Kaum eine andere kulturelle Institution wird im Ausland so sehr als Symbol Russlands wahrgenommen wie das Bolschoi-Theater, wörtlich das „Große Theater“. Gegründet 1776 zur Zeit Katharinas der Großen, wird es vor allem mit klassischem Ballett verbunden, mit über 200 Tänzern beherbergt es die größte Ballett-Compagnie der Welt.
Das Bolschoi-Theater ist aber nicht nur ein Ort der Kunst, sondern auch ein Ort der Skandale, Affären und Intrigen. Die Renovierung des Hauses von 2005 bis 2011 hat mehr als eine Milliarde Euro verschlungen, viel davon soll in privaten Taschen gelandet sein. Eintrittskarten werden von Spekulanten vor Beginn der Vorstellungen auf der Straße zu astronomischen Preisen weiterverkauft, Konkurrenz und Spannungen unter den Künstlern sind legendär. Im Januar 2013 wurde der damalige Intendant Sergej Filin Opfer eines Säureanschlags, bei dem er fast vollständig sein Augenlicht verlor, verantwortlich war vermutlich einer der Tänzer der Theaters.
Der Fotograf Misha Friedman hat die Stimmung hinter den Kulissen des Bolschoi-Theaters eingefangen und zeigt das Menschliche ebenso wie das Professionelle, das Poetische wie das Kuriose. Seine Arbeit ist oft Themen gewidmet, die sich erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen. Er hat die Petersburger LGBT-Community ebenso mit der Kamera begleitet wie die Polizeieinheiten in Kiew während ihrer Reform; in einem ästhetisch wie konzeptionell ungewöhnlichen Fotoessay beleuchtet er das Problem der Korruption in Russland. Seine Arbeiten erscheinen weltweit, so bei der New York Times, Politico oder Le Monde.
Fotos: Misha Friedman / Salt Images Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs Veröffentlicht am 04.01.2016
Norilsk ist eine der kältesten Städte auf unserem Globus – und einer der bedeutendsten Rohstofflieferanten überhaupt. Wer hier lebt, muss sich anpassen an extreme Bedingungen: Dauerfrost, neun Monate Winter, eine verheerende ökologische Situation. Wie die Menschen in Norilsk diese Aufgabe bewältigen, zeigen die großartigen Aufnahmen von Elena Chernyshova. Sie hat in ihrer mehrfach preisgekrönten Reportage (u. a. World Press Photo Award 2014) das Leben einer Stadt eingefangen, die oft im Dunkeln liegt, aber nie schläft.
400 km nördlich des Polarkreises gelegen, führt keine Landverbindung nach Norilsk. Die Stadt ist nur über Luft- und Wasserwege mit dem übrigen Russland verbunden. Die Flüsse werden im Winter unpassierbar.
Mit einer Bevölkerung von 175.300 ist Norilsk eine der größten Städte nördlich des Polarkreises. Die Stadt wurde 1940 auf dem Reißbrett entworfen – von Architekten, die in Lagern des Gulag-Systems interniert waren. Sie sollten eine ideale, logisch aufgebaute Stadt erschaffen.
Aufgrund ihrer Lage hat die Stadt ein strenges, subarktisches Klima. Norilsk ist eine der kältesten Städte der Welt. Die Winter sind lang, mit Durchschnittstemperaturen von -25 °C. Während harter Fröste, wenn die Temperatur unter -40 °C fällt, quillt Dampf aus den Kanälen der Wasserversorgung und hüllt die Straßen in dichten Nebel.
Die winterliche Kälteperiode erstreckt sich über circa 280 Tage pro Jahr, dabei fegen an mehr als 130 Tagen Schneestürme durch die Stadt.
Während 8–9 Monaten pro Jahr ist die Stadt von Schnee bedeckt. Mehr als 2 Millionen Tonnen Schnee fallen in dieser Zeit auf die Landfläche des Großraums Norilsk, pro Einwohner 10 Tonnen. Die Schneeverwehungen erreichen eine Höhe von 2–3 Metern.
Während des neunmonatigen Winters ist jeder Weg eine Expedition und mit Gefahr verbunden. Die Arbeitsplätze sind 20–30 km von der Stadt entfernt, die Straßen dorthin führen durch die offene Tundra.
Wenn Schneestürme herrschen, wird der öffentliche Verkehr in Kolonnen organisiert. 15–20 Busse befördern die Arbeiter zwischen der Stadt und den Arbeitsorten hin und her. Sollte ein Bus eine Panne haben, können die Passagiere von einem anderen aufgenommen werden. Solche Konvois verkehren nur drei Mal pro Tag.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion stieg Norilsk Nickel (einer der Generaldirektoren war bis 2007 Michail Prochorow) zum weltgrößten Produzenten von Nickel, Palladium und Platin auf. Trotz des harschen Klimas sind die Minen das ganze Jahr rund um die Uhr in Betrieb, auch bei Temperaturen von -50 °C.
In Norilsk gibt es sechs unterirdische Minen. Die Länge der Schächte, in denen das Erz abgebaut wird, beträgt mehr als 800 km, ihre Tiefe variiert zwischen 450 und 2050 Metern.
Die Produktion von Norilsk Nickel pro Jahr:
– mehr als 300.000 Tonnen Nickel (96 % der russischen und 17 % der weltweiten Gesamtproduktion)
– 2.731.000 Unzen Palladium (41 % der weltweiten Produktion) – 683.000 Unzen Platin (11 % der weltweiten Produktion)
– 419.000 Tonnen Kupfer (95 % der russischen Produktion und 2 % der weltweiten)
Norilsk Nickel erwirschaftet 1,9 % des russischen Bruttosozialproduktes. 57 % der Bevölkerung arbeitet unmittelbar in den Abbau- und Produktionsbetrieben.
Die Arbeitsbedingungen sind hart. Zu Hitze und Lärm kommt die Belastung durch schädliche Stoffe. Als Ausgleich dafür erhalten die Arbeiter 90 Tage Urlaub pro Jahr. Das Rentenalter beginnt mit 45 Jahren.
Die Fabriken laufen jeden Tag, rund um die Uhr. Auf drei Arbeitstage im Schichtbetrieb folgt ein Ruhetag.
Nach Angaben des Blacksmith Institute ist Norilsk eine der 10 Städte mit der weltweit stärksten Umweltbelastung. Das russische Statistikinstitut Rosstat führt Norilsk als die am stärksten verschmutzte Stadt des Landes. Jedes Jahr entlassen die metallurgischen Kombinate fast zwei Millionen Tonnen Gas in die Atmosphäre, vor allem Schwefeldioxid (98 %), aber auch Schwefelkohlenwasserstoffe, Stickoxide und Phenole. Die Menge dieser Emissionen entspricht denen Frankreichs oder einem Prozent des weltweiten Emissionsaufkommens. Auch Schwermetalle wie Blei, Nickel, Selenium und Kobalt werden in die Atmosphäre abgegeben. Das Norilsker Nickelkombinat gilt als größter Einzelluftverschmutzer der Erde.
Für die Umweltverschutzung ist in erster Linie eine veraltete technische Ausstattung verantwortlich. An mehr als 200 Tagen im Jahr überschreiten die Emissionen das gesetzlich zugelassene Maximum. In den nächsten Jahren sollen die Emissionen der Fabriken durch eine Erneuerung der technischen Ausrüstung maßgeblich verringert werden. Die ökologische Situation in der Stadt ist aber weiterhin alamierend.
Zwar ist die Stadt Norilsk wohlhabend, dennoch verfallen viele Gebäude. Fast die ganze Stadt ist auf Pfeilern im Permafrost-Boden errichtet worden. Wenn die oberen Bodenschichten auftauen, werden die Verankerungen instabil, die Strukturen kommen in Bewegung, in tragenden Wänden tun sich große Risse auf. Viele Häuser sind unbewohnt und werden den Mächten der Witterung überlassen.
Die Polarnacht dauert von Ende November bis Ende Januar. In dieser Zeit erhebt sich die Sonne nicht über den Horizont. Die natürlichen Rythmen des Körpers werden außer Kraft gesetzt, viele Bewohner klagen in dieser Zeit über Angstzustände, Nervosität oder Schlaflosigkeit.
Eine Frau und ein Kind in ihrem Wohnzimmer. Während der kalten Monate geht ein Großteil des alltäglichen Lebens in geschlossenen Räumen vor sich, Dunkelheit und Kälte hindern die Menschen daran, sich für längere Zeit unter freiem Himmel aufzuhalten.
Je nach Witterung müssen kleinere Kinder manchmal mehrere Monate am Stück in geschlossenen Räumen verbringen. Die Kindergärten haben daher spezielle Räume eingerichtet, die sich für Laufspiele, Radfahren oder andere Outdoor-Aktivitäten eignen.
Trotz der schwierigen Lebensbedingungen und der ökologischen Situation ist die Geburtenrate in Norilsk höher als in anderen Regionen Russlands. Dennoch haben Klima und Umweltbedingungen einen negativen Einfluss auf die Gesundheit der werdenden Mütter. Die Mehrzahl der Geburten muss per Kaiserschnitt stattfinden.
Während der neun Wintermonate haben die Bewohner von Norilsk keine Gelegenheit, sich in einer grünen Natur zu erholen. Viele schaffen sich daher kleine grüne Oasen in ihren Wohnungen.
Licht ist das wirkungsvollste Mittel, um die Polarnacht besser zu überstehen. In den 50er und 60er Jahren war eine spezielle Lichttherapie verbreitet. Heute gehen die Menschen ins Solarium, das überall und für wenig Geld zugänglich ist.
Eine der beliebtesten Winteraktivitäten ist das Eisbaden. Die Außentemperatur spielt keine Rolle, im Gegenteil: Je kälter es ist, desto mehr Menschen kommen an die Badestellen. Nach dem Badegang kann man sich in kleinen Banjas am Rand des zugefrorenen Sees wieder aufwärmen, die mit heißem Dampf aus dem Heizkraftwerk auf Temperatur gehalten werden.
Die Einwohner von Norilsk haben ein spezielles Verhältnis zur Natur. Nach 9 Monaten in geschlossenen Räumen zieht es die Menschen im Sommer in die unberührte Tundra zu langen Wanderungen.
Fotos: Elena Chernyshova Bildredaktion: Nastya Golovenchenko Veröffentlicht am 01.12.2015
Wenn Moskaus junge Szene feiert, ist der Fotograf Arnold Veber mit der Kamera dabei. Er selbst sieht in den nächtlichen Exzessen eine Reaktion auf Leere und Perspektivlosigkeit der russischen Gesellschaft – aber unterscheiden sie sich wirklich so sehr von dem, was nachts auf den Straßen von Neukölln oder Shoreditch geschieht? Aus Vebers Serie „Wtschera ja wsjo“ (ungefähr: Gestern hab ich’s mir gegeben) von 2015 stammt auch unser Titelbild für den November.
„Schon ungefähr sechs Jahre fotografiere ich die Szene jetzt, aber früher sind die Leute nicht in diesem Maße ausgetickt“, sagt der junge Fotograf Arnold Veber (geb. 1991), der sich trotz seines deutsch klingenden Namens keiner deutschen Vorfahren bewusst ist, in einem Interview. „Einerseits ist diesen Leuten eigentlich alles völlig egal, aber andererseits bemühen sie sich, up-to-date zu sein, modisch, und bei allen gibt es so eine, sagen wir, Verlorenheit.“
In manchem erinnern Vebers Fotos an die Arbeiten des russischen Großmeisters der Dokumentarfotografie Igor Mukhin, der auch sein Lehrer an der renommierten Rodtschenko-Schule für Fotografie und Multimedia in Moskau war. Mukhin wurde bereits in den 90ern durch seine Arbeit mit Rockmusikern zu einem Chronisten des Moskauer Nachtlebens. Was hat sich seitdem verändert? Bei einigen Aufnahmen Vebers fragt man sich für einen Augenblick, in welchem Jahrzehnt, ja in welchem Jahrtausend man sich überhaupt befindet. Feiert die Jugend nicht immer und überall irgendwie gleich?
Zumindest in fotografischer Hinsicht springt dann aber der Generationenunterschied zwischen den beiden Künstlern deutlich ins Auge. Veber fotografiert viel unmittelbarer, viel dreckiger, in seinen Arbeiten lässt sich deutlich der Einfluss von Autoren wie Wolfgang Tillmans entdecken, die ihre Sujets nicht nur von außen untersuchen, sondern selbst Teil der von ihnen eingefangenen Kultur sind.
Veber hat zunächst viel mit Video gearbeitet und sich auf diesem Weg erst nach und nach an das stillstehende Bild herangetastet. Dieses ist bei ihm oft so großartig komponiert, dass die Banalität der Szenerie vollkommen hinter der Macht von Grafik und Erzählung zurücktritt. So scheinen bei ihm drei einander nackt umarmende Mädchen unter ihrer Bettdecke wie in einer Wolke zu schweben, der Arm eines Pelzmantels schiebt sich molluskenhaft ins Bild, um am anderen Bildrand eine Flasche aus einer Manteltasche zu ziehen, eine skurrille Tanzbewegung von Beinen in reflektierenden Leggings gibt dem Einschenken eines Tequilashots eine unfreiwillige Komik, und vor der Kulisse eines winterlichen Stalin-Hochhauses wirken beiläufig gehaltene Zigaretten wie in die Oberfläche des Fotos eingeschnittene Riefen – bildbestimmend. Alles ist dabei durchtränkt von heftigem Gefühl, von Träumerei, von Sexualität (soll man es hier Begehren nennen?), und auch von Rohheit und – unterschwelliger – Brutalität. Zärtlichkeit jedenfalls begegnet einem auf diesem Bildern nur in Momenten der Erschöpfung – oder, vielleicht, der Trance.
Nur selten kann man in dieser Unmittelbarkeit und dieser künstlerischen Qualität Blicke in ein Leben werfen, das für den Rest der Menschen weitgehend im Verborgenen stattfindet. Dies müssen auch die Kuratoren des alljährlichen Künstleraustauschs zwischen Moskau und Düsseldorf bemerkt haben, als sie Veber gemeinsam mit der Foto-Künstlerin Vivian del Rio für einen zweimonatigen Arbeitsaufenthalt an den Rhein einluden, wo im Atelier am Eck bis zum 25. Oktober dieses Jahres ihre Doppelausstellung gezeigt wurde.
Fotos: Arnold Veber Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs Veröffentlicht am 03.11.2015
Unser Titelbild für den Monat Oktober stammt aus der Serie „Zivilisation der Flüsse” von Denis Sinjakow. Der Fotograf hat unter anderem für AFP und Reuters gearbeitet, viele Auftritte von Pussy Riot im Bild festgehalten sowie die Aktion von Greenpeace auf der Bohrplattform Priraslomnaja im September 2013 dokumentiert, die mit dem Arrest aller Teilnehmer endete, den Fotografen eingeschlossen.
Im Netz der russischen Transportwege nehmen die Flüsse von jeher eine besondere Stellung ein. Im Mittelalter erlaubten sie, Ladungen von wertvollen Fellen aus dem Norden und Osten des Landes zu den Handelsplätzen zu bringen, an denen sie unter anderem an die Kaufleute der Hanse verkauft wurden. Auch in der Zaren- und später der Sowjetzeit herrschte auf den Flüssen ein reger Lastschiffverkehr. Heute spiegeln sich in ihrem Wasser oft nur noch die verfallenden Holzhäuser verlassener Dörfer wider.
Die Fotografie zeigt die Figur eines ländlichen Geistlichen, wie er am hohen Ufer des Flusses Wytschegda steht und den Blick über die Wiesen und Wälder im Flusstal schweifen lässt. Sinjakow hat in den Frühsommern 2014 und 2015 gemeinsam mit dem Schriftsteller Sergej Fissenko in einem hölzernen Ruderboot die Routen der mittelalterlichen Pelzhändler vom Onegasee bis in den nördlichen Ural befahren. Die beiden Reisenden haben dabei fotografisch sowie in einem Dokumentarfilm festgehalten, was vom Leben in den Dörfern längs der Flüsse heute übriggeblieben ist.
Unser Titelbild für diesen Monat stammt von der Moskauer Fotografin Olga Ludvig. Es zeigt die Metrostation Nowojassenewskaja, die Endstation der Metrolinie 6 im Süden Moskaus. Der auf der Fotografie abgebildete neue Pavillon des nördlichen Eingangsbereichs, eine Konstruktion aus Edelstahl und Glas, wurde 2014 eröffnet.
Die Moskauer Metro ist als Verkehrsmittel für die Stadt von lebenswichtiger Bedeutung, sie befördert pro Tag 6,7 Millionen Passagiere (zum Vergleich die Berliner U-Bahn: 1,4 Millionen). Zugleich ist sie ein prägendes architektonisches und urbanes Kulturgut. Die stille Atmosphäre einer Winternacht, wie hier von der Fotografin eingefangen, erlebt der Metro-Reisende nur selten, zur Zeit der ersten und der allerletzten Züge. Die Metro verbindet Menschen, indem sie sie in einem Tunnel in Bewegung versetzt, der dekoder, indem er ihre Worte und Gedanken durch Sprachbarrieren hindurchtunnelt.