den Fronten krachten. Die Menschen lebten dort und warteten darauf, dass all das endlich aufhört.  

    Bei meiner dritten Reise Ende September 2023 wollte ich in erster Linie fotografieren, wie die Zivilbevölkerung in den Frontstädten überlebte. Damals war der Zugang schon sehr schwierig, man durfte fast nirgends ohne Begleitung Zeit mit der Zivilbevölkerung verbringen, von den Begleitpersonen gab es nicht genügend und außerdem konnte man von den Menschen keine Offenheit erwarten, wenn ein Soldat daneben saß. Der einzige Ort, an dem ich in Ruhe machen konnte, was ich wollte, war die Stadt Siwersk.  

    Wie erlebten Sie die Ukrainer im Krieg? 

    Bei meiner ersten Reise waren die Menschen stark mobilisiert und sehr kämpferisch eingestellt, mit jeder weiteren Reise erschienen sie mir müder, fast alle sagten: „Hoffentlich ist es bald vorbei.“ Für mich war es damals schwer vorstellbar, wie sich das anfühlt: Du hast ein Haus, dein normales Leben, ein paar Besitztümer – und dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei, du hast nichts mehr, musst flüchten und alles zurücklassen.  

    Erst als ich selbst mein Zuhause verlassen musste, ohne die Aussicht, in absehbarer Zeit zurückzukehren, konnte ich das etwas besser nachempfinden.  

    Nicht alle können und wollen evakuiert werden, bei meiner dritten Reise sprach ich mit vielen Menschen, die in ihrer Stadt blieben. Siwersk lag direkt hinter der Front, die Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt bereits anderthalb Jahre im Keller. Auf die Frage, warum sie blieben, antworteten sie, dass sie in der Westukraine niemand brauchen würde, dass man dort darüber lachen würde, wie sie sprechen, dass man ihnen dort keine Arbeit geben würde, und sie hier wenigstens einen Ort zum Leben haben, auch wenn sie jeden Moment sterben könnten.  

    Wie wurden Sie als Belarusse aufgenommen, schließlich nutzte die russische Armee belarussisches Territorium für ihre Angriffe auf die Ukraine? 

    Bis zum Kriegsbeginn fühlte ich mich in der Ukraine wie zuhause. Es war das erste Land, in das ich gereist war, meine ersten ausländischen Freunde waren Ukrainer. Kurz vor Kriegsbeginn planten meine Freundin und ich, in die Ukraine zu fahren und unsere Freunde zu besuchen.  

    Dann begann der großangelegte Angriff, ich versuchte sofort, als Fotograf eine Akkreditierung zu erhalten. Viele wollten meine Bewerbung nicht weiterreichen, weil ich belarussischer Staatsbürger bin. Die Kollegen sagten, ich würde keine Akkreditierung erhalten, und wenn doch, dann würde man mich vor Ort nicht arbeiten lassen, mich sogar schlagen. Als ich dann jemanden gefunden hatte, der meine Akkreditierung unterstützte und meine Unterlagen einreichte, war ich auf eine lange Überprüfung und eine mögliche Absage vorbereitet, aber schon drei Tage später hatte ich die Akkreditierung. 

    Bei der ersten Reise war ich mit einer ukrainischen Freundin unterwegs und musste nicht groß erklären, wer ich bin. Bei der zweiten Reise wollte ich allein fahren, mit meinem Motorrad mit belarussischem Kennzeichen. Ich hatte gelesen, was über Belarussen im Internet geschrieben wurde und machte mir Sorgen, wie ich dort allein erklären würde, warum ich in der Ukraine unterwegs bin. Manchmal stellte ich mir vor, man würde hinter mir ausspucken, nachts meine Reifen zerstechen.  

    Aber zum Glück war die Realität ganz anders: Die Leute waren eher erfreut, einen Belarussen zu sehen, der auf der ukrainischen Seite fotografierte, sie interessierten sich dafür, wer ich bin und wie die Belarussen über den Krieg denken. Die Leute begriffen wohl, dass ich in Ordnung sein musste, weil ich bei ihnen war.  

    Ende 2023 wurden Sie in Belarus nach der Rückkehr aus der Ukraine festgenommen. Warum sind Sie überhaupt zurückgekehrt? 

    Ich habe in Belarus gelebt und bin dorthin zurückgekehrt, weil ich das Land liebe, weil meine alten Eltern dort leben und auch meine Großmutter, die jetzt schon 99 Jahre alt ist. Ich wollte dort sein und fotografieren, sobald sich etwas verändert. 

    Nach meiner dritten Reise interessierte sich der KGB an der Grenze für mich. Sie stellten viele Fragen über meine Arbeit in der Ukraine, besonders wunderten sie sich, wie ich ohne Freunde bei der ukrainischen Armee in Orte wie Butscha kommen konnte. Sie wollten nicht glauben, dass das möglich war. Nach der Befragung ließen sie mich gehen. In den folgenden Tagen wurde ich beobachtet, und nach zwei Wochen holten sie mich schließlich ab. 

    Sie durchsuchten meine Wohnung, nahmen Computer, Festplatten und Notizbücher mit. Nach zehn Tagen wurde mir eine Anklage vorgelegt. Sie lautete: Teilnahme an Protesten nach Artikel 342, Absatz 1 des Strafgesetzbuches: „Organisation von Gruppenaktivitäten, die die öffentliche Ordnung grob stören und einhergehen mit offener Zuwiderhandlung gegen gesetzliche Vorschriften der Machtorgane, oder die das Funktionieren von Verkehr, Betrieben, Einrichtungen oder Organisationen stören, oder aktive Teilnahme an solchen Aktivitäten.“ Die Anschuldigung bezog sich darauf, dass ich beim Fotografieren auf der Straße gestanden hatte, die Sicherheitskräfte also angeblich blockiert hätte. Dass ich dort als Journalist im Einsatz war, interessierte die nicht.  

    Meine Reisen in die Ukraine waren sicher ein Katalysator für die Festnahme. Über Google findet mal leicht heraus, dass ich mit fast allen unabhängigen belarussischen Medien zusammengearbeitet habe, die heute als „extremistisch“ gelistet sind. Auf diese Zusammenarbeit stehen bis zu sechs Jahre Haft. 

    Wie ist Ihnen die Flucht nach Polen gelungen? 

    Nach der Festnahme war ich drei Monate in Untersuchungshaft. Danach wurde ich zu drei Jahren Hausarrest verurteilt. Was bedeutet, dass ich das Haus nur für meine offizielle Arbeit verlassen durfte. Eine Bar oder Freizeitveranstaltungen zu besuchen war untersagt. Auch ein Besuch bei meinen Eltern und bei meiner Oma. Nach 19 Uhr musste ich zuhause sein. Die Miliz hätte jederzeit kommen und überprüfen können, ob ich zuhause und nüchtern bin.  

    Ich begriff, dass ich nichts mehr machen konnte, was mir wichtig ist. Zudem war das Risiko sehr hoch, dass ein weiteres Strafverfahren gegen mich angestrengt wird. Also beschloss ich, das Land zu verlassen, auch wenn mir das bis zuletzt widerstrebte. Aber ich wusste: Wenn ich bleibe, würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Gefängnis landen.  

    Also kontaktierte ich den Evakuierungsdienst der Organisation BYSOL. Sie hilft ehemaligen politischen Häftlingen und ihren Familien, Belarus zu verlassen, selbst wenn ein Ausreiseverbot besteht. Details meiner Flucht kann ich nicht verraten, sonst würde ich den Fluchtweg für andere gefährden. 

     

     
    Explosionsspuren einer Mörsergranate auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums im Dorf Stojanka, Oblast Kyjiw, 31.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Leichen, die im Keller eines Sommerlagers gefunden wurden. Ukrainische Beamte sagen, dass die russische Armee das Lager während der Okkupation als Stützpunkt nutzte. Butscha, Oblast Kyjiw, 04.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Zerstörte Brücke über dem Fluss Siwersky Donez in der Nähe des Dorfes Salyman. Bewohner haben die Brücke selbst repariert, nachdem das Gebiet durch die ukrainische Armee befreit worden war. Oblast Charkiw, 20.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Ein Soldat der ukrainischen Streitkräfte fährt über Felder zu den Stellungen seiner Einheit in der Nähe der Stadt Bachmut. Oblast Donezk, 15.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Die Großmutter spricht mit ihrem Enkel, dem elfjährigen Daniil, nach der Beerdigung seines Vaters Wolodymyr. Er hatte bei den Spezialkräften gedient und ist im Kampf gefallen. Kyjiw, 23.03.2022, / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Durch Beschuss zerstörte Kirche im Dorf Lukaschiwka. Nach Angaben von Einheimischen diente sie als Lazarett für verwundete russische Soldaten und als Munitionslager. Oblast Tscherschnihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Ukrainische Soldaten laden Munition in einen Mannschaftstransportwagen. Bachmut, Oblast Donezk, 11.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Halyna und Viktor im Keller eines Wohnhauses. Seit Kriegsbeginn leben sie hier. Siwersk, Oblast Donezk, 02.10.2023 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Ein durch russische Angriffe zerstörtes Wohnhaus in der Stadt Borodjanka. Allein in den ersten Kriegsmonaten wurden hier 404 Eigenheime und Wohnhäuser zerstört. Oblast Kyjiw, 05.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Rettungskräfte bergen eine Leiche aus den Trümmern eines Wohnhauses in Borodjanka. Die Stadt wurde besonders hart von russischen Angriffen getroffen und erlitt die massivsten Zerstörungen in der Region Kyjiw. Oblast Kyjiw, 12.04.2022 Foto © Alexander Vasukovich
     
    Ein ukrainischer Soldat angelt von einer zerstörten Brücke über dem Fluss Siwersky Donez. Dorf Sakitne, Oblast Donezk, 26.09.2023 / Foto © Alexander Vasukovich  
     
    Sanitäter behandeln einen verwundeten Soldaten im Krankenhaus von Bachmut. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Verletzten so zu stabilisieren, dass sie von der Frontlinie wegtransportiert werden können. Oblast Donezk, 17.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Eine Frau hat in einem Kyjiwer Krankenhaus ein Kind zur Welt gebracht. Kyjiw, 30.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Menschen überqueren den Fluss Siwersky Donez mit einem Boot, da die Brücke zerstört wurde. Stary Saltiw, Oblast Charkiw, 12.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Ein ukrainischer Soldat posiert vor einer feuernden M-46-Kanone in der Nähe von Bachmut. Oblast Donezk, 15.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Zerstörte Brücke über dem Fluss Siwersky Donez. Isjum, Oblast Charkiw, 15.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

    Leere Gräber nach der Exhumierung von Leichen in einem Massengrab aus der Zeit der russischen Besatzung. In den Wäldern nahe der Stadt wurden nach der Rückeroberung durch die ukrainischen Streitkräfte mehrere solcher Massengräber entdeckt, darunter eines mit mindestens 440 Leichen. Oblast Charkiw, 15.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Ein hungriger Hund frisst die Überreste einer Kuh, die durch Beschuss getötet wurde. Viele Haustiere wurden von ihren Besitzern auf der Flucht zurückgelassen. Dorf Lukaschiwka, Oblast Tschernihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Einwohner der Stadt Siwersk in einer Kantine, die von evangelischen Christen organisiert wird. Jeden Tag können Menschen hier kostenfrei eine warme Mahlzeit bekommen. Die meisten von ihnen leben in den Kellern ihrer Häuser, die durch Beschuss beschädigt wurden. Oblast Donezk, 04.10.2023 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Rakententeil auf einem Feld in der Nähe des Dorfes Lukaschiwka. Oblast Tschernihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Wolodymyr, 64 Jahre, repariert ein umgefallenes Kreuz auf dem Grab seines Nachbarn. Er wurde durch russischen Beschuss getötet. Da es zu riskant war, den Leichnam auf den Friedhof zu bringen, begruben sie den Freund in der Nähe des Wohnhauses, in dem er lebte. Siwersk, Oblast Donezk, 05.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Ein Mann trägt Wasserflaschen über eine zerstörte Brücke über den Fluss Bachmutka. Die Menschen müssen den Fluss überqueren, um in den anderen Teil der Stadt zu gelangen und dort Wasser und Lebensmittel zu bekommen. Bachmut, Oblast Donezk, 29.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Sanitäter bringen eine verletzte Frau in ein Stabilisierungszentrum in Bachmut. Die Frau und zwei weitere Zivilisten wurden beim Beschuss der Nachbarstadt Tschassiw Jar verletzt. Bachmut, Gebiet Donezk, 17.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Zerstörte Brücke über dem Fluss Oskil. Gorochowatka, Oblast Donezk, 20.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Eine tote Taube, die durch Beschuss einer Straße in der Stadt Bachmut getötet wurde. Oblast Donezk, 17.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

    Fotografie: Alexander Vasukovich
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 26.09.2024

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  • Bilder vom Krieg #21

    Bilder vom Krieg #21

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Rafał Milach

    Foto © Rafał Milach

    dekoder: Ein verrußtes Gebäude und eine junge Frau mit dem Wappen der Ukraine auf der Wange – was verbindet diese beiden Bilder? 

    Rafał Milach: Ich beschäftige mich schon lange mit den unterschiedlichen Initiativen, die hier bei uns in Polen gegen die russische Aggression protestieren. Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit anderen Fotografen, Künstlern, Wissenschaftlern und Aktivisten das Archive of Public Protests gegründet. Uns interessiert das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und was politische Entscheidungen auslösen können. Ein Krieg ist wohl die heftigste Auswirkung, die eine politische Entscheidung auf das Leben der Menschen haben kann. Ich berichte nicht direkt über den Krieg, aber hin und wieder fahre ich auch in die Ukraine, um mir vor Ort einen Eindruck von den Folgen der russischen Aggression zu machen. Die beiden Bilder stellen die Verbindung her zwischen Krieg und Protest.

    In Deutschland gibt es zwei Arten von Demonstrationen mit Bezug zu diesem Krieg: Auf den einen fordern Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr Unterstützung für die Ukraine, auch mit Waffen. Auf den anderen werden ein Ende dieser Unterstützung und Verhandlungen mit Russland gefordert. Gibt es so etwas auch in Polen?

    Demonstrationen, die die russische Position offen unterstützen, gibt es in Polen nicht. Aber es gibt auch hier Proteste, die von Russland benutzt werden. Das sind zum Beispiel die Proteste der Bauern gegen Importe aus der Ukraine. Oder der Widerstand rechter Politiker gegen Klima-Abkommen, die die Vorgängerregierung der rechten PiS-Partei noch selbst geschlossen hat. Das passt in die Agenda der russischen Propaganda und die Proteste spielen Russland in die Karten, ähnlich wie das in anderen Ländern Europas auch der Fall ist. 

    Wer kommt denn zu den Protesten? Sind das überwiegend Ukrainerinnen, oder auch Polinnen und Polen?

    Die Proteste werden überwiegend von Ukrainerinnen getragen. In Polen gab es ja auch schon vor dem Beginn des Krieges 2014 eine große ukrainische Diaspora. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind zum Arbeiten nach Polen gekommen. Aber nach dem Februar 2022 haben sich auch sehr viele Polen beteiligt und übrigens auch viele Menschen aus Belarus. Es gab Proteste im ganzen Land, in Wrocław, in Krakau, in Poznań und vielen anderen Städten. Über eine lange Zeit gab es fast wöchentlich Proteste, aber seit einer Weile wird es weniger. Mein Eindruck ist, dass auch die Menschen in Polen langsam müde werden von diesem Konflikt. Wenn man bedenkt, dass die polnische Gesellschaft sehr ablehnend gegenüber Migranten eingestellt ist, dann war die Solidarität nach Beginn der Vollinvasion und die Bereitschaft, Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen wirklich beeindruckend. Aber das lässt jetzt nach und vereinzelt wird auch Unmut über die Geflüchteten laut. Deswegen halte ich es für so wichtig, dass wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wir froh sein können, dass wir nicht direkt vom Krieg betroffen sind. Wir können uns ja nicht einmal sicher sein, dass das nicht noch kommt.

    Haben die Menschen in Polen Angst vor der russischen Aggression?

    Ja. Sie sprechen oft darüber, was passieren würde, wenn Russland unser Land angreift. Das ist gar nicht so unrealistisch, gerade wenn man unsere Geschichte kennt. Polen war ja mehrfach von Russland besetzt.

    An wen richtet sich der Protest?

    In Warschau haben sich die Demonstrierenden meistens vor der russischen Botschaft getroffen, sind dann vor das Parlament gezogen und schließlich in die Innenstadt. Sie hatten also mehrere Adressaten: Russland, die polnische Regierung und die polnische Gesellschaft. Oft haben sich ihnen auch polnische Politiker angeschlossen.

    Wie ist das Bild von dem verrußten Beton entstanden?

    Nach der Welle von Raketenangriffen auf die ukrainische Hauptstadt Anfang Februar 2024 habe ich den Schauplatz im Südwesten von Kyjiw besucht, wo Trümmer eines abgeschossenen Marschflugkörpers niedergegangen sind. Es gab mehrere Tote und einige Wohnungen wurden zerstört. Ich habe mich einer Gruppe Freiwilliger angeschlossen, die Trümmer beseitigten und verbrannte Möbel wegräumten, damit die Wohnungen wieder bewohnbar gemacht werden können. Das ist gewiss nicht mit dem vergleichbar, worunter derzeit die Menschen in Charkiw und anderen frontnahen Städten zu leiden haben. Aber selbst an Orten wie Kyjiw, die relativ gut durch Flugabwehrsysteme geschützt sind, besteht immer noch ein Risiko, unter russischen Beschuss zu geraten. 

    Sie haben sich für ein abstraktes Motiv entschieden. Warum?

    Die Medien zeigen täglich Bilder von Leid und Zerstörung. Ich fahre nicht an die Front, ich mache keine News-Fotografie. Ich interessiere mich mehr für das, was nach diesen traumatischen Ereignissen passiert, wenn der Rauch sich verzogen hat und das Leben wieder beginnt. Ich möchte zeigen, wie der Krieg auch jenseits der großen Katastrophen seine Spur in den Städten und im Leben der Menschen hinterlässt. So arbeiten wir übrigens auch beim Archive of Public Protest. Es geht um mehr als nur Berichterstattung, wir wollen die Perspektive öffnen. 

    Fotografie: Rafał Milach 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.06.2024

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  • Unerforschte Ufer: postsowjetische Fotografie

    Unerforschte Ufer: postsowjetische Fotografie

    Andere Ufer – so nannte der wohl bekannteste russische Exilschriftsteller Vladimir Nabokov (1899–1977) seinen autobiografischen Roman, der 1954 in New York erstmals erschien. Am Ende des Romans bricht der Autor nach Jahren der Emigration in Berlin und Paris in Richtung USA auf, eben zu jenen anderen Ufern, die in der russischen literarischen Tradition nie nur geografisch gemeint waren, sondern auch metaphysisch: Das Überqueren des Ozeans stand symbolisch für das Überqueren des mythischen Totenflusses Styx.

    Die Fotoausstellung Unerforschte Ufer, die 2023 in der armenischen Hauptstadt Jerewan gezeigt wurde, ist ein Blick aus dem Exil auf die nähere Vergangenheit. Sie konzentriert sich jedoch auf die Erkundung der Ufer, die nicht weit weg, sondern ganz nah liegen und die postsowjetischen Kulturen trennen. Eine Erkundung, die lange vernachlässigt wurde und deren Notwendigkeit mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch einmal deutlich geworden ist.

    Die beiden Kuratoren – der Armenier Wigen Galustjan und die Russin Victoria Muswik – haben Fotos russischer und armenischer Fotografen aus den vergangenen 15 Jahren ausgewählt. Sie analysieren und dokumentieren künstlerisch die Transformationsprozesse und den „postsowjetischen Zustand“. dekoder zeigt einige Bilder, die im Fotojournal von Republic.ru veröffentlicht wurden.

    Piruza Khalapyan, „Die Mauer“, aus dem Projekt Unaddressed [fragmented] memory, 2020

    „Wir wollten Fotografie als eine Methode der archäologischen Forschung nutzen. Mit dem Unterschied, dass wir statt physischer Denkmäler Bildwelten ausgraben“ – so formuliert die Kuratorin Victoria Muswik ihre Herangehensweise. Im Fokus dieser Forschung befinden sich Übergangsidentitäten und Räume, die in der postsowjetischen Wirklichkeit entstanden sind. Aber auch die Fragen nach Hierarchie und Macht, „Unausgewogenheit zwischen Zentrum und Peripherie“, „zerstörerischen Kräfte des neokolonialen Despotismus“ und „Gleichgültigkeit der Marktwirtschaft“. Diese Themen werden aus zwei Perspektiven betrachtet – aus der russischen und aus der armenischen.

    Dabei stellen die Kuratoren in einem auf Republic.ru veröffentlichten Dialog fest, dass die russische und die armenische Fotografie unterschiedliche Wurzeln haben: Die Entwicklung der russischen Fotografie ist von imperialen und – später – revolutionären Imperativen nicht zu trennen. So spielten etwa die Fotos von Sergej Prokudin-Gorski im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle in der „Kartografie“ des Russischen Imperiums, in der Bestimmung von dessen Grenzen, dessen Zentrum und Randgebieten. Die armenische Fotografie dagegen war ursprünglich ein Mittel der interkulturellen Beziehungen zwischen Armenien und dem Nahen Osten, Europa und Russland.

    Die modernen Fotografen erben diese Besonderheiten, weisen aber gleichzeitig viele weitere Unterschiede auf. Etwa im Hinblick auf die fotografische Analyse von ähnlichen Themen, wie zum Beispiel die (gemeinsame) sowjetische Vergangenheit. Ein wiederkehrendes Motiv vieler Fotografen ist der „postsowjetische Zustand“ – Ruinen und Symbole der vergangenen Epoche. Während russische Fotografen meistens versuchen, die Größe und Mehrschichtigkeit des untergegangenen sowjetischen Projekts an sich zu verstehen, sehen die armenischen Fotografen nicht nur das Sowjetische oder die Splitter des Sowjetischen, sondern auch das Persönliche und Lokale. Während die russischen Fotografen sich analytisch und verfremdet auf die Landschaften konzentrieren, treten in der armenischen Fotografie die Menschen, deren Beziehungen, Gefühle und persönliche Geschichten deutlicher hervor.

    Wie es in der Fotografie oft der Fall ist, sagen die Bilder nicht nur etwas über die Objekte aus, die sie zeigen, sondern auch etwas über die Fotografen, die sie aufgenommen haben. Alle Fotos wurden vor dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine gemacht.

     

    Arman Harutyunyan, „Einige Minuten vor dem Angriff der Hunde“, 2020

     

    Max Sher, „Theater der Ordnungshüter: Glaube in den herrschenden Umständen“, aus dem Projekt Infrastructures, 2016–2019

     

    Natalya Reznik, „Elena“, aus dem Projekt Virtual acquaintances, 2009

     

    Anastasia Tsayder, Ohne Titel, aus dem Projekt Arcadia, 2016–2021

     

    Alexander Gronsky, Ohne Titel, aus dem Projekt Pastoral, 2009–2012

     

    Anahit Hayrapetyan, „Marina“, aus dem Projekt Princess to Slave, 2013

     

    Ilja Rodin, Ohne Titel, aus dem Projekt „Das Haus“, 2018

     

    Nazik Armenakyan, Ohne Titel, aus dem Projekt Red Black White, 2018 – bis heute

     

    Alisa Gorshenina, Ohne Titel, aus dem Projekt Russian Alienated, 2017–2019

     

    Alexey Vasilyev, „Zwillinge“, aus dem Projekt Sakhawood, 2019

     

    Ani Gevorgyan, „Polizeiübungen“, 2014

     

    Igor Tereschkow, „Tschum und Rentierherde, Sommerweide der Familie Tewlins, Jugra“, aus dem Projekt Moos und Öl, 2016–2018

     

    Tanja Tschaika, Ohne Titel, aus dem Projekt Der Weg nach Hause, 2019

     

    Nelly Shishmanian, „Bewohner des Grenzdorfs Tsopi in Georgien feiern den armenischen Feiertag Wardawar“, aus dem Projekt „Vielleicht zusammen“, 2018

     


    Quelle: republic.ru
    Fotoauswahl: Victoria Muswik und Wigen Galustjan
    Veröffentlicht am 25. April 2024
    Wir danken Max Sher für seine Unterstützung in der Vorbereitung dieser Publikaton.

     

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    Bilder vom Krieg #20

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Mykhaylo Palinchak

    Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet Donezk / Foto © Mykhaylo Palinchak
    Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet Donezk / Foto © Mykhaylo Palinchak

    dekoder: Herr Palinchak, ein Soldat schaukelt auf einer Kinderschaukel. Was war da los? 

    Mykhaylo Palinchak: Im Februar war ich zusammen mit einem Journalisten in einem Dorf nahe der Front im Donbas. Einige Soldaten haben uns eine zerstörte Schule gezeigt. Während mein Kollege Interviews führte und ich Bilder machte, wurde einem der Soldaten langweilig und er setzte sich auf die Schaukel. Als er merkte, dass ich ihn fotografiere, stand er sofort auf.  

    Beide Bilder strahlen etwas von dem kühnen Widerstandsgeist aus, mit dem die Ukrainer die Welt verblüffen. Manchmal wirkt es, als warteten ausgerechnet wir im Westen auf eine Aufmunterung durch die Ukrainer, um selbst nicht zu verzagen. 

    Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ihr eine Wahl habt. Ihr habt die Wahl, hinzusehen, was in der Ukraine passiert, oder wegzuschauen. Die Nachrichten aus der Ukraine zu verfolgen oder nicht. Wir Ukrainer haben diese Wahl nicht. Wir können die Nachrichten nicht einfach abschalten, denn das passiert mitten unter uns. Wir können nicht davor weglaufen. Wir haben keine Wahl als zu kämpfen. Und wer kämpft, braucht Motivation und Hoffnung. Er muss an sich glauben, sonst kämpft er vergeblich.  

    Ein Hund pinkelt an einen Blindgänger eines russischen Grad-Raketenwerfers. Der Ort wurde im September 2022 befreit, die Spuren des Krieges sind immer noch allgegenwärtig / Foto © Mykhaylo Palinchak
    Ein Hund pinkelt an einen Blindgänger eines russischen Grad-Raketenwerfers. Der Ort wurde im September 2022 befreit, die Spuren des Krieges sind immer noch allgegenwärtig / Foto © Mykhaylo Palinchak

    Der Hund auf dem zweiten Bild hat offenbar die richtige Einstellung. Ist es am gleichen Ort entstanden? 

    Nein. Das war in einem anderen Dorf an der Grenze zwischen der Oblast Mykolajiw und Oblast Cherson. Anfang März habe ich einige freiwillige Helfer begleitet, die die Menschen in den befreiten Gebieten im Osten versorgen. Wir sind drei Stunden über Land gefahren, bis wir dort ankamen. Das Dorf war besetzt gewesen, bei heftigen Kämpfen wurden fast alle Gebäude zerstört. Heute leben dort noch 25 Menschen. Sie versuchen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Das Dorf liegt so weit entfernt von der nächsten größeren Stadt, dass nur selten Hilfe kommt. In Kyjiw und anderen Großstädten bemüht sich die Verwaltung, die Schäden nach jedem Angriff schnell zu beseitigen und Gebäude wieder aufzubauen. Aber obwohl dieses Dorf schon im September 2022 befreit wurde, sieht es immer noch so aus, als wäre die Front erst vor kurzem darüber hinweggegangen. Es stecken noch immer Granaten und Blindgänger in den Gärten. Man bekommt dort eine Ahnung davon, was es heißt, dass große Gebiete der Ukraine mit Minen und Artilleriegeschossen verseucht sind. Trotzdem ist die Moral dieser Menschen hoch. Sie wollen ihr Leben weiterleben, sie wollen ihre Häuser wieder aufbauen. Sie brauchen nur etwas Unterstützung. 

    Bringen die Helfer Lebensmittel? 

    Die Organisation, mit der ich unterwegs war, bringt vor allem Saatgut. Die Menschen dort leben von dem, was sie selbst anpflanzen. Früher haben sie Melonen und Tomaten angebaut. Jetzt sind die Gewächshäuser und die Traktoren zerstört und die Felder mit Munition verseucht. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird, das alles wieder aufzubauen.  

    Fühlen sich die Menschen allein gelassen? 

    Ich glaube, sie verstehen, dass die Regierung nicht überall zugleich sein kann. Gerade wurde die Stromversorgung wiederhergestellt, aber es geht eben sehr langsam voran. Ich finde, da gibt es auch eine Lücke in der Berichterstattung über den Krieg: Die konzentriert sich meistens auf die Raketenangriffe auf Kyjiw und andere große Städte oder auf die Frontbewegungen. Das Leben der Menschen in dem großen Raum dazwischen wird oft vergessen. Neulich habe ich mit einem Minenräumer gesprochen, der hat mir erzählt, dass sie in der Oblast Charkiw vor der russischen Vollinvasion jeden Monat Hunderte Alarme hatten, weil Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. Dieser Krieg ist jetzt bald 80 Jahre her, und es wird immer noch Munition gefunden. Und jetzt kommt die Munition aus dem neuen Krieg noch dazu.

     

    Fotografie: Mykhaylo Palinchak
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 26.03.2024

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    Bilder vom Krieg #19

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Johanna-Maria Fritz

    Familienangehörige betrauern den Tod des 20-jährigen Soldaten Dima in Zorya, einem Dorf in der Nähe von Awdijiwka. 19.11.2023 / Foto: Johanna-Maria Fritz, Ostkreuz
    Familienangehörige betrauern den Tod des 20-jährigen Soldaten Dima in Zorya, einem Dorf in der Nähe von Awdijiwka. 19.11.2023 / Foto: Johanna-Maria Fritz, Ostkreuz

    dekoder: Wie ist dieses Bild entstanden? 

    Johanna-Maria Fritz: Ich arbeite gerade an einem Fotobuch zur Jugend an der Front. Dafür porträtiere ich Teenager und junge Männer, die als Soldaten kämpfen, aber auch solche, die einfach nur in der Nähe der Front leben. Ich bekam die Nachricht, dass in Zorya eine Beerdigung stattfindet. Der kleine Ort liegt etwa zwanzig Kilometer westlich von Awdijiwka im Gebiet Donezk.    

    Um wen trauern die Menschen hier?  

    Dima ist mit 20 Jahren in Bachmut bei einer Angriffswelle der Russen getötet worden. Er ist im Gebiet Donezk in der Ostukraine geboren und aufgewachsen. Als der Krieg begann, war er elf Jahre alt. Mit 18 hat er sich freiwillig zu den Grenztruppen gemeldet. Seine Eltern sind vor zwei Jahren vor der russischen Großinvasion geflohen, sie leben jetzt in Kyjiw. Aber sie wollten ihren Sohn in ihrem Heimatort beerdigen. Nadia, seine Mutter, sagt, sie hoffe, dass die Russen ihr ihren Sohn nicht ein zweites Mal nehmen: Erst haben sie ihn getötet, jetzt drohen sie, auch den Ort einzunehmen, wo er beerdigt ist. Die Frau, die über seinem offenen Sarg steht, ist seine Großmutter, die um ihren Enkel weint. Neben ihr steht Dimas Freundin Sofia, sie hält seine Mutter an der Hand. 

    Drei Generationen, aber die Gesichter der Frauen sind vom Schmerz so verzerrt, dass es fast aussieht, als wären alle im gleichen Alter. 

    Ja, das ist mir in der Ukraine häufig aufgefallen, besonders bei Soldaten: Ich habe Soldaten gesehen, die waren Ende 20, aber sie sahen aus wie Ende 40.  

    Sie berichten seit Beginn der russischen Großinvasion aus der Ukraine. Nach der Befreiung von Butscha waren Sie dort eine der ersten Journalistinnen. Verschmelzen eigentlich die Schrecken, die sie gesehen und fotografiert haben irgendwann zu einer ununterscheidbaren Masse?  

    Ich bin trotz allem jedes Mal neu betroffen. Dieses Bild ist für mich eines, auf dem man den Schmerz am deutlichsten sieht, den dieser Krieg verursacht. Ich habe fotografiert und dabei geweint. Es gibt aber auch manchmal Momente, in denen ich nicht fotografieren kann. Einmal wurde ich in einen Keller gerufen. Dort hatte eine Frau gerade ein Kind zur Welt gebracht, während draußen die Bomben fielen. Da habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht, meine Kamera hochzunehmen. Die Umstände waren fürchterlich, aber gleichzeitig war es so ein besonderer Moment für die junge Mutter, den wollte ich ihr nicht kaputt machen.

    Fotografie: Johanna-Maria Fritz / Ostkreuz
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 23.02.2024

     

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    Bilder vom Krieg #18

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Rafael Yaghobzadeh

    Die Mieter einer Wohnung in Kyjiw haben ihre Fenster mit Klebeband gesichert. Das soll sie im Falle einer Bombardierung vor umherfliegenden Scherben schützen / Foto © Rafael Yaghobzadeh
    Die Mieter einer Wohnung in Kyjiw haben ihre Fenster mit Klebeband gesichert. Das soll sie im Falle einer Bombardierung vor umherfliegenden Scherben schützen / Foto © Rafael Yaghobzadeh

    dekoder: Seit zehn Jahren sind Sie immer wieder als Fotoreporter in der Ukraine unterwegs. Sie haben den Maidan-Aufstand fotografiert und den Beginn des Krieges im Donbas erlebt. Aber das Foto, das Sie für die Serie Bilder vom Krieg ausgewählt haben, ist ein Stillleben. Was ist die Geschichte dahinter?

    Rafael Yaghobzadeh: Ich habe es in der Wohnung eines ukrainischen Freundes in Kyjiw aufgenommen. Er arbeitet in der Filmbranche. Für den Fall, dass er zur Armee eingezogen wird, hat er eine Ausbildung zum Drohnenpiloten begonnen. Ich habe ihn porträtiert, wie er zuhause am Computer übt, Drohnen zu steuern. Als ich das Fenster sah, dachte ich erst, das Klebeband sei bereits wieder entfernt worden. Die Menschen in Kyjiw haben ihre Fenster in den ersten Tagen der Vollinvasion verklebt, damit keine Splitter umherfliegen, wenn es in der Nähe eine Explosion gibt. Inzwischen ist die Front ja schon lange weit entfernt, aber das Klebeband ist immer noch da als eine Spur jener Zeit. 

    Russland beschießt die Hauptstadt immer wieder mit Raketen. Wie geht nach so einer Angriffswelle der Alltag weiter?

    Der Krieg ist ständig präsent, auch wenn es in Kyjiw keine Kämpfe gibt. Einerseits in Form solcher Spuren an den Fenstern. Andererseits weil junge Männer wie mein Bekannter ständig mit dem Bewusstsein leben, dass sie jederzeit eingezogen und an die Front geschickt werden können. 

    Wie hat sich das Land verändert, seit Sie vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Kyjiw gekommen sind?

    Alles hat sich verändert: das Land, die Gesellschaft, sogar die Gesichter der Menschen. Das Land wird angegriffen und muss sich verteidigen, aber gleichzeitig macht es eine rasante Modernisierung durch, wirtschaftlich, technologisch, kulturell. Bei meinem letzten Besuch habe ich einige junge Leute kennengelernt, die noch Teenager waren, als 2014 der Krieg im Donbas begann. Denen wurde erst so richtig klar, dass sich ihr Land im Krieg befindet, als Russland die Vollinvasion startete. 

    Nach der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer hört man manchmal, dass sich unter den Ukrainern Resignation breit mache. Teilen Sie diesen Eindruck?

    Nein, gar nicht. Vom ersten Kriegstag an haben die Leute immer wieder die Kraft gefunden, wieder aufzustehen und neue Reserven anzuzapfen. Dass das Land in diesem Krieg immer noch so gut funktioniert, ist alles andere als selbstverständlich.

    Haben sich denn auch Ihr Blick und Ihre Art zu arbeiten verändert?

    Ganz bestimmt. Ich nehme heute ganz andere Details wahr, die mir früher vielleicht nicht aufgefallen wären. Ich bin meistens mit drei oder vier Kameras unterwegs und arbeite dann parallel auf drei Ebenen: Zuerst erfülle ich den Auftrag, mit dem mich meine Auftraggeber losgeschickt haben. Seit zwei Jahren fotografiere ich für Le Monde. Dann habe ich noch eine Mittelformatkamera dabei, mit der mache ich Schwarz-Weiß-Bilder, aus dieser Arbeit stammt dieses Foto. Und auch noch eine Polaroidkamera. Ich sammle außerdem Objekte: Karten, Bilder, Archivmaterial für ein Langzeitprojekt. Das hilft mir, einen Schritt zurückzutreten. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das tiefer geht als die Reportagefotografie, die aktuelle Ereignisse dokumentiert. 

    Sie haben schon als Schüler ihre Bilder an französische Medien verkauft. Trotzdem haben Sie noch ein Geschichtsstudium an der Sorbonne abgeschlossen. Wirkt sich dieser akademische Hintergrund auch auf Ihre Fotografie aus?

    Ich denke schon. Ich sichte gerade meine Bilder aus Butscha. Ich war dort zum ersten Mal am 2. März 2022, bevor die Kleinstadt von den russischen Angreifern eingenommen wurde. Nachdem die ukrainische Armee Butscha befreien konnte, bin ich wieder dorthin gefahren. Seitdem besuche ich den Ort regelmäßig, um einen Eindruck von den Veränderungen zu bekommen, die dort vor sich gehen. Ich möchte nicht nur einzelne Ereignisse fotografieren und dann weiterziehen. Mich interessieren die langfristigen Entwicklungen.

    Fotografie: Rafael Yaghobzadeh
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 13.02.2024

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    Bilder vom Krieg #17

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Dominik Butzmann

    Die Treppenaufgänge im Präsidentenpalast sind mit Sandsäcken gesichert. Wolodymyr Selensky betritt den Raum. / Fotos © Dominik Butzmann
    Die Treppenaufgänge im Präsidentenpalast sind mit Sandsäcken gesichert. Wolodymyr Selensky betritt den Raum. / Fotos © Dominik Butzmann

    dekoder: Diese Fotos sind während des Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky im September entstanden. Aber der Moment, der Ihnen von dieser Reise am stärksten in Erinnerung geblieben ist, den haben Sie nicht fotografiert. Was war das?

    Dominik Butzmann: Wenn man mit einer ausländischen Delegation den Präsidentenpalast in Kyjiw besuchen will, durchläuft man mehrere Sicherheitskontrollen. Alle Aufgänge sind mit Sandsäcken gesichert, es ist dunkel, nur im Innersten des Palastes brennt Licht. Bei einer der Kontrollen hatte ich meine Kamera gerade in eine dieser Plastikwannen gelegt, in denen sie durch den Scanner fährt. Da fiel mir ein Sicherheitsmann auf, der neben dem Gerät stand: vielleicht 50 Jahre alt, grüne Uniform, helle, sehr klare Augen. Er musterte die Besucher und ich musterte ihn. Ich gucke ja die ganze Zeit, auch wenn ich gerade nicht fotografiere. Ich stelle meine Antennen auf, um zu merken, wenn irgendwo etwas passiert oder die Atmosphäre sich verändert. Wenn ich im Blick habe, welche Gefühle im Raum sind, kann ich reagieren und gegebenenfalls eine andere Perspektive wählen oder eben ganz schnell ein Bild machen. Also scannte ich die Leute und er scannte die Leute. Und dann guckte er so beiläufig auf sein Telefon und zuckte plötzlich zusammen wie unter einem Krampf. Offenbar hatte er die Vorschau einer SMS gelesen. Sein Gesicht wurde bleich, er schüttelte den Kopf und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Er muss irgendetwas Schreckliches gelesen haben.

    Wie haben die Umstehenden reagiert?

    Die anderen Uniformierten haben ihn angeguckt und in ihren Gesichtern konnte man sehen: Die wissen, was ihm gerade passiert. Die haben tief eingeatmet und dann weiter ihre Arbeit gemacht. Aber es war deutlich, dass die alle solche Momente kennen. Weil im Krieg jeder jederzeit mit schlimmen Nachrichten rechnet. Solche Momente passieren wahrscheinlich täglich hundertfach in ukrainischen Familien, aber hier war ich auf einmal ganz unerwartet Zeuge.

    Hätten Sie diesen Moment gern fotografiert?

    Nein, auf keinen Fall. 

    Aus Pietät? 

    Ja, natürlich. Aus Pietät. Ich bin kein Kriegsfotograf. Ich habe wenig Erfahrung damit, welche Rolle Pietät spielen sollte in Situationen, in denen Menschen sterben oder in denen Angst vor dem Tod auftritt. Ich mache Politikfotografie, da erlebt man auch viele Dramen und viel Stress und Menschen, die unter Druck stehen. Aber das ist nicht vergleichbar. Außerdem lag meine Kamera ja in dieser Schale vor diesem Menschen. Wenn ich die rausgenommen und fotografiert hätte, hätte ich mehrere Regeln gleichzeitig gebrochen: Erstens fotografiert man Sicherheitsstrecken grundsätzlich nicht. Und wenn ich dann die Kamera hochnehme und fotografiere, könnte das als aggressiver Akt empfunden werden. Erst recht, wenn die Person in einer emotional offensichtlich belastenden Situation ist. Das wäre eine Grenze, die ich auf keinen Fall überschritten hätte. 

    Ist Ihnen auch an den Personen, die sie fotografieren, aufgefallen, wie der Krieg sie verändert hat?

    Im April war ich dabei, als Robert Habeck zusammen mit Wolodymyr Selensky den Keller einer Schule besichtigt hat, in dem sich in der ersten Phase des Krieges Kinder über lange Wochen versteckt hatten. Während Habeck und Selensky sich die Zeichnungen ansahen, die die Kinder in dieser Zeit an die Kellerwände gemalt hatten, habe ich Selenskys Gesicht fotografiert. Da sieht man, wie unfassbar müde er ist und dass er schon gar nicht mehr weiß, was er fühlen soll. Er wirkt wie versteinert. Robert Habeck sah auch verändert aus, als er aus diesem Keller kam. Mich beschäftigen diese stillen Zeugnisse der Gewalt bis heute.

    Lassen sich solche Emotionen überhaupt in Bilder fassen?

    Ja. Ich glaube, es sind tausende solcher Geschichten wie die von dem Mann, der eine schlimme Nachricht erhält, die so einen Krieg ausmachen. Tausende kleiner Situationen, die als innere Bewegung stattfinden und erst später äußerlich sichtbar werden. Bei meinen Portraits, also in konzentrierten, bilateralen Situationen, sehe ich es als größte Herausforderung, diese inneren Bewegungen abzubilden. Um so einen Krieg in Bilder zu fassen, muss man, denke ich, immer mit den Menschen sprechen. Deshalb finde ich es so wichtig, dass schreibende Journalisten und Fotografen als Team losgehen.

    Fotos: Dominik Butzmann / Photothek Media Lab
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht: 05.01.2024

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  • Bilder vom Krieg #16

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Yana Kononova

    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova
    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova

    dekoder: Guten Morgen, Yana, wie geht es Ihnen? Die russische Armee hat In der Nacht wieder Raketen auf Kyjiw geschossen. In den Nachrichten hieß es, dass 50 Menschen verletzt wurden.

    Yana Kononova: Gegen drei Uhr hat mich der Alarm geweckt, aber da waren die Raketen bereits abgefangen. Die Vorwarnzeiten wurden in letzter Zeit immer kürzer. Ich lebe in einer Kleinstadt etwas außerhalb von Kyjiw. Hier steht ein großes Wärmekraftwerk, das wurde 2022 beschossen, aber nicht getroffen. Das Kraftwerk produziert etwa 60 Prozent der Energie für die Region, deshalb rechnen wir jederzeit mit einem neuen Angriff. 

    Zerstörte Industrieanlagen sind auch ein häufiges Motiv in Ihren Arbeiten als Fotografin. Was interessiert Sie daran?

    Ich bin keine Kriegsreporterin. Mein Ansatz ist dokumentarisch-nüchtern. Gleichzeitig möchte ich zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht. Als ich im Frühjahr 2022 zum ersten Mal Schauplätze des Krieges besuchte, sah ich am Flughafen Hostomel zerstörte Treibstofftanks, die unter der Einwirkungen von Bomben und Hitze zerquetscht und verdreht wurden. Dieser Anblick hat mich erschüttert, und mir schien, dass diese physischen Überreste einen Eindruck geben von den psychischen Traumata, die der Krieg hinterlässt, die aber für das Auge unsichtbar bleiben. 

    Was ist die Geschichte der Bilder, die Sie für unsere Rubrik ausgewählt haben?

    Diese Bilder sind in der Nähe Ochtyrka entstanden, einer Kleinstadt in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Um Ochtyrka wurde nach dem 24. Februar 2022 etwa einen Monat lang heftig gekämpft. In der Nähe wird Erdöl gefördert und es gibt ein großes Elektrizitätswerk, das mit Masut betrieben wird. Am 3. März wurde das Elektrizitätswerk von zwei Bomben getroffen. Fünf Arbeiter wurden getötet. Ich hatte mich einer Gruppe internationaler Journalisten angeschlossen, weil ich damals noch keine Akkreditierung vom Verteidigungsministerium hatte, um in die Kriegsgebiete zu reisen. Als ich von dem zerstörten Kraftwerk hörte, wollte ich unbedingt dort hin. Die Journalisten protestierten, sie hatten ihre Reportagen schon fertig und wollten zurück nach Kyjiw. Aber ich überredete den Bürgermeister, dass er uns auf das Gelände lässt. Aber als er dann kam, wollte niemand außer mir sich das zerstörte Kraftwerk ansehen. Immerhin reichte die Zeit, um ein paar Bilder zu machen. Ich fand das sehr beeindruckend. Es müssen einmal sehr moderne Gebäude gewesen sein. 

    Sind die Spuren, die der Krieg an Gebäuden und Industrieanlagen hinterlässt einfach besser zu sehen als die Spuren, die er bei den Menschen hinterlässt?

    Ja, das war meine ursprüngliche Intention. Ich wollte nicht direkt menschliches Leid abbilden. Ich werde oft gefragt, warum ich keine Menschen zeige. Ich habe auch Menschen fotografiert, aber ich mag diese Bilder nicht besonders. Für mich wird die Unmenschlichkeit des Krieges in diesen zerstörten Landschaften besonders sichtbar, dieser Gewaltexzess, der mit menschlichem Leben nicht vereinbar ist.

    Sie haben sich schon in früheren Arbeiten mit Landschaften beschäftigt. Hat der Krieg ihren Blick verändert?

    Das ist eine schwierige Frage. Ich würde eher sagen, dass mir noch einmal klar geworden ist, wie die Natur Landschaften prägt und wie der Mensch Landschaften prägt, das sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse.

    Dieser Krieg ist nicht der erste, den Sie erleben. Als Sie ein Kind waren, musste Ihre Familie vor dem Armenisch-Aserbaidschanischen Krieg fliehen. Haben Sie Erinnerungen an die Heimat ihrer Kindheit?

    Mein Vater war Ingenieur der sowjetischen U-Boot-Flotte. Er war auf einer Insel im Kaspischen Meer stationiert. Als nach der Auflösung der Sowjetunion der Krieg um Bergkarabach ausbrach, wurde er nach Odessa verlegt. Ich erinnere mich noch gut an die Insel. Dort hatten ursprünglich Anhänger des Zoroastrismus gelebt. Diese von Zarathustra begründeten Religion verehrt das Feuer. Später wurde dort Öl gefunden und der Ort war stark geprägt von der Erdölindustrie. Die Landschaft, in der wir als Kinder aufwachsen, prägt uns fürs Leben. Gut möglich, dass meine Faszination für große Industrieanlagen daher kommt.

    Fotos: Yana Kononova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht: 19.12.2023

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  • Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

    Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

    Mit ihrer Kamera macht die Kyjiwer Fotografin Marysia Myanovska sich 2019 daran, den Stadtbezirk neu zu erkunden, in dem sie und ihr ein Jahr zuvor verstorbener Bruder Witali ihre Jugend verbrachten. Trojeschtschyna ist einer der größten Schlafbezirke Europas. Er liegt am linken Ufer des Dnipro und ist durch den Fluss vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt getrennt. In den 1970er und 1980er Jahren wurden hier gewaltige Wohnkomplexe für Fabrikarbeiter errichtet. Pläne, eine U-Bahn-Linie zu bauen, die den Bezirk mit dem Rest Kyjiws verbinden sollte, scheiterten immer wieder am Geld. So blieben die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, weitgehend unter sich. Ohne Cafés, Bars oder Freizeiteinrichtungen verbrachten sie die meiste Zeit auf der Straße. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, machte das Land eine schwere Wirtschaftskrise durch und viele Bewohner von Trojeschtschyna verloren ihre Arbeit. „Mein Bruder verkörpert die erste Generation junger Menschen in der unabhängigen Ukraine”, sagt Myanovska. „Er betrat eine Welt, die geprägt war von Kriminalität, Heroin Chic, MTV, Sex und von der ersten Techno-Welle.“ Auf der Suche nach ihm lernt sie eine neue Generation kennen. Eine Generation, die die Freiheit nicht geschenkt bekam, sondern für sie kämpfen muss.

    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska

    dekoder: Sie haben sich in dem Projekt Oh Brother, Where Art Thou auf die Spuren Ihres verstorbenen Bruders gemacht. Was war er für ein Mensch?

    Marysia Myanovska: Ich bin 14 Jahre jünger als er, deshalb war er auch eine Vaterfigur für mich. Ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meinem leiblichen Vater. Wenn er seine Freunde treffen wollte, sagte meine Mutter immer: „Oh, nimm Marysia mit“. Ich fand seine Freunde cool, die Musik, die sie hörten, die Klamotten, die sie trugen. Obwohl ich noch kein Teenager war, hat mich ihr Stil geprägt.

    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Auf den Bildern spielt das Viertel Trojeschtschyna in Kyjiw eine wichtige Rolle. Wie war es, dort aufzuwachsen? 

    Ich benutze gern das Wort „Ghetto“, obwohl das vielen in der Ukraine nicht gefällt. Trojeschtschyna wurde als Schlafstadt für Fabrikarbeiter gebaut. Und außer schlafen konnte man dort auch nicht viel machen. Es gab Schulen, ein paar kleine Geschäfte und ein Kino, das alte Filme aus der Sowjetzeit zeigte. Mein Bruder und seine Freunde hatten keine Computerspiele, also haben sie die meiste Zeit auf der Straße verbracht. Sie haben Sport gemacht, weil es wichtig war, stark zu sein und gut kämpfen zu können. In den 1990er Jahren verloren viele Bewohner ihre Arbeit, das Viertel wurde immer düsterer, die Kriminalität nahm zu, die Menschen hatten kein Geld und keine Perspektive und wurden immer zorniger. Zuhause liefen auf MTV Clips mit coolen Jugendlichen in teuren Klamotten, und dann gehst du vor die Türe und alles ist grau. Es gab Schießereien auf der Straße, vor unserer Schule wurde ein Mädchen getötet. Junkies warfen ihre Spritzen überall hin.

    Während der Arbeit an dem Projekt begann Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?

    Erst wusste ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ich hatte eine Gruppe Jugendlicher begleitet, die mich an meinen Bruder und seine Freunde erinnerten, so wie ich sie als kleines Mädchen gesehen habe. Dann verstand ich, dass es wichtig ist, diesen historischen Moment zu dokumentieren, und ich habe sie einfach weiter begleitet. Mein Bruder lebte auch in einem sehr wichtigen und sehr dramatischen Moment, als die Ukraine unabhängig wurde. Seine Generation bekam die Unabhängigkeit geschenkt und wusste nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Die jetzige Generation muss für unsere Unabhängigkeit kämpfen.

    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Wie unterscheiden sich die Generationen?

    Wir hatten keine Vorstellung davon, wer wir sein wollten. Was bedeutet unabhängig sein eigentlich in der Praxis? Es war eine sehr schwere Zeit für die Generation meines Bruders. Sie mussten damit zurechtkommen, dass ihre Realität eine ganz andere war als die, die der Fernseher zeigte. Unsere Gegenwart heute ist dramatisch, und ich glaube, für die Jugend gilt das ganz besonders. Während des Krieges ist es noch schwerer, sich eine Zukunft auszumalen, Pläne zu machen, wenn du nicht weißt, ob du vielleicht an die Front musst. Du weißt ja noch nicht einmal, ob dein Land in ein paar Jahren noch existiert.

    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska

    Fotografie: Marysia Myanovska
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 06.12.2023

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